Die Geschichte des Mörders von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Zwei --------------- Wieder einmal hatte sich ein neuer Tag angeschlichen. Langsam stieg die Sonne und verscheuchte die letzten Nebelschwaden vom See, nur die Hütte sah so dunkel aus wie immer. Ebenso langsam stieg er aus dem Wasser. Es war kalt und klar, nur leichte Wellen schlugen ans Ufer. Der Mann war sich dem Ausmaß des Sees bewusst, schließlich verband dieser die Internatsschule auf der einen Seite mit der Universität auf der Anderen, doch noch immer traute er sich zu, hindurch zu schwimmen. Viele Stunden ist er im Wasser gewesen, die Erschöpfung ließ seinen Atem schwerer gehen, doch sein Herz blieb ruhig. Noch bevor die ersten warmen Sonnenstrahlen ihn erreichten, warf er sich seinen Mantel über und lief den kurzen Weg zu seiner Hütte zurück. Neben der Tür lehnte ein Rennrad. Sie war zurück. Ihr Haar schien rot wie Glut. Eine solche Farbe hatte er bisher nur an dunklen Mohnblumen gesehen. Das Mädchen lächelte. Ihr war nicht klar, ob sie willkommen war, aber ihre Neugierde hatte sie wieder hier her gebracht. Er hielt die Tür auf und ließ sie ebenfalls eintreten. Das Wasser aus seinem Haar tropfte langsam auf seine Schultern. „Ist dir nicht kalt?“ fragte sie statt einer Begrüßung. Er schüttelte mit dem Kopf. Selbst wenn, würde er es wahrscheinlich nicht merken. „Es regnet doch gar nicht!“ meinte der Mann fast lächelnd. Er hatte sie vermisst. Das Mädchen begann in ihrem Rucksack zu wühlen und brachte eine Tafel Schokolade zum Vorschein. Es war die gleiche, die er damals dem Kind geschenkt hatte. „Willst du ein Stück?“ fragte sie ihn, „Du kannst mir nicht auch noch erzählen, dass du keinen Hunger hast. Die esse ich total gerne. Meistens horte ich mir gleich mehrere Tafeln, weil dann immer eine zur Hand ist, wenn man sie braucht. Irgendjemand hat mich auf den Geschmack gebracht.“ Sie redete schon wieder, viel zu viel. Der Mann sah sie stumm an. Er sah das kleine blonde Mädchen wieder vor sich stehen. Wie sie sagte, dass sie bald seine Unschuld beweisen würde, und sie ihn dann nicht mehr einsperren könnten. Dieses Mädchen stand vor ihm und aß Schokolade. „Sophie?“ Erschrocken sprang sie auf. „Woher kennst du meinen Namen?“ Sophie bekam Angst, weil der Fremde ihr so vertraut war. Langsam schob er seinen linken Ärmel nach oben. „Deine Mutter ist Polizistin, oder ist es gewesen. Sie hat dich manchmal mit auf die Wache genommen, weil du dich immer so dafür interessiert hast. Du hast mir dieses Armband hier geschenkt.“ Seine Augen flehten sie an, nicht zu gehen. Ihre Angst wich Erstaunen. „Weißt du auch noch, was ich dabei gesagt habe?“ Er lächelt gedankenverloren: „Ich schenk dir die verlorene Zeit.“ Sofie trug selbst ein solches Armband. Ihre Mutter war überzeugt, dass es einen Menschen vor Ungerechtigkeit bewahren kann. Er würde aufhören zu altern, bis sein Leben weitergeht. Dann würde es sich von ganz allein lösen, und der ursprüngliche Besitzer könnte es wieder an sich nehmen. Sofie selbst war zu rational, um an so was zu glauben, aber in manchen Augenblicken wünschte sie sich, ein solcher Zauber würde tatsächlich existieren. Sein Name war bekannt aus mehreren Zeitungsberichten und Fernsehsendungen, die nachhaltig versicherten, dass Luca als sehr gefährlich einzustufen ist. Höchstwahrscheinlich war er bewaffnet und wahnsinnig. Die Bürger sollten verdächtige Begebenheiten sofort melden, sich ihm aber keinesfalls nähern. In Zeitungsberichten und Fernsehsendungen hieß es allerdings auch, Luca halte sich wahrscheinlich in London auf, wo das Haus seiner Familie steht. Sein eigentlicher Ausbruch war das größte Rätsel. Man vermutete, dass er geschwommen ist, wobei er aber auf dem kilometerlangen Weg zwischen der Gefängnisinsel und der Atlantikküste in meterhohen Wellen hätte umkommen müssen. Erst als die Suche nach seiner Leiche länger erfolglos blieb, räumte man ein, dass durchaus die Möglichkeit besteht, ihn als Schwimmer unterschätzt zu haben. Auf einmal erinnerten sich alle an seinen Titel als Landesjugendmeister im Freistil und die Nacht, als er allein den See der Länge nach durchschwommen hatte. Nur ein Ruderboot mit ein paar seiner Klassenkameraden fuhr nebenher, als Zeugen. Sophie hatte von all dem gelesen oder gehört, doch jetzt, als sie neben dem Mörder saß, in dessen Haaren immer noch einige Wassertropfen hingen, wurde ihr klar, dass sie genau so gut seine Leiche hätten finden können. Jemand, der das wagte, hatte bereits mit seinem Leben abgeschlossen. „Warum bist du ausgebrochen?“ fragte sie leise. Luca starrte ins Leere. „Er lebt noch.“ „Wer?“ „Henry Anderson. Er ist ein Penner.“ Er schwieg eine Weile, bis ihm klar wurde, dass Sophie diesen Teil der Geschichte noch nicht kannte. „Er hat Peter und Liz getötet. Ich wusste noch nicht einmal, wo sie sind. Als ich von ihrem Tod erfahren habe, habe ich ihn gesucht. Mitten in London haben wir uns getroffen. Bevor ich reagieren konnte, hat er die Granate gezündet.“ „Alles was sie von ihm gefunden haben, war sein kleiner Finger. Es war wirklich seiner, er wurde genetisch untersucht.“ „Er hat ihn sich abgeschnitten. Vor meinen Augen. Und auf einmal war er weg. Jetzt weiß ich, wo er gelandet ist: in der Gosse. Er ist eine Kanalratte.“ „Wie hast du das herausgefunden?“ „Unser Gefängnisdirektor hatte bei seinem allmorgendlichen Rundgang immer eine Zeitung bei sich. In einer war ein Artikel über ein neues Obdachlosenheim in London mit einem großen Foto von einem unbekannten Penner auf der Titelseite. Henry.“ „Warum bist du dann nicht in London?“ „Wenn ich in London bin, kommt er hierher. Ich muss nur noch etwas warten.“ „Du meinst, er kommt einfach so hierher? Warum sollte er?“ „Er hat Angst vor mir. Ich bin der Einzige, der sein noch mehr in seinem Leben zerstören könnte. Ein Haar würde genügen, ein Nachweis, dass er noch lebt.“ Luca träumte von einem neuen Prozess. Er wollte endlich frei sein, die Freiheit, selbst zu entscheiden, wann er schläft, und wann er isst. Er wollte sich wieder wie ein normaler Mensch fühlen. Er wollte all die Belanglosigkeiten, auf die er jahrelang verzichten musste. Luca hatte keine Angst mehr davor, tot zu sein, denn ein Leben hatte er schon lange nicht mehr. Henry würde sich in der Hütte verstecken wollen, oder in der Stadt herumschleichen. Er würde kommen, irgendwann. „Wovon ernährst du dich eigentlich? Isst du überhaupt manchmal etwas?“ fragte Sophie. Luca sah mehr tot als lebendig aus, blass und dünn. „Manchmal. Wenn ich mal einen Apfel finde, oder irgendwas.“ Seine Finger zitterten. Früher fanden ihn die Mädchen schön, mit seinen störrischen Haaren und den dunkelblauen Augen. „Wie die Haare, so der Sinn!“ dachte er still. Viele Jungen hatten ihn dafür bewundert. Er galt als Draufgänger, mutig und rebellisch. Sein bester Freund hatte am meisten seine Ehrlichkeit geschätzt. Peter wollte Luca als Trauzeuge, wenn die Hochzeit jemals stattgefunden hätte. Ein bisschen hatte ihn Luca für seine langjährige Beziehung bewundert. Sein Freund hatte wirklich seine perfekte Frau gefunden. Luca selbst fand die meisten Mädchen, mit denen er ausging langweilig. Sie konzentrierten sich nicht auf die, seiner Meinung nach, wichtigen Dinge im Leben. Und das waren meistens Dinge, die Schulisch überhaupt nicht zählten. Lernte er im Sportunterricht Fußball, ging er in seiner Freizeit in einen Volleyballclub, stand eine größere Physikarbeit an, las er über die französische Revolution. In Geschichte schmökerte er regelmäßig in Zeitschriften über Meteorologie. Ihn interessierte immer alles, und seine knappe Zeit opferte Luca nicht gerne für Dinge, die er sowieso schon in der Schule lernte. Dank seines guten Allgemeinwissens mogelte er sich trotz ständig fehlender Hausaufgaben durch die Schulzeit und bestand die Abschlussprüfungen mit der Bestnote. „Brauchst du irgendwas?“ fragte Sophie „Soll ich dir etwas mitbringen?“ Luca zuckte mit den Schultern. Eigentlich wollte er wieder aussehen, wie er selbst. Er fuhr sich durch sein Haar. „Eine Schere, vielleicht. Keine Ahnung. Komm einfach wieder!“ Sophie versprach es. Es warteten noch wichtige Dinge auf sie. Alte Zeitungsausschnitte warteten darauf gelesen und analysiert zu werden. Beweisstücke mussten durchgesehen werden, sie hatte damals ihr Wort darauf gegeben. Sie ging wieder einmal. Und wenn sie wiederkommen würde, in ein paar Tagen, oder eher, dann nicht mit leeren Händen. Das Rad setzte sich wieder in Bewegung und Luca sah ihr hinterher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)