Entitäten 2 von Lanefenu (Stiller Wahnsinn) ================================================================================ Kapitel 1: Eins. Papas gutes Mädchen ------------------------------------ Papa. Wir spielen nur ein Spiel. Ein Spiel, so ähnlich wie das, was wir früher schon gespielt haben, du nanntest es „Superstar“. Du warst der Mann, der die Filme macht, ich war die Hauptdarstellerin. Ich weiß noch, Papa, wie ich in die Kamera lächelte. Du lächeltest auch und ich war ein gutes Mädchen. Ein süßes, gutes Mädchen. Wir haben viele Filme gemacht, Papa, manchmal trug ich den rotkarierten kleinen Bikini, den du so mochtest. Manchmal hatte ich ein Erdbeereis in der Hand und durfte, das war lecker, davon naschen, während du den Filmemacher gespielt hast. Und wenn ich wirklich, WIRKLICH brav war, Papa, dann haben wir auch gekuschelt. Das war schon schön, Papa, aber komisch da unten mit deiner großen Hand, und manchmal, Papa, manchmal hat es weh getan und das war dann doch nicht mehr schön. So weh, dass ich weinen musste, und das war dumm, du hattest ja Recht, Papa, ich wollte ja ein gutes Mädchen sein, ein großes Mädchen aber ich war dumm und ich wollte, dass du mich lieb hast. Denn ich hab dich sehr lieb. Du bist der tollste Papa, den es gibt und ich hoffe, du wachst bald wieder auf, damit wir diesen Film zu Ende machen können, diesen Film, der nur was für „Große“ ist, Papa, denn überall ist Blut, Blut auf dem Boden vom Keller, wo wir „Superstar“ gespielt haben, Blut an meinen Fingern und auf dem Messer. Es ist nur ein Spiel, Papa, keine Sorge, bald wachst du wieder auf, oder ich küss dich wach so wie damals, dann haben wir wieder Spaghetti im Mund, wie du immer gesagt hast und das war lustig, Papa. Ich lächle in die Kamera und nuckel an meinem Daumen, eigentlich machen das nur Babys, aber du sagtest stets, es sei okay. Nun schaue ich dich an und mir wird klar, du KANNST gar nicht schlafen, Papa, du hast die Augen ja offen und du musst gar nicht blinzeln, sag, bist du wirklich der Zauberer, der Schlangen beschwört? Ich mache die Beine ganz weit auseinander, so wie in unseren ersten Filmen, aber seit damals hat sich etwas verändert und ich finde es komisch, eklig, diese Haare zwischen meinen Beinen, kein Wunder, dass du mich nicht mehr leiden magst, Papa. Papa, wie tief schläfst du nur? Warum wolltest du, dass ich das mit dem Messer mache, was sind das für blaue und graue Schlingen, die da aus deinem Bauch wachsen, in dem ich neugierig getastet, geforscht, gespielt habe? Ich bin ein gutes Mädchen, es war ja nur Spaß, das wussten wir Beide. Papa, ich hab dich so lieb und ich möchte mit dir spielen, tanzen, Filme machen, wir werden Superstars und die ganze Welt kennt uns, genau wie dein Freund, den ich Onkel Bart nenne. Ob er auch zu Besuch kommt? Schläfst du oder spielst du, Papa? Du machst mir doch Angst, denn ich weiß es langsam wirklich nicht mehr. Ich schlecke an dem Messer und tu so, als wäre es mein Eis, aber wer macht denn nun die Filme, wenn du dort liegst, Papa, soll ich dich da streicheln, wo Papas es am allerliebsten haben, ich würde doch alles für dich tun, denn ich bin dein Mädchen, dein gutes, süßes Mädchen. Papa! Lass mich mitspielen! Mir ist langweilig, ich vermisse dich. Ich gebe dir einen Kuss und hebe das Messer. Ich habe dich unbeschreiblich lieb und wir werden spielen, spielen, spielen! Kapitel 2: Zwei. Der Geist -------------------------- Stimmen. Farben. Licht. Gerüche. Geräusche. Schatten. Wärme. Kälte. Angst. Schmerz. Ich spüre, sehe, rieche all das mit jeder Faser meines geisterhaften Körpers, ich vernehme das stetige Ticken der Uhr, ich fühle ihre Hände, wie sie mich berühren, streicheln, und ihre Stimmen, die da sagen: „Maus, wir haben dich sehr lieb.“ Wie das alles passieren konnte, weiß ich nicht. Ich gehe im Frühling nicht durch die Straßen und sehe Schneeglöckchen und Krokusse am Straßenrand wachsen. Die ersten zarten Knospen an den Bäumen sind immer weit weg und ich kann nicht sagen: „Ja, langsam wird es sehr warm, ich kann endlich die dicke, plumpe Winterjacke in den Kleiderschrank verbannen.“ Mir ist es verwehrt, im Sommer in den Urlaub zu fahren. Sonne, die meine Nase kitzelt, Vanilleeis, das auf meine Finger tropft, wo ich es hastig auflecke, Baden im Meer, dessen Wasser nach dem Aufenthalt in der Sonne doch noch sehr kalt ist, Ausflüge in die Stadt, tanzen in der Disko, wider jeglicher Vernunft Alkohol trinken, bis mir höllisch schlecht wird. Das geht alles nicht. Im Herbst kann ich nicht den Kamin anstellen, die Kinder beobachten, wie sie aus Kastanien Igel basteln oder abends Laterne laufen, während sie Martinslieder singen und mit gelben Gummistiefeln durch rot gefärbte Ahornblätter stapfen. Wenn der Winter kommt, gehen alle Schneemänner bauen, Schlittschuh laufen und bekommen eine Erkältung, nur ich nicht. Türen am Adventskalender werden geöffnet, aber nicht von mir und wenn man mir sagt „Fröhliche Weihnachten, meine Süße“, dann kann ich nicht antworten, so gern ich das auch möchte. Ich höre das Heulen von Silvesterraketen und auch das „Frohes Neues!“, aber nie werde ich mit leisem Klirren ein Sektglas anstoßen, Umarmungen erwidern, Wunderkerzen halten, lachen, mir neue Vorsätze festnehmen, die ja doch nichts werden. All das geht nicht mehr. Ich spüre nur eine tiefe Traurigkeit, wenn ich an all das denke. Wenn ich Geburtstag habe, bringt man mir Blumen, ein Teelicht, streichelt mir über das Haar und wünscht mir alles Gute. Und manchmal, wenn einer von ihnen alleine ist, meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, fängt er, fängt sie an zu weinen und ich weiß, die Traurigkeit gilt zum großen Teil mir, aber auch ihnen, weil sie diese Last mit sich tragen müssen. Dann droht mein Herz jedes Mal zu zerbrechen, ich möchte weinen, sie trösten, mich entschuldigen und schreien: „Ich bin doch noch bei euch! Und mir geht es gut, ich habe euch lieb, bitte weint nicht länger meinetwegen!“ Aber das ist nicht möglich. Für mich ist nichts mehr möglich, ich bin gefangen, erstarrt, eine Puppe, ein Schatten der die Minuten zählt. Wie gerne wäre ich die Märchenprinzessin, die von ihrem Befreier wach geküsst wird, aber in der wirklichen Welt gibt es solche Prinzen nicht, der Zauber existiert nicht, sonst hätte er sicher schon lange dafür gesorgt, dass ich mich aus den unsichtbaren Ketten befreien kann, um zu leben. Gerade ist wieder Schwester Marianne ins Zimmer gekommen. Sie wird gleich den Katheter wechseln und dabei nicht besonders sanft vorgehen, was ich überhaupt nicht leiden kann. Sie glaubt ja -genau wie meine arme, unwissende Familie!- dass ich sowieso nichts mehr spüren kann, nicht mehr da bin, nur noch existiere und vegetiere. Aber ich bin kein Geist, kein lebendes Fleisch. Ich liege hier in einem sterilen, seelenlosen Zimmer im Krankenhaus, im Wachkoma und ich kann keinem erzählen, wie sehr ich leide, was ich alles von der Welt miterlebe, ich kann all den Unwissenden nicht entgegen schreien, dass sie sich irren. Ich fühle noch sehr viel! Ich bin kein Geist! Kapitel 3: Drei. Spitzenqualität -------------------------------- „Nummer 172“, hauchte das blonde, nackte Mädchen furchtsam. „Was ist?“ gab ich mit schleppender Stimme zurück und wollte im Grunde gar keine Antwort bekommen. „Ich habe Angst. Ich habe solche Angst!“ wimmerte sie. Nummer 422, das war ihr Name, war erst vor kurzem aus dem ‚Block‘ hierher gebracht worden. Der Block war eine vorübergehende Existenzanlage für uns und die Verhältnisse dort waren zumindest ein wenig besser als das, was hier vorherrschte. „Ich habe Angst und mein Rücken tut weh!“ jammerte sie weiter und hielt sich dabei trotz allem gedämpft, denn jedes lautere Geräusch warf ein verräterisches Echo. „Dann weine“, empfahl ich dumpf. Nummer 422 versuchte, ihre fischweißen Beine auszustrecken, was natürlich völlig unmöglich war. „Ich will hier raus“, schnüffelte sie hicksend. „Ich will raus…raus!“ gewollt oder ungewollt nahm sie meinen Tipp an und brach in Tränen aus. „Heul leiser“, befahl eine vom langen Schweigen krächzend gewordene Stimme einen Kasten weiter oben. „Heul sofort leiser, ehe SIE es bemerken!“ Nummer 422 tat nichts dergleichen und barg ihr feistes Gesicht in den weichen Händen, wie ein Vorhang fielen ihr die ungewaschenen, ölig schimmernden Haare vor das Gesicht. Ihr konnte gerade so ihre Konturen erahnen, es war recht finster in der stickigen, stinkenden Halle, aber darüber hinaus war ich ohnehin schon fast blind. „Ich will raaaauuuuuus!“ greinte die Unglückliche gerade und schluchzte hemmungslos. Ich wand mich unruhig in meinem engen Gefängnis, auch wenn meine verkümmerten, porösen Knochen dabei leise knackten und überraschend erfrischende Schmerzwellen in mein apathisches Bewusstsein sandten. „Oh nein…“, hauchte eine andere Stimme, die vor Angst regelrecht piepsig wurde. „S-sie kommen…i-ich glaube, s-s-SIE kommen…!“ Und tatsächlich öffnete sich das dicke, fensterlose Haupttor, begleitet von einem leisen, elektrischen Summen. Ein entsetztes Stöhnen und Winseln ging durch unsere Reihen, als ein breiter Streifen von grellem Licht in die Halle flutete und unsere empfindlichen Augen blendete. „Bitte, bitte, nicht mich, nehmt nicht mich!“ winselte eine Stimme. Ich selbst hatte schon lange aufgehört, SIE anzuflehen und verfolgte den weiteren Fortgang mit einer gewissen Gleichgültigkeit. SIE trippelten näher, IHRE Füße verursachten leise, tickende Geräusche auf dem Betonboden. Und SIE hatten die ‚Stangen‘ dabei. Aus jedem Käfig, an dem SIE tatenlos vorbei gingen, erklangen dankbare Laute und Seufzer und ich bemerkte ohne rechte Überraschung, dass SIE auf die Reihe zusteuerten, in der auch ich und Nummer 422 lagerten. Mit müden, rot entzündeten Augen stierte ich IHNEN entgegen, aber auch an diesem Tag sollte ich verschont bleiben. Nummer 422 allerdings schien zu spüren, dass sie an der Reihe war und ein kleiner Teil von mir, der sich noch mit dem Denken beschäftigte, dachte daran, dass sie dafür dankbar sein sollte- bei ihr war es schnell gegangen. Ganz offensichtlich teilte das Mädchen meine Meinung nicht und begann atemlos zu kreischen: „Nein, nein oh nein, bitte nicht, nicht, NEIIIN…!“ ihre Hysterie endete so schnell, wie sie begonnen hatte, denn noch bevor sie die gesamte Produktion –uns- mit ihrem Wahnsinn anstecken konnte, stieß einer von IHNEN den ‚Stab‘ durch die Gitterstäbe und rammte ihn Nummer 422 in den Hals. Es gab ein zischendes, brutzelndes Geräusch und das Mädchen brach sofort zusammen; tot. SIE öffneten den verdreckten Käfig und rissen die Leiche heraus, um sie auf einen vorsorglich mitgebrachten Karren zu werfen. Danach wandten SIE sich ohne irgendwelche Struktur anderen Käfigen zu, abermals begannen die Insassen zu bitten und zu betteln, aber auch hier flehte keiner lange. Ich hatte längst den Blick abgewandt, meine Schultern streiften die Wände des Verschlags, sobald ich versuchte, die vor die Brust gepressten Arme zu lockern. Mit geschlossenen Augen hörte ich, wie SIE mit ihrer Ausbeute verschwanden, kurz darauf ertönte wieder das elektrische Summen und Dunkelheit legte sich wie ein schweres Tuch über die Halle. Ich weiß genau, was jetzt mit Nummer 422 und den anderen geschehen wird. Man wird sie sorgfältig waschen und ihnen die lästigen Haare ausrupfen. Sie werden eine Weile in der ‚Kammer‘ ausbluten. Sie werden zerlegt, filetiert, gegart, gepökelt, abgepackt, manchmal auch im Ganzen zum Verkauf angeboten, auf dass ihre Knochen eine Suppe verfeinern oder sie an Festtagen die ganze Familie glücklich machen. Kinder, die mit IHREN rätselhaften Techniken schnell gemästet werden, sind mit etwa vier bis acht Jahren besonders zart und ihr Brustfilet gehört, zusammen mit ein wenig Remoulade und einer Gurkenscheibe, wirklich auf jedes Brötchen. Was übrig bleibt und keine Abnehmer findet, wird verarbeitet und uns überlassen, eine Tatsache, die mich nicht mehr stört, ich esse eigentlich immer. Über meinen seltsam teilnahmslosen, umnebelten Gedanken schlafe ich ein, das kalte Metall drückt sich in meinen Rücken, meine vom eigenen Urin wunden Schenkel drücken sich aneinander, meine Kopfhaut juckt, doch all dies spüre ich nicht mehr, ich schlafe und sehe dabei kurz ein Gesicht von IHNEN vor mir. ES hat Federn, viele Federn, einen Schnabel und abschätzende Augen, die mich, das Produkt, nur einen flüchtigen Herzschlag lang mustern, dann muss ES wieder an die Arbeit, denn ES ist schwer beschäftigt. Kapitel 4: Vier. Ewig ist das Wie --------------------------------- Voller Aufmerksamkeit verfolgte der Tyrannosaurus rex aus dem sicheren Versteck, das er sich gesucht hatte, die Herde. Tonnen um Tonnen voll heißem, festem Fleisch, heißes, köstliches Blut, das durch die behäbigen Körper pumpte, heißes Futter. Fleisch. Seine kleinen Augen beobachteten die ahnungslosen Pflanzenfresser, die dicht beieinander standen, suchten nach einem schwachen Glied in der Kette, einem Opfer. Er dachte mit seinen Zähnen, denen es nach einem hilflosen Jungtier verlangte oder aber nach einem, das alt war und schwach, nicht fähig zu fliehen. Der Tyrannosaurus rex merkte nicht, wie sich mit trägem, leisem Gesumm ein Moskito auf seinem Körper nieder ließ. Der Moskito brauchte Blut, im Verhältnis zu dem riesigen Tier, auf dem er saß, eine verschwindend geringe Menge. Er war so klein und unbedeutend, dass das gefährlichste Raubtier der Kreidezeit nicht einmal merkte, dass es in gewisser Weise selbst gerade benutzt, benötigt, gefressen wurde. Der kleine Parasit labte sich an seinem Opfer, das bald aus dem Dickicht hervorbrechen sollte, um brüllend die ahnungslosen Alamosaurier anzufallen. Nachdem er seinen Bedarf gestillt hatte, erhob er sich und flog davon, über einen Sumpf mit riesenhaften Krokodilen, über den Dschungel, fort. Warum er ausgerechnet auf diesem einen Baum zum sitzen kam, wusste der Moskito wohl selbst nicht, er begriff auch nicht, dass das träge fließende goldbraune Baumharz, das ihn bald umschließen würde, sein Tod war. Aber so kam es und der Moskito, hirnlos aber mit bester Nahrung versorgt, starb und wurde für die Ewigkeit konserviert. Es war kalt wie immer, die Frauen sammelten Gräser und Körner, die Alten und Schwachen, die diesen Winter nicht mehr erleben würden, hüteten das Feuer, so lange sie noch durften. Wer schwach war und für die Gemeinschaft nutzlos, der war es nicht wert, gefüttert zu werden. Nur die Starken, die Geschickten, blieben am Leben. Mit kleinen, schwarzbraunen Augen hinter deren ausgeprägten Wülsten betrachtete der Mann den lohfarbenden Klumpen in seiner Hand. Seine breite Nase schnüffelte, die Nasenflügel bebten. Der aus gegerbtem Fell bestehende Umhang machte ihn unförmig. Eigentlich hatte er überhaupt keine Zeit, sich den Klumpen anzusehen, auch wenn er schön war, ein Schmuckstück. Goldbraun, hart, dennoch sehr leicht, in der Mitte war ein schwarzes Ding eingeschlossen, eines von diesen lästigen Tieren, deren Stiche sich entzünden- und den Tod bringen konnten. Ein schönes Ding, aber vollkommen wertlos, man konnte weder Pfeilspitzen noch ein Beil daraus fertigen und so schleuderte der Mann seinen Fund mit einem Grunzen fort ins Unterholz und vergaß bereits, dass er das Schmuckstück je besessen hatte, stattdessen beugte er sich vor und fuhr fort, mit der unendlichen Geduld und einer Geschicklichkeit, die zwanzigtausend Jahre später verlernt sein sollte, den schwarzweißen Feuerstein in eine Waffe zu verwandeln, die spitz und robust genug war, um Mammuts den Tod zu bringen. Er war gut in dieser Arbeit und sein Beil war ein Meisterwerk. Er würde es bis zu seinem Tode bei sich tragen, einem Tode, der noch mehr als einen Winter warten musste. Er war stark und nützlich für die Gemeinschaft. Eine junge Frau, einundzwanzig Jahre alt, stand vor ihrer Glasvitrine, die sie damals noch für DM bekommen hatte, heute zahlte man mit Euro. Nicht, dass sie die Vitrine selbst gekauft hätte, die war ein Geschenk. Im untersten Fach fand sich nutzloser Schund, der anderswo keinen Platz bekommen hatte: eine abgestandene Parfumflasche, eine zerrissene, billige Kette, die Nickel enthielt (und sie hatte eine Nickelallergie), ein kleines Holzdöschen, das sie mal auf dem Flohmarkt gekauft hatte, ohne aber zu wissen, wofür. Das oberste Fach war leer bis auf ein paar vergessene Schulhefte mit wirren, kindlichen Kurzgeschichten, aber das mittlere, über dem Schundfach und unter dem Schulfach, enthielt eine Sammlung von Edelsteinen und Halbedelsteinen, hübsche Kinkerlitzchen wie Rosenquarz, Tigeraugen, ein kleiner Amethyst, Bergkristall. Dazwischen, ohne ersichtliche Ordnung, fanden sich Fossilien: Ammoniten, Belemniten, versteinerte Muschelabdrücke. Und wiederum dazwischen lagen Pfeilspitzen und Abschläge aus Feuerstein, sogar ein einzelnes Beil. Diese uralten Relikte aus der Vorzeit sammelte die junge Frau in Dänemark auf einer kleinen Insel, auf der sie häufig Urlaub machte. Es war für sie faszinierend, sich mit einem Fund auf einen Stein am Strand zu setzen und nachzudenken, sich fort zu träumen aus ihrem Leben, das bis auf einige negative Stationen gar nicht mal so schlecht lief und sie trotzdem kreuzunglücklich machte. Sich vorzustellen, wie es gewesen sein musste: damals, vor tausenden von Jahren. Wilde Natur, nicht gezähmt und unter Beton erstickt wie heute. Keine Gesetze, kein Radio, keine schlechten Mathematikklausuren, kein tristes Gefühl von Leere und Nutzlosigkeit, der Frage, ob der gewählte Beruf etwas taugte, ob man selbst etwas taugte. Es musste eher eine Zeit des Handelns gewesen sein, rohe Praxis statt lähmender Theorie, wer nicht wagt, der stirbt, für Selbstzweifel keine Zeit, weil das Feuer nicht ausgehen durfte, weil die Winter lang und kalt waren und es keine bequemen Heizkörper und heißen Glühwein gab. Oft saß also diese junge Frau am Strand, betrachtete sich die gefundene Pfeilspitze und grübelte, wie es gewesen sein könnte. Manchmal meinte sie fast, neben einer geduckten, grobschlächtigen, aber nicht unbedingt groß gewachsenen Gestalt zu stehen, die da auf einem umgestürzten Baumstamm saß und ganz vorsichtig, ganz geduldig diese Waffe aus Stein schuf, die sie jetzt gerade zwischen den Fingern drehte. Die vielleicht einmal in die Flanken eines Raubtiers eingedrungen war. Die auf jeden Fall vor ungezählten Jahren von einem Menschen gemacht worden war, der einer völlig anderen Epoche angehörte und schon lange tot war. Dann fragte sich die junge Frau weiter, ob dem Besitzer der Pfeilspitze wohl auch solche Gedanken gekommen waren: Was wird irgendwann aus meiner Waffe, wer bekommt sie und denkt darüber nach? Es war sehr surreal. Die junge Frau spielte an einem ihrer zahlreichen Ohrringe. Ihr Vater fand die Anzahl schon recht ekelhaft, sechs am linken Ohr und fünf am rechten, aber das war ihr egal. Schließlich verließ sie das Zimmer, in dem die Vitrine stand, seufzte und schenkte sich lustlos etwas zu trinken ein, nicht, weil sie durstig war, ihr war nur langweilig. Das triste Gefühl von Leere und Nutzlosigkeit war wieder da. Ein Wesen, das man nicht mit Armen, Beinen und Kopf beschreiben konnte, ließ das uralte Fundstück vor den fünf schillernden Punkten schweben, durch die es gleichzeitig nach oben, unten, vorne und hinten sehen und auch Gedanken lesen konnte. Nachdem dieser verbrannte und hässliche Planet wieder einigermaßen aufgebaut worden war, konnte man sich hier auch eine Wohnung zulegen, ohne sich ob seines gewählten Heimatortes schämen zu müssen. Und wenn dem doch so war, konnte man immer noch binnen einer halben Sekunde zurück. Das Wesen ließ das Fundstück kreisen und betrachtete es näher. Ein roter Ring mit einer schwarzen Katze, für die weiblichen Bewohner der –so nannten sie sich wohl selbst- Rasse Homo sapiens gemacht, die diesen Planeten vor vierzig Millionen Jahren zerstört und zuvor besiedelt hatten. Seine hoch entwickelten Hirnfunktionen ermöglichten es dem Wesen, sämtliche Informationen über den Fund heraus zu lesen, Rückschlüsse, Zusammenhänge und Logik zu finden, so haargenau, dass es seine Fähigkeiten des Gedankenlesens kaum gebraucht hätte. Der Ring hatte einem weiblichen Vertreter dieser Gattung gehört. Die Kreatur war mit zweiundzwanzig Jahren gestorben, Selbstmord durch einen Sprung vor ein Transportmittel, genannt Zug. Sie war nicht allzu hübsch gewesen, hatte eine Sehschwäche und körperliches Übergewicht gehabt, hatte trotz Anwandlungen von Misanthropie mit zum Teil behinderten Kindern gearbeitet. Mutter und Vater, ein drei Jahre jüngerer Bruder. Geburtsort: Europa, Deutschland, eine Stadt namens Bremen. Das Wesen betrachtete das Schmuckstück der Toten mit Interesse und fügte es dann seiner Sammlung hinzu. Es war schön zu sehen, dass ein paar interessante Artefakte die Vernichtung der Erde überstanden hatten. Und während das Wesen davon schwebte, überlegte es nur ganz flüchtig, ob es ebenfalls zu dem ewigen Kreislauf gehörte. Ob vielleicht irgendwann jemand kommen würde und über die Vergangenheit nachdenken würde. Es war sehr surreal. Kapitel 5: Fünf. Es lebe die Ehe -------------------------------- Fünf. Es lebe die Ehe „Hast du die Mülleimer rausgestellt?“ fragte sie halb abwesend, während sie ein Handy unters Kinn klemmte, mit der linken Hand die Milchpackung aufschraubte und mit der rechten eine eMail-Adresse auf ein zweckentfremdetes Zewatuch schrieb. „Wolltest du das nicht machen?“ gab er kurz angebunden zurück und verschanzte sich weiterhin hinter der ausgebreiteten Zeitung- ein Bollwerk aus Papier. Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und unkte in höchstem Falsett, ihn nachäffend: „Mach‘ ich morgen früh, jetzt ist Fußball. Ich steh‘ um sieben auf.“ Er ließ einen knurrigen Seufzer vom Typ ‚Verdammtes, nervendes Weibsvolk, sieht nie, wann Mann beschäftigt ist, geh mir nicht mit diesem trivialen Scheiß auf die Eier, bitte!‘ hören. Etwaige hitzige Worte ihrerseits wurden um zwei hektische Minuten verschoben, als sich ihr Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung meldete. Es folgte ein scheinbarer Monolog, gefüllt mit viel „Ja“, „Mhm-mhm“ und „Ja, sicher“. Dann legte sie das Handy weg und starrte ihn an: „Die Müllabfuhr kommt in fünfzehn Minuten. Es ist viertel vor acht.“ Er seufzte abermals, diesmal grimmiger. „Herr des Himmels…!“ „Ich finde das wirklich scheiße!“ zischte sie mit blitzenden Augen. „Mach ich morgen, mach ich nachher. Nichts machst du. Hast du wenigstens das Hemd raus gelegt, das ich bügeln sollte?“ „Ich zieh das Rote an.“ Kurzes Schweigen. Sie goss sich Milch in die Tasse, so herrisch, dass die Flüssigkeit ein wenig überschwappte. Er schwieg nachdrücklich, die einzigen Geräusche waren das Ticken der Küchenuhr und das leise Rascheln, wenn eine Zeitungsseite umgeblättert wurde. Sie stellte die Tasse beiseite und verschwand im Badezimmer. Kurz darauf ertönte das leise Fauchen eines Föhns. Er ließ sein Frühstücksbrett, das benutzte Messer und die noch zu einem Drittel gefüllte Kaffeetasse achtlos auf dem Tisch stehen (wer das Geschirr wegräumte, vielleicht die Frühstücksbrettfee oder aber seine Frau, war ihm nicht bewusst, er dachte nicht einmal an solch profane Dinge) und ging ebenfalls ins Bad. Sie stand gebückt da und föhnte sich die kurzen, blonden Haare, ohne beim leisen Quietschen der Tür auch nur einmal aufzuschauen. Er schob sich mit einem ostentativen Knurren/Seufzen an ihr vorbei, obwohl das Zimmer breit genug für Beide war. Dann griff er nach den bereits gestern getragenen Hosen und seinen Socken, die zusammen mit der Unterhose ein unordentliches Bündel vor der Badewanne bildeten. Die Wanne selbst war ebenfalls mit Kleidungsstücken gefüllt. Sie warf ihr Haar zurück und stellte den Föhn ab. Legte ihn weg. Griff nach dem Schaumfestiger. „Der Spiegel sieht aus…“, bemerkte sie mit kalter Missbilligung, ohne ihn anzusehen. Sie hatte Recht: Wasserflecken und zig Zahnpastaspritzer, die an Sommersprossen erinnerten, verunzierten das Glas. Er zog die schwarze Hose mit den Bügelfalten über die Hüften. Bürooutfit. „Ist das so schwer, einmal eben einen Lappen zu nehmen und drüber zu wischen?“ sagte sie unfreundlich. „Herr des Himmels!“ giftete er wieder. „Hast du deine Tage, oder was?!“ „Immer muss ich deinen Scheiß wegräumen! Mit dir kann man überhaupt nicht reden, ohne dass du gleich an die Decke gehst!“ „Ja, wenn du das so siehst“, sagte er in seinem typisch-abfälligen ‚Ich bin über jeden Zweifel erhaben‘-Tonfall, jenem, der sie systematisch zur Raserei trieb, wie seit nunmehr fast 25 Jahren. „Du brauchst gar nicht mit mir zu reden, als könnt‘ ich nicht bis drei zählen!“ „Schrei‘ mich gefälligst nicht an, ja!“ „Ich schreie nicht“, schrie sie zurück. Er verdrehte vielsagend die Augen, verzog vor Verachtung das Gesicht und schlüpfte in seine Socken. „Altersstarrsinn“, sagte er höhnisch in Richtung Wand. (sie war fünf Jahre jünger als er) Sie verließ das Badezimmer und ging in die Küche zurück, der Schaumfestiger stand geöffnet, aber offensichtlich vergessen auf dem Rand des Waschbeckens. Er folgte ihr und sah gerade, wie sie mit einem unnötig heftigen Ruck die Spülmaschine schloss. Der Küchentisch war, bis auf ein paar Brotkrümel, leer. „Christian und Mareike kommen am Sonntag zum Fußballgucken. Die schlafen hier“, verkündete er knapp. „Ist ja schön, dass ich das auch mal erfahre.“ Sie drehte sich ruckartig zu ihm um. „Geht ihr zum Chinesen?“ „Christian fragte, ob du wieder diese Maissuppe machen könntest.“ Dafür hatte sie nur ein abfälliges Schürzen der Lippen übrig. „Ich bin am Sonntag mit Kathrin verabredet. Maissuppe ist aber nicht schwierig, wir haben alles im Haus.“ Er wurde sofort wütend. „Vergiss es“, fauchte er, obwohl er niemals eine direkte Frage gestellt hatte, „wir fahren zum Griechen oder so!“ „Für dich ist immer alles selbstverständlich!“ fauchte sie zurück. „Du kümmerst dich einen Scheiß, aber wenn du irgendwas brauchst, müssen immer alle springen. Rasen gemäht hast du auch nicht, das wolltest du seit zwei Wochen machen!“ Diesmal konnte man das Geräusch, das er voller Inbrunst ausstieß, nicht mehr als gereizt beschreiben, es war schier gequält vor Verachtung und Ungeduld. „Ich werd zehn Stunden am Tag mit Scheiße vollgelabert, dann komm ich nach Hause und will einmal meine Ruhe…“ „…du BIST noch zu Hause!“ „Lässt du mich mal bitte ausreden?! Ich hasse das, immer dieses ins Wort quatschen!“ Sie starrten sich an, 25 Jahre verheiratet, sie mit blond gefärbtem Haar, er mit ergrauten Schläfen. Sie hatte überall kräftig zugelegt, mindestens Konfektionsgröße 48, er schob nur einen riesigen Bauch vor sich her. Alkohol. Viel Alkohol. Wütend um Fassung ringend, wandte sie sich zur Obstschale, nahm einen Apfel heraus. Öffnete den Besteckkasten. Öffnete den Küchenschrank und suchte nach einem kleinen Teller. Er riss den Kühlschrank auf und holte zwei Becher Joghurt mit Kirschgeschmack heraus. Die Flaschen im Kühlschrank klirrten protestierend. „Du musst noch deinen Scheiß für diese Buchzeitschrift überweisen“, bemerkte sie unzusammenhängend und mit vor Wut knirschender Stimme, wobei sie den Apfel in Spalten schnitt. „Du bist genau wie deine Mutter!“ knurrte er entnervt. Ein heikles Thema, hatte sich die besagte Mutter (pflegebedürftig und undankbar dafür) doch in den letzten Jahren zu einer krächzenden Ausgeburt an Herrschsucht und Besserwisserei entwickelt. (obwohl sie beide arbeiten gingen, lag es an ihr, das ewig nörgelnde, mit sich selbst und der Welt hadernde Geschöpf ein Stockwerk höher am Leben- und bei Laune zu halten. Er war dafür recht gut im Computerspiel ‚World of Warcraft‘) Sie säbelte verbissen an ihrem Apfel herum und sagte nichts. Er grunzte entnervt. „Ich muss los. Vergiss die Mülltonnen nicht.“ Sprach’s und verließ mit den Joghurtbechern die Küche, um sich im Flur seine glänzenden, schwarzen Lederschuhe anzuziehen. Bürooutfit. Sie starrte auf ihren zerschnittenen Apfel herab, ohne ihn zu sehen. Stattdessen sah sie das scharfe Küchenmesser in ihrer Faust. In einer Faust, die den Messergriff so fest umklammerte, dass die Knöchel ihrer Hand trotz der dicken Wurstfinger weiß hervortraten. In einer Faust, die sich seit nunmehr gut 25 Jahren ballte, aber nicht mehr als das. Sie kniff die Lippen zusammen und nahm das Messer. Dann folgte sie ihm in den Flur. Kapitel 6: Sechs. Nachts im Park -------------------------------- Sechs. Nachts im Park Grausiger Fund an der Weser bei Bremen …Für den 84jährigen Rentner Johann P. war es der wohl schreckliste Anblick seines gesamten Lebens. Der gebürtige Hamburger, seit 1962 wohnhaft in Bremen, stieß bei seinem gewohnten Spaziergang am Freitag-Morgen des 29. Mai nahe der Weserpromenade auf die laut P. „einfach nur grausig anzusehende“ Leiche des 36jährigen Christian N. Die Lebensgefährtin des Mannes hatte sich bereits in der Nacht vor dem furchtbaren Fund bei der Polizei gemeldet: Christian N. war nach einem Pokerabend mit Freunden ohne Rückmeldung nicht in der gemeinsamen Wohnung aufgetaucht, obschon er sich nach Aussagen der Zeugen gegen 0:20 Uhr auf den Heimweg gemacht hatte. Die Polizei spricht von einem „schrecklichen Verbrechen“, will jedoch keine genaueren Details bekannt geben. Beunruhigend ist vor allem die Tatsache, dass es sich bei dem Toten um das sechste Opfer innerhalb von vier Wochen handelt. Alle Leichen wurden in der Nähe der Weserpromenade oder im engeren Umkreis aufgefunden. Die Ermittlungen dauern weiter an… Samih faltete die Zeitung zusammen und schlug nach einer Mücke, die sich auf seinem nackten Unterarm bereits gierig in Positur setzte. Er war ein gutaussehender Mann von 37 Jahren. Schwarzes Haar ohne irgendwelche Anzeichen von Grau. Schwarze, intelligente Augen. Und er war pädophil. Gerade erst aus dem Knast entlassen kam es Samih so vor, als schwebe er irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit. Alles wirkte auf schwer zu beschreibende Weise größer…mächtiger…weiter. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sich die letzten Jahre seines Lebens im kleinen Mikrokosmos der Justizvollzugsanstalt im Gröpelinger Stadtteil Oslebshausen abgespielt hatten. Die Fotos. Die verdammten Fotos waren es gewesen, die die SCHNÜFFLER erst misstrauisch gemacht hatten. Wie Fliegen auf dem Abfallhaufen hatten sie sich an seine Fersen geheftet. Und dann, als einziger, wirklich einziger Ausnahmefall, der Junge. Der blonde Junge mit den betäubend blauen Augen. Bei dem Gedanken an diesen Tag, der nun schon hundert Jahre zurück zu liegen schien, spürte Samih einen heißen Schauer durch seine Lenden zucken. Das künstliche Licht der Laterne verlieh seinem Gesicht einen ungesunden, weißgelben Schimmer. Die Mücken summten weiterhin gierig um ihn herum. Plötzlich hörte er das Geräusch leiser, schlurfender Schritte hinter sich. Nicht nur ein Paar Füße, sondern mehrere. Keine SCHNÜFFLER, sondern welche von den fanatischen Moralaposteln, die ihn vermutlich gleich hier, in Sichtweite der Weser, abstechen würden. Irgendwie sahen die Moralapostel einem an, ob man einer von den GUTEN war oder eben auch nicht. Samih blieb ganz ruhig sitzen, auch wenn sich seine Muskeln wachsam anspannten. Er sah aus dem Augenwinkel zur Seite und bemerkte eine kleine Truppe Jugendlicher, etwa um die siebzehn bis achtzehn Jahre alt und betrunkener als eine ganze Kavallerie zorniger Russen. Die Teenies schwankten vorbei und jetzt erst drangen auch ihre lallenden, nicht allzu gedämpften Stimmen an sein Ohr. Wie konnte das sein, dass ein Teil seines paranoiden Geistes ihre SCHRITTE gehört hatte, nicht aber ihre STIMMEN? Erleichtert, belustigt und beunruhigt zugleich richtete Samih den Blick wieder nach vorne- und zuckte nun doch zusammen. Dort unter der flackernden Laterne stand ein Kind. Ein schrecklich mageres, schrecklich zierliches Kind in einem weiten, einfachen T-Shirt und knapp knielangen Shorts. Keine Schuhe. Das Kind sah ihn mucksmäuschenstill an und Samih erwiderte den Blick ein, zwei Sekunden verdattert. Er kam rasch zu dem Schluss, dass es sich bei dem vielleicht siebenjährigen Würmchen um einen Jungen handeln musste. Er hatte blondes, fast weißes Haar, das von der Laterne ebenfalls in einen ominös-künstlichen Schein getaucht wurde. „He“, machte Samih. Der Junge schaute ihn stumm an. „Wo sind denn deine Eltern?“ Keine Antwort. Samih legte den Kopf schräg, dann stand er auf. Seine Kniegelenke knackten leise. „Es ist schon sehr spät, gehörst du nicht längst ins Bett?“ er trat auf den Jungen zu und bemerkte, wie intensiv blau die Augen des Knirpses waren. Genauso blau wie… „Bist du abgehauen oder so?“ Der Junge legte den Kopf schief, genau wie Samih. Dann bewegte er den Kopf langsam von links nach rechts und zurück. „Nein?“ Samih war ratlos und langsam auch ein wenig genervt. Vielleicht war das Kind ja schwachsinnig oder so. Andererseits…diese Augen…diese stahlblauen Augen, hinter denen eine verstörende Intelligenz zu brennen schien, eine Art von Schlauheit, die man normalerweise nicht mit einem so jungen Zwerg in Verbindung bringen würde und…Samih schluckte lautlos. Ein Kribbeln, ganz ähnlich jenem, das ihm beim Gedanken an den EINEN Jungen erfasst hatte, durchzuckte seine Lenden. „Ist dir…kalt?“ Der Junge starrte ihn an, ohne zu blinzeln, den Kopf noch immer zur Seite geneigt. Dann nickte er ganz langsam und nur andeutungsweise. „Soll ich dich wärmen…?“ Samih’s Lippen waren einen winzigen Spalt geöffnet und er hatte das Gefühl, seinen eigenen Pulsschlag in den Schläfen hämmern zu können. Für eine Sekunde durchzuckte ihn ein seltsames Bild (Elektrizität in der Luft Blitze feine Lichtfäden wie Spinnenweben wenn ich sie anfasse brenne ich verbrenne ich was zum Geier) das er nicht in genaue Worte fassen konnte, doch dies wurde sowieso nebensächlich, als der Junge abermals nickte, diesmal eine Spur nachdrücklicher. Samih trat auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Drückte den elfenhaft zierlichen Körper an den seinen. Plötzlich spürte er eine kleine, schlanke Hand zwischen seinen Schenkeln, genauer gesagt auf der jäh aufgestauten Schwellung, die sich durch seinen Jeansstoff abzeichnete. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass er (in den letzten Sekunden?!) einen Ständer bekommen hatte, so groß und prall, dass er damit vermutlich jemandem das Auge hätte ausstechen können. „Hah?“ machte Samih, ein rauer Kehllaut, der milde Überraschung ausdrückte. Der Junge begann die Hand nun zu bewegen. Kein unschuldig-unwissendes Tasten, nein, es kam eher einer Massage gleich und wirkte mehr als zielorientiert. „Was machst du…?“ fragte Samih irritiert, doch zeitgleich bewegte er andeutungsweise die Hüften und drängte seinen Unterleib der verstörend fachkundigen Hand entgegen. Der Junge hob den Kopf und lächelte ihn an. Das gab den Ausschlag. In den blauen Augen stand nichts Kindliches, nichts Reines. ER war die Versuchung, die Einladung und die Aufforderung. Es war okay. „Ouhh…Shit…“ hauchte Samih freudig überrascht, packte den Jungen unter den Achseln und trat aus dem geblichen Lichtschein der Laterne hinaus. Blätter raschelten, als er sich mit dem Jungen im dichten Gebüsch dahinter duckte. Die Finger des Jungen nestelten bereits mit sicheren, souveränen Gesten an seinem Gürtel und Samih griff ihm ins blonde Haar, packte und fixierte ihn. Gleich darauf schlossen sich wunderbar samtige, wunderbar feuchte Lippen warm und fest um die pulsierende Spitze seiner Männlichkeit. Samih stöhnte, als der Junge sich ans Werk machte. Gierig stießen seine Hüften vor und zurück, derweil er das blonde Köpfchen weiter fest im Griff behielt. Gegen diese Innigkeit verblasste jener andere mit seinen blauen Augen zu einem Nichts, einer Schaufensterpuppe, ganz süß soweit, aber überhaupt nicht zu vergleichen mit… „Ah…“ machte Samih, als der Junge seine Bemühungen verstärkte, fester und fester, als lutsche er eine Süßigkeit von Chupa Chups und nicht den beinahe schon schmerzhaft versteiften Schwanz eines 37jährigen Deutsch-Türken, der wegen sexuellem Missbrauch und Kinderpornographie mehrere Jahre hinter Schloss und Riegel gesperrt worden war. Samih keuchte: „…langsam…“, denn nun wurden die Reize schon fast ein wenig ZU intensiv. Der Junge machte weiter. Seine Zähne (vermutlich keine Milchzähne mehr) schabten über Samih’s Eichel. „Langsamer…!“ Der Junge wurde schneller. Intensiver. Gröber. „Lah..ah…ngsamer!“ krächzte Samih und spürte nun erste, ernsthafte Schmerzen im flammenden Zentrum zwischen seinen Beinen. Der Junge biss zu. Von einer Sekunde auf die andere bohrten sich seine Zähne (wenn es denn noch Milchzähne sein sollten, dann verdammt SPITZE Milchzähne?!) in das heiße, pulsierende Fleisch und trennten, gefolgt von einem ungemein MATSCHIGEN Geräusch einen nennenswerten Teil davon ab. Samih kreischte, ein entsetzter, heulender Laut und jäh stieß er den Jungen von sich, der unsanft auf dem Hintern landete und an dem Blut leckte, das ihm über das Kinn lief. Weiterhin schreiend fuhr Samih zurück und schlug die Hände vor den Schritt, dessen Anblick nun irgendwie falsch wirkte. Ziemlich falsch. „Duuuhhh kleiner H-Hurensohn…“ Tränen des Schmerzes liefen Samih über das Gesicht. Der Junge kroch auf allen Vieren näher und musterte ihn mit einer absurden Fröhlichkeit. Seine Wangen waren leicht aufgebläht, ehe er merklich etwas herunter schluckte. Samih wurde übel, bunte Kreise flackerten vor seinen Augen. „Komm…uh…mir nicht zu nahe…kleiner Bastard…“ Doch der Junge kam. Mit einem hauchfeinen Kichern riss er die Augen auf, so weit, dass es aussah, als wollten sie ihm gleich aus den Höhlen fallen. Und nun waren sie auch nicht mehr blau (wenn sie das je gewesen waren) sondern blutrot und glühend wie zwei winzige Lampen. Spontan erfüllte ein grauenhafter Verwesungsgestank die Luft, so intensiv, dass es Samih vorkam, jemand hätte ihm einen Hammer vor den Kopf geschlagen. Er würgte entsetzt und erbrach sich auf seine abgetretenen Chucks. Der Junge sprang ihn an und klammerte sich wie eine vierbeinige Spinne an sein rechtes Bein. „Nein“, krächzte Samih und stolperte zurück. Noch immer tröpfelte Blut zu Boden. Die Finger des Jungen krallten sich in seine Oberschenkel, wanderten daran hinauf und nach hinten zu seinem Rücken und jetzt fühlten sie sich wirklich wie Spinnenbeine an- dünn und elastisch und haarig und ausgesprochen ENTSETZLICH. „N-nein“, stammelte Samih abermals und schlug wild mit den Fäusten auf den blonden Kopf des Jungen ein. Es knackte vernehmlich als die Schädelknochen brachen, und dunkles, im nächtlichen Sternenschein fast schwarz aussehendes Blut rann in einem zähen Streifen die linke, irgendwie verrutscht wirkende Schläfe des Jungen herab. Doch davon ließ er sich nicht abhalten, im Gegenteil. Seiner überlangen Finger (zwei oder drei oder vielleicht auch sechs oder sieben an nur einer Hand?!) schoben sich sanft und tastend zwischen Samih’s Gesäßbacken, liebkosten einen kurzen Moment seinen After- und stießen dann mit einem einzigen wilden Ruck vor. Samih riss gleichermaßen Augen und Mund auf, letzterer formte ein perfektes ‚O‘. Die nichtmenschlichen Finger des Jungen zerrissen seine empfindlichen Muskeln und stießen tief in die Enge dahinter, während sich der gesamte Arm drehte und drehte, als bestünde er nur aus Gummi. Jeder drehende Ruck riss und zerfetzte ein wenig mehr. „Gahh…“, machte Samih, ein trockener, fast blubbernder Laut, vielleicht der Abklatsch eines Stöhnens. Mit einem feuchten Schmatzen riss der Junge die blutige Hand zurück und lächelte freundlich. Noch in derselben Bewegung fuhr sein Arm nach oben, deutete anklagend mit dem Finger auf Samih und bohrte ihm einen krallengleichen Nagel ins aufgerissene linke Auge. Das Geräusch, als sein Augapfel zerquetscht wurde, erinnerte ein wenig an das satte Platschen einer überreifen, zerplatzten Weintraube. „AAUUAAHH?!“ Samih’s Schrei klang fast wie eine Frage, eine groteske Sache, die den Jungen offenbar auch amüsierte, denn er ließ ein zauberhaftes, glockenhelles Lachen hören. Er ließ Samih’s Bein los und sprang ihm stattdessen mit einem entschlossenen Hopser auf die Brust. Die Wucht des Aufpralls reichte für einen Sturz auf den Rücken. „W-w-wah…ah…w-www…“ stammelte Samih unartikuliert. „Was?“ hakte der Junge, der zum allerersten Mal sprach, nach. Nur am Rande seines gemarterten Bewusstseins bemerkte Samih, dass der Kleine SEINE Stimme hatte, seine Kinderstimme, schon etliche Jahre verloren und vergessen. „…b-bist duhh…“ Der Junge lächelte. „Angst“, sagte er zärtlich. „Alle Arten von Angst. Guck hin.“ Samih tat es. Er sah eine staubige, stinkende Mumie, die da auf seiner Brust hockte. Eine monströse Spinne. Einen körperlosen Schatten, schwarz wie die Nacht. Ein Skelett mit knackenden, mahlenden Zähnen. Ein undefinierbares, pelziges Etwas mit einem Maul voller Zähne. Einen riesigen, zottigen Hund mit gelb glühenden Augen. Samih. Sich selbst, doch in seinen schwarzen Augen war das entsetzte Gesicht eines blonden Jungen zu erkennen. Eines blonden Jungen mit entwaffnend blauen Augen. Samih drehte den Kopf zur Seite und erbrach sich abermals kraftlos. Das Letzte was er sah, war der Zeigefinger des Jungen, der ihm auch das zweite Auge ausstach. Das Letzte was er spürte, aber nicht mehr sehen konnte, war das feine, elastische Foto seiner eigenen Digitalkamera, das ihm mit einer blitzartigen Bewegung die Kehle durchtrennte. Das Letzte was er dachte, war: Ich werde eine Zeitungsmeldung. Scheiß Blatt, zu neunzig Prozent Lügen, aber das hier isstthhh…. Einige Stunden später lief ein etwa 40 Jahre alter Mann mit einem ordentlich zugeknöpften Mantel an der schönen Weserpromenade entlang. Es war noch früh, außer ihm war niemand unterwegs und der Stadtteil schien ihm allein zu gehören, ein heimeliges, irgendwie magisches Gefühl. Schnell fiel ihm die winzige Gestalt dort auf der Bank am Ufer auf. Der Mann stutzte kurz, doch da hob das Kind die Hand, winkte ihm zu, stand auf und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Der Mann schüttelte verwirrt den Kopf und dachte einen Moment (Himmel kennen die Eltern keine Aufsichtspflicht ist ja unverantwortlich aber irgendwie irgendwie ist dieses Kind seltsam wenn ich es nicht besser wüsste würde ich sagen sogar beunruhigend nun hör aber auf eigentlich geht mich das ja gar nichts an) nach, ehe er seinen Weg fortsetzte und die frische Morgenluft von Bremen-Nord genoss. Kapitel 7: Sieben. Alles nur geträumt ------------------------------------- Alles nur geträumt Kennst du das? Du liegst im Bett, schläfst und träumst. Du WEIßT, dass du träumst, irgendwo im Unterbewusstsein ist es dir klar. So war es bei mir in der vergangenen Nacht. Jetzt bin ich wach (glaube ich) und versuche mich bruchstückhaft an die Fragmente des Traums zu erinnern, doch ich schaffe es nicht mehr, das Puzzle zusammen zu setzen. Draußen regnet es, es ist kalt und dunkel, obwohl wir doch die Sommerzeit genießen. Mir ist auch kalt und ich merke, dass ich anfange, nicht nur diesen merkwürdigen Traum zu vergessen. Was ist das Internet? Was habe ich gestern zu Mittag gegessen? Wie heißt mein jüngerer Bruder? Hatte ich ein Haustier? Wer bin ich? Ich weiß nicht...irgendwie erinnere ich mich nicht mehr. Jedenfalls war das Ganze so: Ich wohne in Bremen-Nord, kurz vor der Landesgrenze zu Schwanewede. Gestern war ich mit dem Rad unterwegs. Es war schon dunkel, still, es fuhr kein einziges Auto mehr. Dafür kamen mir aber in rascher Folge andere Fahrradfahrer entgegen. Ich sah stets nur das einsame, flackernde Leuchten ihrer Scheinwerfer aufblinken, ehe das trübe Licht dumpfe Schattenrisse der Radelnden malte. Gesichter? Hatten sie nicht. Da bemerkte ich, dass ich selbst als als vollkommener Teil mit der Dunkelheit fuhr- die Lichter an meinem Fahrrad funktionierten nicht. Scheiße, dachte ich mit jäh aufwallender Angst. Wenn mich einer von denen rammt, brech' ich mir sämtliche Gräten. Ich sprang ab und fummelte erfolglos an meinem Rad herum. Plötzlich tauchte wieder ein gleißendes Irrlicht auf. Eines? Nein. Zwei, die größer wurden und größer. Ich blinzelte, paralysiert wie ein Reh auf der Autobahn, gegen das Licht. Ein riesiger Lastwagen, der lautlos wie ein riesiges Meeresungeheuer vor mir aufragte, das Licht so hell und... Ich lehnte unweit der Dönerbude, die so dunkel und leer wie ganz Schwanewede war (abgesehen von den gesichtslosen Radfahrern, meine Damen und Herren), am Zaun eines verlassenen Hauses und mein Herz rannte wie eine gefangene Maus in der Brust. Keine Verletzungen und Gott sei Dank war auch das Rad in Ordnung. War nämlich nicht meines, ich hatte es meiner Mutter geklaut. Ich besaß seit Jahren kein eigenes Fahrrad mehr. Die lautlosen Lichter in künstlich-gelbem Schein kamen und gingen. Und ich wollte nur noch nach Hause. Ziemlich außer Atem kam ich zu Hause an und weinte fast vor Erleichterung, als ich neben dem Frisör in die mitgenommene, spärlich geteerte Landstraße einbog, an der mein Haus lag: Es war hell! Alles präsentierte sich dunkel, aber aus den großen Fenstern des zweistöckigen Hauses schien warmes, tröstendes Licht. Entnervt ließ ich das Rad neben der Haustür liegen (war mir doch egal, ob die Langfinger aus den Blockhäusern der Nachbarschaft das Ding mitnahmen oder nicht. Ganz ehrlich, ich wollte nur raus aus der Dunkelheit!) und schloss die Tür auf. „Lana! Uschi!“, rief ich schon beim Hineinkommen, doch die zwei Knuddeligsten meiner insgesamt fünf Katzen kamen nicht, obwohl sie das sonst immer taten. Ich schloss die Tür und wollte mich wie üblich aus der Jacke schälen, ehe mir bewusst wurde, dass ich heute keine Jacke trug. „Olli?“ Nichts, keine Reaktion meines Bruders, obwohl von der Treppe ein Stockwerk höher das blaue Lichterflackern von Fernseher und Computer herunter drang und ich leise Musik hören konnte. Linkin Park oder so. Ich öffnete die Kellertür. Dort unten gab es mehrere Räume, einer für die Waschmaschinen, eine Rumpelkammer, ein Kühlkeller und der Partykeller, wo unter anderem mein PC und mein Piano standen. Es war hell. „Mama? Papa?“ Mhm-hm, keine Antwort. Standen ihre Autos überhaupt auf dem Hof? Ich konnte mich irgendwie gar nicht erinnern, aber für kein Geld der Welt hatte ich Lust, die Haustür zu öffnen und abermals in die Dunkelheit zu spähen. Ich hatte eine kindische, aber doch zu lebhafte Vorstellung vor Augen: Hinter mir das Land des Lichtes, die Türschwelle der Abgrund zu einer Klippe, darunter wogt ein schwarzes Meer und schaumgesäumte Wellen schlagen dumpf gegen Fels und Lehm. Wenn ich jedoch über die Türschwelle/den Klippenrand trete, werde ich aus dem Land des Lichtes heraus fallen und ins Meer stürzen, wo es kein rettendes Ufer gibt. Ich wimmerte vor Angst und wich von der Tür zurück. Hinter mir scharrte etwas. „Uschi?“ ich blieb hartnäckig. „Uuuuschi, miez-miez?“ benommen schlüpfte ich aus meinen Schuhen (mit ziemlichen Absätzen wohlgemerkt, warum war ich damit nur Fahrrad gefahren?) und schaute ins „Katzenzimmer“. (ja, die dekadenten Tiere hatten einen eigenen Raum mit zwei Kratzbäumen, Trockenfutter-Fressstelle und Vorratsschrank). Die Schiebetür des ehemaligen Kleiderschrankes war einen Spalt geöffnet, da drinnen war es dunkel. Ich drehte dem Schrank den Rücken zu und Tränen stiegen mir in die Augen. Passiert mir immer, wenn ich mich vor etwas fürchte. Mir wird kalt, ich bekomme eine dicke Gänsehaut auf den Armen und meine Augen werden feucht. Ist komisch, aber wahr. Ich ging den Flur entlang gen Küche. Die große Glasfront der Terrasse (dahinter war es DUNKEL, aber wie) zeigte mir mein Spiegelbild. Klein, schlurfend, das Licht der Küchenlampe spiegelte sich wie die einsamen Irrlichter der Fahrräder im Glas. Im Schlafzimmer meiner Eltern polterte etwas. Ich ging zielstrebig dort hin und öffnete die Tür. Auch in diesem Raum war das Licht eingeschaltet. Eine Schranktür des riesigen Ungetüms, das sie sich Beide teilten, stand sperrangelweit offen. Die Tür bewegte sich ganz sachte (glaubte ich, könnten aber auch nur meine Nerven gewesen sein) und da drinnen...kratzte etwas. „Bauti, komm her,“ lockte ich dümmlich. Bauti (eigentlich Beauty) war die Lieblingskatze meiner Mutter. Sie durfte zwar nicht in den Schrank, aber... Mit einem Mal traf mich die Angst wie ein Hieb in den Magen und meine Sicht verschwamm vor Tränen völlig. RAUS hier!, kreischte eine innere Stimme. Ich drehte mich um und lief ungelenk zum Badezimmer. Tür aufgerissen, rein, KLACK, abgeschlossen. Etwas knallte hämmernd gegen die Tür. Etwas kratzte am Holz der Tür. Meine Gänsehaut tat fast schon weh. Ich senkte den Blick und sah durch den Türspalt einen dunklen Schatten, der dort unten die Ritze aus Licht blockierte. Der Schatten bewegte sich hin und her. Die Klinke klappte ruckartig nach unten. Ich nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und schaltete das zusätzliche kleine Licht im Badezimmer an, zwei winzige Lampen über dem Spiegel. Denn das Hauptlicht konnte man von außen ausknipsen. Eine Sekunde überlegte ich, ob ich das Badezimmerfenster aufreißen- und nach draußen springen sollte. Blöde Idee...zu dunkel draußen. Ich starrte die Tür an. Der Schatten davor marschierte wie ein aufgezogener Zinnsoldat nach links und rechts und verharrte dann genau vor dem Schlüsselloch. Ich trippelte im Zeitlupentempo näher und zog behutsam den Schlüssel heraus. Ein gutes, festes Gewicht in der Hand. Senkte den Kopf. Und was, wenn da gleich...irgendwas durchs Schlüsselloch kommt?, dachte ich mit einem schmerzlichen Angstschaudern. Ich ging in die Hocke und sah ängstlich nach draußen. Genau vor dem Loch glotzte mich ein weit aufgerissenes, graugrünes Auge an. Mein eigenes. Wie gestochen sprang ich zurück und landete auf meinem breiten Hintern perfekt auf der Matte unterm Waschbecken. Was, was, was, was...? Ich musste raus. Ich musste wissen, was...los war. Diese Erkenntnis war so zwingend und eindringlich wie ein kaum noch zu zähmender Harndrang. Ich steckte also den Schlüssel ins Loch, drehte...KLACK...die Tür ging auf. Da stand ich nun vor mir, ich grinste mich an (???), und mein Gegenüber-Ich spreizte die linke Hand, die Finger leicht gekrümmt wie fünf kurze Dolche... Mein Gesicht mir gegenüber war hell von Licht, zwei Scheinwerfer strahlten mir daraus entgegen...und dann... (Bruchstück. Fehlendes Bruchstück). Ich saß auf der oberen Treppenstufe zum zweiten Stockwerk. Der Flur war nur spärlich erhellt, mein eigenes Zimmer dunkel. Das Licht, blau und künstlich, drang aus dem Zimmer meines Bruders, gemeinsam mit Linkin Park. Ich war nicht verletzt, aber...wo kam das Blut her? Rote Tropfen, Schlieren, Spritzer verschwanden unten am Treppenanfang, der nun genauso dunkel war wie die Nacht dort draußen. „Olli?“, krächzte ich ängstlich. Ich wollte, dass mein Bruder die Tür aufriss, sein üblich genervtes „Hach, jaaaa?“ vernehmen ließ, wenn ich ihn bei einem Skype-Gespräch oder ähnlichem störte... Nichts. Ich hörte das leise, monotone Klappern einer Tastatur, auf der getippt wurde. Schlurfend trat ich an seine Zimmertür. Durch das Milchglas konnte ich seine Konturen erkennen, doch er öffnete die Tür nicht und ich hatte wieder dieses panische Gefühl (lass sie zu, lass die Tür zu!), ehe ich rückwärts zurück wich. Unten drehte sich der Schlüssel im Schloss und die Haustür wurde geöffnet. Schritte, das leise Knarren einer Lederjacke, trampelnde Schritte auf dem Fußabtreter. „Mama...? Papa?“ Mhm-hm. Nichts. Ich wurde übersehen. Ich war nicht da. Ich konnte nicht schreien. Ich wusste, ich schlief und träumte, aber ich konnte auch nicht aufwachen. Ich sah die Lichter von Fahrrädern und einem riesigen Lastwagen. Ruhe in Frieden, heißt es. Das ist gelogen. Kapitel 8: Acht. Date Rape -------------------------- Acht. Date Rape „Das Format aus Amerika! Endlich auch bei uns! Keine Kompromisse. Keine Gnade. Keine Langeweile. Bist du bereit für DAS Date? Date Rape! Ab erstem August um 20:15 Uhr auf TNT. Gimme a smile!“ 01.08.2010, 19:49 Uhr, Bremen: Es klingelte an der Tür. Johanna, 14 Jahre, öffnete und strahlte ihrer Freundin Marie entgegen. „Hiii!“, es folgten Küsschen links, Küsschen rechts. „Hab scho' Trinken hingestellt. Hasse den Typi aus Team Grün gesehn? Is' der nich' voll mega sweet?“ „Aber der hat 'ne Freundin“, erwiderte Marie betrübt. „Was echt? Boah, voll der Penner.“ Die beiden Mädchen setzten sich ins Wohnzimmer, Cola-Whiskey Gemisch in den Gläsern, Schokolade und Chips in den Schalen, und schalteten kichernd und scherzend den Fernseher ein. 01.08.2010, 20:00 Uhr, Berlin: Die Freundinnen Yasemin, Elif, Ebru und Gülcan, alle zwischen 24 und 28 Jahre alt, tummelten sich knuffend und plappernd auf dem Sofa und redeten aufgeregt auf Türkisch durcheinander, wobei sie über die dümmliche Polizistin an der Parkuhr scherzten, die Elif das „Tut mia Leid, isch nix versteh'“ tatsächlich abgenommen hatte und brummend ihres Weges gezogen war. „Klappt immer wieder“, lachte die junge Frau und strich sich lässig eine mäßig erfolgreich blondierte Strähne aus dem hübschen Gesicht, ehe Ebru sie auf das gerade präsentierte Handy in der Werbung aufmerksam machte. Das wollte ihr 'Schatz' ihr nächste Woche schenken. 01.08.2010, 20:07 Uhr, Mainz: Das Ehepaar Wischmann wuchtete die 197 kg, die sie zusammen auf die Waage brachten, auf die Couch vor dem Fernseher. Die 39jährige Theresa Wischmann öffnete knisternd eine Packung Mandelhörnchen, neben ihr auf der Fensterbank lag außerdem eine Tüte Gummibärchen und eine halbvolle Packung After Eight. Klaus Wischmann, 44 Jahre alt, riss zischend eine Dose Bier auf. „Wenisch'ns ma wasch Gutes nach dem ganz'n Caschtingdreck“, nuschelte er, nahm einen Schluck Bier und rülpste herzhaft. „Finsch gut, die Idee.“ 01.08.2010, 20:15 Uhr, München: „Alda, kommsse bald ma? Der Scheiß fängt gleich an!“ der 16jährige Kevin lag auf dem Bett und brüllte, den Blick vom Fernseher nehmend, zur Tür. Sein ein Jahr jüngerer Bruder Marco, der bis eben noch hektisch über den Computerbildschirm wuselnde Pixel-Vietcongs erschossen hatte, rief zurück: „Zwei Minuten, Digger!“ Date Rape: Der jugendlich aussehende, freundlich in die Kamera grinsende Moderator hob die Stimme an: „Jaaah, meine lieben Zuschauer. Ich stehe hier vor dem Eingang zum Labyrinth, in dem gleich unsere Date Raper ihre Positionen verlassen werden. Nochmal für Sie, liebe Zuschauer, im Eilverfahren die Regeln: wir haben hier drei Teams. Team Rot, Team Grün und Team Blau. Jedes Team besteht aus einem Paar, doch die Jungs und Mädels kannten sich zuvor noch nicht, sind aber, wie Sie gleich verstehen werden, ganz schön aufeinander angewiesen. Außerdem gibt es die Date Queen, die irgendwo im Labyrinth versteckt ist. Ziel ist nun, die Mädchen aus den gegnerischen Teams zu rapen und Punkte zu kassieren, aber nach Möglichkeit seine eigene Partnerin zu schützen. Pro Rape gibt es zehn Punkte, zusätzlich für die Date Queen einmalig fünfzig Punkte. Wer die Queen schnappt und zuerst das Ziel erreicht, hat, looogisch, gewonnen. Das Ganze ist natürlich, extra für Sie, live aus Rostock. Und das sind unsere Kandidaten! Im Team Rot haben wir, hochmotiviert: Isabella und Murat! Im Team Grün drücken wir Jacqueline und Felix die Daumen! Und last but not least, kämpfen im Team Blau Aileen und Enrico um den Sieg! Das Winner-Team erhält jeweils einen Suzuki Alto und ein Preisgeld von zwei-hundert-tausend EURO! Wir schalten doch gleich mal in die blaue Startecke. Aileen! Enrico! Wie geht’s euch? Gleich ist es ja so weit.“ Aileen, durch den nicht glasklaren Empfang leicht vernuschelt klingend: „Bin schon ziemlisch aufgeregt, aber wird voll cool! An die geilen Zuschauer: drückt mir die Daumen!!“ Enrico, verwegen grinsend: „Aileen ist ein super hübsches Mädchen, da muss ich echt aufpassen, dass ich die Gegner-Ladies und nicht SIE vernasche!“ Moderator: „Okay, ihr Beiden. Wir drücken euch die Daumen. Und den anderen Teams natürlich auch! So, liebe Zuschauer, nur noch eine KLITZEKLEINE Werbung, und dann geht’s los. Bis gleich, bleiben Sie dran!“ In Bremen: „Oh mein Gott Alta, is' die Tussi fett!“ Marie deutete quietschend auf Jacqueline aus Team Grün, die in den Wirren des Labyrinths erfolgreich von ihrem Partner getrennt worden war. Die junge Frau lag, vor Schmerzen schreiend, auf dem Boden. Der Hosenknopf ihrer knallengen Jeans war abgerissen, das modische Top wies einen zerfaserten Riss auf. Murat aus Team Rot lag über ihr, die Handgelenke hatte der vom Fitnesscenter deutlich gezeichnete Spieler seiner Gegnerin brutal über dem Kopf verdreht, während die Kamera für einen Moment über sein appetitlich festes, gebräuntes Gesäß glitt und dann wieder Jacquelines angestrengtes Gesicht einfing. Zehn Punkte für Team Rot. „Voll!“, stimmte Johanna zu. „Wär' ich der Murat, ich würd' die Alte nich' pimpern wollen. Fette Sau!“ In Berlin: Die vier türkischen jungen Frauen feuerten Aileen an, die Möchtegern-Raper Felix mit einem Schlag in den Magen und einem beherzten Tritt zwischen die Beine erfolgreich zu Boden geschickt hatte und nach ihrem Partner rief. Enrico lief hastig um die Ecke, sah, dass seine Mitspielerin noch unbefleckt war und hielt ihr die Hand zum Abklatschen hin. Aileen schlug grinsend ein und zusammen eilten die Beiden weiter, auf der Suche nach der Date Queen. „Isch würd' dem auch voll was auf die Schnauze geben, wenn der misch anmachen würde“, sagte Gülcan selbstbewusst. „Würden meine Brüder machen“, erwiderte Yasemin. „So 'ne schwule Kartoffel würden die voll ins Krankenhaus bringen, echt ma. Der hätt' kein Leben mehr.“ In Mainz: Theresa Wischmann war auf die Toilette gegangen, um gefühlte zwei Liter Cola loszuwerden. „Wenn die die Kopftuch-Uschi aus Blau zu fassen kriegen, rufst du, ja Schatz?“ erklang es hinter der geschlossenen Badezimmertür. Klaus Wischmann antwortete nicht, er traute seiner Stimme nicht und war außerdem damit beschäftigt, gebannt auf den Bildschirm zu starren. Team Rot, von Anfang an Favorit, hatte sich jetzt trennen lassen, und unbewusst wanderte Klaus Wischmanns fleischige Hand unter den Bund seiner verblichenen Jogginghose, während sich Isabella aus dem roten Duo krampfhaft strampelnd unter Enrico aus Team Blau wand, der ihr zuzwinkerte, ehe seine Hüften mit einem heftigen Stoß nach vorne stießen. Zehn Punkte für Team Blau. München: „Ey Alda, wo willsse hin?“ fragte der 16jährige Kevin erstaunt, als sein kleiner Bruder sich grunzend erhob und vom Bett rollte. „Der bitch da wird’s doch gleich voll besorgt, eh!“ Marco schlurfte zur Tür. „Geh' wieder zocken“, murmelte er lustlos. „Das suckt voll. Is' genauso langweilich und überflüssich wie der ganze annere Scheiß.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)