Valentinstag - Wie die Welt untergeht von Salatherz (1. Keichi) ================================================================================ Keichi der Student ------------------ Keichi, der Student Keichi war eigentlich ein ganz normaler Student. Er hatte eine eigene, kleine Wohnung in der Innenstadt, machte gerade seinen Führerschein und verbrachte die meiste Zeit seines jetzigen Lebens damit, zu lernen. Das war manchmal gar nicht so leicht, aber eigentlich gefiel es ihm. Er saß gerne in seinem kleinen Wohnzimmer, sah aus dem Fenster, beobachtete, was draußen so alles passierte. Wie schon gesagt: Ein ganz normaler Student. Nur mit einem hatte er nichts am Hut – Liebe. Natürlich, er sehnte sich so nach einer Freundin, wie jeder andere in seinem Alter auch, aber das grundlegende Problem war seine absolute Schüchternheit gegenüber dem anderen Geschlecht. Wenn er eine schöne Frau sah, wurden seine Knie weich und er drohte fast, in Ohnmacht zu fallen. Und wenn er ein Liebespärchen in der Uni oder auf seinem Weg durch die Stadt sah, wurde er sofort rot und musste beschämt den Blick abwenden. Keiner wusste, woran das lag. Nicht einmal seine Eltern, die es ihm bestimmt nicht genetisch vererbt hatten. Schließlich hatte sein Vater immer wieder einen Nebensprung gewagt und die Jugend seiner Mutter war mehr als wild gewesen. Aber hier geht es nicht um seine Eltern, sondern um ihn selbst. Um Keichi. Eines Tages war er mal wieder unterwegs. Er wollte in sein Lieblingscafe gehen und sich einen Kaffee gönnen, denn in der heutigen Nacht hatte er kaum ein Auge zubekommen. Keine Ahnung, warum. Wie dem auch sei. Auf jeden Fall ging er an jenem besonderen Tag gerade seinen gewohnten Weg durch den Stadtpark. Den Blick geradeaus auf den Boden geheftet, ein seliges Lächeln auf den Lippen und die Hände in den Hosentaschen vergraben. In Gedanken war er schon weit fort, an seinem Stammplatz und hielt ein Schwätzchen mit dem Kellner, der ein guter Kumpel von ihm war oder mit der Kleckeroma, die dort immer herum saß. Mit alten Frauen konnte er seltsamerweise ziemlich gut umgehen. Und wie er nun den breiten Sandweg im Park entlang schritt und innerlich schon auf Wolke 5 schwebte, ahnte er noch nicht, dass er nicht mehr im Cafe ankommen würde. Der heutige Tag würde vielleicht sein ganzes Leben verändern. Keichi hob den Kopf, sah zur Seite, einfach so. An ihm vorbei ging ein Pärchen. Eine Frau mir blonden, geflochtenen Zöpfen und ein Mann mit dunklen, leicht gelockten Haaren. Verlegen huschten Keichis Augen auf die andere Seite des Weges… noch ein Pärchen. Händchen haltend auf einer Bank. Keichi lächelte und sah nach vorne. Dirkekt vor ihm ein Pärchen. Flüsternd, lächelnd. Leicht nervös wich Keichi den beiden aus. So ein Zufall, dass er gleich drei von ihnen auf einmal begegnete. Ein echt blöder Zufall. Aber dabei sollte es nicht bleiben. Gleich auf der nächsten Bank – ein weiteres Pärchen. Am Küssen. Auf der anderen Seite noch eins. Dann noch eins, an der nächsten Biegung gleich zwei. Die Röte stieg Keichi wie Wasser ins Gesicht. Er wusste nicht, wohin mit den Augen. Rechts, linkt, unten, oben… Oben! Das war seine Rettung! Da oben konnte kein Pärchen sein. Zum Glück nicht! Schnell ging er weiter, fragte sich gerade, was heute nur los war, da stolperte er und legte sich voll hin. Entsetzt bemerkte er, dass er vom Weg abgekommen und auf dem Rasen gelandet war. Und gestolpert war er… na worüber wohl? Ein Pärchen. Schweiß rann Keichi von der Stirn, er rappelte sich schnell auf und hastete davon. Auf den Weg zu, aber der wurde geradezu belagert! Überall Liebespaare! Überall Kichern, sanftes Erröten, Umarmungen, Küsse… Wie von der Biene gestochen lief Keichi los. Schnell weg! Oh mein Gott, schnell weg! Er hastete über den Rasen, auf das Parktor zu, aber da waren sie auch! Sie waren überall! Einfach überall! Das konnte doch nicht wahr sein! Er rannte, so schnell er konnte, wich allem aus, hatte die Straße erreicht, auf der es auch nicht besser aussah, rannte weiter, um Kurven, um Ecken, hatte schon die Orientierung verloren. Aber das war egal! Verdammt, er musste hier weg, bevor er einen Nervenzusammenbruch erlitt! Er lief, er lief. Dann ein Lichtblick. Eine Tür. Eine metallene Tür in einer Wand. Direkt vor ihm. Die Rettung! Das war die Rettung! Keichi nahm noch einmal all seine Kraft zusammen, hechtete auf die Tür zu, riss sie auf und rettete sich ins Innere. Die Tür fiel zu. Was für ein Glück, dass sie nicht abgeschlossen gewesen war! Schwer atmend und keuchend sackte Keichi an die Tür gelehnt zusammen und versuchte, sich zu sammeln. Was war heute nur los? Diese ganzen Pärchen! Das war doch nicht normal! Schwitzend kramte er in der Tasche seiner Anzugjacke und zog seinen Kalender heraus. Blättere ihn auf, schlug Seiten um. Dann hatte er ihn. 14. Februar. Verzweifelt griff Keichi sich an die Stirn. Valentinstag. Da erhob sich ein Schatten über ihm. Noch völlig aus der Puste sah Keichi auf und direkt in das Gesicht einen jungen Mannes, der ihn anlächelte. „Na so was. Seit wann kommt ihr denn durch die Hintertür?“, fragte dieser und lächelte weiter. Seine schulterlangen, schwarzen Haare glänzten matt im bunten Licht. Buntes Licht. „Wie auch immer. Willkommen auf dem anderen Ufer, Süßer.“ „WAS?“, zischte es durch Keichis Kopf. Er sah am Kopf des Unbekannten vorbei und schrie fast auf, als er eine Bar sah. Und Männer. Ziemlich viele. Pärchen. Der Atem blieb ihm im Hals stecken, der junge Mann fasste sanft an seine Schulter. „Komm, ich zeig Ihnen alles.“ „W-w-warten Sie einen Mo-moment…“, stammelte Keichi und versuchte sich, seinem Griff zu entziehen, während er an der Tür wieder ins Aufrechte rutschte. „Ich… ich bin eigentlich nicht…“ „Schämen Sie sich nicht. Sie sind herzlich willkommen“, meinte der andere zwinkernd und zog Keichi auf die Bar zu. Einige der anderen hatten neugierig die Köpfe gehoben, um den Neuankömmling zu begutachteten. In diesem Moment kamen Keichi seine Urinstinkte zu Hilfe. Er war schließlich ein Mensch und hatte Reaktionsvermögen, Schnelligkeit und Intelligenz eines Jägers. Er konnte sich blitzartig bewegen, hatte eine enorme Ausdauer und übertrumpfte andere durch Präzision… allerdings waren bei ihm, wie bei vielen anderen diese Sinne ziemlich abgestumpft, sodass aus den Reflexen eines furchtlosen Jägers, die Reflexe eines gehetzten Opfers wurden. Der Weg zur Rettung eröffnete sich Keichi gegenüber, wie eben auch, durch eine Tür. Mit unglaublicher Geschwindigkeit gelang es ihm, sich loszureißen und mit einer unbeabsichtigten, aber eindrucksvollen Uneleganz auf die rettende Tür zu zu gleiten. Klinke runter, Tür auf, die Arme voraus, den Kopf hinterher… doch seine Beine waren zu langsam, eine Hand hielt seinen linken Knöchel fest und zum zweiten Mal an diesem Tag landete Keichi ausgestreckt auf dem Boden. „Hey, wir wollten dir keine Angst machen. Wir können alles ganz langsam angehen“, meinte der aufdringliche Kerl in einem, wahrscheinlich beruhigend gemeinten, Ton, der für Keichi aber eher die Bedeutung einer Morddrohung hatte. „Oh nein. Oh nein. Oh nein“, jammerte er verzweifelt und krallte sich am Boden (leider weiße, glatte Fliesen) fest, da er wieder zurück in den Raum gezogen wurde. Warum war er nur hier rein gekommen? Warum war er überhaupt aus dem Haus gegangen? Warum hätte er heute nicht einfach im Bett bleiben können? Schon über sein Testament nachdenkend, kam Keichi dann doch noch jemand zu Hilfe. „ASATO!“, kreischte plötzlich eine Stimme. Laut, stark, gebieterisch. Keichi brach fast vor Freude in Tränen aus. Eine FRAUENstimme! Rettung! Rettung! Sein Knöchel wurde losgelassen und Keichi zitterte vor Hoffnung auf eine nahende Rettung. Auf nahende Freiheit. Auf… er hob den Blick. Eine gewichtige Frau mit 3cm dick geschminktem Gesicht, Falten, Brille und blond gefärbten, zu einem Knoten gebundenen Haar, die alles andere als sympathisch aussah. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst dich nicht immer an die neuen Lehrer ranmachen?!“ „20 Mal, M’am“, antwortete ‚Asato’ schuldbewusst. „Und wie oft hast du mir schon gesagt, dass du es nie wieder tust?“ „60 Mal M’am.“ „ALSO!“, schrie die Frau und riss Keichi nicht gerade sanft auf die Beine. „Entschuldige dich gefälligst!“ „Tut mir Leid, Sir.“ Keichi sah verdutzt und verängstigt in Asatos Gesicht. Er war nahe vor einer Denkblockade, aber er fürchtete, wenn er jetzt nicht reagierte, könnte er wieder in den Raum geworfen werden. Oder nach draußen. Also murmelte er mit erstickter, heiserer Stimme: „Ach was… kein Ding…“ Asato grinste, zwinkerte, verschwand durch die Tür. Die Tür fiel zu. Sie fiel zu! Die Tür war zu! Ein Glücksgefühl stieg in Keichi empor. Vielleicht war doch nichts verloren. Er war gerettet! Er wurde gerettet! Von dieser wunderbaren… äh… grimmigen und… ihn gerade brutal hinter sich herschleifenden Frau. „Wo-wohi…“, stammelte Keichi entsetzt. „Na wohin wohl? In mein Büro! Ich muss Ihnen ja wohl die Stundeneinteilung geben. Ihren Arbeitsplan. Und gleich noch 20% von Ihrem Gehalt abziehen. Wegen Zu-spät-kommens!“ „Wa-…“ Keichi räusperte sich, was ziemlich schwer war, denn die Frau hatte ihn am Hemdkragen gepackt, was ihm die Luft abschnürte. Keichi versuchte, tief Luft zuholen, sich erneut zusammenzureißen und griff ans Handgelenk der Frau. „Entschuldigen sie… äh… M’am, aber ich glaube, da liegt eine Verwechslung vor“, krächzte er. Die Frau wandte ihm böse funkelnd den Blick zu. „Wie bitte? Sie müssen lauter reden.“ „Eine Verwechslung!“, versuchte Keichi ihr durch Handzeichen und Krächzen klarzumachen. Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, ihn daraufhin losließ und die Hände an die Wangen schlug. „OH! Das tut mir so Leid!“, rief sie in einem, für ihr Aussehen viel zu hohen Ton. „Kann… ja jedem Mal passieren“, brachte Keichi atemlos hervor. Er wollte einfach nur hier raus! Nach Hause! Hilfe! „Können Sie, mir sagen, wo hier der…“, begann er, aber die Frau schnitt ihm das Wort im Halse ab. „Natürlich! Selbstverständlich! Ich bring Sie gleich hin.“ Sie wirbelte herum und wuselte mit schwingender Hüfte vor ihm her. Keichi atmete erleichtert auf. Nach diesem kurzen, aber äußerst wirksamen Albtraum konnte er diese vernünftige, wenn auch unsympathische, grimmige (usw.) Seele gut gebrauchen. Wahrer Balsam für sein aufgescheuchtes Herz und sein Gesicht, das immer noch pulsierte. Die Frau blieb vor der nächsten Tür stehen. Eine Holztür. Unauffällig. Sie sah aus, wie jede andere auf dem Flur. Die Frau öffnete sie und winkte Keichi heran. „Entschuldigen Sie Asato und die anderen Jungs, aber wenn Sie auch durch den Hintereingang hereinkommen müssen und dazu noch so schnuckelig aussehen, müssen Sie sich nicht wundern.“ „…Ja.“ „Wenn sie Ihnen in Zukunft noch mal begegnen, einfach freundlich sein und klarstellen, was Sache ist. Die heutige Jugend ist so kompliziert… Wir haben allerdings auch Mädchen und normale Jungs auf der Schule. Die sind eigentlich alle ganz brav. Bis auf die Schläger und Säufer und… naja, Sie wissen schon. Das typische eben.“ Sie schob Keichi, der sie nur verwirrt anstarrte auf die Türöffnung zu. Was laberte die Frau da?! Aber Keichi war zu höflich, um ihr etwas entgegen zu setzen und nickte nur freundlich. Hauptsache, er kam hier endlich raus!!! „Wenn Sie einem von denen begegnen, müssen Sie Angst haben. Dann dürfen Sie sich hier drinnen verstecken. Die Tür ist gut gesichert und geht so schnell nicht kaputt. Ich bin so stolz auf Sie, dass sie diesen Job übernehmen wollen!“ „Ja, ich auch…WAS?!“ Bevor Keichi noch etwas sagen konnte, rummste die Tür hinter ihm und Dunkelheit stürzte auf ihn herab. Putzman und seine Folgen ------------------------ Putzman und seine Folgen Und nicht nur die Dunkelheit. Mit einem Mal fühlte Keichi sich durch die Luft gewirbelt, um ihn herum erstrahlten tausende von Lichtern und plötzlich löste sich seine Kleidung in lange, violette Bänder auf, die meterweit hinter ihm her schwirrten. Er überschlug sich, drehte Pirouetten, konnte plötzlich Spagat! In seinen Ohren klimperte eine seltsame Musik und ein Chorus ertönte in seinen Ohren, der seinen Namen in allen möglichen Varianten sang. Keichi merkte, wie die Bänder sich orange verfärbten, sich wieder um ihn schlangen und ihn in neue Kleidung hüllten. Ein warmer sturmartiger Wind fegte durch sein Haar, etwas landete auf seinem Kopf und dann ging die Tür wieder auf und er stolperte in eine Halle. Vollkommen perplex wirbelte Keichis Kopf herum. Was war da gerade passiert? Und was hielt er… da… in der… Hand? Keichi betrachtete das Etwas in seinen Händen. Es war ein Besen. Dann sah er an sich herab, hob die Augenbrauen und fühlte plötzlich tiefe Bedrängnis, ein bestimmtes Wort zu sagen. Nein, zu Rufen! Das Gefühl war so stark, dass er nicht anders konnte. Er hob den Besen in die Luft, schwang ihn einmal rund herum und rief elanvoll und in einer extrem albernen Pose im Raum stehend: „PUTZMAN!“ Daraufhin ertönte ein bimmelnder Ton in seinen Ohren. Er kam sich vor, wie in einer schlechten Fernsehserie. Aber das war noch nicht alles, denn als er daraufhin begann, die Halle, in der er sich befand, richtig wahr zu nehmen, wäre er am liebsten im Boden versunken. Viele Jugendliche. Schüler. Sie saßen an Tischen verteilt und sahen ihn nur mit perplexen Blicken an. Keichi wünschte sich, er hätte dieses alberne Wort, die Drehung und diese schreckliche Pose sein lassen. Aber dafür war es zu spät. Ein nervöses Lachen löste sich von seinen Lippen und er begann, durch die endlos erscheinenden Reihen von Schülern hindurch zu schleichen. Nicht aufsehen. Guck weiter auf den Boden. Nicht aufsehen. Etwas traf ihn am Kopf. Keichi schaute danach. Ein Papierkügelchen. Er seufzte, schlich weiter. Noch ein Papierkügelchen. Und noch eins. Und noch eins. Das reichte jetzt aber! Empört hob Keichi den Kopf, da wurde er von einer ganzen Lawine Papierkügelchen begraben. „Aaaargh!“ Mit wedelnden Armen befreite er sich auf dem Haufen. „Wer war das? Was wollt ich alle von mir?“, rief er, den Tränen nahe. Was war das für eine schreckliche Welt in der hilflose Studenten erst durch die Straßen gehetzt, dann sexuell belästigt und schließlich als Putzmann in einer Schule eingestellt wurden?! Sein Kopf fuhr in alle Richtungen herum, Keichi war wild entschlossen, den Schuldigen zu finden. Aber die Halle war leer. Es hatte zum Schulschluss geklingelt, was er allerdings nicht mitbekommen hatte, da er in diesem Moment unter einem Haufen schalldichter Papierkügelchen begraben gewesen war. So stand er nun allein in dieser riesigen Halle und hatte keinen Plan, wo er hin sollte oder ob er jemals hier raus kommen würde. Allerdings… inkognito, getarnt als Putzmann… so konnte er vielleicht ganz unauffällig losgehen und den Ausgang suchen, oder wenigstens einen Plan vom Aufbau des Gebäudes, um dann still und heimlich zu verschwinden. Wenn er dann ganz schnell und ohne zur Seite zu sehen an der Pärcheninvasion vorbei rannte, konnte er es schaffen, sicher nach Hause zu kommen. Dort wäre er sicher. Ein Grinsen breitete sich über Keichis Gesicht aus. So musste er es machen! Tja, aber wie so viele Pläne im Leben, war auch dieser Plan nicht perfekt. Denn kaum war Keichi aus der Halle heraus, packte ihn jemand am Kragen. Ein groß gewachsener Mann mit Brille. Wahrscheinlich ein Lehrer. „Hier steckst du also!“, brüllte er Keichi mit so einer Lautstärke ins Gesicht, dass dieser fast ohnmächtig wurde. „Was soll dieser Aufzug? Glaubst du, du kannst dich so drücken?“ „Äh…äh?“, war das einzige, das Keichi daraufhin herausbrachte. Mit einer Kraft, die nicht von dieser Welt sein konnte, wurde Keichi den Flur entlang geschleppt. Ein langer, leerer, weißer Flur. „Nein! Warten Sie!“, rief Keichi entsetzt. „Ich bin nicht der Putzmann! Ich bin…“ „Ja, ich weiß, wer du bist. Und deshalb mitkommen.“ „Ich wollte nicht unbefugt in diese Schule eindringen. Es tut mir Leid! Bitte schmeißen Sie mich nicht einfach raus! Bitte bestrafen Sie mich nicht! Bitte, bitte! Ich habe mein ganzes Leben noch vor mir. Ich…“ Keichi stand kurz vor einem Heulkrampf. Was war heute nur los? Wieso passiert so etwas ausgerechnet ihm? „Was redest du da?“, entgegnete der Lehrer forsch. „Bisher hat jeder das Nachsitzen überlebt.“ Damit flog Keichi durch die Luft, über einige Tische hinweg und landete auf einem Stuhl, der unter der Wucht seiner Landung fast umkippte. Erschrocken schrie Keichi auf, als der Stuhl nach hinten überfiel. Wenn er jetzt aufprallte, dann… Irgendjemand hielt seinen Arm fest und zog ihn und den Stuhl wieder hoch. Noch immer entsetzt sah Keichi seinem Retter ins Gesicht. „So sieht man sich wieder“, grinste Asato. Keichi schrie auf und schlitterte mit seinem Stuhl zur Fensterfront, um den größt möglichen Abstand zu Asato zu gewinnen. „Heey“, meinte dieser. „Tut mir doch Leid wegen vorhin. Ich wusste ja nicht, dass du noch Schüler bist, Mann. Auf so was steh ich doch nicht.“ Keichis Augenbrauen zuckten nur. Wo war er hier schon wieder gelandet? Langsam und schwer atmend sah er sich um. Ein Klassenzimmer. Weiß gestrichen, mit einer hellbraunen Holzbordüre gesäumt. Im Raum standen mehrere Tische mit dazugehörigen Stühlen. Der Raum war so gut wie leer. Außer dem Lehrer, Asato, Keichi selbst und einem unbekannten Jungen und zwei Mädchen befand sich keine Menschenseele darin. „Das Nachsitzen“, schoss es Keichi durch den Kopf und ein Schauer fuhr ihm über den Rücken. Was würde ihn hier nur erwarten? „Was ist das für ein Aufzug, den du da trägst?“, fragte Asato mit auf die rechte Hand gestütztem Kinn. Keichi ignorierte die Frage und sah zum Lehrer hinüber. Abgesehen davon, dass er ihm eben fast das Trommelfell zerstört hatte, wirkte er etwas sympathischer als die Frau von vorhin. Möglicherweise ließ er ja vernünftig mit sich reden, sodass man ihn davon überzeugen konnte, dass Keichi weder Schüler, noch Putzmann, sondern Student war. Da fiel Keichi etwas ein. Und es war, weiß Gott, die beste Idee, die ihm in seinem ganzen Leben je gekommen war. Sie eröffnete ihm alle Wege, öffnete ihm den Weg in die Freiheit, konnte ihn hier rausholen. Er hatte doch seinen Studienausweis in der Tasche! Damit konnte er beweisen, dass er hier nicht hingehörte. Damit konnte er das Missverständnis aufklären und von hier verschwinden. Ein für alle mal! Wer jetzt genau aufgepasst hat, weiß, dass diese Idee mal wieder fehlschlagen würde. Als Keichi in seine Tasche greifen wollte, fiel ihm wie Schuppen von den Augen, dass er seinen Anzug ja gar nicht mehr an hatte, sondern diesen dämlichen orangen Putzmannanzug! Wie war er da überhaupt rein gekommen? Der Aufenthalt in diesem einen Raum war mehr als seltsam gewesen. Aber wenn er jenen Raum wieder finden und seinen Anzug wieder anziehen konnte… Natürlich! Siegessicher und entschlossen reckte Keichi seinen Arm in die Höhe. Das war bei weitem die beste und elanvollste Meldung, die er in seinem ganzen Leben je vollbracht hatte. Wenn der Lehrer diese Meldung sah, konnte er nicht anders, als ihn dranzunehmen! Aber der Lehrer war in eine Zeitung vertieft und sah nicht auf. Keichi räusperte sich. Nichts passierte. „Entschuldigung…“, sagte er. Keine Reaktion. Das konnte doch nicht wahr sein!!! Entschlossen stand Keichi auf, ging in Richtung Lehrertisch… und stürzte zum dritten Mal an diesem Tag, weil er an einem Tischbein hängen geblieben war. Es machte laut RUMMS, alle Blicke fuhren herum… nur der des Lehrers nicht! „Alles klar?“, rief Asato von hinten, aber Keichi war fest entschlossen diese freundliche, für ihn aber immer noch blutrünstige, Stimme zu ignorieren. Er rappelte sich wieder hoch und sah auf den Tisch, über dessen Bein er gestolpert war. An ihm saß ein Mädchen mit langen, rotblonden, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren. Allerdings, war sie über dem Tisch zusammengesackt und bewegte sich keinen Zentimeter. Sie schien nicht einmal zu atmen! Irritiert sah Keichi auf sie herab. So etwas schönes hatte er noch nie gesehen! Er war fasziniert. Dieses seidige Haar, der sanft geschwungene, zierliche Körper. Sofort wurden seine Knie weich und er drohte, erneut zu stürzen. „Ähm…“ Vorsichtig tippte er das Mädchen an. Es bewegte sich nicht. „Schläfst du?“, fragte er vorsichtig, wobei ihm die Röte ins Gesicht stieg. So hatte er sich noch nie gefühlt. Alles andere schien aus seinem Umfeld zu verschwinden, die Welt um sie herum färbte sich rosa und glitzerte wie tausend Sterne. Etwas beflügelte sein Herz und vermittelte ihm das Gefühl, davon fliegen zu können. Aber im nächsten Moment verflog dieses selige Gefühl wieder, denn das Mädchen rutschte steif von ihrem Tisch und landete, wie in einer Totenstarre gefangen auf dem Boden. Ihre Haut war grau und eingefallen. Schockiert schrie Keichi auf und sprang auf den nächst besten Tisch hinter ihm. Das war eine LEICHE!!! „Beruhig dich, Alter“, meinte da das andere Mädchen im Raum. Sie war ganz in schwarz gekleidet, düster geschminkt und hatte eine neongrüne Strähne im Haar. „Die ist nur deprimiert, weil sie sich heute so blamiert hat.“ Fassungslos wanderte Keichis Blick zwischen dem Mädchen und der Leiche hin und her. Sein Atem ging schon wieder gehetzt und er konnte sich auf keinen seiner Gedanken konzentrieren. „Tot“, hallte es immer wieder in seinem Kopf. „Oh, du grausame Welt! Sie ist tot!“ Da trat der ihm bisher unbekannte Junge, an seine Seite. „Kass…“, sagte er. „Kann ich mal mit dir reden?“ Sofort war das Mädchen wieder auf den Beinen. Gesund und munter! „Oh nein. Oh mein Gott!“, kreischte sie nur, wurde knallrot, Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie rannte aus dem Raum, der Junge folgte ihr schnell. Keichi sah ihnen sprachlos nach. Er musste in einem Irrenhaus und nicht in einer Schule gelandet sein! „Sir…“, begann er, an den Lehrer gewandt. „Da haben doch gerade zwei Schüler ohne Erlaubnis den Raum verlassen…“ Er wollte nicht weiter fortfahren, sondern wartete auf die Reaktion des Lehrers. Aber da kam keine! Keichi ging auf den Lehrer zu und sah ihn sich genauer an. Er schlief! Der Lehrer war über seiner Zeitung weggeratzt! Das war Keichis Chance! Schnellen, aber leisen Schrittes ging er aus dem Raum. Freiheit! jubelte es in ihm. Endlich Freiheit! Jetzt musste er nur noch seinen Anzug in diesem seltsamen Raum wieder finden und alles war geregelt. Dann war die Welt wieder in Ordnung und er konnte nach Hause gehen. Bzw. rennen, denn er verspürte immer noch ein starkes Pulsieren in den Wangen, wenn er an die vielen Pärchen draußen dachte. Aber dann kam er auf den Gedanken, dass er, wenn er es erst einmal geschafft hatte, aus diesem Gebäude herauszukommen, mit Leichtigkeit an den vielen Pärchen vorbei kommen würde. Sie würden ihn nicht aufhalten können! Egal, wie viele sich ihm in den Weg stellten, er würde ihnen die Stirn bieten und einfach an ihnen vorbei laufen! Ha! Sein Schritt beschleunigte sich noch mehr und gut gelaunt hüpfte er durch die Flure… bis er zu der Erkenntnis kam, dass alle Türen hier gleich aussahen und es eine Ewigkeit dauern würde, bis er die richtige finden würde. Eisenstange ----------- Eisenstange Wieder in tiefe Depressionen stürzend lehnte er sich an einen Spind, der gerade wie zufällig im Flur stand. Der einzige Spind, weit und breit, wenn man genau überlegte. Aber so was fällt einem deprimierten, in einer aussichtslosen Welt gefangenen Studenten natürlich nicht auf. So lehnte er eine Weile an jenem Spind, hing seinen sehnsüchtigen und verzweifelten Gedanken nach und zuckte furchtbar zusammen, als es plötzlich laut krachte und sich direkt vor ihm eine Straßenlaterne in die Fliesen bohrte! Keichi fiel fast vom Glauben ab. Jetzt fielen auch noch Straßenlaternen vom Himmel. Ob jetzt die Welt unterging? Naja, ihm konnte es egal sein. Er hatte nichts mehr zu verlieren, wenn er für immer in dieser Irrenanstalt von Schule bleiben musste. Deprimiert wandte er sich von der Straßenlaterne ab, da ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihm und ein helles Licht erstrahlte. Keichi wirbelte herum, da begann schon wieder ein Chorus in seinen Ohren zu singen. „Wer kommt zur Hilfe und rettet die Welt? Wer erscheint, wenn plötzlich eine Lampe runter fällt? Wer hilft den Armen und macht sie alle reich? Es iiiiiist…“ „Eisenstangeeeeee!“ Mit diesem Wort sprang ein Mädchen aus dem Loch, welches die Laterne in der Decke hinterlassen hatte. Sie war metallic-silbern gekleidet. In einem kurzen Faltenrock, kniehohen Stiefeln und einem am Rücken zu geschnürten Top an dem viele Bänder herunterbaumelten. „Wie kann ich dir helfen?!“, rief sie, wobei sie unentwegt mit den Händen in der Luft herumfuchtelte. Keichi war sprachlos. Aber nun war er sich sicher: Ja, die Welt ging unter. Und er steckte mitten drin. „Gar nicht“, krächzte er und wollte gehen. Aber das Mädchen (Eisenstange???) packte ihn beim Arm und drehte ihn wie einen Tänzer herum. „Oh doch, ich kann dir helfen. Du suchst den Ausgang, nicht wahr?“ Sie grinste breit, als Keichi daraufhin die Hände zusammen schlug und dankbar rief: „Ja! Oh ja! Den suche ich. Kannst du mir helfen, ihn zu finden?“ Vielleicht ging die Welt unter… aber das würde Keichi viel lieber zu Hause in seinem Lehnstuhl erleben, als in diesem grausamen Gebäude. Eisenstange ließ ihn los und legte den Kopf schief. „Es gibt keinen Ausgang.“ „WAS?!“ „Naja, es gibt Gerüchte, dass es mal einen Hauptein- und Ausgang gab, aber das sind eben nur Gerüchte. Keiner hat ihn je gesehen.“ Nun war der arme Student vollkommen verwirrt. „Aber, aber… die Lehrer! Oder die Angestellten! Oder die Schüler! Wie kommen die hier rein?!“ „Wie bist du denn hier rein gekommen?“ Das hatte Keichi schnell aus seinem Gedächtnis verdrängt und wollte sich auch nicht noch einmal daran erinnern. Vor allem nicht vor diesem durchgeknallten Mädchen, das sich Eisenstange nannte! Deshalb zuckte er nur mit den Schultern und fragte noch einmal: „Wie kommen die anderen hier rein und raus?“ „Durch die Fenster oder die Hintertür.“ Keichi sprang in die Luft. Natürlich! Fenster! Warum war er nicht früher darauf gekommen?! Man musste doch nicht durch Türen gehen. Man kam auch durch Fenster wieder raus! „Zeig mir den Weg zum nächsten Fenster!“, befahl er. „Nichts leichter als das“, antwortete Eisenstange. Sie griff mit der einen Hand nach ihrer Straßenlaterne, mit der anderen nach Keichi und im null komma nichts saßen sie auf der Laterne und fegten in einem Affentempo durch die Schule. „Hier ist es!“, schrie Eisenstange in einem heldenhaften Ton und stoppt ihre Laterne so prompt, dass Keichi fast vorne über flog. Schnell kletterte er von dem seltsamen Gefährt und lief zur Scheibe. Das Sonnenlicht und der blaue, strahlende Himmel winkten ihm zu. Da draußen war die Freiheit! Die Freiheit! Keichi drückte den Griff am Fensterrahmen herunter und zog das Fenster auf. Frische Luft kam ihm entgegen. Konnte es etwas Schöneres geben? Er machte Anstalten, hinaus zu klettern, da sagte Eisenstange: „Das macht 55 Euro und 95 Cent.“ „Wie bitte?“, fragte Keichi völlig geistesabwesend. Er war total betüdelt von dem Gedanken, endlich hier raus zu kommen. „55,95“, wiederholte Eisenstange. „Und das nur, weil du so arm dran bist. Du hast schon 31,2% Rabatt bekommen. Also beschwer dich nicht.“ Jetzt war Keichi wach. „Das ist doch nicht dein Ernst!“, sagte er empört. „Oh doch. Heut zu Tage ist nichts mehr umsonst. Und ich muss schließlich auch von irgendwas leben.“ „Darauf lass ich mich nicht ein“, entgegnete Keichi und wandte den Blick ab. So eine Verrückte! Er musste hier schleunigst verschwinden. Leider wurde er mal wieder festgehalten. „Nicht so schnell, Freundchen“, sagte Eisenstange und drehte ihn zu sich herum. „Willst du etwa… dass ich im Armenhaus ende?“, fragte sie und wandte dabei die fieseste Methode an, die man bei Keichi anwenden konnte. Nämlich die Ich-bin-ein-süßes-Mädchen-und-heul-gleich-Nummer. Prompt wurden Keichis Knie weich und er fiel halb von der Fensterbank. „N-n.nein…natürlich n-nicht…“, stotterte er und wurde knallrot. Der arme Kerl. Er war gerade so nahe davor, zu entkommen. Und jetzt konnte er nicht, weil er einem Magicalgirl 55 Euro und 95 Cent schuldete. „Also“, meinte Eisenstange und lächelte. „Dann her mit dem Geld.“ Da kam Keichi der Grund, aus dem er eigentlich aus dem Klassenzimmer getürmt war, in den Sinn. Er hatte doch eigentlich vor gehabt, seinen Anzug wieder zu holen. Darin war nämlich sein Portemonnaie und in diesem war sein Studentenpass… und außerdem sein Geld. „Äh…“, begann Keichi. „Mein P-portemonnaie ist in meiner Anzugjacke und die ist in irgendeinem dunkeln Raum, indem i-ich… vorhin war. Aber ich habe keine Ahnung, wo dieser Raum ist.“ „Wie bitte?!“, empörte sich Eisenstange. „Soll das heißen, dass du meine Dienste nicht bezahlen kannst?“ „Ja… nein… also…Nur, wenn ich meine Jacke nicht wiederbekomme.“ „Worauf warten wir dann noch?“, meinte Eisenstange und bestieg wieder ihre Laterne. „Wir suchen diesen einen Raum und du bezahlst mich.“ Sie verengte die Augen. „Aber das wird teuer, Freundchen!“ Keichi klappte seinen Mund auf und zu. Bei den Preisen, würde ER im Armenhaus enden! „Ich habe einen Vorschlag. Ich suche den Raum, hol das Geld und du wartest hier solange auf mich.“ „Nein, Kumpel. So geht das nicht. Ich hab noch mehr zu tun.“ Keichi überlegte kurz und versuchte, die Situation zu analysieren. Er musste hier raus, aber er konnte nicht raus, weil er diesem Mädchen 55,95 schuldete. Und das Geld hatte er in seiner Jackentasche. Die Jacke war in irgendeinem Raum in dieser Schule. Aber in welchem??? Er konnte Eisenstange nicht darum bitten, ihm zu helfen. Das würde nur noch teurer werden. Aber sie konnte auch nicht die ganze Zeit hier stehen bleiben… Langsam kam ihm eine Idee, um dieser auswegslosen Lage zu entkommen. Ein Idee…, die ihn nicht gerade begeisterte. Ihm drehte sich sogar fast der Magen um, wenn er daran dachte. Aber er hatte keine Wahl. „Okay…“, sagte er schließlich. „Ich habe einen Vorschlag. Ich suche jetzt den Raum und du kommst mit. Wenn ich ihn gefunden habe, bekommst du 66 Euro anstatt 55,95. Ohne, dass du etwas für mich tun musstest.“ „99 Euro“, entgegnete Eisenstange. „70“, konterte Keichi. „85“, sagte Eisenstange mit zusammengekniffenen Lippen. Keichi seufzte. „71 Euro. Oder du bekommst gar nichts.“ „Gebongt!“ Eisenstange griff seine Hand und schüttelte sie wild. „Und wehe, du hast nicht genug Geld dabei!“ „Ja.“ Keichi seufzte noch einmal. Gut, das war erst einmal geklärt. Jetzt musste er nur noch diesen verdammten Raum finden! Eine halbe Stunde später hatte er in etwa den Weg zurückverfolgt, den er mit Eisenstange geflogen war, aber hinter keiner der Türen lag der dunkle Raum, in dem sich seine Kleidung befinden musste. Freedoom -------- Freedoom Keichi war schon wieder der Verzweiflung nahe. Wie lange würde es dauern, alle Räume zu durchsuchen? Und was versprach ihm, dass jener Raum nicht einfach verschwunden war, nachdem er ihn verlassen hatte? „Gibt es hier irgendwo eine große Halle, in der viele Schüler gemeinsam Unterricht haben?“, fragte er an Eisenstange gewandt.“ „Gibst du mir 11% mehr Lohn, wenn ich dir antworte?“, stellte Eisenstange eine Gegenfrage und Keichi verwarf seine kleine Hoffnung wieder. Dieses Mädchen würde ihm nicht helfen. Niemand würde ihm helfen! Er war ganz auf sich allein gestellt. Verloren in einem fremden Haus und daran gehindert, es zu verlassen. Es musste einfach das Ende sein. Das Ende der Welt. Sein Ende. Er war so in sein Tief versunken, dass er nicht auf den Weg achtete und mit voller Wucht gegen irgendetwas gegen lief. Zum vierten Mal heute landete er auf dem Boden. Das Unglück wollte einfach kein Ende nehmen! „Zum 3. Mal heute“, sagte eine Stimme. „Nein, zum vierten Mal“, jammerte Keichi, ohne aufzusehen. „Nein, zum 3. Hinten in der Bar, beim Nachsitzen und jetzt.“ Entsetzt sprang Keichi wieder auf und machte einen drei Meter weiten Hechter nach hinten. Das Unglück klebte an seinen Fersen. Nie wieder würde irgendetwas gut werden! „Hast du eigentlich eine Phobie oder so was vor mir?“, fragte Asato Stirn runzelnd. Keichi antwortete nicht. Am liebsten wäre er herumgewirbelt und hätte die Flucht ergriffen. Aber das ging nicht, weil Eisenstange immer noch da war und ihn auf jeden Fall aufhalten würde. Keichi griff sich an den Kopf. Egal, was er tat, alles würde nur noch schlimmer werden. Egal, was er sagte, alles war falsch. Er war kurz davor, zu schreien, aber das hätte alles wohl noch aussichtsloser werden lassen. „Hast du dich vielleicht auch verlaufen?“, fragte Eisenstange neugierig. „Nee, ich geh doch hier zur Schule und kenn mich hier aus.“ Aus…aus…aus…kenn mich hier aus… Keichi hob den Kopf. Konnte es sein, dass… Möglicherweise… Ein Schauer überlief ihn. Oh nein, welch Graus. Warum denn ausgerechnet dieser aufdringliche Typ?! Aber andererseits… vielleicht war er ja zufrieden gestellt, wenn er ihm helfen durfte. Und, wie schon gesagt, es konnte nur schlimmer werden. Und davor hatte Keichi keine Angst mehr. Die Welt ging schließlich so der so unter. Bis dahin musste er alles probieren, um hier raus zu kommen. Langsam und zitternd, aber versuchend, sich zusammen zu reißen, hob er den Blick und sah Asato direkt ins Gesicht. „Könntest du mir dabei helfen, einen bestimmten Raum zu finden?“ „Klar, warum nicht?“ Keichi fiel aus allen Wolken. So eine Antwort hätte er jetzt nicht erwartet. Eine einfache, kurze Zustimmung. Keine Morddrohung! Kein blutrünstiger Spruch! Sofort stand Keichi in der Aufrechte. Wenn er auch bisher von allem und jedem enttäuscht worden war, so wollte er doch seine Hoffnung nicht aufgeben (wie man merkt litt der arme Keichi momentan unter ziemlichen Stimmungsschwankungen.). Vielleicht wurde er ausnahmsweise von dieser Person nicht enttäuscht… auch wenn ihm immer noch schrecklich unwohl bei der Erinnerung an… an die Erinnerung, die er verdrängt hatte, war. „Was suchst du denn?“, wollte Asato wissen. Keichi atmete tief durch. „Einen dunklen Raum, von dem aus man in eine große Halle kommt, in der ganz viele Schüler Unterricht haben.“ „Na wenn’s weiter nichts ist!“ Asato grinste breit. „Komm, ich zeig dir wo’s lang geht.“ Bei dem Spruch wurde Keichi wieder leicht übel, aber er ging schnell Asato, der sich umgedreht hatte, hinterher und wurde selbst von Eisenstange verfolgt, die ihn begierig und gleichzeitig missmutig anstarrte. Er fühlte sich, als werde er abgeführt. Irgendwohin, wo er nicht hin wollte. Das war natürlich vollkommener Quatsch, denn eigentlich sollte er ja jetzt dahin geführt werde, wo er hin wollte. Dabei stimmt das auch nicht wirklich, denn der einzige Ort, an den Keichi jetzt wollte war seine Wohnung. Aber um dort hin zu gelangen, musste er jetzt erst einmal Asato folgen. Quer durch die Schule, die Flure entlang, in denen alle Wände, Türen und Fliesen gleich weiß und steril aussahen. Das Gebäude hatte wirklich viel mehr von einer Psychiatrie, als von einer Schule. Endlich, nach einer ewig lang erscheinenden Zeitspanne, blieb Asato stehen. „Das müsste der Raum sein, den du meinst“, sagte er und zeigte auf eine Tür, die genau so aussah, wie alle anderen auch. „Ja, das muss sie sein!“, rief Keichi begeistert. Er hätte in diesem Moment alles geglaubt. Er hätte auch geglaubt, dass die Straßenlaterne, die immer noch neben Eisenstange herschwebte in Wirklichkeit ein fliegender Elefant mit Hasenohren war (womit er, mal ehrlich gesagt, gar nicht so falsch lag). Wie aus einem natürlichen Reflex heraus sprang Keichi vor und riss die Tür auf. Wieder kam ihm ein seltsames Wort in den Sinn, welches er auch gleich schrie, bevor er im Raum verschwand und die Tür wieder schloss. „RePutzmaaaan!“ Wieder dieses aufsteigende Gefühl, ein Wirbeln in alle Richtungen. Der Putzmanndress löste sich in die vielen, langen Bänder auf, färbte sich lila, dann schwarz wie Keichis eigentlicher Anzug, und dann stand Keichi wieder auf dem Flur. Ganz normal. In seinem Anzug und er sah wieder aus, wie ein ganz normaler Student. „Es hat funktioniert!“ Keichi lachte und brach in Freudentränen aus. Er hatte seinen Anzug wieder! Er war wieder normal! Schnell griff er in seine Jackentasche. Das Portemonnaie war da. Und der Kalender. Alles war wieder gut. Jetzt musste er nur noch Eisenstange bezahlen und dann konnte er hier endlich raus. Durch irgendein Fenster, egal welches. Dann würde er, so schnell er konnte, durch die pärchenüberströmten Straßen der Stadt rennen und nach Hause in seine Wohnung gehen und dort in seinem Stuhl sitzen und sich in Ruhe den Weltuntergang ansehen. Alles wäre wieder gut. Keichi hatte förmlich Sternchen in den Augen und lachte und weinte die ganze Zeit unter den verdutzen Blicken Asatos und Eisenstanges. „Hast du dich gerade verwandelt?“, fragte Eisenstange. „In einen Studenten?“, fügte Asato hinzu. Keichi sah sie an. „ZURÜCKverwandelt in einen Studenten. Mein Leben ist wieder in Ordnung! Juhu!“ Er zog sein Portemonnaie heraus und nahm alles Geld daraus, dass er zu fassen bekam. „Hier!“ Er drückte es Eisenstange in die Hand. „Du hast mir so geholfen. Ich danke dir!“ Dann hüpfte er zu Asato. „Du bist doch nicht so schrecklich, wie ich dachte. Ich werde nie wieder schlecht von dir denken!“ Dann wandte er den beiden den Rücken zu und rannte, in einen Freudentanz (der ziemlich albern aussah) versunken, den Flur entlang zum nächsten Fenster. „Freiheit, ich komme!!!“ Das Fenster ging auf, er trat auf das Fensterbrett und sprang… Leider zu unbedacht. Das Fenster, aus dem er sprang lag im zweiten Stock. Er wäre gestorben, wenn unten nicht zufällig das schwarz gekleidete Mädchen vom Nachsitzen gesessen und Gedichte geschrieben hätte. Sie federte seinen Sturz relativ sicher ab. „Oh…“, war das einzige, das Keichi hervorbrachte. Langsam stemmte er sich mit den Armen hoch, das Mädchen sah ihm erstaunt entgegen. Sofort wurde Keichi knallrot. Beim Nachsitzen hatte er nur einen kurzen Blick auf sie geworfen, aber jetzt, wo er so auf ihr lag, stellte er fest, dass sie wunderschön war. Noch schöner, als die Leiche von vorhin. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit breitete sich in Keichi aus. Konnte das Liebe sein??? „Wie heißt du?“, fragte er mit dünner Stimme. Das Mädchen räusperte sich und sagte: „Jens.“ Von einem Moment auf den anderen, löste sich Keichis Glücksgefühl in Luft auf. Die Welt zerbrach in tausend Scherben, er sprang auf und stürmte vom Grundstück der Schule. „Nie wieder“, dachte er. „Nie wieder.“ Dann war er am Horizont verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)