World full of Mess von Konnichi (Die Geschichte einer Band) ================================================================================ Kapitel 1: Der Stand der Dinge ------------------------------ Gedankenverloren lief Sayji Allister durch die grauen Straßen von San Francisco. Der Himmel war mal wieder dicht bewölkt und ein schneidend-kalter Wind wehte. Bald würde es wahrscheinlich schneien. Sayji mochte keinen Schnee. Das hatte er von seinem Vater geerbt, der in San Diego aufgewachsen war. Seine Mutter hingegen stammte aus Hokkaido und war kaltes Wetter gewöhnt. Für Sayji machte es eigentlich keinen Unterschied, ob Sommer oder Winter war; er verbrachte nicht viel Zeit draußen. Aber gutes Wetter war auf jeden Fall netter anzusehen und man konnte kurz rausgehen ohne sich vorher fünf Jacken anziehen zu müssen. Außerdem verursachte dieses triste Aussehen der Stadt Sayji immer Depressionen. Nicht, dass er dafür das Wetter gebraucht hätte aber es war nunmal ein zusätzlicher Faktor, der auf die Stimmung drückte. Sayji blieb an einer Ampel stehen und wartete ungeduldig. Neben ihm stand eine alte Frau, die ihn unverwandt anstarrte. Hier in San Francisco, wo die Menschen irgendwie etwas toleranter waren als anderswo passierte ihm das nicht so oft und es störte ihn mittlerweile auch kaum noch, wenn jemand das tat. Ihr Blick blieb zuerst auf den Plateau-Schuhen kleben, die der Junge trug, weil er so klein war und sich immer übersehen fühlte. Dann starrte sie eine Weile auf seinen schwarzen Mantel, den er mit einigen Buttons und Ketten verziert hatte und der grade genug vor der Kälte schützte. Schließlich wanderten ihre Augen über sein gepierctes Ohr und seine zugegebenermaßen ungewöhnliche Haarfrisur. Die war sein ganzer Stolz. Seine Haare waren von Natur aus schwarz aber er hatte einige Strähnen helllila gefärbt. Das Pony hing ihm ins Gesicht und am Hinterkopf standen die Haare leicht hoch. Alle Haarsträhnen waren unterschiedlich lang. Das war Starlas Werk. Sie hatte sich einfach eine Schere geschnappt und drauflos geschnitten. Starla hieß eigentlich MaryLou Taylor, war seine Klassenkameradin, lesbische beste Freundin und einzige weibliche Bandkollegin. Ihre Band hieß „The Rainbow Mess“ und machte Musik, die sich an alle Genres anlehnte, die jemals aus Rockmusik entstanden waren. Starla war Gitarristin und Sayji der Sänger und optische Bandleader. Er sang auf Englisch und auf Japanisch. Ab und zu ließen sie auch ihren Bassisten Aimeric Pellonier, genannt Ayeku, ans Mikro, der gebürtiger Franzose war. Und Francisco steuerte ein paar spanische Textzeilen bei. Eigentlich hieß er Francis Killingham und war nur zu einem Viertel Mexikaner. Trotzdem sprach er fließend Spanisch, weil viele seiner Verwandten so schlecht Englisch sprachen. Er hatte zusammen mit dem Schlagzeuger Jules Morton und Sayji die Band gegründet und war der eigentliche Chef. Ohne ihn lief gar nichts. Er motivierte die Band allein schon durch seine Anwesenheit und man konnte mit ihm über alles reden. Nur Sayji konnte das nicht mehr. Früher waren sie beste Freunde gewesen aber vor drei Jahren hatte er einen furchtbaren Fehler gemacht: Sayji hatte sich in Francis verliebt. Bis heute hatte er sich nie getraut mit ihm darüber zu reden. Aber jeden Tag wurde das Gefühl stärker und hätte sich schon öfters fast seiner Kontrolle entzogen. Immer, wenn sie allein waren konnte er sich kaum zurückhalten. Und einmal war es mit ihm durchgegangen. Er hatte den vollkommen betrunkenen Francis geküsst. Zu seiner Überraschung hatte dieser den Kuss sogar erwidert. Sayji hatte gehofft, dass es ihm danach irgendwie besser gehen würde und er aufhören könnte, die ganze Zeit an ihn zu denken. Aber das Einzige, was es ihm gebracht hatte war die Erkenntnis, dass Francis wirklich so gut küssen konnte wie 90 % der Mädchen an ihrer Schule behaupteten und aus eigener Erfahrung wussten. Ja, der Kerl war ein ziemlicher Frauenheld. Und leider vollkommen hetero. Genau da lag Sayjis Problem. Francis hatte ihm mal erzählt, dass er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, jemals einen Jungen zu lieben. Zumindest nicht auf die Art und Weise, wie Männer Frauen liebten. Und er hatte auch noch nie wirklich an Sex mit einem Kerl gedacht. Von da an wusste Sayji, dass er nicht die geringste Chance bei ihm hatte. Er hätte ja nie von Francis verlangt, dass er ihn liebte. Ab und zu ein bisschen Sex hätte ihm gereicht; dann hätte er sich wenigstens kurz der Illusion hingeben können. Aber so blieb ihm nur die Welt der Phantasie, um seine geheimen Gefühle auszuleben und seine unzähligen Beziehungen zu irgendwelchen Typen, die meistens nur ein paar Wochen hielten. Sayji hielt es mit keinem Kerl lange aus. Er hatte immer das Gefühl, er würde Francis betrügen und dachte ständig an ihn, wenn er mit anderen Jungs zusammen war. Es war eigentlich Blödsinn und er sagte sich immer wieder, dass er sein Leben genießen und nicht dauernd Gedanken an etwas Unerreichbares verschwenden sollte aber es half nichts. Er hatte ja auch immer geglaubt, der Erfolg der Band wäre etwas Unerreichbares und sich keine Gedanken darüber gemacht und jetzt... jetzt standen sie kurz davor, einen Plattenvertrag zu bekommen, verdienten etwas Geld mit ihren Auftritten in Clubs und hatten sich schon eine kleine Fangemeinde in Kalifornien aufgebaut. Erfolg war kein weit entfernter Traum mehr, sondern in greifbare Nähe gerückt. Aber Francis würde immer ein Traum für Sayji bleiben. Überrascht stellte der Junge fest, dass er an seinem Zielort angekommen war, während seine Gedanken umherschweiften. Als würden seine Füße automatisch zu Zaharas Haus gehen. Zahara Perrucci war ihre Managerin und stellte ihren Keller als Proberaum zur Verfügung. Sie war eine Freundin, oder vielleicht auch die Freundin, von Mortons Cousine und hatte Management studiert. Sie war in einer bekannten Firma angestellt und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Nachwuchs-Bands zu fördern. Aber bis jetzt befand sie nur The Rainbow Mess ihrer Aufmerksamkeit würdig und seitdem sie sich um die Band kümmerte war es schlagartig bergauf gegangen. An diesem Morgen hatte sie alle zu ihrem Haus bestellt, um ihnen etwas Wichtiges zu sagen. Sayji war schon gespannt. Vielleicht würde sie ihnen gleich den Vertrag vorlegen. Bevor er auf die Klingel drückte richtete er noch seine Frisur und stellte seinen Öffentlichkeitsmodus ein. Wenn er unter Menschen war, benahm er sich immer so gut gelaunt und aufgeschlossen wie er nur konnte. Früher war er wirklich so gewesen aber er hatte sich mit der Zeit verändert und war zu einem schüchternen, depressiven Jungen geworden. Er wollte nicht, dass jemand seine Veränderungen bemerkte, denn seine Freunde mochten bestimmt nur den alten Sayji. Einzig Francis wusste bescheid. Er kannte den Jungen so gut, dass ihm selbst die kleinste Wandlung seiner Stimmung oder seines Charakters nicht entging. Vielleicht lag es daran, dass Francis auch einen Öffentlichkeitsmodus besaß. Fremden gegenüber wirkte er immer abweisend und cool. Aber in Wirklichkeit war er unglaublich liebenswert und warmherzig. Sayji versuchte endlich aufzuhören über ihn nachzudenken und klingelte. Der Türöffner summte und er trat ein. Gut gelaunt ging er ins Wohnzimmer, immer darauf bedacht im Flur nur auf den Teppich zu treten, denn seine Schuhe machten auf diesem Boden immer so einen Lärm, dass es bestimmt noch in der nächsten Straße zu hören war. Er betrat den hellen Raum und wurde in voller Lautstärke begrüßt. „Oi! Say­chan! Auch endlich da!“, rief Morton winkend, der mal wieder mit Francis vor dem Plasmabildschirm Play Station zockte. Sie bildeten einen netten Kontrast, wie sie da so nebeneinander hockten. Francis groß, schlank und mit einem ordentlich frisierten grün-roten Iro und daneben Morton, der einen halben Kopf kleiner war, viel mehr Muskeln hatte und ein lustiges Durcheinander auf dem Kopf trug. Diese Woche waren seine Haare dunkelblau; letzte Woche waren sie noch rot. Sayji sah sich um. Zahara kam auf ihn zu gehumpelt und begrüßte ihn strahlend. Sie hatte wohl etwas Großes zu verkünden, sonst wäre sie nicht so überschwänglich. „Weißt du, wo Starla bleibt? Die lässt sich doch sonst nicht so viel Zeit“, meinte sie und rückte ihre Brille zurecht. „Hm, weiß nicht. Vielleicht steht sie im Stau. Ist Ayeku schon da?“, fragte Sayji und blickte suchend an ihr vorbei. Er konnte den hochgewachsenen blonden Bassisten nirgends finden. „Der ist in der Küche und macht sich einen Kaffee“, sagte Zahara und im selben Moment trat der junge Mann ins Wohnzimmer. Er lächelte Sayji an und setzte sich auf die Couch, um den beiden Anderen beim Spielen zuzusehen. Ayeku war immer so. Er sprach nicht viel aber wenn er etwas sagte war es meistens wichtig. Und er war der Vernünftigste von ihnen. Partys waren nicht sein Ding und er hielt sich immer zurück. Das führte dazu, dass er ständig seine betrunkenen Bandkollegen einsammeln und heimfahren musste. Er war mit neunzehn Jahren der Älteste von ihnen, wenn man Zahara nicht mitzählte, die schon 24 war. Francisco war achtzehn und alle anderen waren erst siebzehn. Jedes Mal hielt Ayeku ihnen die gleiche Predigt und jedes Mal wunderte er sich lautstark darüber, dass sie in ihrem Alter überhaupt schon Alkohol bekamen. „Wir sind halt die Band“, meinte Morton dann grundsätzlich. Diese Partys waren immer schlimm. Es wimmelte von aggressiven und notgeilen Betrunkenen, die es besonders auf Sayji und Starla abgesehen hatten, weil die Beiden nunmal so süß und wehrlos waren. Aber irgendwer holte sie immer wieder aus diesen Situationen raus. Entweder Ayeku redete den Besoffenen vernünftig zu, Francisco spielte ihren Beschützer oder, die dritte und häufigste Möglichkeit, Morton gab den Kerlen eins auf die Nase, was oft Massenschlägereien auslöste. Jeder von ihnen hatte so sein Spezialgebiet. Es klingelte an Zaharas Haustür und nur Sekunden später kam Starla in den Raum gelaufen. „Tut mir leid, ich hab den Bus verpasst“, sagte sie und strich ihre pinken Haare aus dem Gesicht. „Nun, da wir jetzt alle hier sind kann ich euch ja endlich die Neuigkeiten erzählen... Jungs, Fernseher aus“, sagte Zahara und sie gehorchten ihr auf´s Wort. Alle versammelten sich um die kleine Managerin herum und sahen sie gespannt an. „Die Plattenfirma hat sich eure Demos angehört... und sie waren begeistert“, meinte sie und die Band brach in Jubeln aus. Vergeblich versuchte die junge Frau, sich Gehör zu verschaffen. Erst als sie laut auf ihren Fingern pfiff wurde ihr wieder Aufmerksamkeit geschenkt. „Es gibt da nur einen Haken. Sie wollen erst wissen, was ihr live draufhabt. Deshalb habe ich die ganze Stadt abgesucht, um irgendwo einen Gig zu bekommen, aber alles ist ausgebucht. Und da kam das hier auf meinen Schreibtisch geflattert...“, erklärte sie und hielt ein Flugblatt hoch, „Es ist ein Wettbewerb. Der Gewinner darf mit „Purple“ auf Tour gehen. Der Name sagt euch doch was?“ Sie sah in die Runde. Natürlich sagte dieser Name ihnen was. Purple waren eine Rockband aus San Francisco, die vor Kurzem den Durchbruch geschafft hatten und jetzt eine Tournee durch ganz Amerika machten. Man konnte sie fast ihre Vorbilder nennen, denn sie waren jetzt schon da, wo The Rainbow Mess in näherer Zukunft hinwollten. „Und was meinen die mit einem „originellen Grund für die Auswahl“?“, fragte Morton, der das Flugblatt studierte. Bevor irgendwer antworten konnte, meldete sich Sayji zu Wort. „Ich hab einen... Na ja, die Farben. Sie sind lila und wir sind der Regenbogen. Wenn das mal kein Grund ist“, meinte er und alle starrten ihn ungläubig an. „Say­chan, du bist ernsthaft genial“, meinte Ayeku grinsend. „Klar, deswegen liebt ihr mich ja auch so“, entgegnete Sayji gut gelaunt. „Äh, Leute... Euch ist aber wohl klar, dass das schon nächste Woche ist?“, fragte Starla, die jetzt den Zettel in der Hand hatte. „Wie nächste Woche?!“, fragten Francis und Morton gleichzeitig. „Nächsten Samstag, am 1. Dezember“, meinte das Mädchen. „An meinem Geburtstag?!... Vielleicht bringt das ja Glück“ Der Drummer sah nachdenklich seine Freunde an. „Wenn wir abergläubisch wären, würde es uns sicher Glück bringen. Aber so gewinnen wir auch ohne Glück. Ich hab mir Videos von den anderen Bands im Wettbewerb angeguckt. Die sind grottenschlecht. Wir haben also nichts zu befürchten“, meinte Zahara optimistisch. „Wow, stellt euch vor das klappt wirklich. Das wäre so geil!“, sagte Starla und hüpfte wie verrückt auf und ab. „Bleibt auf dem Teppich, Leute. Feiern können wir noch, wenn wir gewonnen haben und der Plattenvertrag vor uns liegt“, meinte Francis mit einem siegessicheren Lächeln. Vorfreude war noch nie sein Ding gewesen. Dafür war aber seine nachträgliche Freude immer um so größer. „Hey, Ayeku? Was ist denn mit dir los?“, fragte Sayji den Bassisten, der ein Gesicht machte als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Na ja, eine Tour... Und was ist mit der Schule? Ihr könnt doch nicht einfach so die Highschool hinschmeißen. Sayji, was wird dein Vater dazu sagen?“, fragte er ernst. Sayjis Vater war seit zwei Jahren der Direktor ihrer Schule. „Dad sagt immer, man soll die Chancen nutzen, die man bekommt. Den Schulabschluss können wir immer noch nachholen aber diese Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder. Und du selbst hast das College geschmissen, weil du weiter in der Band sein wolltest, erinnerst du dich? Dann solltest du jetzt persönlich dafür sorgen, dass das nicht umsonst war“, sagte Sayji und Ayeku stimmte stotternd zu. Es machte ihn immer ganz wahnsinnig, wenn die hellblauen Augen des Halbjapaners so leidenschaftlich Funken sprühten. Er hatte irgendwann für Sayjis Charakter mal die treffende Bezeichnung „Feuerwerk“ gefunden, denn anders konnte man das gar nicht beschreiben. Der Jüngere grinste ihn lasziv an. Natürlich waren Sayji die Blicke nicht entgangen, die Ayeku ihm zuwarf. Er war sich sicher, dass der Bassist schon oft am liebsten über ihn hergefallen wäre. Dafür war er aber einfach zu vernünftig und zurückhaltend. Sayji war der Einzige, der wusste, dass Ayeku eigentlich bisexuell war. Er hatte ihn vor einem Jahr mal mit seinem damaligen Freund gesehen als er ihnen erzählt hatte, er wäre immer noch nicht über die Trennung von seiner Freundin hinweg und deshalb nach acht Monaten immer noch Single. Für ihn wäre es eine Schande gewesen, jemals zuzugeben, dass er mit einem Kerl zusammen war. Er war nämlich gerne perfekt und sein Image als ganzer Mann gehörte zum Perfektsein dazu. So hatten sie alle ihre Geheimnisse und Probleme und alle mussten sie irgendwie damit leben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)