Katenha von Skeru_Seven ================================================================================ Kapitel 19: Heimkehr -------------------- „Irgendetwas passiert hier“, murmelte Ninia vor sich hin, nachdem sich die allgemeine Hektik gelegt hatte. „Haben wir etwas verpasst oder drehen die jetzt wirklich alle ab?“ „Keine Ahnung“, antwortete Jevo ihm geistesabwesend; die Sorge um seinen Bruder stand im Moment für ihn im Vordergrund. Endlich hatten sie sich wiedergetroffen und schon war Raven wieder abgehauen, anscheinend kannte er denjenigen, der von den Katenha als Versuchsobjekt benutzt wurde. Die Frage war, woher? Es schien wohl ziemlich viel passiert zu sein, seitdem er von der Erde entführt worden war, denn sonst interessierte sich Raven nicht für andere Menschen. Sejena, die bemerkt hatte, dass Jevo mit den Gedanken ganz woanders war, legte ihm vorsichtig einen Arm um die Schulter; auf der anderen Seite schmiegte sich Jassin schutzsuchend an sie und fürchtete, jede Sekunde mit einer weiteren Landung telepathischen Grauen überflutet zu werden. Noevy saß unschlüssig an Jassin gelehnt und hoffte, dass Raven sich bald wieder bei ihnen zeigen würde. Was sollte er denn allein gegen die Katenha ausrichten? Das bekam er im Leben nicht hin. Von der ungemütlichen Stimmung um sie herum ließ sich Fear nicht weiter stören, schließlich kannte sie denjenigen nicht, der außerdem verdächtig nach einem Mann geklungen hatte. Ein Grund mehr, entspannt auf einer Matratze zu liegen und Virila zu überzeugen, wie schön das Leben mit ihrer Mutter, ihren Tanten, Schwestern und den vielen anderen Frauen und Mädchen in der kleinen Reihenhaussiedlung am Stadtrand von Cellora war. Virila hörte es sich eigentlich nur an, um sich nicht weiter mit anderen unschönen Themen beschäftigen zu müssen. „Wir lösen unsere Konflikte immer mit Worten, nie mit Gewalt, über wichtige Entscheidungen darf keiner allein bestimmen, meistens stimmen wir dann ab. Und wenn jemand von uns Probleme hat, reden wir darüber und helfen uns gegenseitig.“ So kannte Fear es und würde es auch nicht aufgeben, denn was brachte es, wenn sie unglücklich, von arroganten Männern unterdrückt, im lauten und ihrer Meinung nach hässlichen Stadtinneren wohnte? Vielleicht schaffte sie es tatsächlich, Virila dazu zu bringen, sich ihnen anzuschließen. Neue Mitglieder wurden gerne gesehen, vor allem wenn sie noch relativ jung waren. „Und wie bekommt ihr Kinder?“, fragte Virila skeptisch. „Auf irgendeine Weise muss eure Frauenorganisation ja weiter existieren, ohne ständig neue Leute anzuwerben. Und das funktioniert sicher nicht durch Hoffen und Zaubersprüche aufsagen.“ Obwohl das eine sehr interessante Theorie wäre, die man nur noch beweisen müsste. „Durch künstliche Befruchtung natürlich“, erklärt Fear ihr etwas erstaunt. „Was glaubst du denn? Keine von uns würde freiwillig mit einem Mann schlafen, zum Glück verlangt das auch niemand von uns. Wir leben ja gerade dort, um so wenig wie möglich mit Männern in Kontakt zu kommen.“ Ganz ließ es sich natürlich nicht vermeiden, wenn man ab und zu draußen spazieren oder einkaufen gehen wollte. „Du kennst doch unsere Grundsätze.“ Denn sonst wäre die schöne Idee, ohne Männer im Leben zurecht zu kommen, sinnlos und die Prinzipien der Gemeinschaft verletzt. „Und was macht ihr, wenn das Kind ein Junge wird?“ Hoffentlich ließen sie es dann nicht einfach abtreiben, das könnte Virila nicht akzeptieren, schließlich konnte das Kind nichts dafür, dass seine Mutter ein Problem mit allen Männern der Welt hatte. „Dann suchen wir eine Pflegefamilie, bei uns kann es nicht bleiben.“ Fear rollte sich auf die Seite und betrachtete eingehend Virila, um deren Reaktion auf die Informationen über ihr normales Leben zu sehen. „Klingt doch viel besser als bei euch, stimmts?“ „Naja...“ Es gab auf beiden Sachen, die man positiv oder negativ bewerten konnte. Zwar fand Virila es wirklich ein wenig übertrieben, alle männlichen Wesen des ganzen Universums zu verteufeln, andererseits versuchte Fears Gemeinschaft nur, die Frauen selbstständiger werden zu lassen ohne jemanden, der sich dadurch vielleicht gestört fühlen könnte. Manche Menschen lebten leider noch im Mittelalter und behaupteten, Frauen gehörten in die Küche und nicht ins Berufsleben. „Man kann es unterschiedlich sehen.“ Für sie klang es unverständlich, Kinder wegen ihres Geschlechts auszuschließen, aber war man in 'ihrer' Welt besser? Dort wurde man wegen anderen Dingen ausgegrenzt und das nicht einmal, weil man eine Gefahr in ihnen sah, sondern einfach nur so. Aus dem nichtssagenden Argument, weil sie anders waren. „Vielleicht merkst du ja irgendwann, dass es dir bei uns gefallen könnte. Du darfst jederzeit vorbei kommen.“ Dass Fear sich innerlich schon darauf eingestellt hatte, sie später einmal zu heiraten, wusste Virila schon und es schreckte sie ein wenig ab. Nicht, weil sie Fear nicht mochte – wenn man sich näher mit ihr beschäftigte, wirkte sie fast genauso wie die anderen –, sondern weil sie sich nicht vorstellen konnte, mit einer Frau zusammen zu leben. Und natürlich auch ihr Kind aus für sie irrelevanten Gründen wegzugeben, das passte nicht in ihre Weltanschauung. Dann lieber gar keinen Nachwuchs bekommen. „Kann ich machen, wenn du willst.“ Natürlich würde sie Fear besuchen, sie hatte sich in den letzten Wochen so sehr an ihre Anwesenheit gewöhnt, dass es wohl eine Zeit lang dauern würde, bis sie es realisierte, nicht mehr mit ihr unter einem Dach zu wohnen; außerdem wäre Fear sicher sehr geknickt, wenn sie sich nicht mehr bei ihr meldete und daran wollte Virila auf keinen Fall schuld sein. „Ich glaub, die Verrückten haben aufgehört“, mutmaßte Turil, als nach zehn Minuten kein weiteres verdächtiges Geräusch zu ihnen durchgedrungen war. „Bei denen muss man wirklich mit allem rechnen. Irgendwann versuchen sie, die Weltherrschaft zu erlangen, wartet es ab.“ „Da hat wer zu viel Fernsehen geguckt“, lästerte Muri leise vor sich hin. „Alienangriff auf die Erde, was wollen die denn bitte bei uns? Da gibt es nichts zu holen, außer sie finden dich so toll, dass sie dich mitnehmen und in einer Glasvitrine ausstellen.“ „Hört doch auf, das ist totaler Quatsch“, schaltete sich Ninia ein und versuchte, nicht allzu gereizt zu klingen. Erst der telepathische Terror, nun der auf normalem Weg. Fanden die beiden das lustig oder bekamen sie dafür Geld, sich ständig mit Beleidigungen zu bombardieren? Ein weiterer Punkt, weshalb er sich immer mehr wünschte, bald nach Hause zu kommen. Einzeln waren Muri und Turil kein Problem, aber im Doppelpack gehörten sie verboten, das hielt kein normaler Mensch aus. „Das weißt du erst, wenn es so weit ist.“ Sejena hielt Jevo immer noch im Arm und wusste nicht so genau, was sie noch tun sollte, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. „Stell dir vor, du behauptest das jetzt und in ein paar Jahren haben die Katenha wirklich wieder ihre verrückte Phase und ziehen es durch, dann dürfte Turil dich auslachen. Willst du das?“ „Äh...“ Dazu sagte Ninia vorläufig lieber nichts, bevor sich Turil wieder aufspielte und seine Theorie als absolut richtig einschätzte. „Ist ja auch egal. Ach Mann, hier gibt es zu wenig zu tun, da wird man ja wahnsinnig.“ „Du könntest die Relativitätstheorie widerlegen, wenn du dir genügend Zeit nimmst“, schlug Turil grinsend vor und erntete dafür nur einen bösen Blick. „Oder Fear bekehren, dass Männer wie du und ich doch nicht so grauenhaft sind. Das vertreibt sicher deine Langweile.“ „Ach halt doch die Klappe.“ „Statt euch hier dumm anzumachen, könntet ihr vielleicht mir helfen, unseren traumatisierten Anwesenden wieder aufzubauen“, unterbrach Sejena den aufkommenden Streit zwischen den zwei Jungs. „Ihr habt ja angeblich so viel Zeit.“ „Du meinst wohl, Ni kümmert sich um Jassin und du um deinen Jevo“, stichelte Turil gehässig und sah zufrieden zu, wie Sejena verlegen ihren Arm von Jevos Schulter löste und auf Jassin einredete. Seiner Meinung nach waren Sejena und Jevo ziemlich ineinander verknallt, aber immer, wenn er das ansprechen wollte, wurde er von irgendjemandem daran gehindert. Nur weil hier einige anscheinend die Wahrheit nicht bemerkten, musste er den Mund halten. Dabei half Turil doch so gerne bei solchen kleinen Problemen. „Ist da jemand neidisch, weil keiner auf ihn steht? Liegt wohl dran, dass Mädchen nicht auf Dummschätzer stehen.“ Wie immer wollte sich Muri einen Kommentar zu den interessanten Aussagen ihres Lieblingsstreitpartners nicht verkneifen, vor allem wenn diese einfach überflüssig war. „Leute, muss das denn sein?“ Virila hatte die Unterhaltung inzwischen mitbekommen und schüttelte nur verständnislos den Kopf darüber. Gab es hier keine anderen Schwierigkeiten als das Privatleben von Sejena und Jevo? Das ging niemanden etwas an, auch nicht Turil, egal wie er das empfand. „Lass das und kümmert euch um Jevo und Jassin.“ Musste man sie immer wieder auf den eigentlichen Punkt zurückbringen? „Ja, machen wir ja schon.“ Eilig ging Ninia zu Jassin, setzte sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Hey, alles ist in Ordnung, es hat aufgehört. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Zumindest hoffte er das. „Du schwafelst ihn wirklich jedes Mal mit demselben Zeug voll“, stellte Turil fest. „Hältst du ihn für dumm oder was?“ „Junge, halt deine nervige Klappe! Hast du irgendwas genommen oder wieso bist du heute so ätzend drauf?“, fauchte Ninia ihn aggressiv an und bereute es sofort, als Jassin erschrocken zusammenzuckte und sich panisch umsah. „Jassin, tut mir leid, ich meine dich doch gar nicht.“ Noevy hatte in der ganzen Zeit noch kein Wort gesagt und hörte einfach zu, weil er nicht wusste, was er Hilfreiches beitragen sollte, vor allem seitdem sich Turil mit fast jedem ein kleines verbales Kämpfchen geliefert hatte. Wahrscheinlich waren sie alle durch vorhin noch sehr erschrocken und das entlud sich nun mit einer Gereiztheit, die ihm gar nicht gefiel und die Jassin auch nicht gut vertrug. Aber ein wenig seltsam war der Junge schon, so wie er sich bei jeder Kleinigkeit anstellte, das kannte er nicht einmal von sich selbst. Und Noevy gehörte nicht zu der einfachen Sorte Mensch, wie man schon öfters gemerkt haben sollte und was er auch von sich selbst wusste. „Weiß ich doch.“ Eigentlich hatte Noevy bis gerade eben angenommen, dass Jassin gar nicht sprechen konnte – jedenfalls hatte er das nie in seiner Anwesenheit getan – und war nun doch etwas erstaunt, weil Ninia auf seine Entschuldigung eine Antwort erhalten hatte. Auch die anderen schien das ein bisschen zu wundern, aber Ninia freute sich nur darüber und zog Jassin ein wenig näher an sich. Irgendwann würde Noevy seine Neugier befriedigen müssen und ihn fragen, ob seine Beziehung zu Jassin vielleicht doch so verlief, wie er es von Anfang an vermutet hatte, auch wenn er dafür möglicherweise eins auf den Deckel bekam. Das interessierte ihn dann doch zu sehr. Mit der Zeit hatte auch Sejena Erfolg bei Jevos Aufmunterung und schon bald legte er sich mit Turil an, da dieser auch Ninia und Jassin irgendwelche tiefergehenden Gefühle andichtete und sich sehr darüber ziemlich amüsierte. „Schlimmer als im Kindergarten“, verkündete Fear irgendwann in die Runde – das stärkte ihre negative Meinung über Männer noch – und legte ihren Kopf auf Virilas ausgestreckten Arm. „Wieso gibt es hier keine getrennten Zonen für Jungs und Mädchen wie überall auch?“ „Weil die Katenha bei ihrer Erforschung über die Menschen sowieso an vielen Punkten ziemlich versagt haben“, erklärte Ninia ihr gleich. „Oder findest du es hier besonders human eingerichtet? Bis auf das Bad vielleicht.“ Natürlich wurde er nicht beachtet – Fear tat so, als wäre sie innerhalb von Sekunden eingeschlafen – und widmete sich daher stattdessen lieber Jassin, dem er im Flüsterton den groben Inhalt seines momentanen Lieblingsfilms erzählte. Das einzige, was Noevy davon hörte, klang verdächtig nach einem dieser überdramatischen Fantasyfilmen. Dass sich Leute so etwas freiwillig antaten, verstand er wirklich nicht. Gerade, als Sejena Jevo davon abhalten musste, Turil gegen das Schienbein zu treten, weil er die Hochzeitsfeier von Fear und Virila plante, öffnete sich die Tür und ein halbes Dutzend Trisets betraten den Raum. Erschrocken über deren plötzliches Auftauchen wichen alle mindestens zwei Meter an die gegenüberliegende Seite zurück und beobachteten angespannt, was wohl als nächstes folgen würde. Normalerweise kamen in dieses Zimmer nur Katenha oder neue Jugendliche, die Trisets hatten andere Aufgaben zu erfüllen, aber anscheinend war heute etwas Sonderbares im Gange. Der erste, der von ihnen in Beschlag genommen wurde, war Turil, der sich heftig gegen die unmenschlichen Wesen wehrte, aber gegen zwei Stück, die ihn schließlich mit allen Kräften festhielten, hatte er keine Chance. Wie versteinert sahen die anderen zu, wie er zuerst ohnmächtig wurde und sich dann mit einem der beiden Trisets langsam auflöste. „Was haben die mit uns vor?“, fragte Muri verängstigt. „Reicht ein Opfer am Tag nicht mehr oder wie?“ „Wir wollen euch nicht aussaugen“, vernahmen sie ohne Vorwarnung die Stimme eines Katenhas in ihrem Kopf. „Wir wollten euch eigentlich nach Hause bringen, aber wenn ihr nicht wollt, können wir auch nichts daran ändern.“ „Sollen wir denen auch noch vertrauen?“ Ninia zweifelte langsam an allem und jedem. „Was fordern die als nächstes von uns? Dass wir ihnen unser ganzen Geld geben, damit sie ihre Station erneuern können?“ „Aber sie haben uns bis jetzt noch nie angelogen“, gab Sejena zu bedenken, was sie trotzdem nicht daran hinderte, einen deutlichen Sicherheitsabstand zu wahren. „Vielleicht haben sie wirklich erkannt, dass es alles sinnlos ist und lassen deshalb alle in Ruhe.“ „Schön wärs.“ Zwar hoffte Jevo auf diese Möglichkeit, aber wirklich daran glauben konnte er nah den ganzen Strapazen nicht. „Der Mond kotzt mich auf Dauer echt an.“ „Uns bleibt nichts anderes übrig, als es auszuprobieren, ob sie immer noch die Wahrheit sagen.“ Virila war aufgestanden und zog Fear hinter sich her, die das nur widerwillig über sich ergehen ließ. „Naja, schlimmer kann es eigentlich auch gar nicht mehr kommen, oder?“ Jedenfalls konnte sich Jevo im Moment nichts vorstellen, was den Katenha von Nutzen war und ihnen auch schadete. „Und vielleicht... kommen wir endlich wieder nach Hause.“ Diese Aussicht ließ bei den anderen langsam die Zweifel in den Hintergrund rücken und zögerlich bewegten sie sich alle zu den Trisets, die einen nach dem anderen zu sich nahm und ihn in den seltsamen Zustand versetzte, um ihn transportfähig zu machen. Jevo fragte sich, ob Raven auch zurück durfte, doch bevor er irgendwelche Überlegungen weiterverfolgen konnte, löste sich die ganze Realität um ihn herum auf. „Aua, wo sind wir hier?“ Verwirrt drehte Jevo sich auf die Seite, öffnete die Augen und versuchte, in der Dunkelheit um ihn herum etwas zu erkennen. „Und warum ist es so nass?“ „Ich glaub, es regnet“, sagte Sejena einige Meter von ihm entfernt und stand trotz des leichten Schwindels auf, um ihre Umgebung besser betrachten zu können. „Sind wir auf der Erde?“ Ninia hatte Schwierigkeiten sich aufzusetzen, da Muri halb auf ihm lag und jemand anderes seine Beine blockierte. „Oder ist das alles ein neuer Trick von diesen Katenha? Zutrauen würde er es ihnen gerne. „Es fühlt sich auf jeden Fall alles sehr real an, besonders das Gras.“ Turil spuckte einen kleinen Klumpen Erde und Gras aus und knurrte genervt, als er seine richtig durchweichten Klamotten spürte. „Hatten die keinen besseren Ort, um uns loszuwerden? Am besten zuhause oder wenigstens an einem trockenen Platz. Wo sind wir eigentlich? Mir kommt hier gar nichts bekannt vor.“ „Mir schon“, meinte Muri schnell, bevor sie alle wegen der fehlenden Orientierung in Panik ausbrachen „Irgendwo am Stadtrand in diesem riesigen Wiesengebiet, in der Nähe wohnen wir auch.“ „Was für ein praktischer Zufall, dann bring uns mal schön dahin, bevor wir uns hier erkälten.“ „Ach weißt du was, Turil, wir lassen dich hier und gehen allein.“ Darauf hätte Muri wirklich große Lust, ob ihre Eltern so einen unfreundlichen Besuch in ihrem Haus haben wollten, zweifelte sie stark an. „Ich hätte nichts dagegen“, gab Ninia unumwunden zu und bekam dafür einen Schlag gegen den Unterarm, aber das störte ihn nicht. Wer die Wahrheit nicht vertrug, musste damit leben können. Nachdem sie sich alle so weit es ging erholt und vom Gras befreit hatten, führte Muri die kleine Gruppe über ein Feld und durch einen kleinen Wald, bis sie endlich die letzten Ausläufer Celloras erreichten, wo Muris Familie wohnte. „Können wir heute Nacht bei euch bleiben?“, fragte Virila, die sich nicht mehr in der Lage befand, um noch weite Strecken zurück zulegen. „Sonst muss ich mit dem Bus bis ans andere Ende der Stadt fahren, meine Eltern haben kein Auto.“ „Das geht sicher, zur Not quartieren wir meine kleine Schwester um“, versprach Muri sofort. „Meine Großeltern werden sich freuen, endlich mal wieder für längere Zeit von ihr gestört zu werden.“ Muris Eltern waren dermaßen glücklich, ihre Tochter wieder bei sich zu haben, dass sie keine Einwände erhoben, als sie erfuhren, noch acht weitere Übernachtungsgäste gratis dazu zu bekommen. Hauptsache, ihre Tochter war wieder da, außerdem bedeutete es, dass noch andere Eltern bald ihre Kinder wiedersehen konnten. Der Reihe nach wurde jeder unter die Dusche geschickt, damit er sich keiner eine Unterkühlung zuzog, mit Kleidung von Muri oder auch von ihrem Vater – Turil passten keine Anziehsachen eines anderen Familienmitglieds, außerdem weigerte er sich, irgendwelche Frauenkleider anzuziehen – und schließlich mit massenweise Essen, das Muris Mutter ihm gesamten Haus zusammengesammelt hatte, versorgt. Das Essen bei den Katenha hatte wirklich nicht die Qualität besessen wie das auf der Erde, was man ihnen allen deutlich ansah. Natürlich erzählte Muri ihren Eltern haarklein, was genau geschehen war, seitdem sie an einem Mittwoch nicht von der Schule nach Hause gekommen war. Währenddessen saßen die anderen in Muris Zimmer, beschäftigten sich auf irgendeine Weise oder telefonierten mit ihren Eltern, um sie vorzuwarnen, dass sie morgen bei ihnen vor der Tür ständen. „Willst du nicht auch bei dir anrufen?“, fragte Ninia Jassin, nachdem er seine Familie über seine Rückkehr informiert und seine in Tränen aufgelöste Mutter am Telefon zu trösten versucht hatte. „Sie machen sich doch auch Sorgen.“ „Nein.“ Jassins Gesichtsausdruck wechselte sich wieder zu dem altbekannten, wenn er sich vor irgendetwas fürchtete und Ninia seufzte, weil er darauf gefasst war, ihn gleich aus irgendeinem Eck herauszulocken, in das er sich sicher verschanzte. Warum flüchtete er auch immer, wenn es Probleme gab? So konnte man nicht alles im Leben lösen. „Und wieso?“ „Weil...“ Jassin wurde jeden Augenblick unruhiger. „Es ist halt so.“ „Man muss aber wirklich gute Gründe haben, um sich keine Sorgen um sein Kind zu machen, wenn es Monate nicht nach Hause kommt.“ Seine Mutter könnte das überhaupt nicht, das hatte er ja soeben gehört. „Hat sie die denn?“ „Anscheinend schon. Sie wollte mich unbedingt loswerden, also wird sie eher froh sein, dass ich nicht mehr da war.“ „Hör doch auf, das glaub ich dir nicht.“ Energisch packte Ninia Jassin an den Handgelenken und zog ihn vor sich. „Das tut keine Mutter.“ Jedenfalls keine, die er kannte. „Und wieso hat sie mich dann vor drei Jahren auf dieses Internat gesteckt, mich nie besucht und sich kein einziges Mal gemeldet?“ Er vergrub sein Gesicht in Ninias T-Shirt und schluchzte leise. „Warum hat sie gesagt, ein Leben ohne mich wäre viel leichter für sie? Warum hatte sie immer diese Wutausbrüche, wenn ich da war? Warum denn sonst? Sie macht sich keine Sorgen um mich, weil sie mich nicht haben will.“ Überfordert von dieser Aussage ließ Ninia Jassin los und schlang stattdessen seine Arme um dessen Oberkörper. Für ihn klang das alles so abwegig, unmöglich, nicht nachvollziehbar, aber es gab leider nicht nur solche Menschen wie seine Mutter. Und gerade so jemanden hatte Jassin erwischt, der besonders viel Aufmerksam brauchte oder vielleicht gerade durch diese Tatsache, das wusste er nicht, dafür kannte er ihn nicht lange genug. Er wusste nur, dass er ihm sehr leid tat, weil er anscheinend nichts für das Verhalten seiner Mutter konnte und darunter litt. „Und du bist eigentlich immer noch in diesem Internat?“ Dann müsste er sich dort melden. Jassin schüttelte den Kopf. „An dem Tag, als ich eingefangen wurde, bin ich dort abgehauen, da will ich nie wieder hin.“ „Musst du auch nicht, wir werden schon was für dich finden, wo du wohnen kannst.“ Vorsichtig strich ihm Ninia über den Kopf und plante in Gedanken schon, wie er seine Eltern überreden würde, Jassin bei sich einziehen zu lassen. Hoffentlich verstanden sie es. In dieser Nacht schliefen sie alle besser als in den Wochen und Monaten davor; Fear und Virila teilten sich Muris Bett, Sejena, Jevo und Noevy das Bett von Muris Schwester, Ninia und Jassin das Gästebett, das im Flur aufgestellt wurde und Turil und Muri belegten jeweils ein Sofa – Noevy wettete darauf, dass sie sich die ganze Nacht lang anzickten – im Wohnzimmer. Zwar immer noch kein eigenen Schlafplatz für jeden, aber es war ein Fortschritt im Vergleich zu dem kleinen Matratzenlager in der Station. Außerdem gab es hier angenehm weiche Decken und Kopfkissen. „Endlich sind wieder zurück“, murmelte Sejena leise vor sich hin und rückte ein Stück in Richtung Wand, damit Jevo zwischen ihr und Noevy nicht eingequetscht wurde. „Wir sind zwar noch nicht zuhause, aber das ist doch auch schön, oder?“ „Ja, eigentlich schon.“ Jevo zog die Decke aus Noevys Griff, damit er selbst noch etwas davon bekam. „Aber Raven ist nicht hier.“ Was sollte er seinen Eltern sagen, wenn er zuhause ankam? Egal wie oft sie sich mit ihrem ältesten Sohn gestritten hatten, Sorgen würden sie sich sicher machen, wenn sie nicht genau wussten, wo er war. „Vielleicht kommt er noch?“ Sejena wollte ihm auf keinen Fall zeigen, dass sie nicht mehr damit rechnete, Raven in der nächsten Zeit wieder zu sehen. „Es kann ja sein, dass er bei demjenigen, mit dem die Katenha den Versuch gemacht haben, geblieben ist.“ „Das glaube ich nicht.“ Das passte nicht zu Raven. Aber er schien sich leicht verändert zu haben, deswegen würde er darauf nicht vertrauen. Vielleicht würde er wirklich bald seinen Bruder wiedersehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)