Das verlorene Paradies von Gayagrod (... Wenn Engel der Faszination der Hölle erliegen) ================================================================================ Kapitel 1: Grenzwache --------------------- Die Nacht war kühl, als Draco erwachte. Durch den flackernden Schein der Kerze neben seinem Bett konnte er die alte Uhr an der Wand gegenüber seinem Bett sehen. Es war erst zehn Uhr - genügend Zeit noch, um sich für die Wachablösung bereit zu machen. Der Blondhaarige gähnte und streckte sich. Am liebsten wäre er noch länger im Bett geblieben, aber die Pflicht rief und sein Lehrmeister würde auch nicht mehr lange auf sich warten lassen, um ihn daran zu erinnern. Also war es besser, wenn er jetzt schon aufstand, denn sein Meister konnte Leute nicht leiden, die sich vor Pflicht und Arbeit drückten. Draco entschied sich für eine kalte Dusche, um wach und den Staub und Sand los zu werden, der vom gestrigen Tag noch an ihm haftete. Er hatte bis in den frühen Morgen hinein Wachdienst gehabt und währenddessen war ein Sandsturm über das Dorf gefegt. Am Ende seiner Schicht hatte sein Meister ihm noch aufgetragen, bei einigen Reparaturen im Dorf zu helfen. Danach war Draco mitsamt seiner versandeten Kleidung todmüde auf sein Bett gefallen und auf der Stelle eingeschlafen. Als Draco geduscht und sich frische Kleidung angezogen hatte – eine dünne, schwarze Leinenhose und ein dunkelgrünes, langärmeliges Shirt – ging er in die Küche, um ein Nachtmahl zu sich zu nehmen. Er saß gerade am Tisch und verspeiste ein Brot mit Schinken, als sein Meister nach Hause kam. "Guten Abend, Meister Regulus", begrüßte Draco seinen Meister kauend, als dieser die Küche betrat. "Guten Abend, Draco", erwiderte der Andere. Dracos Meister war ein stattlicher Mann, der gewöhnlich schwarze Kleidung und einen dazu passenden Umhang und Handschuhe trug. Vom Äußeren her hätte man ihn auf Ende zwanzig schätzen können, aber sein wahres Alter lag weit darüber. Niemand wusste, wie alt Regulus wirklich war, aber er hatte gewiss schon ein paar hundert Jahre auf dem Buckel, wenn nicht sogar mehr. "Wie ich sehe, bist du schon aufgestanden." Regulus musterte seinen Schüler. Obwohl er nicht besonders laut sprach, füllte seine Stimme den ganzen Raum. "Es ist noch früh, du musst erst in einer Stunde zur Wachablösung." "Ich bin auch noch müde", erwiderte Draco wahrheitsgemäß. "Aber ich wollte nicht, dass Ihr wieder denkt, ich würde faulenzen, nur weil ich länger schlafe." Der Schwarzhaarige lächelte. Draco war stets darum bemüht, einen guten Eindruck als sein Schüler zu machen. "Wenigstens hast du etwas davon verinnerlicht, was ich dir beibringe." Er setzte sich zu Draco an den Tisch. "Das kann man von anderen Leuten nicht unbedingt sagen." Draco setzte ein breites Grinsen auf. "Ihr meint Tonks? Sie genießt es, wenn sie gegen euch rebellieren kann." Regulus stieß einen theatralischen Seufzer aus. "Ist es nicht furchtbar? Sie würde eine wunderbare Korruptrix abgeben, wenn sie sich nur Mühe geben würde." Draco zuckte nur mit den Schultern und dachte an die Dämonin, die mit ihm und Regulus das kleine Haus teilte. Tonks war eine Succubus-Dämonin, was sie wie geschaffen für die Arbeit einer Korruptrix machte. Korruptoren verführten Menschen und ließen die schlimmsten Eigenschaften in ihnen zum Vorschein kommen. Doch Tonks sah keinen Sinn darin, immer wieder aufs Neue Menschen in ihr Verderben zu führen. Draco konnte ihre Meinung verstehen und auch Regulus ließ manchmal durchblitzen, dass er ähnlich dachte. Vor zwei Jahren hatten Tonks' Eltern sie Regulus anvertraut, der zu den vielen Lehrmeistern der Hölle gehörte, um ihre Tochter wieder "auf den rechten Weg" zu bringen. Im Moment waren nur Draco und Tonks seine Schützlinge, aber Regulus hatte Draco erzählt, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen er mehr als fünf Dämonen zugleich auszubilden hatte. In der ersten Zeit, die Tonks mit Draco und Regulus verbracht hatte, hielt sie sich an keine der Weisungen ihres Meisters. Sie schwänzte den Unterricht und verschanzte sich in den alten Höhlen, die in der Nähe des Dorfes lagen, wenn Regulus versuchte, sie ihrer eigentlichen Bestimmung näher zu bringen. Schließlich hatte Regulus es aufgegeben, ihr die Meinung ihrer Eltern einreden zu wollen. Nach einigen Gesprächen einigten sich die beiden darauf, dass Regulus sie dasselbe wie Draco lehren würde und Tonks dafür seinen Weisungen und Regeln befolgte, solange sie ihre Freiheit nicht zu sehr beschnitten. Für Draco war Tonks inzwischen eine gute Freundin und fast so etwas wie eine große Schwester geworden. Nachdem Draco einige Zeit lang seinen eigenen Gedanken nachgehangen hatte, sagte er: "Meister, ich werde jetzt schon zum Wachturm gehen. Ich muss noch etwas mit Tonks besprechen." Sein Meister nickte verständnisvoll. "Hat es etwas mit deinen Träumen zu tun?" Draco, der gerade dabei gewesen war, sein benutztes Geschirr abzuräumen hielt inne. Betrübt schaute er auf den Teller, den er in der Hand hielt. "Ich möchte, dass sie aufhören", murmelte er, mehr zu sich selbst als zu seinem Meister. "Deshalb ... will ich endlich etwas tun. Etwas herausfinden, wenn ich kann." "Gut", meinte Regulus ohne Umschweife. "Es wurde auch langsam Zeit, dass du eine Entscheidung triffst." Er holte eine Taschenuhr hervor und blickte darauf. "Es ist besser, wenn du jetzt gehst. Tonks' Schicht ist bald vorbei und wenn du noch mit ihr reden möchtest, bevor du sie ablöst, solltest du dich beeilen." "Ja, Meister." Draco ging zur Garderobe und warf sich einen dunklen Wollumhang über, der ihn vor der Nachtkälte schützen würde. Dann verabschiedete er sich von Regulus und begab sich auf den Weg zum Wachturm. * Der Wachturm lag etwa einen Kilometer vom Dorf entfernt. Seit Draco vor sieben Jahren zu Meister Regulus hierher gekommen war, half er dort beim Wachdienst. Tonks und er waren nicht die einzigen Grenzwächter, es gab noch andere Leute aus dem Dorf, die ebenfalls dieser Tätigkeit nachgingen und sich die Arbeit mit Draco und Tonks in Schichten einteilten. Es war keine besonders schwere Aufgabe, die karge Landschaft um das Dorf zu überwachen, meist war sie sogar ziemlich langweilig. Die Grenze, damit war das Gebiet gemeint, das Himmel und Hölle voneinander trennte. Denn entgegen der Vorstellung der Menschen befand sich die Hölle nicht unterhalb der Erde und der Himmel über ihr, sondern Himmel und Hölle waren zwei Länder auf einem Kontinent, der in einer anderen Sphäre frei über der Erde schwebte. Laut einer alten Sage war dieser Kontinent, der von seinen Bewohnern als "Himmlischer Kontinent" bezeichnet wurde, von Gott aus der Mitte des Urkontinents der Erde geschaffen worden. Gott nahm das Herz des Urkontinents und ließ ihn als Heimat der Engel über der Erde schweben. Der Urkontinent aber brach auseinander und spaltete sich in die heute bekannten Erdteile auf. Doch nur eine Hälfte des Himmlischen Kontinents war fruchtbar, die andere bestand aus Wüste und brachem Land, das die Engel nicht nutzbar machen konnten. Nachdem Luzifer aus dem Himmel verstoßen worden war, kehrte er auf den Himmlischen Kontinent zurück, um mit Dämonen und anderen gefallenen Engeln das Brache Land zu besiedeln. So entstanden Himmel und Hölle auf der selben Ebene. Die beiden Länder sind durch eine Grenzlinie von mehreren Kilometern Breite getrennt, an deren Rändern auf beiden Seiten in regelmäßigen Abständen Wachdienste eingerichtet sind, die ein Eindringen der jeweils anderen Partei verhindern sollten. Draco hatte den Sinn dieser Wachposten noch nie ganz verstanden, da der letze Krieg zwischen Engeln und Dämonen bereits mehr als 2000 Jahre zurück lag und seitdem keine Engel versucht hatten, in die Hölle einzudringen. Die einzigen Wesen, die Draco manchmal bei seinem Wachdienst zu Gesicht bekam, waren entweder Dämonen, die an der Grenze entlang reisten, umherirrende Geister von Verstorbenen, die eingefangen werden mussten, oder Elementargeister, die sich frei zwischen Himmel und Hölle bewegen konnten. * Draco war am Wachposten angekommen, der aus einem hohen Ausguck und einer kleinen Hütte daneben bestand. Es war eine wolkenlose, klare Nacht und das Licht des Mondes und der Sterne hatte Draco den Weg erleuchtet. Auch jetzt musste er keine Fackel anzünden, um die Leiter zum Ausguck zu erklimmen, der aus einem kleinen Zimmer bestand, das auf dicken, metallenen Stäben ruhte, die gut acht Meter in die Höhe reichten. Der Holztür, die im Boden des Ausgucks eingelassen war, war verschlossen, als Draco das Ende der Leiter erreichte. Er klopfte an die Tür – zwei Mal lang, drei Mal kurz, das vereinbarte Zeichen der Wächter – und kurz darauf wurde die Luke geöffnet und eine schmunzelnde, junge Dämonin reichte ihm die Hand, um ihm in den Raum zu helfen. Das Zimmer war niedrig und bot Platz für drei bis vier Personen, auch wenn meist nicht mehr als ein oder zwei Wachen hier oben Ausschau hielten. In jede Zimmerwand war ein Fenster eingelassen, aber drei davon waren heute Nacht mit Holztäfeln verschlossen, nur ein einziges, das direkt zur Grenze zeigte, war offen. In einer Ecke brannte eine Fackel und warf flackernde Schatten an die Wände. "Wotcher, Draco!", begrüßte Tonks gutgelaunt den jungen Dämon. "Du bist ja früh dran. Meine Schicht endet doch erst in knapp einer halben Stunde?" Tonks kratze sich fragend an ihrer linken Augenbraue. "Oder hab ich mich etwa in der Zeit vertan?" "Nein, das stimmt schon", meinte Draco und nahm in einer Ecke des Raumes Platz. Tonks setzte sich neben ihn. Obwohl sie mehr als fünfmal so alt wie er war, sah Tonks nicht älter aus als Anfang zwanzig. Sie hatte kurzes, pinkfarbenes Haar, ein herzförmiges Gesicht und dunkle Augen, die manchmal traurig vor sich hin blickten. Wie Draco trug auch die ältere Dämonin einen dunklen Umhang, der ihre übrige Kleidung verdeckte. "Ich bin eher gekommen, weil ich etwas mir dir besprechen wollte", meinte Draco. "Dann schieß mal los", meinte Tonks lächelnd. "Hab' immer ein offenes Ohr für dich." Draco atmete einmal tief ein und wieder aus, bevor er erneut sprach. "Ich möchte endlich mehr über meine Träume erfahren. Mehr über diesen Engel, den ich jedes Mal sehe und an den ich mich erinnere. Deswegen wollte dich um Hilfe bitten." "Mmh ...", machte Tonks. "Lass mich raten, du möchtest gern, dass ich meine Kontakte nutze?" "Ja", antwortete Draco, "Du bist doch mit ein paar Elementargeistern befreundet und vielleicht wissen sie ja, wer dieser Engel ist." Er sah Tonks fragend und hoffnungsvoll zugleich an. "Wie sah dein Engel noch gleich aus? Schwarzes Haar, grüne Augen und eine blitzförmige Narbe auf der Stirn?", fragte Tonks. "Und er war jung, nicht viel älter als ich", fügte Draco hinzu. "Ich bin vor siebzehn Jahren gestorben und diese Erinnerungen und Träume stammen von meinem Todestag. Er wird also jetzt auch nicht viel älter sein, wenn er wie ein normaler Engel altert." "Ok, geht klar. Ich frag mal 'n bisschen rum, ob jemand deinen mysteriösen Engel kennt oder sich deswegen mal im Himmel umhören kann." Tonks warf dem blonden Dämonen ein breites Grinsen zu. "Wurd' ja mal Zeit, dass du dich für einen Schritt entscheidest, der Junge schwirrt dir doch schon ewig im Kopf herum!" Draco seufzte. "Genau dasselbe hat Meister Regulus auch gesagt." Tonks lachte laut. "Das kann ich mir lebhaft vorstellen!" "Ich will einfach nur wissen, was damals genau passiert ist. Immerhin habe ich diese Träume schon, so lange ich denken kann und – hey, hör auf zu lachen!", beschwerte sich Draco. Tonks rollte mit den Augen, beugte sich vor und zerwuschelte Dracos Haare. "Jetzt hab dich schon nicht so!", meinte sie lachend. "Lass das!", grummelte Draco und brachte seine Haare wieder in Ordnung. "Ihr beiden habt also nur darauf gewartet, dass ich versuchen würde, mehr über ihn rauszufinden?" "Natürlich. Also ich hab vermutet, dass du's irgendwann versuchen würdest, ist doch auch logisch, oder?", meinte Tonks in einem wieder ernsten Tonfall. "Du träumst regelmäßig von diesem Kerl, ich an deiner Stelle hätte schon längst was unternommen." "Meinst du, die Träume hören auf, wenn ich weiß, wer er ist?", fragte Draco unsicher. "Vielleicht. Das kann man vorher nicht wissen. Möglich, dass wirklich eine besondere Verbindung zwischen euch besteht. Wenn deine Erinnerung und deine Träume wahr sind und du ihn damals tatsächlich sehen konntest, bevor du gestorben bist, obwohl die meisten Menschen Engel nicht sehen können, dann ..." Tonks spann den Gedanken nicht zu Ende und zuckte nur mit den Schultern. "Wer weiß. Vielleicht steckt mehr dahinter, vielleicht auch nicht." Sie sah auf ihre Armbanduhr. "Oh! Jetzt ist mein Dienst wirklich fast vorbei. Stört es dich, wenn ich jetzt schon gehe? Ich bin todmüde." Sie gähnte herzhaft. "Nein, geh ruhig", meinte Draco. "Schlaf gut ... und träum nichts." Er zog eine Grimasse. "Ebenso, ebenso", meinte Tonks fröhlich. "Ich werd' gleich morgen früh ein paar Elementargeister auf deinen Unbekannten ansetzen. Wird schon alles seine Richtigkeit finden." Mit diesen Worten verabschiedete Tonks sich und begann den Abstieg vom Wachturm. Draco blieb allein zurück und hing seinen Gedanken nach, während er die Grenze überwachte. [To be continued ...] A/N: Übrigens würde ich mich über ein paar Kommentare sehr freuen - sie beschleunigen den Schreibprozess ;) Bis zum nächsten Kapitel! Eure ~Gaya~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)