Christmas Eve von KaChan ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Aichi! Komm, wir gehen nach Hause!“ Nicht einmal meine Schuhe lässt sie mich anziehen. Dieses kleine Gör. Wie sie mich nervt! Das gibt es gar nicht! .... Aber irgendwie mag ich sie auch .... ein kleines bisschen ... aber nur ein ganz kleines. Gelangweilt trotte ich neben ihr her. Fröhlich summt sie vor sich hin. Immer wieder die gleiche Melodie. Eine fröhliche Melodie, die meine Nerven beruhigt. Ich linse zur Seite. Dieses Mädchen, dieses Mädchen, was ich immer sehe, sie ist richtig hübsch geworden. Ich kenne sie jetzt schon fünf Jahre. Seit sie zehn ist. Seit diesem Zeitpunkt sehe ich sie jeden Tag. Damals sah sie komisch aus. Klein, rundes Gesicht, kurze Haare, die eine komische Farbe hatten. Und jetzt? Jetzt ist sie der Männerschwarm auf unserer Schule. Und ich habe das „Glück“ neben dieser Göre zu gehen. Aber ich muss zugeben, sie ist wirklich schön. Diese fünf Jahre ist sie in die Höhe geschossen, das gibt’s gar nicht. Sie hat eine wunderschöne Figur. Das zierliche Gesicht ist die meiste Zeit mit einem glücklichen Lächeln gesegnet. Ihre Augen strahlen azurblau. Dunkle, wellige Haare umspielen ihr Gesicht. Ein bisschen bin ich stolz auf mein hässliches Entlein ... ein bisschen. Sie schaut zu mir auf. Guckt mich verwundert an. „Ist etwas?“ Abrupt wende ich mich ab. „Nein, es ist nichts. Ich habe mich nur gefragt, ob dir vielleicht kalt ist.“ Ein zufriednes Grinsen huscht über ihr Gesicht. Dann hakt sie sich bei mir unter. „Nein, es geht. Aber wenn du willst, kannst du mich ja wärmen.“ Ich sehe sie verdutzt an. Dann schüttel ich sie ab. Entledige mich meiner Jacke. Und streife sie ihr über. Sie ist ja auch luftig gekleidet. Aber das liegt an dieser Schule. Welche Schule lässt ihre Schülerinnen denn im tiefsten Winter in einem Faltenrock rumlatschen? Aber der gehört halt zum Matrosenoutfit unserer Schule. Jedenfalls bedeckt meine große Jacke jetzt einen Großteil ihres Körpers. Ich hoffe, jetzt wird ihr war. Sie sieht aus wie ein kleines Kind, dass in den Pullover ihres Vaters geschlüpft ist. Viel zu groß. Aber kuschelig. „Danke“, stammelt sie mit hochrotem Kopf. Verlegen? Wegen was? Weil ich dir meine Jacke gebe? Nicht doch! Lachend winke ich ab. „Ich kann es nicht gebrauchen, wenn du zu Hause zu einer lebenden Bazillenschleuder mutierst.“ Traurig guckt sie mich an. „Also machst du das nur aus Eigennutz?“ Ich zerwuschel ihre Haare. „Ach was! Na klar mache ich mir Sorgen, wenn du krank wirst!“ Diese Antwort scheint ihr zu genügen. Schweigend laufen wir nebeneinander her. „Oh!“ Sie ist stehen geblieben. Verwundert drehe ich mich um. „Ist was passiert?“ „Es schneit!“ tatsächlich. Weiße Flöckchen fallen auf uns herunter. Elfengleich schweben sie in unsere Haare. Wirbeln im Wind. Schmelzen auf Kiras Hand. „Aichi, warum schmelzen die so schnell?“ Verzweifelt sieht mich Kira an. Süß. Wie ein kleines Mädchen. Glücklich grinse ich sie an. „Es ist noch zu warm, du Dummchen.“ „Achso ...“ Sie sieht mich mit ihren großen Augen an. „Du bist ziemlich schlau!“ Jetzt holt sie wieder auf. Also manchmal erstaunt sie mich richtig. „Aber das weiß man doch!“, rüge ich sie. „Ich aber nicht!“, flötet sie mir entgegen. „Ja, du ... Du bist ja sowieso etwas hinterher.“ Herausfordernd knuffe ich sie in die Seite. „Sag das noch einmal!“ Schnell flüchte ich vor ihr. Wenn die Kleine erst mal loslegt, bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Doch mein Vorsprung wird immer größer. Um ihr eine Chance zu geben, laufe ich etwas langsamer. Jaja, auch mit noch so tollen Beinen – wenn die Kondition nicht stimmt .... Aber irgendwie holt sie auch jetzt nicht mehr auf. Vorsichtshalber gehe ich noch langsamer ... Also entweder hat sie heute Schnecken gefrühstückt, oder ich habe sie verloren. Prüfend sehe ich hinter mich. Ah, da steht sie. Vor einem Schaufenster. Weiber. Müssen bei jedem Schnickschnack stehen bleiben. Das hab ich ja gern. Aber ich sage nichts. Laufe langsam zurück zu ihr. Vielleicht hat sie ja etwas wichtiges gesehen ...Nein, das hat sie nicht. Das wird mir spätestens klar, als ich die Schaufensterauslagen sehe. „Aichi, sie mal!“ Ich seh’s ja. Ich sehe Schmuck. Viel Schmuck. In allen möglichen Farben. Und ich sehe ein fünfzehnjähriges Mädchen, dass sich vor Kälte die Hände reibt. „Schmuck .... ja, und?“ Versteh einer die Frauen ... Ich tu’s nicht. „Der Ring da! Der ist so war von süß!“ Ihr langer Zeigefinger wird vom Schaufenster plattgedrückt. Er zeigt auf einen kleinen Ring. Mit einer Erdbeere. Einer glitzernden Erdbeere. Einer pinken Erdbeere. Einer Strasserdbeere. „Wie ... toll ....“, kommt meine Reaktion. Aber ich bin längst vergessen. Kiras Augen heften an der kleinen Frucht. Sie drückt sich ihre Nase an dem massiven Glas platt. Ihr Atem prallt gegen das Fenster. Es beschlägt. Ihre Augen leuchten. Wie die eines kleinen Kindes, dass das erste Mal in einen Zirkus geht. Erwartung und Unschuld spiegeln sich in ihnen wieder. Und Naivität. Irgendwie ist mir komisch. Mir ist total kalt, der Schnee liegt auf meinen Schulter. Trotzdem schwitzen meine Hände. Mein Herz rast. Mein Gesicht glüht. Was ist das? Wovon kommt das? Ich weiß es nicht. Es ist irgendetwas mit Kiras Augen. Ihre Augen sind daran schuld. Sie strahlen so etwas komisches aus. Das habe ich noch nie gefühlt .... Was ist das? Vorsichtig löst sich Kira von der Schaufensterscheibe. Sie hat sich satt gesehen. „Oh Gott, Aichi! Du zitterst ja!“ Das habe ich gar nicht gemerkt. Mein Körper ist von einer eigenartigen Wärme erfüllt. Obwohl es minus zehn Grad sind. „Komm, wir teilen deine Jacke!“ Und schon spüre ich den dicken Stoff um meine Schultern. Eines muss man dir sagen, Schwesterchen, du bist ziemlich autoritär! Aber ich lasse es geschehen. Stehe einfach nur da. Und lasse sie machen ... „Los, oder bist du festgefroren?“, höre ich ihre lachende Stimme. Ich spüre sie. Spüre ihre Wärme unter der Jacke. Beim Gehen berühren wir uns manchmal. Dann schlägt mein Puls noch schneller. Warum? Bin ich krank? Was ist los mit mir? Bin ich krank? Ich will wissen, was hier mit mir passiert! Bin ich krank? Was passiert hier? Wenn ich Kira lachen sehe, geht es mir gut ... Wenn sie mich ansieht springt mein Herz ... Berührt sie mich, brennt mein Kopf ... Was ist los? Bin ich krank? Vielleicht ........ Kapitel 2: ----------- 2 Vorsichtig schließe ich die Tür. Kira ist schon vorgegangen. Schnell ist sie in ihr Zimmer verschwunden. Wahrscheinlich mit dem Telefon. Ruft ihre beste Freundin an. Erzählt von dem Ring. Ich kratze mich am Kopf. Versteh einer die Weiber ... Laufe in die Küche. Ich habe Hunger. Heut noch gar nichts gegessen. Sehe wir mal nach, ob sich was im Kühlschrank finden lässt. Gähnende Leere. Mutter hat also noch nicht eingekauft. Wo ist sie eigentlich? Und Misaki? Auch weg. Die beiden verschwinden immer öfter. Wollen ungestört sein. Und lassen ihre Kinder allein. Frechheit. Von ganz unten aus dem Kühlschrank krame ich einen Jogurt heraus. Wenigstens was. Reiße ihn auf. Rühre drin rum. Fange an zu essen. Naja ... hab schon besseres gegessen. Ess trotzdem weiter. Hab Bärenhunger. „Was denn, was denn, willst du ohne mich essen?“ Kira steht hinter mir. Hat wohl doch nicht telefoniert. Auch gut. Bleibt die Telefonrechnung unten. Sie legt ihre Hände auf meine Schultern. Über diese Aktion bin ich ein wenig überrascht. Aber unbedingt abgeneigt bin ich darüber auch nicht. „Gib mir was ab!“ Und ... HAPS! Klaut sie sich einen Bissen von meinem Jogurt. Zwinkert mir zu. Mein Gesicht fängt an zu glühen. Ob sie sieht, wie verlegen ich bin? Ich hoffe nicht ... Schließlich ist sie meine Schwester ... „Weißt du wo Papa und Minako sind?“ Ich zucke mit den Schultern. „Sorry, keinen Schimmer.“ Kira tut es mir nach und hebt die Schulterblätter. Lässt sie schlaff wieder fallen. Sich selbst auch. Auf den Stuhl neben mir. So sitzen wir da. Alleine. Stumm. Und ich mit pochendem Herzen. Hoffentlich hört sie nichts. Das wäre ja noch schöner! Aber ich frage mich langsam, warum mein Herz immer dann zu rasen anfängt, wenn ich Kira sehe oder an sie denke. Ist das normal? Ich hoffe doch. Ansonsten würde ich mir wirklich Sorgen machen. „Was hast du die nächsten Tage so vor?“, höre ich Kiras Stimme in die Stille sagen. „Hmm ... keine Ahnung. Weihnachtsvorbereitungen, würd ich sagen.“ Kiras Augen fangen an zu leuchten. Schon wieder springt mein Herz bis zum Anschlag. Was ist nur los mit dir, alte Pumpe???? „Au ja!“, ruft sie mit engelsgleicher Stimme. „Lass uns zusammen die Geschenke für Papa und Minako machen! Und Plätzchen backen! Da freuen sie sich bestimmt drüber!“ Plätzchen? Gar keine schlechte Idee. Hätt ich auch mal wieder Lust drauf. Also stell ich meinen leeren Becher weg und suche schon mal das Nötigste zusammen. Kira kramt von irgendwo ein paar Schürzen zusammen, und schon geht es los! So viel Spaß hatte ich lange nicht mehr. Ganz harmonisch arbeiten wir nebeneinander her. Kira knetet den Teig, ich steche aus und belege das Blech. Herzchen, Weihnachtsmänner, Tannenbäume, Monde und Engel zieren das glänzende Metall. Kira geht voll in der Arbeit auf. Ihre Augen strahlen, wie die eines kleinen Kindes, ihre Finger arbeiten hurtig, dass wir möglichst viele Plätzchen herstellen. Fröhlich summt sie „In der Weihnachtsbäckerei“ vor sich hin. Wie ein Kind. Mein Herz fängt schon wieder an, schneller zu schlagen. Wenn ich nur wüsste, warum? Ich sehe meine Stiefschwester an. Auf ihrer Nasenspitze klebt ein bisschen Mehl. Sieht richtig süß aus .... Mooment! Süß? Was soll das? Süüß??? Kira ist meine Schwester!!! Bitte speichern: Kira gleich Schwester! Schwester ungleich süß! Verstanden? Gut .... Aber das Klopfen verschwindet nicht ... Mit Mühe versuche ich, meine wirren Gedanken zu ignorieren. Irgendwie klappt es dann auch. „Aichi, warum machst du denn nicht weiter?“, höre ich ein Piepsen neben mir. Stimmt ja, ich wollte doch eigentlich Plätzchen backen! Mann, in letzter Zeit bin ich echt verwirrt. Aber trotz allem begebe ich mich wieder an meine Arbeit. Wollte ja schließlich unbedingt mitmachen! Also, Konzentration auf den Teig vor mir, bitte! Nach einer Weile habe ich mich wieder gefangen und Kira und ich arbeiten wieder stumm nebeneinander her. „Sag mal“, wider unterbricht meine kleine Schwester die Stille, „was wünscht du dir eigentlich zu Weihnachten?“ „Ich? Och ..... wie wär’s mit einer lieben Schwester?“, gebe ich neckend zurück. „Haha ... sehr witzig“, blafft mich Kira an. „Verarschen kann ich mich alleine! Ne, jetz ma ernsthaft!“ Ich denke kurz nach. Irgendwie schleicht sich Kira schon wieder in meine Gedanken. Dieses mal mit einer Schleife um den Hals und einem Zettel, wo „Für Aichi“ draufsteht. Bin ich jetzt total bekloppt oder was? „Geschenk? Für mich ..... Äh .... keine Ahnung, überrasch mit.“ Diesen Worten folgt wieder das Bild meines ungewöhnlichen Wunsches. Warum denke ich in letzter Zeit eigentlich immer an meine Stiefschwester? Kann mir das mal einer sagen? Nein? Wie, bitteschön, soll ich es dann selbst wissen? Nach einigen weiteren Minuten ist das Backblech voll. Behutsam stellt Kira das Blech in den vorgeheizten Ofen. Wie klein ihre Hände sind ... Ängstlich drehe ich mich weg. Ängstlich? Wovor habe ich denn Angst? Vor Kira, die meine kleine Stiefschwester ist? Vor ihrem Aussehen, das sich in den letzten Stunden immer mehr positiviert hat? Oder vor meinen Gefühlen? Meinen wirren Gedanken, die wie Schmetterlinge sind? Schmetterlinge, klein und schnell, zu schnell, um sie zu erfassen. Ängstlich wegen dem Kribbeln auf meiner Haut, wenn sie in meiner Nähe ist? Habe ich davor Angst? Ich meine, sie ist meine Schwester! Muss ich wirklich vor meiner Schwester Angst haben? Das nicht .... Aber, wie gesagt, sie ist meine Schwester... „Aichi, was ist mit dir?“ Erschrocken drehe ich mich um. Eine süße Stimme hinter mir hat mich aus dem Gewirr von Gedanken erlöst. Kira sieht besorgt zu mir auf. Ich winke lächelnd mit einem „Es ist nichts.“ ab. Ob sie mir das glaubt? Ich weiß nicht genau... aber Kiras Blick. Ihre Augen. Als ob man darin versinken könnte. Kann man das? Ich tue es jedenfalls gerade. Und auch ihre Augen blicken in mich hinein. Durchkämmen mein Inneres. Ergründen meine Seele. Dringen in jeden Gedanken hervor. In meine tiefsten Wünsche. Ich zucke zusammen. Wenn Kira auch nur erahnen könnte, was sie in mir auslöst .... ich würde sterben! Es reicht zu, wenn mich mein Herz so fertig macht! Das dann auch von Kira erfahren zu müssen ... Nein danke! Aber irgendwas ist da noch. Dieser Blick ... dieser liebevolle Blick, mit dem mich meine Schwester gemustert hat, will mir nicht mehr aus dem Kopf .... Kapitel 3: ----------- 3 Nach etlichen Minuten des Wartens schimmern die Plätzchen im Ofen goldgelb. Es riecht in der ganzen Wohnung. So stellt man sich einen gemütlichen Nachmittag vor. Fragend schaue ich meine Schwester an, die gerade beim Kartenspielen verliert. „Hab ich was im Gesicht?“, grinst sie mich an. Ja.....ein bezauberndes Lächeln. Aber das sage ich ihr nicht. „Nee, ich wollt nur wissen, wann die Plätzchen fertig sind. Sie dreht sich um und schaut zum Backofen. Steht auf und geht hin. Kira ist ziemlich schlank. Warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen? „In zwei Minuten oder so können wir die Plätzchen rausholen.“ Gut zu wissen. Nicht, dass ich dann die Schuld in die Schuhe geschoben krieg, wenn die Teile verbrannt sind. Kira setzt sich wieder hin und nimmt ihre Karten auf. „Du hast aber nicht in mein Blatt geguckt, oder?“ Lachend winke ich ab. Ich doch nicht! Wie käme ich denn dazu! Aber diese Bube-Dame-König-Ass-Kombo in Kiras Hand stört mich schon ein wenig..... Und mit genau dieser Kombo macht sie mich dann platt. Toll, hat sich echt gelohnt, dass ich am Anfang so angegeben hab. Wenigstens konnten wir die Plätzchen noch kurz vorm Verbrennen retten. Ach, die riechen gut. Will man am liebsten gleich alle aufessen. Ich lass es aber lieber. Wer weiß, wie sauer Kira dann wird. „Kommst du mit ins Wohnzimmer?“, höre ich Kiras Stimme fragen. Warum nicht? Gehorsam watschel ich hinter ihr her. Wie es sich für einen großen Bruder gehört. Haha. Bin ich heut wieder witzig. Jemand zupft an meinem Ärmel. „Was denn, Kira?“ Hö? Warum ist sie denn so rot im Gesicht? Ich mag diese Farbe auf ihrer Haut. Dieses blasse rot. Doch warum ist sie so verlegen? „Aichi“, man kann ihre Stimme kaum hören. „ich möchte .....“ Sie spricht so leise, dass ich das letzte Wort nicht verstehen konnte. Grinsend fahre ich ihr durchs Haar. „Was möchtest du, Schwesterchen?“ Beschämt sieht sie zu mir auf. „........... Kuscheln .............“ Schlag in die Magengrube. Treffer, mitten ins Herz. Habe ich mich verhört? Hat sie das wirklich gesagt? Will meine Stiefschwester, die Stiefschwester, die solche komischen Gefühle in mir auslöst, will die Stiefschwester wirklich mit mir kuscheln????? Gott, ich muss im Himmel sein. Lächelnd nehme ich Kira bei der Hand und führe sie zum Sofa. Ich setzte mich hin. Ziehe sie mit. Nehme sie in meinen Arm. „Gut so?“, frage ich. Ein schwaches Nicken bejaht meine Frage. ... Ob sie es hören kann? Wie es schlägt? Mein Herz? Das so stark in meiner Brust hämmert? Ob sie sie fühlen kann? Die Hitze? Die auf meiner Haut brennt, wenn sie mich berührt? Ob sie eine Ahnung hat? Was sie in mir auslöst? Ich hoffe nicht. Denn dann, dann würde ich sterben wollen. Das ist nicht normal, was ich da fühle. Ich habe Angst... Zärtlich streiche ich über die dunklen Locken meiner Stiefschwester. „Das ist schön“, flüstert sie mir entgegen. „Wann haben wir denn das letzte Mal gekuschelt?“ ..... Hm...... mal überlegen. „Ich glaube, das war letztes Jahr.“ „Zu Weihnachten“, ergänzt sie. „Ja, zu Weihnachten....“ Das war schön, damals. Wie sehr wir uns über unsere Geschenke gefreut haben. Selbst ich, damals sechzehn Jahre, habe mich über ein Foto von Kira gefreut. Und zwar richtig! Wo das Foto ist? .... Unter meinem Kopfkissen. „Aichi“, quengelt jemand unter mir. „Hn?“ „Erzählst du mir eine Geschichte?“ Bitte was? Ich soll was? Kira ist ja schlimmer als ein Kleinkind! Nun gut. Ausnahmsweise. Weil in zwei Tagen Weihnachten ist. Ich fange an. Erzähle ihr ein Märchen. Über einen Ritter, der sich unsterblich in eine Dienstmagd verliebt hatte. Der Ritter hatte aber Frau und Kind und so musste die Liebe der beiden geheim bleiben. Nach einiger Zeit machte er der Magd jedoch einen Heiratsantrag. Er wollte Kind und Frau verlassen. Eines Tages dann, kurz vor der geheimen Hochzeit blätterte er in seinem Ahnenbuch herum. Darin stand, er habe eine Schwester. Die zufälligerweise genauso hieß wie die Dienstmagd, die er sich zur Frau auserwählt hatte. Er wollte also seine eigene Schwester heiraten. Das ertrug der eigentlich tapfere Ritter nicht. Und so erstach er sich mit seinem eigenen Schwert. Denn mit einer unglücklichen Liebe konnte er nicht leben. ... Die Geschichte erinnert mich an etwas. An eine, mir bekannte, Situation. Welche? .... Ich weiß es nicht. Kiras Kopf rutscht von meiner Schulter auf meinen Bauch. Zufrieden lächel ich. Sie ist eingeschlafen. Mein Herz schlägt noch immer wie wild. Und noch immer habe ich keine Ahnung, warum. Im Moment ist mir das auch egal. Ich freue mich nur, dass mir Kira so nahe ist. Denn ich habe sie richtig lieb. Kira räkelt sich auf meinem Bauch. Sie dreht sich um, so dass sie bis auf meinen Schoß rutscht, mit dem Gesicht zu mir gedreht. Ihre bezaubernden Augen sind geschlossen. Von was sie wohl träumt? Vielleicht von mir? Das wäre schön... Kiras Mund ist leicht geöffnet. Ihre wunderbaren, vollen Lippen stehen etwas auseinander. Sanft umfahre ich diese Lippen mit meinem Finger. Wie weich sie sind ..... Diese zarte Weichheit lässt mein Herz hämmern. So, dass ich es in der Kehle spüre. Der Schlag erfüllt meinen ganzen Körper. Ich zitter. Ich weiß nicht warum. Mir ist abwechseln kalt und heiß und doch beides zugleich. Langsam beuge ich mich runter zu meinem Schoß. Dort hin, wo diese wundervollen Lippen liegen. Schon spüre ich den schwachen Atem meiner ...... Das Wort will mir nicht einfallen. Dieses Wort ist mir egal. Wenn ich auch nur eine Sekunde an dieses Wort denken würde, hätte ich Angst, mein Unterfangen durchzuziehen. So unheilbringend ist dieses Wort .... Aber dieses Wort is unwichtig. Denn meine Lippen legen sich auf ihre. Berühren sanft die Lippen des Mädchen, das mein Herz für dich beansprucht. Dieses Mädchen, das ich liebe ..... Kapitel 4: ----------- 4 Langsam lösen sich meine Lippen von ihren. Meine Sinne sind wie benommen. Erst jetzt klart alles auf. Was habe ich da gemacht? Was habe ich da gemacht? Was habe ich da gemacht!!!! Oh Gott, ich habe meine Schwester geküsst! Meine SCHWESTER!!!! Aber warum.... warum hat es sich so schön ... so richtig angefühlt? Mein Herz rast wieder. Noch immer schwebt mein Gesicht kurz über ihrem. Kira ist so wunderschön. Wie kann ein Mädchen nur so schön sein? Vorsichtig streiche ich ihr deine Strähne aus dem Gesicht. Klack. Eine Tür öffnet sich. Langsam hebe ich den Kopf. Jemand schiebt seinen Kopf durch die Tür. Sieht mich verwundert an. Ich muss grinsen. „Sie ist eingeschlafen.“ Mutter und Misaki schauen uns zufrieden an. Irgendwie ist mir das peinlich. Misaki nimmt meine Mutter in den Arm. „So soll es zu Weihnachten sein“, flüstern sie. Ja, so soll es zu Weihnachten sein. Man kuschelt, man küsst sich, man ist verliebt ..... in die eigene Schwester. Vorsichtig streichle ich Kiras Wange. „He, Schwesterchen ... aufwachen.“ Murrend dreht sie sich um. Und öffnet ihre Augen. Eine Weile dauert es, bis sie bemerkt, wo sie sich befindet. Doch dann begreift sie. Richtet sich abrupt auf. Wir müssen lachen. Alle vier. Ja, so soll es zu Weihnachten sein. „Papa ..... Minako!“ Kira steht auf und umarmt die beiden. Ich sehe sie zufrieden an. Dann höre ich die Stimme meiner Stiefschwester: „Wir haben Plätzchen gemacht! Kommt mal mit!“ Auch ich stehe auf und laufe zurück in die Küche. Mutter und Misaki sind begeistert. Glücklich nehmen sie uns in den Arm. War also doch keine schlechte Idee mit den Plätzchen. Wieder sehe ich Kiras strahlende Augen. Dieses Blau. Wie das Meer. Als würde ich im Meer versinken....... „Aichi! Du träumst schon wieder!“ Abermals werde ich aus meinen komischen Gedankengängen gerissen. Dieses Mal von meiner Mutter. „Was ist denn?“ Verwirrt sehe ich die anderen an. Grinsend stehen alle drei vor mir. Müssen die sich unbedingt über mich lustig machen??? „Also echt, Leute! Mit euren komischen Grinsebacken verderbt ihr einem jede schöne Erinnerung!“ Ich weiß nicht genau warum, aber jetzt bin ich tierisch schlecht drauf. Eigentlich wollte ich weiter in diesem azurblauen Meer schwimmen. Wollte mich wieder vergessen. Wollte wieder vergessen, dass sie meine Schwester ist. Wollte in meinen süßen Tagträumen versinken. Wieso lasst ihr mich nicht? Wieso erhaltet ihr nicht meine Illusion, dass ich dieses Mädchen lieben kann? Wieso müsst ihr mich ansehen, als ob ihr mein kleines Geheimnis kennen würdet? Wieso lacht ihr mich an, als wolltet ihr sagen: „Wir wissen es, und du bekommst sie doch nicht!“ Wieso? Wieso? Wieso? „Hey, Aichi! Was soll das?“ Stimmen rufen hinter mir her. Meine Augen schmerzen. Krampfhaft versuchen sie, meine Tränen zu unterdrücken. Wieso will ich denn weinen? Gibt es einen Grund? Vielleicht, weil mir meine Familie wiedereinmal gezeigt hat, dass diese Liebe für immer unter einem schlechten Stern steht? Ich weiß es nicht genau. Und kaum bin ich in meinem Zimmer angekommen, habe die Tür geschlossen, da bricht der Damm. Ich spüre eine unbekannte Nässe auf meinen Wangen. Zitternd fahren meine Finger zu der Flüssigkeit. Jetzt verstehe ich erst.... Ich weine. Ich weine. Ich, Aichi Shinmei, ich, weine. Welch ein komisches Gefühl. Ich habe keine Ahnung, warum mir die Tränen über meine Finger rollen. Ich habe keine Ahnung, wieso ich zusammengekauert vor meiner Tür hocke. Ich habe keine Ahnung, warum in meinem Zimmer bin. In mir ist alles leer. Eigentlich spüre ich nichts. Weder eine Angst, dass meine Schwester etwas über meine Wünsche erfahren könnte; weder Wut, dass mich meine Eltern mit solch bohrenden Blickenden fixiert haben; weder Freude, dass ich endlich den Mut aufgebracht habe, sie zu küssen ...... nichts. Absolut nichts. Diese Leere ist beängstigend. Ich weiß nicht warum, aber diese Leere macht mich schwach. Kraftlos sitze ich da. Sitze vor meiner Tür. Und weine. Weine hemmungslos. Eine nasse Perle nach der anderen verlässt meine Augen. Und ich kann nichts dagegen tun. Selbst diese Tränen zu stoppen, selbst dazu bin ich zu schwach. Was ist nur los mit mir? Was hat mich so eingeschüchtert? Vielleicht war es doch dieser Blick. Wie sie mich angesehen haben. Alle drei. So herablassend. So allwissend. So, als ob sie in mein Herz hätten sehen können. So, als würden meine tiefsten Geheimnisse, wie ein Buch, offen vor ihnen liegen. Ja, bestimmt war es dieser Blick. Er hat mich so zerstört. Er zerstört mich immer noch. Frisst mein Schutzschild an und lässt meine Tränen frei. Die ich noch nie gezeigt habe. Nicht einmal als kleines Kind. Nicht einmal als Baby. Warum ausgerechnet jetzt? Warum ausgerechnet wegen meiner Schwester? Ich bin total verwirrt. Ich konnte es bis jetzt verdrängen, aber durch meinen gebrochenen Schutzschild kommt alles so nah an mein Herz. So verletzend nah .... besonders dieser eine Satz .... „Kira, ich liebe dich“ .... immer wieder sehe ich ihn in meinem Kopf. Jeden Buchstaben so klar, als würde er auf Papier vor mir geschrieben stehen. „Kira, ich liebe dich“ .... diese süße Melodie erklingt immer wieder. „Kira, ich liebe dich“ .... eine zärtliche Stimme haucht meinem Herzen, meiner Seele diese Worte ein. Immer wieder. Immer und immer wieder. Dieser Satz macht mich noch schwächer. Zerstört meinen Schutzschild bis auf die Grundsteine. So, dass nichts mehr da ist. Das gibt es doch nicht. Wieso macht mich dieser Satz, diese vier Worte, vier lausige Worte, nur so kaputt. Wieso sitze ich wegen diesem Satz heulend an meiner Tür und verschließe die Augen? Verschließe die Augen vor der Wahrheit ..... Vor diesem Satz ...... Kann mir denn nicht jemand helfen? Kann den keiner diese vier Worte aus meinem Kopf streichen? Aus meinem Herzen? Aus meiner Seele? Bitte, so hilf mir doch jemand! Klopf! Klopf! „Aichi? Alles in Ordnung?“ Ah! Diese Stimme kenne ich. Diese süße Stimme, die mich in letzter Zeit so verwirrt. Kiras Stimme. Meine Schwester sitzt auf der anderen Seite der Tür. Sie sorgt sich um mich. Eine weitere Träne benetzt meine Haut. Sie sorgt sich um mich .... Wie schön..... Kapitel 5: ----------- 5 „Aichi? Alles in Ordnung?“ Schon wieder höre ich Kiras Stimme. Ich antworte nicht. Aus Angst, dass meine Stimme versagt. Aus Angst, sie könnte meine Verzweiflung hören. Aus Angst, ich könnte ihr alles erzählen. Mein Schweigen scheint sie zu verunsichern. Ich spüre, dass sich ihre Hand aus die Türe legt. Ihre leicht erschütterte Stimme klingt in meinen Ohren: „Was ist denn los? Irgendetwas ist doch mit dir... Bitte, sag mir, was los ist, ich mache mir richtig Sorgen um dich.“ Ihre Stimme tut mir gut. In letzter Zeit will ich sie immer öfter hören. Das macht mich ganz krank. Ihre Worte habe ich schon wieder fast vergessen. Nur ihre Stimme hallt in meinen Gedanken wider. Komisch, und schon ist der ganze Schmerz, alles, was gerade noch so verletzend auf mich wirkte, verschwunden. „Geh weg, ich will niemanden sehen“, murmel ich ihre mich schwacher Stimme entgegen. „Aber du siehst mich doch gar nicht.“ Da hat sie recht. Ich kann sie nicht sehen. Aber ich will sie sehen. Ich bin doch total krank. Wieso will ich sie denn immer sehen? Wieso schmerzt mein Herz denn so, wenn ich sie mal nicht sehe? Ich versteh die Welt nicht mehr. Erneut dringen ihre Worte durch die Tür. „Aichi ..... bitte ..... lass mich rein .....“ Ich bin zu schwach, um ihr zu wiedersprechen. Schließlich krabbel ich von der Tür weg. Und spüre, wie sich die Tür öffnet. Und ich höre Schritte. Leise Schritte. Zart Schritte. Die Schritte meiner Schwester. Ich spüre ihre Hand. Wie sie sich auf meine Schulter legt. Sofort brennt meine Haut an der Stelle, an der sie mich berührt. Wieso bin ich nur so schwach? Wieso kann ich ihr nicht verheimlichen, dass ich schwach bin? Ich bin doch ihr großer Bruder! Darf ich auch schwach sein? Verzeiht sie es mir, wenn ich auch mal schwach bin? Was, wenn sie über meine Tränen lacht? Würde sie das tun? Würde Kira mich auslachen? Ich habe Angst davor. Zitternd drehe ich mich um. Innerlich muss ich lachen. Wie erbärmlich ich aussehen muss. Total verheult. Wie ein kleines Kind. Nein, wie peinlich. Ob sie über mich lachen wird? Bestimmt. Wenn sie mich so sieht, garantiert. Ich habe Angst, dass ihre süße Stimme dann mit Gehässigkeiten gefüllt ist. Sie über mich lacht. Sie sich über mich lustig macht. Genau, davor habe ich Angst. Aber ich kann meine Tränen auch nicht zurückhalten. Wenigsten sie sollte ich doch bremsen können, um nicht ganz so mickrig dazustehen. Aber ich schaffe es nicht. Ich bin wirklich zu schwach. Zu schwach, das bisschen Wasser zu stoppen. Zu schwach, um nicht vor Kira zu weinen. Zu schwach, um schwach zu sein. „Bitte, sieh mich nicht an.“ Meine Stimme erklingt von ganz weit weg. Sie klingt so ..... verzweifelt. Bin ich verzweifelt? Ich kann es nicht genau sagen. Ich spüre nämlich gar nichts ... Aber Kira wendet sich nicht ab. Kira sieht mich immer noch an. Direkt in die Augen. Aber auch ich kann mich nicht wegdrehen. Wiedereinmal bin ich zu schwach. Es passiert etwas. Das Mädchen vor mir bewegt sich. Ich weiß nicht genau, was sie macht. Aber dann spüre ich ein erneutes Brennen auf meiner Haut. In meinem Gesicht. Auf meiner Wange. Ich spüre ihre Hand auf meiner feuchten Haut. Kira will mich trösten. Mitfühlend lächelt sie mich an. Mit ihrem unverwechselbaren Lächeln. Mit dieser Unschuld. Mit dieser Liebe. Die Tränen rinnen über ihre Hand. „Was ist los?“, flüstert ihre Stimme. „Was macht dich so fertig? ... Was bedrückt dich so?“ Ich liebe dich! Das macht mich krank! Das macht mich wahnsinnig! Die Worte formen sich auf meinen Lippen. Es ist, als würde man einen Stummfilm sehen. Der Hauptdarsteller spricht. Aber man hört nichts. Der Ton ist abgestellt. Einfach so. Ich bin stumm. Kann ihr doch nicht den wahren Grund meines Schmerzes sagen. Das würde mir das Herz zerreißen. Wenn sie sich dann von mir abwendet. Einfach geht. ‚Du bist ja pervers, dass du deine Schwester liebst’, würde sie sagen. Da bin ich mir sicher. Und genau davor habe ich Angst. Dass sie einfach geht. Davor habe ich riesigen Schiss. „Hey, du sagst ja gar nichts ... was hast du denn?“ Ausweichend drehe ich mein Gesicht zur Seite. „Es ist nichts. Glaub mir.“ „Das tue ich nicht! Dich bedrückt etwas!“ Die Härte der Worte trifft mich ziemlich stark. Solch eine Lautstärke bin ich von Kiras zarter Stimme nicht gewohnt. Aber diese Stimme ist es, die mich wieder aus meinem Selbstmitleid reißt. „Ich kann es dir nicht sagen, ok? Bitte ... quäle mich nicht mehr so. Ich kann es einfach nicht. Versteh das doch!“ So verzweifelt war ich noch nie. Ich will es dir ja sagen, aber dafür hasst du mich dann! Und das kann ich nicht verantworten. Wie könnte ich denn damit leben, dass mich meine kleine Schwester hassen würde? Ich würde eingehen. Das schwöre ich. Bei meinem Leben. Ein verzweifeltes Lächeln schleicht sich über das Gesicht meines Gegenübers. „Aber ... ich bin doch deine Schwester ....“ „Eben.“ Das war das traurigste, was ich jemand gesagt hab. Wie kann mir ein einziges „eben“ nur so wehtun? Wie geht so etwas? Das ist doch nur ein einfaches Wort. Unbedeutend, unnütz. Und doch so verletzend. Genau dieses Wort nimmt mir die letzte Kraft. Ich kann mich nicht wehren. Dieses letzte Wort laugt mich komplett aus. Als würde man einem Luftballon die Luft auslassen. Für Kinder ist das ein Leichtes. Hat aber schon jemals jemand an den Luftballon gedacht? Wie er sich wohl fühlt? Was er denkt? ‚So, die Luft ist raus. Jetzt braucht dich sowieso keiner mehr. Man spielt nicht mehr mit dir. Du bist nur noch nutzlos. Nimmt nur noch Platz weg. Und morgen landest du im Müll.’ Ja, so muss sich ein Luftballon fühlen. So fühle ich mich jetzt. Wie der nutzlose Luftballon. Wie dem nutzlosen Luftballon nahm man mir die Kraft. Wie der nutzlose Luftballon sacke ich in mich zusammen. Mein Kopf landet auf ihrer Schulter. Ich spüre es nicht. Ich will nichts mehr spüren. Wieso sollte ich auch? Dieses „eben“ hat doch alles gesagt. Alles, was ich fühle. Alles, was ich will. Alles, was ich nie bekommen werde. Ich kann jetzt genauso gut umfallen und nie wieder aufwachen. Eben. Das wäre das leichteste. Aber zunächst überkommt mich ein übernatürlicher Hitzeschwall. Kiras Stimme schallt von ganz weit weg zu mir herüber. „Aichi“, ruft sie. „Aichi!“ Immer wieder höre ich das. Immer wieder. Bis ich gar nichts mehr höre. Bis alles schwarz wird. Bis ich wirklich sterbe ... Kapitel 6: ----------- 6 Hmmm.... mein Kopf! Hat sich ein Elefant auf meinen Kopf gesetzt? So fühlt er sich nämlich an. Es hämmert und pocht unaufhörlich. Was habe ich denn angestellt, das es mir so dreckig geht? Mal überlegen. Irgendwie setzt mein Gehirn aus. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. „Zzzzz.....“ Ich liege in meinem Bett. Verwundert sehe ich neben mich. Da schläft jemand. Ein Mädchen. Ihre Locken haben sich schützend um ihr Gesicht gelegt. Mit einem seligen Lächeln streiche ich ihr über den Kopf. Kira ... Plötzlich verkrampft sich mein Bauch. Irgendetwas stimmt mich traurig. Und dann kommt es zurück. Alles. All das, was gewesen war. Meine Tränen. Kiras zarte Hand. Einfach alles. Wie benommen sitze ich da. Meine Hand ruht noch immer auf dem zierlichen Köpfchen meiner Schwester. Was habe ich da denn gemacht? Ich habe mich gehen lassen. Oh mein Gott! Und Kira hat alles mitbekommen! ... Wie niedlich sie doch aussieht. Wie unschuldig sie schläft. Kira hat an meinem Bett gewacht. Eigentlich finde ich so etwas doch affig, aber irgendwie gefällt es mir doch. Vorsichtig hebe ich ihren Kopf, um sie nicht zu wecken. Alles passiert wie in Trance. Ich weiß nicht genau, was ich da tue. Ich denke nicht darüber nach. Ich tue es einfach. Schon wieder bewegen sich meine Lippen zu ihren. Ich kann nichts dagegen tun. Alles geht automatisch. Sanft berühre ich ihren leicht geöffneten Mund. „Ich liebe dich“, flüstere ich dem schlafenden Mädchen entgegen. Immer wieder, zwischen mehreren Küssen. „Ich liebe dich.“ Doch diesmal ist irgendetwas anders. Irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas geht schief. Das merke ich aber erst, als ich meine Augen öffne. Denn was ich dann sehe, bricht mir das Herz. Kira sieht mich an. Nein, sie sieht mich nicht an. Sie starrt mich an. Mit schreckgeweiteten Augen starrt sie mir ins Gesicht. Sagt nichts. Bewegt sich nicht. Nichts passiert. Nur ihr Blick durchbohrt mein Herz. Hektisch reiße ich mich von ihr los. Kira ist aufgewacht. Oh nein. Kira hat alles mitgekriegt. Alles. Alles und den KUSS!!! „Aichi.....“ Die Augen meiner kleinen Schwester schwimmen in einem Tränenmeer. „Aichi ... was hast du ....“ Entsetzt springe ich aus dem Bett. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich eile aus dem Zimmer. Lasse Kira hinter mir zurück. Will alles hinter mir lassen. Alles. Und jeden. Mutter. Misaki. Und .... Kira. Total benommen torkel ich aus der Wohnung. Meine Klamotten sind zerknittert. Aber das ist mir egal. Im Moment ist mir alles egal. Alles. Dass mich alle ansehen. Dass ich wie betrunken durch die Straßen irre. Dass ich weder an einer grünen, noch an einer roten Ampel halte. Mir ist alles egal. Denn ich sehe nur ein Bild vor mir. Dieses eine Bild. Diese eine, was mich wahrscheinlich mein ganzes Leben lang verfolgen wird ... Mein ganzes Leben? Wenn ja, dann will ich nicht mehr weiterleben. Ich will nicht mit dem Gedanken leben, dass mich meine Schwester hasst. Dass sie nun weiß, wie ich für sie fühle ...Das verkrafte ich nicht. Mir kommt eine Idee. Ich bleibe stehen und ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Drücke auf die „Record“-Taste. Und murmel einige Worte in die kleine Maschine. Verzweifelt lächel ich mein Handy an. Kira strahlt als Hintergrundbild. Sie strahlt immer. Aber nie wieder für mich ... „Frohe Weihnachten!“ Ein kleines Mädchen steht neben mir. Sie strahlt. Strahlt genauso wie Kira. Dann begreife ich erst, was sie gesagt hat. „Weihnachten?“ „Ja, es ist Heilig Abend!“ Ach, deswegen freut sie sich so. Es ist Weihnachten .... Dann habe ich also zwei Tage geschlafen. Auch gut. Ein erneuter Einfall erobert mein Gehirn. „Sag mal, Kleine, weißt du, wo die Sakura-Allee ist?“ Die Kleine nickt zu mir hoch. Cleveres Mädchen. „Bring bitte das Handy zu einer Familie Shinmei, ja? Hier, du bekommst auch 2000 Yen dafür.“ Klimpernd lasse ich das Kleingeld in ihre offene Hand fallen. Strahlen wünscht sie mir noch einmal frohe Weihnachten und verschwindet. Froh? Wie könnte ich denn jetzt noch froh sein? Mit diesem Bild in meinem Kopf. Wie bekomme ich dieses Bild je wieder weg? Wie mich Kira angesehen hat. So ängstlich. So verstört. So .... als würde sie mir das nie wieder verzeihen. Energisch schüttel ich meinen Kopf. Ich will dieses Bild nicht mehr sehen. Aber genau in diesem Moment meldet sich mein Elefant wieder. Der, der mich schon beim Aufwachen so geärgert hat. Dieses blöde Vieh zertrümmert jeden noch verwendbaren Gedanken in meinem Kopf. Ich bin stehen geblieben. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich eigentlich gar keinen Schimmer habe, was ich hier tue. Ich wollte wegrennen. Einfach weg. Wollte meine Familie nie wieder sehen. Wollte Kira vergessen. Irgendwo unterkommen, wo mich keiner kennt. Damit ich nicht wieder so verletzt werde. Aber jetzt geraten meine Gedanken ins Stocken. Will ich denn wirklich weg? Will ich meine Kira denn wirklich nie wieder sehen? Und Mutter? Was soll den aus ihr werden, wenn ich nicht mehr da bin? Ich bin total unschlüssig. Warum begreife ich denn erst jetzt, das meine Aktion total sinnlos ist? Verzweifelt lächel ich in mich hinein. Wie erbärmlich ich doch bin. Am besten drehe ich um. Gestehe Kira meine Liebe. Und dann suche ich mir eine andere Freundin. Eine, die auch mich liebt. Eine, die ich wirklich lieben kann. Aus diesem Gedanken schöpfe ich neue Kraft. Meine Lebensgeister erwachen wieder. Ich sage Kira, was ich fühle. Nicht nur auf der Memo. Persönlich. Ich bewege einen Fuß. Will mich gerade umdrehen .... HUUUUP! HUUUUUUUUUUP! Verwundert dreht sich mein Kopf nach rechts. Etwas blendet mir entgegen. Um mich vor dem Licht zu schützen, halte ich meine Hand vor die Augen. Das Licht wird gedämmt. Aber klar sehen kann ich nicht. Dann spüre ich auch nichts mehr. Nur noch einen dumpfen Aufschlag. Einen lauten Knall. Ein hartes Aufkommen. Dann wird alles still. Ich höre nichts mehr. Und doch höre ich außergewöhnlich gut. Die letzten Vögel singen so klar wie nie. Der Schnee knirscht unter den Füßen einer Person. Menschen rufen sich Dinge zu. Das ist aber auch schon alles. Genaueres kann ich dazu nicht sagen. Mein Verstand hat ausgesetzt. Ich spüre auch kaum etwas. Nur, dass mein Ganzer Körper brennt. Nur, dass mir etwas die Schläfe entlang läuft. Dann spüre ich noch nicht einmal mehr das. Dann wird es komplett dunkel. Und still. Und schwarz ......... Kapitel 7: ----------- 7 Hallo Kira. Na, was machst du grad? Ist komisch, meine Stimme zu hören und mich nicht zu sehen, nicht? Ob du dir wohl Sorgen machst, wo ich bin? Vielleicht. Ich würde es mir wünschen. Wobei ich es auch verstehen kann, dass du nie wieder etwas mit mir zu tun haben willst. Nach der Aktion. Ich wollte es dir erzählen, ehrlich. Ich wollte dir sagen, dass du mir den Verstand raubst. Ich wollte dir sagen, dass du mich wahnsinnig machst, vor Glück. Ich wollte es dir sagen. Ehrlich. Ich wollte dir nur sagen ..... Kira, ich liebe dich! Aber ich habe es nicht geschafft. Ich war zu schwach. Glaubst du das? Dein toller großer Bruder hat endlich eine Sache gefunden, für die er zu schwach ist. Ist schon eine Ironie des Schicksals, dass es ausgerechnet wegen meiner Schwester ist, nicht? Schwester. Warum mussten wir denn auch Geschwister werden? Wer hat sich denn den Mist ausgedacht? Wieso bin ich nur dein Bruder geworden? Alles hätte so schön einfach werden können. Aber nein, wieso denn einfach, wenn es nicht auch kompliziert geht? Ich verstehe diese Welt nicht. Und ich verstehe mich nicht. Ich habe Angst, Kira. Zuerst hatte ich Angst, du könntest meine Gefühle entdecken. Dann hatte ich Angst, du könntest dich in mich verlieben. Jetzt habe ich Angst, dass du mich hassen wirst. Deshalb ist es wohl besser, wenn ich dich nicht wiedersehe. Und du mich nicht. Wenn wir uns nicht sehen, kann ich dir auch nicht schaden. Also dann, lebe wohl, meine kleine Kira. Ich liebe dich. Und, Ich hoffe, dass du glücklich wirst, denn dann bin ich es auch. Tränen rinnen über mein Gesicht. Das Handy in meiner Hand fängt zu zittern an. Wie meine Hand. Das tut sie immer wieder. Immer, wenn ich diese Memo höre. „Kira, komm her.“ Verzweifelt kuschel ich mich an Aichi. „Ich bin froh, dass ich dich habe“, flüstere ich in sein Ohr. Ja, gut, dass ich Aichi habe. Ich habe ihn zu Neujahr kennengelernt. Eine Woche, nachdem ich diese Memo von einem kleinen Mädchen bekommen habe, dass mir begeistert 2000 Yen gezeigt hat. Eine Woche, nachdem die Todesanzeige meines Bruders in der Zeitung stand. Eine Woche, nachdem er von zu Hause weggelaufen ist. Eine Woche, nachdem er mich geküsst hat. Das ist jetzt ein Jahr her .... Erneut läuft mir die salzige Flüssigkeit über die Wangen. „Was ist den los?“, höre ich Aichis besorgte Stimme in meinem Ohr. „Ich .... vermisse Aichi. Ich vermisse ihn so schrecklich doll.“ Beschützend nimmt mich mein Freund in den Arm. Das brauche ich jetzt. Immer wieder werde ich das brauchen. Immer wieder werde ich diese Wärme brauchen, die mich für kurze Zeit die Leere in meinem Herzen vergessen lässt. Diese leere Stelle, an die mein Bruder gehört. Mein Bruder .... der in mich verliebt war... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)