15 Jahre von SweeneyLestrange (..träumte ich, zu Frau und Kind zurückzukehren) ================================================================================ Kapitel 12: Auf See ------------------- Es war Benjamin schwer gefallen, den ersehnten Schlaf zu finden. Als das laute Grölen der Sträflinge einem durchdringenden Schnarchen gewichen war, welches die Stille durchbrach, hatte sich dieses Mal ein neues Geräusch dazu gesellt, das dem Barbier erst an diesem Abend bewusst geworden war. Die Laute des Schiffes. Es war ihm schon oft zu Ohren gekommen, dass man sich erzählte, ein Schiff würde leben, nie aber hatte er dem eine besondere Bedeutung geschenkt. Wozu auch? Er hatte auch nie vorgehabt, sich je auf einem Schiff zu befinden. Doch nun hatte er verstanden, was damit gemeint war. Das Ächzen und Stöhnen der Planken, das harte Schlagen der Segel im kühlen Nachtwind und das sanfte Klatschen der Wellen gegen die Bordwand hatten ihn immer wieder aus seinem unruhigen Schlummer gerissen. An das Schnarchen und die anderen Laute der Sträflinge hatte er sich bereits in Newgate gewöhnen können, die Geräusche des Schiffes jedoch waren ihm gänzlich neu und so konnte er nicht verhindern, dass sie in ihm eine gewisse Beunruhigung weckten, welche ihn um den Schlaf brachte. Aus diesem Grund fiel es Benjamin entsetzlich schwer am nächsten Morgen aufzustehen. Unsanft war er, wie schon am Tag zuvor, durch das laute Getöse der Sträflinge, das beim Austeilen des Frühstücks ausgelöst wurde, geweckt worden. Schlaftrunken richtete sich Benjamin auf und musste sogleich feststellen, dass seine Übelkeit – sehr zu seinem Leidwesen – noch nicht gänzlich verschwunden war. Dennoch rappelte er sich schwankend auf, griff nach Löffel und Blechnapf und gesellte sich zu Richard, der ungeduldig auf seine Mahlzeit wartete. „Na, wie geht’s uns heute so?“, fragte er mit einem schiefen Lächeln, während er es den anderen nachtat, in dem er unablässig mit dem Löffel gegen das Blech seines Napfes schlug. „Besser“, brummte Benjamin, der sich nicht an dem Radau beteiligte, sondern geduldig wartete. Danach verloren beide kein Wort mehr, bis sie schließlich mit ihrem kargen Frühstück in der Hand auf dem Bett saßen und hastig aßen. Als Richard jedoch erwähnte, dass es Benjamin anscheinend wirklich viel besser ginge und dieser darauf prompt anfing zu würgen, musste er es auf ein „fast besser“ beschränken, womit er es fürs erste bei einem Gespräch beließ. Jedem von ihnen war mittlerweile klar geworden, dass sie noch viel Zeit haben würden, miteinander zu reden, da war es unsinnig in den ersten Tagen allen Gesprächsstoff aufzubrauchen. Und so verstrichen langsam die Stunden, welche kaum Abwechslung für Benjamin versprachen. Mit stumpfem Blick lauschte er den Geräuschen um sich herum, ohne sie dabei direkt wahrzunehmen. Das bleierne Gefühl der Untätigkeit hatte sich auf ihn gelegt, fesselte ihn an den Boden, wo er zu keiner Regung fähig war. Doch je mehr Zeit verging, desto deutlicher spürte er, dass sich die enge Umklammerung der Seekrankheit lockerte und ihn allmählich wieder freigab. Schließlich wurde der Barbier aus seiner Lethargie gerissen, als Richard plötzlich vor ihm auftauchte und rief: „Na los, aufgestanden! Die frische Seeluft wartete auf uns!“ Etwas benommen sah Benjamin auf und schüttelte verwirrt den Kopf. Es dauerte, bis er die Bedeutung dieser Worte verstand. Dann jedoch durchdrang ihn Leben und ließ keinen Gedanken an Untätigkeit mehr zu. Von dem Wunsch besessen, der muffigen Luft unter Deck zu entkommen, sprang er auf und tadelte sich sogleich dafür heimlich, denn beinahe wäre er mit dem Kopf gegen die niedrige Decke der Koje gestoßen, unter der er gerade noch aufrecht stehen konnte. Der Ärger über ihre kleine Koje, in der sie beide kaum genug Platz hatten, war schnell verflogen, nachdem er den anderen an Deck gefolgt war. Ein seltsames Gefühl der Freiheit ergriff Benjamin, als er durch die Luke das Deck betrat und den frischen Seewind im Gesicht spürte. Er fröstelte leicht, doch war er nur allzu gern bereit, diesen geringen Preis im Austausch gegen das bisschen Freiheit, das ihnen erlaubt war, zu zahlen. Glücklich sog er die salzige Brise tief ein und ein wohliger Seufzer entwich seinen Lippen. Richard, der das seltsame Verhalten des Barbiers bemerkt hatte, musste lachen. „Du erweckst den Anschein, als seiste gerade aus jahrelanger Gefangenschaft entlassen worden, statt zwei lächerliche Tage unter Deck gefristet zu haben.“ Benjamin sah ihn mit einem Lächeln auf den Lippen an. „Das mag sein“, erwiderte er, „aber kommt mir dies tatsächlich so vor. Seit über vier Monaten war es mir nun nicht mehr vergönnt, so etwas wie Freiheit zu erfahren, wo mir doch sonst nichts anderes bis dahin bekannt war.“ „Vier Monate musstest du auf das Urteil für deine Straftat warten?“, fragte Richard. In seiner Stimme schwang ein Anflug von Spott mit. Benjamin, dem dies nicht entgangen war, nickte ernst. Jedoch hatte er nicht mit der Antwort des Sträflings gerechnet. „Da haste aber richtig Glück gehabt! Vier Monate. Das ist eigentlich ‘ne verdammt kurze Zeit!“ Als er aber dem überraschten Blick des Barbiers begegnete, war es dieses Mal an ihm ungläubig zu gucken. „Dir ist doch wohl bewusst, dass die meisten mindestens ‘n halbes wenn nicht sogar ein Jahr oder noch länger auf ihr Gerichtsverfahren warten müssen, oder?“ „Nein.“ Benjamin schüttelte erstaunt den Kopf, während er sich auszumalen versuchte, solch lange Zeit in Newgate ausharren zu müssen. Bei dem Gedanken überlief ihn unwillkürlich ein Schauer, den er schnell wieder verdrängte. Dennoch flüsterte eine leise Stimme in ihm, ob es in Australien wirklich besser als in Newgate sei. Doch Richard ließ dem Barbier keine Gelegenheit, sich seiner Sorge bezüglich der Sträflingskolonie zu widmen. „Du bist schon ‘nen seltsamer Kerl, weißt du das? Die wenigsten Verurteilten wissen nicht, was für ein Glück sie haben, wenn sie so früh das Verfahren kriegen. Hast wahrscheinlich auch den Kontakt zu anderen Sträflingen gemieden, was?“ Bei diesen Worten stieß der Seemann Benjamin verschwörerisch in die Seite. Dieser zuckte leicht zusammen, da er mit dieser Reaktion nicht gerechnet hatte und bestätigte Richards Worte. Zufrieden lächelte der Seemann, als sich seine Vermutung als richtig erwies. „Auf diesem dreckigen Schiff wird dir nur leider nichts anderes übrig bleiben, als dich mit ein paar deiner Sorte bekannt zu machen. Und mich kriegste so schnell wahrscheinlich auch nicht los. Weißt du…, ich finde, du solltest mir mal heute bei einem guten Schluck Portwein erzählen, weswegen du dich auf dem Weg ans andere Ende der Welt befindest“, meinte er dann mit unverhohlener Neugierde. Nachdenklich starrte Benjamin den jungen Mann an. Warum eigentlich nicht?, sagte er sich schließlich. Er selbst musste sich eingestehen, dass es ihm gut tun würde, endlich einmal jemandem mit Verständnis seine Geschichte erzählen zu können. Und irgendwie glaubte er, dass sich Richard von den anderen Sträflingen unterschied. Er wirkte so vertrauensvoll, eigentlich genau so jemanden hatte sich Benjamin während seiner kurzen Zeit in Newgate zum Reden gewünscht. „Das ist ein guter Vorschlag – außerdem wird sich heute deine Portweinportion verdoppeln“, meinte Benjamin mit einem vielsagenden Lächeln und stützte sich auf der Reling ab, die sie in ihrem Gespräch angesteuert hatten. „Du bist ja ‘ne richtig ehrliche Haut, das sieht man wirklich g-…“, setzte Richard erfreut an und hielt abrupt inne, als sein Blick auf das Gesicht das Barbiers fiel, das plötzlich besorgniserregend grünlich wirkte. Benjamin hatte den Fehler begangen, aufs Meer zu schauen. Auf die endlos weite, blaue See. Mit einem Mal hatte ihn seine Seekrankheit wieder im Griff. Allein der Gedanke an die Unendlichkeit des Gewässers bereitete ihm Übelkeit und sein Vertrauen in das majestätische Schiff, das ruhig durch die Wellen stampfte und sich immer weiter von seiner Heimat entfernte, schwand zusehends. Zitternd klammerte er sich an das beruhigend feste Holz der Reling und musste sich hastig drüber beugen, um sich zu erbrechen. Dabei fiel sein Blick auf die schäumenden Wellen, die der Dreimaster durchpflügte und ihm schwindelte. Plötzlich wurde er grob fortgerissen und in Richtung Deck gedreht, sodass sein Blick unweigerlich, auf die Planken und die sich darauf befindenden Sträflinge fiel. „Besser du siehst woanders hin“, meinte Richard neben ihm, der den Barbier unsanft dazu gebracht hatte, sich vom Anblick des unendlichen Meeres loszureißen. Benjamin nickte nur benommen. Noch immer schwirrte in seinem Kopf das Bild der weiten See umher. An nichts anderes konnte er mehr denken. Ihm war mit einem Mal bewusst geworden, wie recht man doch damit hatte, Australien als sich am anderen Ende der Welt befindend zu bezeichnen. Ein Schauer schüttelte ihn bei den Gedanken an Lucy und die Entfernung, welche sie voneinander trennte. Doch das sollte ihn nicht aufhalten! Er würde zurückkehren! Eines Tages, da würde man schon seiner Unschuldsbeteuerung Glauben schenken, würde der ganze Irrtum auffliegen. Und dann, dann würde er… „Na, geht’s wieder?“, fragte Richard unvermittelt, womit er den Barbier wieder aus seinen Gedanken riss. Zerstreut schenkte Benjamin dem Seemann seine Aufmerksamkeit. „Ja, doch, vielen Dank“, brachte er schließlich heraus und lächelte. „Mittlerweile sollte dir mehr zustehen als diese eine Portweinportion.“ „Oh, nun fangen wir also wieder damit an“, bemerkte Richard spöttisch. „Obwohl, an sich wäre ich einer weiteren Portweinportion durchaus nicht abgeneigt…“ „Ich verstehe.“ Benjamin nickte wissend, während in seinen dunkelbraunen Augen ein warmer Funke aufglomm. Dann schenkte er nachdenklich dem Deck seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Es war ihnen bloß erlaubt, sich in einem bestimmten Bereich aufzuhalten. Um dies zu verdeutlichen, hatte man Absperrungen errichtet, die in Benjamin immer mehr das Gefühl, wie Vieh behandelt zu werden, bestärkten. Hinzu kamen die bewaffneten Wärter, welche ein wachsames Auge auf die Sträflinge hatten. Allein das Achterdeck auch nur zu betreten, war strengstens verboten und würde – wie viele andere Taten, die in den Augen der Aufseher Missfallen erregten – mit schweren Strafen geahndet werden. Die Sträflinge schienen sich daran jedoch nicht zu stören. Sorglos faulenzten sie an Deck, genossen die frische Luft, spielten Karten, führten derbe Unterhaltungen oder beschäftigten sich mit Anderweitigem, das man in dieser Gefangenschaft tun konnte. Was aber letztendlich Benjamins eigentliches Augenmerk auf sich zog, war das große Schiff selbst, auf dem er sich befand. Oft hatte er Geschichten und Seemannsgarn von manch abenteuerlichen Seefahrten gehört, hatte prächtige Handelsschiffe oder heruntergekommene Schaluppen aus der Ferne sehen können, doch den Wunsch verspürt, eins dieser Gefährte zu betreten, hatte er nie. So war es auch nicht verwunderlich, als er sich nun, da ihn für kurze Zeit nichts ablenkte, staunend umsah, überwältigt von der Höhe der Masten und der Takelage, die auf ihn den Eindruck erweckte, in einer völlig willkürlichen Anordnung angebracht worden zu sein. Richard beobachtete den Barbier amüsiert, wie dieser sich voller Staunen umsah. Für ihn selbst war der Anblick eines Schiffes längst nichts Ungewöhnliches. Stattdessen weckte es bloß Erinnerungen an seine Zeit auf See, bevor man ihn verhaftet und zur Deportation verurteilt hatte. Ein verärgerter Ausdruck trat bei dem Gedanken in sein Gesicht und er verzog missmutig den Mund. Um sich ein wenig Ablenkung zu verschaffen, wandte er sich deshalb wieder an Benjamin. „Ist ein tolles Schiff, was?“, grinste Richard und riss den Barbier aus seinem Staunen wieder heraus. „Ja, sicher doch“, murmelte er verwirrt, in seinen Gedanken gefangen. Dann sah er zu dem Seemann und ihm fiel wieder ein, welchen Beruf sein Mitgefangener ausgeübt hatte. „Du warst doch Seemann, nicht? Dann müsstest du dich gut mit dem Schiff hier auskennen, oder?“ „Hmm so in etwa“, wich Richard ihm aus. „Aber wie wär’s, da wir ohnehin nichts zu tun haben und irgendwann vor Langeweile zugrunde gehen, könnte ich dir ein bisschen was übers Schiff erzählen.“ „Gerne.“ Benjamin hatte nichts gegen diesen Vorschlag einzuwenden. Er war sich der Langeweile, die ihn in den nächsten Wochen seiner eintönigen Gefangenschaft auf See erwarten würde, durchaus bewusst. Bereits in Newgate hatte er erfahren müssen, wie schnell einem die Untätigkeit zusetzen konnte, weshalb er nun über jede Ablenkung dankbar war, die zudem dafür sorgen würde, dass er seine Seekrankheit schlichtweg vergessen und in den Hintergrund verdrängen könnte. Und so machte es Richard sich zur Aufgabe, in der Zeit, die es ihnen erlaubt war, an Deck zu verweilen, dem Barbier den Aufbau des Schiffes zu erklären und ihm jeweils die Begriffe und Namen einzelner Schiffsteile beizubringen. Benjamin fand Gefallen daran und erwies sich als aufmerksamer und guter Zuhörer. Weit kam Richard anfangs jedoch nicht in seiner Erklärung, da sie schon nach kurzer Zeit wieder das Deck verlassen mussten. „Morgen gibt’s dann mehr“, meinte Richard nur achselzuckend, als sie in Reih und Glied unter Deck zu ihren kleinen Kojen getrieben wurden. Den restlichen Tag vertrieb Benjamin damit, stumm ein paar Gesprächen zu lauschen und sich langsam aus der Wirklichkeit zurückzuziehen, wie er es in seiner Gefangenschaft schon getan hatte. Es half und wenn er Glück hatte, erreichte er irgendwann den Punkt, an dem Zeit bedeutungslos wurde. Richard zog es dagegen vor, bei anderen Sträflingen ein Gespräch zu suchen, bis schließlich das Abendessen ausgeteilt wurde. Gepökeltes Rindfleisch. „So, dann schieß mal los!“, forderte der Seemann Benjamin neugierig auf. Er musste sich eingestehen, dass ihn die Geschichte des seltsamen, äußerst schweigsamen Sträflings sehr interessierte. Er unterschied sich von den anderen, ohne Zweifel. Und das war einer der Gründe, weshalb Richard sich überhaupt mit ihm einließ. Er hatte sogar dafür gesorgt, dass sie ungestört blieben und Patrick unmissverständlich klargemacht, an diesem Abend von ihm in Ruhe gelassen zu werden, was der Ire mit einem gleichgültigen Achselzucken zur Kenntnis genommen hatte. Nachdenklich biss Benjamin vom zähen Fleischstreifen ab und überlegte, wie er beginnen sollte. „Bevor man mich zu Unrecht festgenommen hat, arbeitete ich als Barbier“, fing er schließlich zögernd an, wobei sein Blick auf das Essen in seinen Händen gerichtet blieb. Aus diesem Grund bemerkte er auch nicht, wie sich Richards Augenbraue skeptisch bei den Worten „zu Unrecht“ hob. Doch hielt der Seemann es für unklug, den Barbier gleich zu Anfang zu unterbrechen und wartete deshalb erst einmal schweigend ab, was er erzählen würde. Danach war immer noch Zeit das alles in Zweifel zu ziehen. Und so begann Benjamin mit seiner Geschichte. Erzählte kurz von seinem Leben, wie es gewesen war und mit einem Mal durch seine Festnahme völlig aus den Fugen geriet. „Dann kam endlich der Tag, an dem das Gerichtsverfahren stattfinden und sich das Missverständnis klären sollte, wie ich dachte. Aber stattdessen wurde ich plötzlich des Mordversuchs beschuldigt, Richard! Meine treusten Kunden sagten gegen mich aus, wo sie doch wussten, dass ich nie im Leben den bloßen Gedanken an eine solch ungeheuerliche Tat hegen würde!“, mit einem Mal spürte der Barbier, wie all die Empörung über dieses ungerechte Verhalten in ihm hervorkam, nicht willens, sich wieder verdrängen zu lassen, „Kein Wort hat mir der Richter geglaubt, als ich wahrheitsgemäß meine Stellung dazu äußerte. Mich der schamlosen Lüge bezeichnet, das hat er! Jedem einzelnen Wort, jedem einzelnen erlogenen Wort gegen mich hat er Glauben geschenkt. Schließlich verurteilte man mich zur Deportation nach Australien. Lebenslänglich – wegen Mordversuchs!“, rief Benjamin. Während er seine Geschichte erzählt hatte, merkte er, wie die Worte ausgesprochen einen ganz anderen Klang annahmen als bloß gedacht. Die letzten Sätze hatte er auf einmal mit einer großen Heftigkeit ausgesprochen, die er schon lange nicht mehr verspürt hatte. Wie hatte man ihm dieses Unrecht bloß antun können? Alles in ihm protestierte auf einmal. Wie hatte er das nur so einfach hinnehmen können? „Hmm, hört sich ja recht schlecht für dich an“, meinte Richard und überlegte, was er sagen sollte. Während Benjamin erzählt hatte, war die tägliche Portweinration ausgeteilt worden und so starrte er nun nachdenklich auf die rote Flüssigkeit. Er musste zugeben, die Wahrheit über den Barbier hatte ihn enttäuscht. Es war offensichtlich, dass er log. Allein die Tatsache, wie nachdrücklich er auf seine Unschuld beharrte, verlieh dem Ganzen eine ziemliche Unglaubwürdigkeit. „Aber du scheinst ein verdammt gutes Weib gehabt zu haben. So ein Glück hat nun wirklich nicht jeder. Oh ich weiß, wahrscheinlich hat jemand ihr an die Wäsche gewollt und du hast sie eifersüchtig wie dein Augapfel gehütet, was? Ah so war’s doch“, grinste der Seemann zufrieden, der Benjamins fassungslosen Gesichtsausdruck falsch deutete und dadurch ermutigt mit seiner Theorie fortfuhr: „Und bevor der arme Kerl wusste, wie ihm geschah, hat er sich aufgeschlitzt in irgendeiner Gasse wiedergefunden. Und wahrscheinlich hat der Richter auch was an deinem Weib gefunden, wenn’s so ein hübsches Ding ist, wie du beteuert hast. Aber mit einem Richter als Widersacher hat man’s schon schwer. Vielleicht hat dich ja sogar dein liebes Täubchen verpfiffen, ich mein…“ Richard hatte ohne es zu wissen, das Fass zum Überlaufen gebracht. Anfangs mit Unglauben, dann mit zunehmender Fassungslosigkeit und schließlich mit einer langsam auflodernden Wut hatte Benjamin den Worten des Seemannes zugehört. Wie konnte dieser es wagen? Wie konnte er sich erdreisten, solch widerliche Geschichten zu erzählen? Lügen, erstunkene Lügen, die einen schneller als man es sich bewusst wurde, ins Verderben stürzten. Was wusste dieser Seemann schon von ihm? Wie konnte er all das Unrecht, das ihm in den letzten vier Monaten widerfahren war, überhaupt verstehen können? Wahrscheinlich war er wegen Trunkenheit oder dergleichen verurteilt worden. Nein, Richard war nicht im Geringsten bewusst, wovon er da redete, nie im Leben würde er verstehen können, was es bedeutete, an seiner Stelle zu sein! „Sei still, du weißt nicht, was du da sagst“, flüsterte Benjamin leise mit ausdruckslosem Blick. Er war unschuldig, unschuldig, unschuldig! Man hatte ihn zu Unrecht verurteilt! Ihm hatte man eine schreckliche Ungerechtigkeit zugefügt, die nur allein er nachvollziehen konnte. Keiner, wirklich niemand, würde das je verstehen können. Aber auch dieses Mal hatte Richard seinen Mitgefangenen falsch verstanden. Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht und er beugte sich mit triumphierenden Blick vor, als er feststellte: „Ha! Also hatte ich Recht mit meiner Vermutung! So viel also zu deiner Unschuld…“ „Nein!“, platzte es da aus Benjamin heraus und er sprang in all seiner Empörung plötzlich auf. Beinahe wäre er mit dem Kopf gegen die niedrige Deck der Koje gestoßen und konnte, dies bloß noch geistesgegenwärtig verhindern, indem er den Kopf einzog. Aber das stachelte seine Wut nur weiter an. Wütend starrte er auf Richard herab, während er aufgebracht rief: „Ich bin unschuldig! Vom einen auf den anderen Moment hat man mich grundlos verhaftet, hat mich vier verdammte Monate in Newgate festgehalten und bezichtigt mich dreist der Lüge! Nie, wirklich nie habe ich auch nur einen einzigen Gedanken daran verloren, etwas Widerrechtliches zu tun! Oh ich habe ein vorbildliches Leben geführt, habe mich immer ans Gesetz gehalten, niemandem geschadet und auf einmal erzählt alle Welt das Gegenteil! Warum tut man mir das an? Wie, wie konnte das passieren? Was wird nur Lucy nun von mir denken? Wie konnte ich sie einfach so zurücklassen völlig auf sich allein gestellt. Oh Lucy, nie wollte ich dir das antun…“ Kraftlos war Benjamin zusammengesunken. All seine Empörung, die er die letzten Monate über aufgestaut hatte, war mit einem Mal hervorgebrochen, hatte sich Luft gemacht und war in eine erschreckende Wut umgeschlagen. Und je mehr er die Wahrheit aussprach, desto verzweifelter wurde er, bis sein aufgebrachter Ausruf der Empörung einem leisen Wimmern gewichen war. Verzweifelt vergrub er den Kopf in seinen Händen. Es war alles so schrecklich ausweglos! Er war machtlos. Und niemand glaubte ihm – eine schrecklich niederschmetternde Tatsache, bittere Realität. Stumm hatte Richard den Gefühlsausbruch des Barbiers verfolgt. Er war von der Empfindlichkeit seines Mitgefangenen gegenüber diesem Thema überrascht. Meist erzählten die Sträflinge recht gelassen von ihrem Vergehen. Ja, manche brüsteten sich nahezu mit ihren Straftaten und Benjamin schien stattdessen gänzlich darunter zu leiden. Aber, wenn er länger über die Geschichte des Barbiers nachdachte, so kamen ihm ganz andere Gedanken und auf einmal breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er hatte seinen Mitgefangenen in der Tat richtig eingeschätzt, was sein Interesse jedoch bloß an diesem steigerte. Benjamin indessen hatte Richard völlig vergessen. Noch immer litt er unter seinem Gefühlsausbruch. Mit einem Mal waren all die Gefühle, die er die ganze Zeit unterdrückt hatte, teils auch durch die falsche Hoffnung, alles handle sich bloß um ein Missverständnis, auf ihn eingestürmt. Mit jedem Wort, das er ausgesprochen und ihm beinahe schon etwas Befreiendes gegeben hatte, waren auch seine Ängste, seine Verzweiflung, sein Leid und, ja, seine Wut auf die schlimme Ungerechtigkeit in ihm aufgestiegen. All das hatte ihn verwirrt, denn nie hatte er je so empfunden. Vielleicht war er mal ein bisschen ängstlich gewesen, er hatte auch mal ein wenig Verärgerung verspürt, sicher, aber in diesem Ausmaß … nie! Erst recht nicht diese schreckliche Verzweiflung. Was geschah hier bloß? Was tat man ihm an? Er merkte, wie sich seine Kehle zuschnürte und ihr ein erstickter Laut entwich. „Da, bitte, den hast du gerade nötiger als ich, wie mir scheint“, hörte er da auf einmal Richards Stimme, aus der jeglicher Spott verschwunden war. Zögernd sah Benjamin mit stumpfem Blick auf und starrte auf den Portwein, den er eigentlich dem Seemann überlassen hatte und dieser ihm nun auffordernd hinhielt. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verlieren, griff der Barbier danach und stürzte ihn in großen Schlucken hinunter. „Danke“, murmelte er ausdruckslos und ließ den Becher achtlos fallen. In diesem einen Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher, als sich in das wohltuende Vergessen, das ihm der Schlaf schenken würde, flüchten zu können. Sein Mitgefangener hatte dies bemerkte und ließ ihn in Ruhe. Dankbar schloss Benjamin die Augen. Er fühlte sich grässlich, so ausgelaugt, wie ein Kleidungsstück, aus dem man gewaltsam alles Wasser heraus gewrungen hatte. Er wollte nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, sondern sich einfach nur der Vergessenheit des Schlafes überlassen, der ihn langsam übermannte und ihm einen tiefen traumlosen Schlummer schenkte. Nach diesem einen Abend verhielt sich Benjamin verschlossener und wortkarger jedem gegenüber. Richards Reaktion hatte ihn bitter enttäuscht, hatte er doch auf Verständnis und Mitgefühl gehofft. Stattdessen war er mehr oder weniger für seine heftige Unschuldsbeteuerung verspottet worden und wieder hatte man ihm keinen Glauben geschenkt. Es schien, als glaubte niemand der Wahrheit, jeder hielt die Lüge für einfacher, glaubhafter. Und dennoch hatten Richards Mutmaßungen über die vermeintliche Wahrheit Benjamins Gedanken, ohne dass dieser sich darüber im Klaren war, auf eine andere Spur gelenkt. Richter Turpin. Richard hingegen verhielt sich in den nächsten Tagen unverändert, als hätte dieses Gespräch überhaupt nicht stattgefunden. Einen Teil der Zeit an Deck verbrachte er damit, Benjamin auch weiterhin vom Schiff zu erzählen, was dieser nun wortlos zur Kenntnis nahm. Trotzdem zeigte er sich dankbar für die Ablenkung und bemühte sich, nicht allzu abweisend zu reagieren. Hin und wieder gesellte er sich auch zu anderen Sträflingen, bloß um schnell zu erkennen, dass sie Welten voneinander trennten. Jedoch störte ihn das nicht. Vielmehr stimmte ihn die Erkenntnis, dass er sich von den anderen unterschied, glücklich und in ihm regte sich die leise Hoffnung, das alles doch noch gut zu überstehen, ohne sich das Verhalten eines Sträflings anzueignen. Die Tage auf See verstrichen langsam. Jeder einzelne, schien eine Ewigkeit anzudauern und aus der anfänglichen Abwechslung, die sich durch Kartenspielen, Gesprächen oder den kostbaren Stunden an Deck bot, wurde Eintönigkeit, die die Langeweile in jedem an Bord nährte. Auch Benjamin quälte die Untätigkeit, sodass er langsam bereit war, sich auf mehr einzulassen. Die Unterhaltungen, denen er beiwohnte wurden länger. Er stellte fest, dass nicht alle Vorurteile, die er gehabt hatte, berechtigt waren. Nicht jeder wusste nur von unflätigen Dingen oder Verbrechen zu berichten, so war es Patrick, der ihm von seiner Lebensgeschichte erzählte. Vom Iren erfuhr er, dass diesem einzig und allein wegen seiner Herkunft im Laufe der Jahre immer wieder Unrecht angetan worden war. Anfangs hatte der Barbier nicht glauben wollen, was er da hörte, doch schließlich wurde ihm bewusst, dass Patrick Recht hatte. Nicht nur das erfuhr er von ihm, sondern auch den Grund seiner Deportation. Freimütig erklärte Patrick, dass er einer Verschwörung beigewohnt habe, die sich gegen die englische Regierung gerichtet hatte. Er hatte Glück im Unglück gehabt, als dies aufgeflogen war und man sich damit begnügt hatte, ihn lebenslänglich nach Australien zu verbannen, statt ihn zu hängen. Trotz der Ehrlichkeit des Sträflings weigerte sich Benjamin, von seiner Geschichte zu erzählen und gab nichts von seinem Leben preis. Er hatte sich fest vorgenommen, dass niemanden dies mehr etwas anging. Er war es leid, von Außenstehenden der Lüge bezichtigt zu werden. Und irgendwann hörte Patrick auf zu fragen und akzeptierte den Willen des Barbiers, wobei dieser sich manchmal im Stillen fragte, ob nicht vielleicht auch Richard geplaudert hatte. Sein anfängliches Vertrauen in den Seemann war zwar noch vorhanden, jedoch hatte es seit diesem einen Vorfall stark gelitten und sowie auf dieses Thema zu sprechen gekommen wurde, begegnete er allem mit Misstrauen. Ein weiterer Zeitvertreib war das Einüben und Aufführen von selbst erdachten Gerichtsverfahren. Diese endeten meistens darin, dass der verurteilte Sträfling den Richter verhöhnte, ihm die Flucht gelang und er letztendlich ein hübsches Weib bekam. Benjamin begnügte sich damit dem zu zusehen. Schnell hatte er bemerkt, dass in den Augen der Sträflingen das Gericht ein anderes war als für ihn. Seine Gerechtigkeit, an die er immer geglaubt hatte und es immer noch tat, gab es nicht. Der Richter war meist skrupellos und hatte schon von vorneherein beschlossen, dass man schuldig war. Oder aber er war ein Trottel, dem von dem Verurteilten gehörig auf der Nase herumgetanzt wurde. Alle Stücke hatten eines jedoch gemeinsam: Der Name des Gesetzes und denen, die dieses ausführten, wurde in den Dreck gezogen, wo es nur ging. Benjamin war sich unsicher, was er davon halten sollte. Das alles handelte schließlich gegen jegliche Vorstellung von seiner Moral – sein ganzer Glaube an das Gesetz und die Gerechtigkeit würde so in seinen Grundfesten erschüttert werden. Und doch…, ein kleiner Teil in ihm schloss sich dieser Sicht der Dinge mit Begeisterung an. Denn gäbe es tatsächlich diese Gerechtigkeit, hätte man ihn da einfach lebenslänglich nach Australien verbannt? Die Antwort lag auf der Hand und trotzdem floh Benjamin noch eine lange Zeit vor ihr. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Ich habe gerade festgestellt, dass fast ein Jahr zwischen dem letzten und diesem Kapitel hier liegen. Wobei dieses Kapitel so ziemlich in dem Zeitraum des letzten geschrieben worden ist - es war nur die Überarbeitung kleiner Details, die mir zu schaffen gemacht hat und weswegen es so lange gedauert hat. Ich denke, dass dieses Kapitel ein paar wichtige Punkte zu Benjamins Weltanschauung hat. Ingesamt bin ich jedenfalls ganz zufrieden damit. Leider ist mir in letzter Zeit bewusst geworden, dass ich kurz davor bin, die FF abzubrechen oder zumindest zu pausieren, da ich aus diesem ganzen Australien Thema irgendwie rausgerutscht bin. Gut möglich, dass ich in nächster Zeit auch weiterhin lieber an meinem alternativen Ende zu Sweeney Todd weiterschreibe. Wie dem auch sei. Ich hoffe, das Kapitel hat dem ein oder anderen gefallen. Lg -Hakura Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)