Sakuya von Namako (Last Night) ================================================================================ Kapitel 10: Überraschungen -------------------------- 10. Kapitel: Überraschungen Als es an der Türe klingelte legte ich mein Mathematikbuch auf den aufgeräumten Schreibtisch und schlenderte langsam die Treppe hinunter in den Flur. Es war wenige Minuten vor fünf Uhr nachmittags, also ging ich davon aus, dass es sich um Yoko handelte, eine Mittelschülerin der dritten Klasse, die Probleme in Chemie hatte. Da sie vorhatte nach den Frühjahrsferien auf unsere Oberschule zu wechseln schien ich für sie die beste Ansprechpartnerin gewesen zu sein. Ein weiterer Grund war bestimmt auch, dass meine Nachhilfe wesentlich billiger war als eine der teuren Privatnachmittagsschulen, die nicht nur ein Fach lehrten, sondern sofort ein Komplettprogramm boten, das Yoko keinesfalls nötig hatte, da ihre Schwäche nur in Chemie lag. Ich blieb kurz vor der Türe stehen und setzte ein künstlich-fröhliches Lächeln auf, bevor ich die Türe öffnete und kalte Winterluft in den Flur drang. Davon bekam ich allerdings kaum etwas mit, denn kaum hatte ich „Konichi wa, Yo-…“ gesagt hing schon irgendetwas an meinem Hals und drückte mich so fest, dass ich kaum zu atmen wagte, da ich Angst hatte, es sowieso nicht zu schaffen auch nur einen Atemzug zu tun. Das erste was ich dann sah waren zwei braune Augen, die in einem typisch japanischen Gesicht saßen, das von mittellangen schwarzen Haaren umrandet wurde. Die Gesichtszüge waren durch das große Grinsen allerdings kaum zu erkennen. Schließlich löste sich auch das etwas an meinem Hals von mir und sah mich mit ebenso braunen Augen an, deren Blick dem eines treuen Hundes entsprach, der nicht von der Seite seines Herrchens weichen wollte. „Was macht ihr denn schon hier?“, war das einzige, das ich sagen konnte, zu überrascht war ich vom Auftauchen der beiden aus Kioto. „Tolle Begrüßung“, sagte Shizuka gespielt beleidigt und blickte zu Boden, direkt vor meine Füße. Einen Moment lang musste ich mich noch etwas sammeln, dann jedoch schien mein Körper und auch mein Geist registriert zu haben, dass Shizuka wieder hier war. Lächelnd hob ich eine Hand und fuhr ihr vorsichtig über ihre Wange, woraufhin sie mich irritiert anblickte. „Willkommen zu Hause“, flüsterte ich nur und nahm sie dann in den Arm, wobei ich sie so fest an mich drückte, wie ich nur konnte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor sich Kazuhiko räusperte und uns „störte“. „Also, ich will eure Wiedersehensfreude ja keineswegs trüben, aber ich finde es hier draußen verdammt KALT!“ Langsam lösten das Mädchen und ich uns voneinander und sahen den Kiotoer an, der zitternd mit zwei großen Koffern an seiner Seite vor der Türe stand. Grinsend zog ich Shizuka an der Hand in das Haus hinein und schloss die Türe direkt vor Kazuhikos Nase, der sich in diesem Moment in Richtung Eingang bewegt hatte, da er wohl davon ausgegangen war, dass er mit hineinkommen durfte. Was machte er überhaupt hier? Innerlich hoffte ich darauf, dass beide Koffer Shizuka gehörten und das Kazuhiko nur ihr Geleit war, der wieder nach Hause fahren würde, wenn er sie sicher untergebracht hatte. „Ähm, Ai-chan… Also, Kazu-kun wird wohl auch hier bleiben müssen und ich glaube seine Mutter wird es nicht gutheißen, wenn du ihn draußen vor der Türe stehen lässt.“ Augenblicklich war jegliche Wiedersehensfreude von mir gewichen. Er würde hier bleiben müssen? Die ganze Zeit über? Ich würde Shizuka schon wieder teilen müssen? Warum? Hatte seine Mutter wieder ihre Finger im Spiel? In welchem Spiel eigentlich? Zumindest einem, dessen Regeln ich nicht kannte, dafür aber Shizuka, Kazuhiko und seine Mutter, die mich immer wieder dezent neben das Spielbrett verlagert hatten, indem ich als einfacher Bauer von der Dame, dem Läufer und dem Turm immer wieder geschlagen wurde, bei jedem neuen Spiel aber wieder versuchte, die andere Seite des Schachbretts zu erreichen, was nie zu gelingen schien. Ein Spiel, das ich nicht gewinnen konnte. „Und wie hast du dir das vorgestellt?“, fragte ich sichtlich beleidigt und ignorierte Shizuka mit meinem Blick so gekonnt wie möglich, indem ich mich umdrehte und zum Telefon schlenderte, schließlich musste ich Yoko noch rechtzeitig absagen, damit sie nicht umsonst kam. „Wie soll…“ Shizuka wurde sofort still, als ich am Telefon begann zu sprechen und Yokos Mutter zu erklären versuchte, dass ich plötzlich einen wichtigen Termin hatte, der keineswegs verschiebbar war und mich ungefähr ein Dutzend Mal bei ihr für die ausfallende Stunde entschuldigte, die ich natürlich so bald wie möglich nachholen würde. Als ich aufgelegt hatte spürte ich immer noch ihren Blick in meinem Rücken und drehte mich seufzend um. „Wie hast du dir das vorgestellt? Erlaubt deine „Mama“ dir denn, in einem Zimmer mit Kazuhiko zu übernachten? Denn wir haben nur ein Gästezimmer und ich werde ganz bestimmt nicht noch einmal mit ihm in einem Raum übernachten, damit das klar ist. Und ich glaube auch nicht, dass ihm die Couch genügen wird, oder?“ Die Lautstärke meiner Stimme hatte sich bei jedem einzelnen Ton immer weiter gesteigert, sodass ich am Ende wohl auch im Nachbarhaus zu hören gewesen sein musste. „Also, im Moment wäre mir sogar der Boden recht, wenn du mich endlich rein lässt, Ai-chan…“, drang ein leises Flüstern gefolgt von einem zögerlichen Klopfen durch die Türe. Dabei hatte ich total vergessen, dass der Kiotoer vor der Türe geblieben war und öffnete nun schelmisch grinsend die Türe. „Na, wenn das kein Angebot ist“, freute ich mich und schubste den Jungen in die Wohnung hinein. „Die Sachen kannst du trotzdem hochbringen, einfach Treppe hoch und dann die zweite Türe rechts!“ Langsam stieg Kazuhiko die Treppe hinauf, verfolgt von meinem und Shizukas Blick. Nachdem er hinter der Wand verschwunden war suchte das Mädchen vor mir meinen Blick und sah mich betrübt an. „Also, eigentlich dachte ich…“, begann sie zögernd zu reden und wendete den Blick von mir ab, nun auf ihre Füße starrend, die immer noch in ihren dicken Winterschuhen steckten. Als sie dies bemerkte schwieg sie weiter und setzte sich kurz auf den kleinen Absatz in der Nähe der Haustüre, wo sie betont langsam begann ihre Schnürsenkel zu lockern und sich dann einen Schuh von den Füßen streifte. „Also, eigentlich dachtest du…“ Ungeduldig stand ich vor ihr, die Arme vor der Brust verschränkt und mit einem Fuß auf- und abwippend. „… dachte ich, dass es bestimmt kein Problem wäre, wenn…“ Wieder begann sie zu schweigen und zog sich den anderen Schuh aus, was meine Ungeduld noch weiter wachsen ließ und mich innerlich zum Kochen brachte. „Shizuka, entweder spuckst du sofort aus, was du willst, oder ich verfrachte dich mit Kazu in das Zimmer meiner Schwester und dann ist die Sache erledigt, egal was deine „Mama“ dazu sagt, klar?“ Wütend lief ich einige Zeit im Flur herum, bis Shizuka ihre Schuhe zu den anderen gestellt, sich ein Paar Pantoffeln genommen und ihre Jacke zu den anderen an der Garderobe gehangen hatte und mich danach wieder zögerlich ansah. „Ich höre?“ „Also…“, begann sie erneut zögerlich und flüsternd, „ich dachte, es sei vielleicht möglich, dass – also na ja – du und ich uns dein Zimmer teilen… Das ist doch eigentlich groß genug, oder nicht?“ Kurz blickte sie auf, um sich meine Reaktion anzusehen und blickte dann direkt wieder zu Boden, wie ein kleines Kind, das gerade seiner Mutter gebeichtet hatte, dass es trotz des ausdrücklichen Verbots an die Schachtel mit den Keksen gegangen war. Grinsend musterte ich nun das Mädchen vor mir und ging langsam an ihr vorüber, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. An der Treppe jedoch blieb ich stehen und wandte mich zu ihr um. „Na, was ist jetzt? Oder willst du da im Flur bleiben? Du kannst ruhig selber dein Futon schleppen, wenn du schon solche Umstände machst…“, neckte ich sie und wartete darauf, dass sie zu mir kam. Im ersten Moment zuckte sie nur ängstlich zusammen und drehte sich denn langsam um, doch mit jedem Wort, dass sie mehr vernahm, hellte sich ihr Blick auf, bis sie schließlich strahlend auf mich zugelaufen kam und mir um den Hals fiel. „Du bist die Beste“, flüsterte sie mir ins Ohr und drückte mich noch fester an sich. „Nicht mehr lange, wenn du so weitermachst“, murmelte ich und war mir dabei nicht sicher, ob Shizuka meine Worte überhaupt verstanden hatte, doch fast zeitgleich entließ sie mich ihrem festen Griff und zog mich die Treppe hoch. Augenblicklich wurden Erinnerungen in mir wach. Vor einem halben Jahr waren wir schon einmal gemeinsam diese Treppe in ähnlicher Konstellation hinaufgegangen, dabei war ich jedoch diejenige gewesen, die Shizuka nach unserem Streit die Treppe hinaufgezogen und in mein Zimmer verfrachtet hatte. Oben angekommen drehte ich mich zunächst in die Richtung, in der sich der Wandschrank mit den Putzutensilien und den Gästefutons befand. Zielstrebig ging auf ihn zu und kramte ein wenig darin herum, bevor ich mit einem dünnen Kissen und einem großen Futon beladen wieder heraustrat und Shizuka das Geholte überreichte, die damit direkt in Richtung meines Zimmers spazierte. „Hey, wer hat gesagt, dass du in die Richtung gehen sollst?“ Überrascht blieb sie stehen und sah mich leicht schockiert und angsterfüllt an, bevor sie sich umwandte und nun in die andere Richtung lief, in der sich das ehemalige Zimmer meiner Schwester befand. Sie hatte nicht gemerkt, dass ich sie hatte ärgern wollen und dachte ernsthaft, dass ich sie zu Kazuhiko „sperren“ wollte. Grinsend lief ich hinter ihr her und nahm sie so gut es eben ging in den Arm, da sie immer noch Futon und Kissen in ihren Armen hielt. „Shizuka, das war ein Scherz…“, meinte ich leise und führte sie dann in mein Zimmer, wo sie das Futon unachtsam auf den Boden fallen ließ und sich dann direkt auf das Bündel aus Stoff setzte, immer noch vollkommen schockiert von dem, was ich ihr eben gesagt hatte. „Du dachtest doch nicht wirklich, dass ich dich zu Kazu schicken würde, oder?“, fragte ich sie besorgt und setzt mich neben sie auf den Boden. Sie blickte mich überrascht an, als ob so eine Frage völlig sinnlos sei und sah schließlich wieder zu ihren Füßen. “Ehrlich gesagt doch…“ „Und weshalb?“ Seufzend legte ich einen Arm um sie und zog ihren steifen Körper an meinen. Shizuka blieb mir die Antwort schuldig, denn just in diesem Moment klopfte es an der schon geöffneten Türe und Kazuhiko beobachtete die Szenerie zu seinen Füßen neugierig. „Ihren Koffer kannst du ruhig hier abstellen“, antwortete ich ruhig auf seine unausgesprochene Frage und strich langsam mit meinem Arm über Shizukas Rücken. Kazuhiko verschwand, um kurz darauf mit Shizukas Koffer wiederzukommen und ihn in einer Ecke des Zimmers abzustellen bevor er sich dem Mädchen neben mir zuwandte. „Ist was passiert?“, fragte er ruhig und sah Shizuka besorgt an, die seinen Blick jedoch nicht erwiderte, sondern weiterhin ihre Füße anstarrte. „Gefällt dir was an deinen Füßen nicht?“, fragte ich leicht gereizt und blickte dann zu Kazuhiko. „Nein, es ist nichts passiert, Zu-chan versteht nur seit heute keinen Spaß mehr, wenn es darum geht, dass man mir nicht alles glauben sollte, was ich sage.“ Kazuhiko nickte nur und verschwand dann in „sein“ Zimmer, wahrscheinlich um seine Sachen auszupacken. „Zu-chan?“ Zögerlich blickte mich das Mädchen neben mir an und ich sah genau, wie verletzt sie war. „Hey, was ist denn los? Du bist doch sonst nicht direkt eingeschnappt, wenn ich dich was auf’s Korn nehme?“ Doch auch dieses Mal blieb mir Shizuka die Antwort schuldig, da sie einfach nur schwieg. Hosted by Animexx e.V. 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