World full of Mess von Konnichi (Die Geschichte einer Band) ================================================================================ Kapitel 1: Der Stand der Dinge ------------------------------ Gedankenverloren lief Sayji Allister durch die grauen Straßen von San Francisco. Der Himmel war mal wieder dicht bewölkt und ein schneidend-kalter Wind wehte. Bald würde es wahrscheinlich schneien. Sayji mochte keinen Schnee. Das hatte er von seinem Vater geerbt, der in San Diego aufgewachsen war. Seine Mutter hingegen stammte aus Hokkaido und war kaltes Wetter gewöhnt. Für Sayji machte es eigentlich keinen Unterschied, ob Sommer oder Winter war; er verbrachte nicht viel Zeit draußen. Aber gutes Wetter war auf jeden Fall netter anzusehen und man konnte kurz rausgehen ohne sich vorher fünf Jacken anziehen zu müssen. Außerdem verursachte dieses triste Aussehen der Stadt Sayji immer Depressionen. Nicht, dass er dafür das Wetter gebraucht hätte aber es war nunmal ein zusätzlicher Faktor, der auf die Stimmung drückte. Sayji blieb an einer Ampel stehen und wartete ungeduldig. Neben ihm stand eine alte Frau, die ihn unverwandt anstarrte. Hier in San Francisco, wo die Menschen irgendwie etwas toleranter waren als anderswo passierte ihm das nicht so oft und es störte ihn mittlerweile auch kaum noch, wenn jemand das tat. Ihr Blick blieb zuerst auf den Plateau-Schuhen kleben, die der Junge trug, weil er so klein war und sich immer übersehen fühlte. Dann starrte sie eine Weile auf seinen schwarzen Mantel, den er mit einigen Buttons und Ketten verziert hatte und der grade genug vor der Kälte schützte. Schließlich wanderten ihre Augen über sein gepierctes Ohr und seine zugegebenermaßen ungewöhnliche Haarfrisur. Die war sein ganzer Stolz. Seine Haare waren von Natur aus schwarz aber er hatte einige Strähnen helllila gefärbt. Das Pony hing ihm ins Gesicht und am Hinterkopf standen die Haare leicht hoch. Alle Haarsträhnen waren unterschiedlich lang. Das war Starlas Werk. Sie hatte sich einfach eine Schere geschnappt und drauflos geschnitten. Starla hieß eigentlich MaryLou Taylor, war seine Klassenkameradin, lesbische beste Freundin und einzige weibliche Bandkollegin. Ihre Band hieß „The Rainbow Mess“ und machte Musik, die sich an alle Genres anlehnte, die jemals aus Rockmusik entstanden waren. Starla war Gitarristin und Sayji der Sänger und optische Bandleader. Er sang auf Englisch und auf Japanisch. Ab und zu ließen sie auch ihren Bassisten Aimeric Pellonier, genannt Ayeku, ans Mikro, der gebürtiger Franzose war. Und Francisco steuerte ein paar spanische Textzeilen bei. Eigentlich hieß er Francis Killingham und war nur zu einem Viertel Mexikaner. Trotzdem sprach er fließend Spanisch, weil viele seiner Verwandten so schlecht Englisch sprachen. Er hatte zusammen mit dem Schlagzeuger Jules Morton und Sayji die Band gegründet und war der eigentliche Chef. Ohne ihn lief gar nichts. Er motivierte die Band allein schon durch seine Anwesenheit und man konnte mit ihm über alles reden. Nur Sayji konnte das nicht mehr. Früher waren sie beste Freunde gewesen aber vor drei Jahren hatte er einen furchtbaren Fehler gemacht: Sayji hatte sich in Francis verliebt. Bis heute hatte er sich nie getraut mit ihm darüber zu reden. Aber jeden Tag wurde das Gefühl stärker und hätte sich schon öfters fast seiner Kontrolle entzogen. Immer, wenn sie allein waren konnte er sich kaum zurückhalten. Und einmal war es mit ihm durchgegangen. Er hatte den vollkommen betrunkenen Francis geküsst. Zu seiner Überraschung hatte dieser den Kuss sogar erwidert. Sayji hatte gehofft, dass es ihm danach irgendwie besser gehen würde und er aufhören könnte, die ganze Zeit an ihn zu denken. Aber das Einzige, was es ihm gebracht hatte war die Erkenntnis, dass Francis wirklich so gut küssen konnte wie 90 % der Mädchen an ihrer Schule behaupteten und aus eigener Erfahrung wussten. Ja, der Kerl war ein ziemlicher Frauenheld. Und leider vollkommen hetero. Genau da lag Sayjis Problem. Francis hatte ihm mal erzählt, dass er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, jemals einen Jungen zu lieben. Zumindest nicht auf die Art und Weise, wie Männer Frauen liebten. Und er hatte auch noch nie wirklich an Sex mit einem Kerl gedacht. Von da an wusste Sayji, dass er nicht die geringste Chance bei ihm hatte. Er hätte ja nie von Francis verlangt, dass er ihn liebte. Ab und zu ein bisschen Sex hätte ihm gereicht; dann hätte er sich wenigstens kurz der Illusion hingeben können. Aber so blieb ihm nur die Welt der Phantasie, um seine geheimen Gefühle auszuleben und seine unzähligen Beziehungen zu irgendwelchen Typen, die meistens nur ein paar Wochen hielten. Sayji hielt es mit keinem Kerl lange aus. Er hatte immer das Gefühl, er würde Francis betrügen und dachte ständig an ihn, wenn er mit anderen Jungs zusammen war. Es war eigentlich Blödsinn und er sagte sich immer wieder, dass er sein Leben genießen und nicht dauernd Gedanken an etwas Unerreichbares verschwenden sollte aber es half nichts. Er hatte ja auch immer geglaubt, der Erfolg der Band wäre etwas Unerreichbares und sich keine Gedanken darüber gemacht und jetzt... jetzt standen sie kurz davor, einen Plattenvertrag zu bekommen, verdienten etwas Geld mit ihren Auftritten in Clubs und hatten sich schon eine kleine Fangemeinde in Kalifornien aufgebaut. Erfolg war kein weit entfernter Traum mehr, sondern in greifbare Nähe gerückt. Aber Francis würde immer ein Traum für Sayji bleiben. Überrascht stellte der Junge fest, dass er an seinem Zielort angekommen war, während seine Gedanken umherschweiften. Als würden seine Füße automatisch zu Zaharas Haus gehen. Zahara Perrucci war ihre Managerin und stellte ihren Keller als Proberaum zur Verfügung. Sie war eine Freundin, oder vielleicht auch die Freundin, von Mortons Cousine und hatte Management studiert. Sie war in einer bekannten Firma angestellt und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Nachwuchs-Bands zu fördern. Aber bis jetzt befand sie nur The Rainbow Mess ihrer Aufmerksamkeit würdig und seitdem sie sich um die Band kümmerte war es schlagartig bergauf gegangen. An diesem Morgen hatte sie alle zu ihrem Haus bestellt, um ihnen etwas Wichtiges zu sagen. Sayji war schon gespannt. Vielleicht würde sie ihnen gleich den Vertrag vorlegen. Bevor er auf die Klingel drückte richtete er noch seine Frisur und stellte seinen Öffentlichkeitsmodus ein. Wenn er unter Menschen war, benahm er sich immer so gut gelaunt und aufgeschlossen wie er nur konnte. Früher war er wirklich so gewesen aber er hatte sich mit der Zeit verändert und war zu einem schüchternen, depressiven Jungen geworden. Er wollte nicht, dass jemand seine Veränderungen bemerkte, denn seine Freunde mochten bestimmt nur den alten Sayji. Einzig Francis wusste bescheid. Er kannte den Jungen so gut, dass ihm selbst die kleinste Wandlung seiner Stimmung oder seines Charakters nicht entging. Vielleicht lag es daran, dass Francis auch einen Öffentlichkeitsmodus besaß. Fremden gegenüber wirkte er immer abweisend und cool. Aber in Wirklichkeit war er unglaublich liebenswert und warmherzig. Sayji versuchte endlich aufzuhören über ihn nachzudenken und klingelte. Der Türöffner summte und er trat ein. Gut gelaunt ging er ins Wohnzimmer, immer darauf bedacht im Flur nur auf den Teppich zu treten, denn seine Schuhe machten auf diesem Boden immer so einen Lärm, dass es bestimmt noch in der nächsten Straße zu hören war. Er betrat den hellen Raum und wurde in voller Lautstärke begrüßt. „Oi! Say­chan! Auch endlich da!“, rief Morton winkend, der mal wieder mit Francis vor dem Plasmabildschirm Play Station zockte. Sie bildeten einen netten Kontrast, wie sie da so nebeneinander hockten. Francis groß, schlank und mit einem ordentlich frisierten grün-roten Iro und daneben Morton, der einen halben Kopf kleiner war, viel mehr Muskeln hatte und ein lustiges Durcheinander auf dem Kopf trug. Diese Woche waren seine Haare dunkelblau; letzte Woche waren sie noch rot. Sayji sah sich um. Zahara kam auf ihn zu gehumpelt und begrüßte ihn strahlend. Sie hatte wohl etwas Großes zu verkünden, sonst wäre sie nicht so überschwänglich. „Weißt du, wo Starla bleibt? Die lässt sich doch sonst nicht so viel Zeit“, meinte sie und rückte ihre Brille zurecht. „Hm, weiß nicht. Vielleicht steht sie im Stau. Ist Ayeku schon da?“, fragte Sayji und blickte suchend an ihr vorbei. Er konnte den hochgewachsenen blonden Bassisten nirgends finden. „Der ist in der Küche und macht sich einen Kaffee“, sagte Zahara und im selben Moment trat der junge Mann ins Wohnzimmer. Er lächelte Sayji an und setzte sich auf die Couch, um den beiden Anderen beim Spielen zuzusehen. Ayeku war immer so. Er sprach nicht viel aber wenn er etwas sagte war es meistens wichtig. Und er war der Vernünftigste von ihnen. Partys waren nicht sein Ding und er hielt sich immer zurück. Das führte dazu, dass er ständig seine betrunkenen Bandkollegen einsammeln und heimfahren musste. Er war mit neunzehn Jahren der Älteste von ihnen, wenn man Zahara nicht mitzählte, die schon 24 war. Francisco war achtzehn und alle anderen waren erst siebzehn. Jedes Mal hielt Ayeku ihnen die gleiche Predigt und jedes Mal wunderte er sich lautstark darüber, dass sie in ihrem Alter überhaupt schon Alkohol bekamen. „Wir sind halt die Band“, meinte Morton dann grundsätzlich. Diese Partys waren immer schlimm. Es wimmelte von aggressiven und notgeilen Betrunkenen, die es besonders auf Sayji und Starla abgesehen hatten, weil die Beiden nunmal so süß und wehrlos waren. Aber irgendwer holte sie immer wieder aus diesen Situationen raus. Entweder Ayeku redete den Besoffenen vernünftig zu, Francisco spielte ihren Beschützer oder, die dritte und häufigste Möglichkeit, Morton gab den Kerlen eins auf die Nase, was oft Massenschlägereien auslöste. Jeder von ihnen hatte so sein Spezialgebiet. Es klingelte an Zaharas Haustür und nur Sekunden später kam Starla in den Raum gelaufen. „Tut mir leid, ich hab den Bus verpasst“, sagte sie und strich ihre pinken Haare aus dem Gesicht. „Nun, da wir jetzt alle hier sind kann ich euch ja endlich die Neuigkeiten erzählen... Jungs, Fernseher aus“, sagte Zahara und sie gehorchten ihr auf´s Wort. Alle versammelten sich um die kleine Managerin herum und sahen sie gespannt an. „Die Plattenfirma hat sich eure Demos angehört... und sie waren begeistert“, meinte sie und die Band brach in Jubeln aus. Vergeblich versuchte die junge Frau, sich Gehör zu verschaffen. Erst als sie laut auf ihren Fingern pfiff wurde ihr wieder Aufmerksamkeit geschenkt. „Es gibt da nur einen Haken. Sie wollen erst wissen, was ihr live draufhabt. Deshalb habe ich die ganze Stadt abgesucht, um irgendwo einen Gig zu bekommen, aber alles ist ausgebucht. Und da kam das hier auf meinen Schreibtisch geflattert...“, erklärte sie und hielt ein Flugblatt hoch, „Es ist ein Wettbewerb. Der Gewinner darf mit „Purple“ auf Tour gehen. Der Name sagt euch doch was?“ Sie sah in die Runde. Natürlich sagte dieser Name ihnen was. Purple waren eine Rockband aus San Francisco, die vor Kurzem den Durchbruch geschafft hatten und jetzt eine Tournee durch ganz Amerika machten. Man konnte sie fast ihre Vorbilder nennen, denn sie waren jetzt schon da, wo The Rainbow Mess in näherer Zukunft hinwollten. „Und was meinen die mit einem „originellen Grund für die Auswahl“?“, fragte Morton, der das Flugblatt studierte. Bevor irgendwer antworten konnte, meldete sich Sayji zu Wort. „Ich hab einen... Na ja, die Farben. Sie sind lila und wir sind der Regenbogen. Wenn das mal kein Grund ist“, meinte er und alle starrten ihn ungläubig an. „Say­chan, du bist ernsthaft genial“, meinte Ayeku grinsend. „Klar, deswegen liebt ihr mich ja auch so“, entgegnete Sayji gut gelaunt. „Äh, Leute... Euch ist aber wohl klar, dass das schon nächste Woche ist?“, fragte Starla, die jetzt den Zettel in der Hand hatte. „Wie nächste Woche?!“, fragten Francis und Morton gleichzeitig. „Nächsten Samstag, am 1. Dezember“, meinte das Mädchen. „An meinem Geburtstag?!... Vielleicht bringt das ja Glück“ Der Drummer sah nachdenklich seine Freunde an. „Wenn wir abergläubisch wären, würde es uns sicher Glück bringen. Aber so gewinnen wir auch ohne Glück. Ich hab mir Videos von den anderen Bands im Wettbewerb angeguckt. Die sind grottenschlecht. Wir haben also nichts zu befürchten“, meinte Zahara optimistisch. „Wow, stellt euch vor das klappt wirklich. Das wäre so geil!“, sagte Starla und hüpfte wie verrückt auf und ab. „Bleibt auf dem Teppich, Leute. Feiern können wir noch, wenn wir gewonnen haben und der Plattenvertrag vor uns liegt“, meinte Francis mit einem siegessicheren Lächeln. Vorfreude war noch nie sein Ding gewesen. Dafür war aber seine nachträgliche Freude immer um so größer. „Hey, Ayeku? Was ist denn mit dir los?“, fragte Sayji den Bassisten, der ein Gesicht machte als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Na ja, eine Tour... Und was ist mit der Schule? Ihr könnt doch nicht einfach so die Highschool hinschmeißen. Sayji, was wird dein Vater dazu sagen?“, fragte er ernst. Sayjis Vater war seit zwei Jahren der Direktor ihrer Schule. „Dad sagt immer, man soll die Chancen nutzen, die man bekommt. Den Schulabschluss können wir immer noch nachholen aber diese Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder. Und du selbst hast das College geschmissen, weil du weiter in der Band sein wolltest, erinnerst du dich? Dann solltest du jetzt persönlich dafür sorgen, dass das nicht umsonst war“, sagte Sayji und Ayeku stimmte stotternd zu. Es machte ihn immer ganz wahnsinnig, wenn die hellblauen Augen des Halbjapaners so leidenschaftlich Funken sprühten. Er hatte irgendwann für Sayjis Charakter mal die treffende Bezeichnung „Feuerwerk“ gefunden, denn anders konnte man das gar nicht beschreiben. Der Jüngere grinste ihn lasziv an. Natürlich waren Sayji die Blicke nicht entgangen, die Ayeku ihm zuwarf. Er war sich sicher, dass der Bassist schon oft am liebsten über ihn hergefallen wäre. Dafür war er aber einfach zu vernünftig und zurückhaltend. Sayji war der Einzige, der wusste, dass Ayeku eigentlich bisexuell war. Er hatte ihn vor einem Jahr mal mit seinem damaligen Freund gesehen als er ihnen erzählt hatte, er wäre immer noch nicht über die Trennung von seiner Freundin hinweg und deshalb nach acht Monaten immer noch Single. Für ihn wäre es eine Schande gewesen, jemals zuzugeben, dass er mit einem Kerl zusammen war. Er war nämlich gerne perfekt und sein Image als ganzer Mann gehörte zum Perfektsein dazu. So hatten sie alle ihre Geheimnisse und Probleme und alle mussten sie irgendwie damit leben. Kapitel 2: Lampenfieber ----------------------- Sayji kam nach ihrer letzten Bandprobe vor dem Wettbewerb total kaputt zu Hause an. Zahara hatte ihn heimgefahren und ihm strenge Bettruhe verordnet, weil er vor lauter Schlafmangel fast umgefallen wäre. Es war Freitagabend, er könnte also am nächsten Tag wenn nötig bis mittags schlafen. Aber seit er von dem Wettbewerb erfahren hatte war er zu nervös zum Schlafen. Er zeigte seine Aufregung nicht nach außen. Der alte Sayji wäre nie nervös geworden. Er wäre einfach gut gelaunt und optimistisch auf die Bühne gestiegen und hätte sein Ding gemacht. Der alte Sayji liebte es, im Mittelpunkt zu stehen und es gab ihm Kraft, wenn alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Aber er war nicht mehr der alte Sayji. Er war jetzt ein 17-jähriger Junge, der Todesangst davor hatte, morgen zu versagen. Er malte sich die schrecklichsten Szenen aus, wie er da stand und kein Wort herausbekam oder wie er panisch vor den Zuschauern flüchtete. Er stellte sich vor, was die Anderen dazu sagen würden. Sie würden ihn zutiefst enttäuscht ansehen, weil er alles versaut hatte. Vielleicht würden sie ihn sogar rauswerfen und nie wieder mit ihm reden. Verzweifelt ließ er sich auf dem Teppich im Flur nieder. Seine Eltern waren nicht da und seine kleine Schwester Nanami wohl auch nicht. Sie verbrachte seit Längerem mehr Zeit mit ihren coolen Freunden in der Mall als sonst wo. Und mit ihrem komischen Bruder wollte sie schon gar nichts zu tun haben. Seine Eltern waren noch auf der Arbeit. Zumindest glaubte er das. Sein Vater hatte in der Schule viel zu tun und war kaum zu Hause. Und seine Mutter arbeitete in einer Sushi-Bar gleich um die Ecke. Das war schon immer so gewesen. Sie waren nie da. Früher war er oft nach der Schule zu seiner Mom gegangen, um Mittag zu essen und sich ein bisschen mit ihr zu unterhalten. Aber seit sie zur Köchin befördert worden war hatte sie während der Arbeit keine Zeit mehr und verbrachte den ganzen Tag im Restaurant, das seitdem boomte. Sayji war stolz auf seine Mom Yoshiko. Seit zehn Jahren schuftete sie in einer Sushi-Bar in Little Osaka. Sie war von einer zurückhaltenden Hausfrau zur ersten Köchin geworden und das ganz ohne Berufsausbildung. Und sie hätte sich sicher um ihre Kinder gekümmert, wenn sie Zeit gehabt hätte aber ihr Verantwortungsgefühl dem Geschäft gegenüber verbot ihr, sich welche zu nehmen. Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann Ryan. Der hätte zumindest abends Zeit gehabt oder vielleicht auch mal fünf Minuten in der Mittagspause, um sich mit seinen Kindern zu beschäftigen. Er war schließlich den ganzen Tag in ihrer Nähe aber trotzdem war er unerreichbar für sie. Er verschanzte sich in seinem Büro, wo den Schülern der Zutritt verboten war; es sei denn sie wurden wegen einer Strafe zu ihm gerufen. Wenn Sayji also mit seinem Vater reden wollte, musste er zuerst jemand das Fahrrad klauen oder eine Scheibe einwerfen. Aber sein Vater hörte ihm nicht zu. Er hielt ihm die selbe Predigt wie allen Anderen und gab ihm doppelt so viel Nachsitzen. Sie hatten sich vor Jahren mal darauf geeinigt, dass Sayji nie richtigen Hausarrest bekam, sondern stattdessen nachsitzen musste, damit er noch zu den Bandproben gehen konnte. So hatte sein Vater sich aus der Verantwortung gezogen und konnte seinen Sohn den anderen Lehrern überlassen. Wenn Sayjis Eltern sich mal stritten, dann ging es meistens darum. Seine Mom hielt seinem Vater immer vor, dass er seine wenige Freizeit nie mit der Familie verbrachte und er sagte immer zu ihr, dass die Frau sich um die Familie kümmern sollte. Dann wurde sie immer wütend und stürmte Türen knallend aus dem Haus. Einmal hatte sie ihre Sachen gepackt und war mit Sayji ein halbes Jahr nach Japan geflüchtet, bis sich die Gemüter wieder beruhigt hatten. Japan... Der Junge fand seine zweite Heimat überaus faszinierend und verbrachte oft seine Ferien dort. Er war dort geboren und hatte seine frühe Kindheit dort verbracht. Dann war sein Vater gefeuert worden und sie waren zurück nach Amerika gegangen. Er hatte in San Francisco einen Job als Lehrer gefunden und jetzt war er Schuldirektor. Immer wenn Sayji dieses Gefühl von Heim- und Fernweh gleichzeitig überkam ging er nach Japantown und blieb so lange bis es ihm besser ging. Aber es war einfach nicht dasselbe... Sayji überlegte, ob es seinen Eltern überhaupt auffallen würde, wenn er wegginge. Er hatte schon öfter einige Tage bei Starla verbracht, ohne dass sie es merkten. Bis jetzt hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, ihnen von dem Wettbewerb und den möglichen Konsequenzen zu erzählen. Vor allem seinen Vater hätte es wahrscheinlich nichtmal interessiert. Seine Mutter wäre bestimmt besorgt gewesen und seine Schwester hätte gelacht und ihm erzählt, dass er das eh nicht schaffte. Die Band war viel eher seine Familie als diese Leute. Aber wenn er die Band so dermaßen enttäuschte, dass sie ihn nicht mehr haben wollten, was war dann? Alles in ihm verkrampfte sich bei dem Gedanken daran. Er würde sterben, wenn sie ihn verließen. Sayji zuckte als er jemand auf der Treppe vor der Haustür hörte. Aber nichts geschah. Das hatte er sich bestimmt eingebildet. Wacklig stand er auf und ging in die verlassene Küche. Er zwang sich, den Kühlschrank zu öffnen und etwas zu essen. Er vergaß es oft oder überging sein Hungergefühl aus Versehen, allein schon weil sein Kopf mit so vielen anderen Dingen beschäftigt war. Danach zappte er durch einige Fernsehkanäle aber nirgends blieb er hängen. Das war doch alles sinnlos. Er musste etwas tun, damit er endlich aufhören konnte nachzudenken. Sein Blick fiel auf das Klavier. Wie magnetisch angezogen ging er hin und sofort legten seine Finger sich auf die Tasten und fingen an zu spielen. Er war so versunken in sein Klavierspiel, dass er nicht bemerkte wie jemand ihn durch die Verandatüren beobachtete. Erst als dieser Jemand sich bewegte und an die Scheibe klopfte, schreckte er hoch. Es war Francisco. „Was machst du hier? Wieso hast du nicht geklingelt?“, fragte Sayji als er ihn reingelassen hatte. „Ich wollte dir ein bisschen beim Spielen zuhören. Die Chance hat sich mir ja seit Jahren nicht mehr geboten. Und ich muss feststellen, dass du genauso wunderschön spielst wie du singst... und wie du lächelst“ Der Angesprochene lief knallrot an. Er hielt sich nicht für einen guten Pianisten, spielte seit einem traumatischen Ereignis niemals vor Leuten und jetzt machte Francis ihm so ein offensichtliches Kompliment. „Francis Killingham, du bist und bleibst ein verdammt guter Lügner“, sagte Sayji scherzhaft und versuchte seine Verlegenheit zu ignorieren. „Ich mein´s ernst. Du solltest dein Talent nicht immer verleugnen. Du weißt, was ich von deiner Stimme halte und die Anderen sehen das genauso. Ayeku hat mal gesagt, wenn du singst, bist du wie ein „engelsgleicher Dämon“. Ich finde, er hat verdammt Recht damit. Und du hast genauso viel Talent in deinen süßen kleinen Händen. Glaub mir, Sayji. Wenn du wolltest, wärest du ein Super-Pianist... Und die Tatsache, dass du ein wunderschönes Lächeln hast, leugnest du auch immer wieder... Ein Lächeln, das ich heute sehr vermisst hab. Was ist los mit dir, Say­chan?“ Francis sah ihn so ernst an, dass Sayji vor Angst etwas zurückwich. Man konnte ihm einfach nichts vormachen, und so versuchte er es erst gar nicht. Der Jüngere sah bloß zu Boden und ließ seinen Tränen freien Lauf. Francis ergriff seine Schulter und hob zärtlich sein Kinn an, damit er ihm in die Augen sehen konnte. „Sprich mit mir, Sayji. Komm schon, lass es raus“, sagte er eindringlich. „Francis... ich hab so schreckliche Angst“, flüsterte der Sänger. Er kam sich vor wie ein kleines Kind aber irgendwie machte es ihm nichts aus, solange nur er ihn in diesem Zustand sah. „Wovor denn, mein Kleiner? Davor, morgen zu versagen?... Das brauchst du nicht, denn du wirst nicht versagen“, sagte Francis und wischte eine Träne weg, der direkt die nächste folgte. „Und wenn doch, dann... dann...“ Weiter kam Sayji nicht. Er fing an haltlos zu schluchzen und sein Freund zog ihn in eine tröstende Umarmung. „Und wenn doch, dann klappt es eben beim nächsten Mal. Ernsthaft, Sayji, du kannst gar nicht versagen. Auch wenn du nicht in Höchstform bist, machst du die anderen Sänger platt. Und momentan bist du technisch in Höchstform... Weißt du, manchmal kommt es mir so vor, als ob die Band deiner Qualität nicht ganz gerecht wird. Du kannst viel besser singen als wir spielen können. Wir stehen deiner Karriere nur im Weg. Wenn du in einer anderen Band wärest, dann hättest du es schon längst an die Weltspitze geschafft“ Sayji sah ihn fassungslos an. Das meinte er doch nicht ernst. „Hör auf so eine Scheiße zu reden, Francis. Ihr seid mehr als gut. Und selbst wenn das nicht so wäre, dann würde ich niemals zu einer anderen Band gehen. Meine Karriere ist mir egal. Ich will nur Musik machen und mit euch zusammen sein... ihr seid meine Familie... und ich hab Angst euch zu enttäuschen... und dass ihr mich dann nicht mehr wollt“ Jetzt hatte er es gesagt. Er hatte ausgesprochen, was ihn schon die ganze Zeit quälte. In einem Versuch, dem komischen Ausdruck in den braunen Augen seines Gegenübers zu entkommen lehnte er sich wieder gegen dessen Oberkörper und bettete den Kopf an seine Brust. Francis´ Herz schlug schneller als es sollte und er spürte, dass die Hände auf seinem Rücken sich leicht verkrampften. „Wenn ich dich und deine Probleme nicht so gut kennen würde, wäre ich jetzt böse auf dich... Du glaubst doch nicht wirklich, dass wir dich wegen einem verhauenen Auftritt aus der Band schmeißen. Was denkst du von uns? Und was denkst du von dir selbst? Hältst du dich wirklich für so wertlos und austauschbar?“, fragte Francis. „Ich weiß es doch auch nicht... Ich mach´ mir halt Gedanken“, antwortete der Kleinere und drückte sich noch enger an ihn. „Und aus Gedanken werden bei dir grundsätzlich Ängste und Depressionen... Irgendwie bin ich jetzt erleichtert“, meinte sein Freund und er sah hoch. Francis grinste über seinen verwirrten Gesichtsausdruck. „Na ja, Morton hat gemeint du nimmst Drogen, weil du in letzter Zeit immer so komisch bist. Ich hab mir tierische Sorgen gemacht... und obwohl ich es eigentlich besser weiß hatte ich Angst, dass er vielleicht Recht hat. Aber jetzt stehst du hier vor mir; der selbe ängstliche Junge wie immer und erzählst mir von deinen Problemen. Ich bin so verdammt erleichtert... Könntest du mich vielleicht loslassen? Du erdrückst mich ja fast“, sagte er und peinlich berührt ließ Sayji ihn gehen. Er lächelte den Älteren schüchtern an und wusste nicht, was er sagen sollte. Einen Moment lang kam er in die Versuchung, ihm endlich seine Gefühle zu gestehen aber ein Liebesdrama konnten sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. „Ich hoffe, ich kann es verantworten dich allein zu lassen. Ich brauche nämlich jetzt mein Bett und meinen Fernseher. Du solltest dich auch ausschlafen. Und mach dir nicht immer so viele Gedanken... Und wenn noch irgendwas ist, kannst du mich anrufen, egal wann, okay?“, sagte der Gitarrist und wandte sich zum Gehen. „Francis...?“, flüsterte Sayji und er drehte sich noch einmal um, „Es tut mir leid... Ich hätte nicht so von euch denken dürfen... Hast du noch fünf Minuten Zeit? Ich hab vorhin aus Versehen einen Song geschrieben. Willst... willst du ihn dir vielleicht anhören?“, fragte er mit viel Überwindung. Der Angesprochene sah ihn verdutzt an, dann lächelte er. „Ich würde ihn sehr gern hören“, sagte er und ließ sich auf der Lehne der Couch nieder. Sayji setzte sich ans Klavier. Ein bisschen nervös war er schon. Aber dann erinnerte er sich, was er als Kind immer gegen seine Aufregung getan hatte. Er schaltete seine Umgebung aus und erlaubte der Musik zu fließen und ihn voll und ganz zu erfüllen. Alles Andere wurde nebensächlich und er legte seine ganzen Gefühle in dieses eine Lied. Leider funktionierte dieser Trick nicht vor vielen Menschen. Aber das war jetzt auch egal. Als er zu singen begann, bemerkte er nur am Rande, wie Francis ihn verträumt anstarrte. Das Wohnzimmer verblasste und nur noch der junge Musiker und sein Instrument schienen zu existieren. Als Sayji die letzte Strophe beendet hatte brauchte er erstmal ein paar Sekunden, bis wieder alles da war. Er sah zu Francis und fragte sich, ob er halluzinierte. Aber das tat er nicht. Tatsächlich liefen Tränen über das Gesicht des Älteren und tropften leise auf den Boden. Er stand auf und trat auf den Pianisten zu. Und dann tat er etwas Unerwartetes. Wortlos kniete er vor ihm nieder, nahm die schönen Klavierhände in seine und küsste sie sanft. „Say­chan, das war einfach wundervoll... unbeschreiblich“, flüsterte er. Sayji war erstaunt. Nein, das war untertrieben. Er konnte es nicht fassen: Er hatte den coolen Francis Killingham zu Tränen gerührt mit diesem kleinen Lied. Normalerweise waren es immer Starla oder Zahara, die bei seinen traurigen Songs anfingen zu heulen wie verrückt aber jetzt saß er hier vor ihm auf dem Boden und wischte sich beschämt die Tränen aus den Augen. „Entschuldige“, murmelte Francis und ließ sich errötend neben ihm auf dem Klavierbänkchen nieder. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Sayji und folgte mit dem Finger einer Tränenspur auf seiner Wange. „Klar... Dieser Song spricht jedem aus der Seele, der jemals in seinem Leben unter Liebeskummer gelitten hat, weißt du das? Schreib ihn auf, er ist sehr wichtig... Nach der zweiten Strophe könnte man ein Solo setzen. Ich hab´s schon im Kopf... Natürlich nur, wenn du willst“, meinte Francis nachdenklich. „Ja, das würde sicher gut passen... Francis, ich hab´s mir überlegt; es ging eigentlich ganz schnell. Ich werde wieder in der Öffentlichkeit spielen. Und wenn es nur dieses eine Lied ist“, sagte Sayji entschlossen. Der Andere strahlte. „Das ist wunderbar... Wir sollten uns zusammensetzen und dieses Lied ausarbeiten; nur wir beide, so wie früher“ Er lächelte und Sayji stimmte zu. Dann musste Francis wirklich gehen, denn bald fuhr sein Bus nach Hause und der würde auch ohne ihn fahren. „Gute Nacht“, flüsterte er Sayji noch zu und verschwand dann wieder genauso plötzlich wie er gekommen war. Jetzt konnte der Kleine endlich auch schlafen gehen. Er hatte sich mit Francis ausgesprochen, einen neuen Song geschrieben und sich endlich beruhigt. Sein Tagewerk war vollbracht. Kapitel 3: Der Wettbewerb ------------------------- Der Abend des Wettbewerbs war gekommen. Sayji hatte es seinen Eltern immer noch nicht erzählt und sie waren auch an diesem Tag mal wieder nicht da. Als er sich gerade fertig machte hörte er die Haustür. „Say-chan, bist du da?!“, rief seine Mutter. „Ich bin hier oben!“, antwortete er und sie kam die Treppe rauf. Als sie in der Zimmertür stand musterte sie ihn skeptisch. Einen Moment lang glaubte er, sie wollte ihm sagen, dass er groß geworden sei. „Wo willst du denn in dem Aufzug hin?“, fragte sie verwundert. „Zu einem Auftritt. Wir nehmen heute Abend an einem sehr wichtigen Wettbewerb teil, der über unsere Zukunft entscheidet“, erklärte er und strich durch seine Haare. „Eure Zukunft? Wir haben uns wohl lange nicht mehr unterhalten. Das letzte Mal, als du mir von der Band erzählt hast, habt ihr noch in Aimerics Garage gespielt; in einer von den fünf“, meinte sie verwundert und legte ihren ganzen Sarkasmus in den letzten Satzteil. Sie war Ayeku gegenüber immer skeptisch gewesen. Sein Vater war ein sehr reicher Geschäftsmann und man sagte ihm nach, dass er sein Geld durch krumme Geschäfte gemacht hatte. Tatsächlich besaßen sie eine riesige Villa und fünf Garagen. „Aber, Mom. Die Garagen-Phase war letztes Jahr. Wir haben mittlerweile eine Managerin, einen Proberaum, fast einen Plattenvertrag und sogar schon Fans“, sagte Sayji. Es überraschte ihn nicht wirklich, dass sie es nicht mitbekommen hatte. Mit großen Augen sah sie ihn an. „Wirklich? Say-chan, das ist ja toll. Aber bist du dir sicher, dass das das Leben ist, das du willst? Auf der Bühne stehen bis spät in die Nacht, jeden Tag in einer anderen Stadt schlafen und dieser furchtbaren Musikindustrie und den Paparazzi ausgesetzt sein, die nur darauf warten, dass sie ein schmutziges Geheimnis erfahren? Und du könntest mit allerlei gefährlichen Gestalten in Kontakt kommen, mit Leuten, die dir Drogen geben“, sagte sie. Sayji musste lächeln. Genau das hatte er erwartet. Verständnis, aber auch die typischen mütterlichen Sorgen. „Mach dir keine Sorgen, Mom. Es ist genau das, was ich will. Jeder sollte doch im Leben das tun, was er am besten kann und am meisten mag, findest du nicht? Und ich liebe es nunmal, Musik zu machen und die Leute damit zu begeistern. Und was die schmutzigen Geheimnisse angeht... Ich habe keine. Die ganze Stadt weiß, dass ich schwul bin und die meisten finden´s gut“, meinte er und sie lachte auch wieder. „Du bist mir schon einer. Die ganze Stadt weiß es, dein Vater aber nicht... Ich wünsche dir viel Glück und viel Spaß bei eurem Auftritt. Komm nicht zu spät nach Hause, okay?“ Und damit verschwand sie wieder, um wenig später in der Küche zu rumoren. Sayji seufzte. Seine Mom war einfach klasse und er wünschte, er hätte mehr von ihr gehabt. Immerhin hatte sie ihn damals zur Musik gebracht und ihn in die Klavier- und Gesangsstunden geschickt. Er verdankte ihr praktisch alles. Der Junge beeilte sich fertig zu werden und hoffte, dass die anderen ihn abholen kamen, bevor sein Vater heimkam. Der würde ihn nämlich niemals so aus dem Haus gehen lassen. Er hatte ihn schon öfters aus der Schule heimgeschickt, damit er sich umzog und Sayji hatte sich jedes Mal noch provokanter gekleidet. Er konnte jetzt einfach keinen Stress gebrauchen. Als er gerade seinen Mantel überzog hörte er die Haustür. Oh nein, er war da. Angestrengt lauschte der Junge und hörte, wie er in die Küche ging und mit Yoshiko sprach. Das war die Chance. Sayji schlich die Treppe runter und aus der Haustür. Er lief so schnell es mit seinen Schuhen ging zur nächsten Straßenecke und rief die Anderen an, um ihnen mitzuteilen, dass sie ihn dort abholen sollten. Vor Konzerten war es zum Ritual geworden, dass Zahara sie zu Hause einsammelte. Fünf Minuten später bog sie auch schon in die Straße ein. „Bist du wieder geflüchtet?“, fragte Starla grinsend als er ins Auto stieg. Er achtete nicht auf sie, sondern sah sich in dem Fahrzeug um. „Wo ist Francis?“, fragte er. Der Gitarrist wohnte direkt neben Morton, der auf dem Beifahrersitz saß, war aber nicht bei ihnen. „Bei ihm hat keiner aufgemacht. Er geht auch nicht ans Handy... Ich hoffe, er hat nicht vergessen, dass wir heute einen Auftritt haben“, meinte der Drummer und sah nervös aus dem Fenster. Er verschwieg ihnen etwas, das merkte Sayji sofort. Und er hatte auch einen starken Verdacht, was es war. Seit Francis´ Mutter vor einem Jahr gestorben war, war er allein den Gewaltausbrüchen seines Vaters ausgesetzt. Seine Mutter hatte sich das Leben genommen, aus welchem Grund konnte jeder sich denken. Sie hatten alle schon versucht, Francis zu überreden zur Polizei zu gehen und sie waren auch selbst schon hingegangen, aber solange das Opfer schwieg konnte man nichts machen. „Er ist doch mein Vater...“, sagte Francis jedes Mal, wenn sie es wieder versuchten. Es war furchtbar ihn voller blauer Flecken und Platzwunden zu sehen und er weigerte sich strikt, in ein Krankenhaus zu gehen. Immerhin ließ er es zu, dass Ayeku seine Verletzungen versorgte. Einmal war er zusammengebrochen und sie hatten ihn zu einem Arzt gebracht, dem er dann erzählte, er hätte einen Fahrradunfall gehabt. Es war hoffnungslos. Und jetzt war er wieder allein mit ihm. Die Vorstellung ließ Sayji erschaudern. „Vielleicht sollten wir zurückfahren und es nochmal versuchen. Wir können doch nicht ohne ihn...“, begann er aber Mortons Blick ließ ihn verstummen. Schweigend verbrachten sie den Rest der Fahrt und gingen mit hängenden Köpfen in den Club, wo der Wettbewerb stattfinden sollte. Dort erfuhren sie zu allem Überfluss, dass es in letzter Sekunde noch eine Nachnominierung gegeben hatte. Die Band „Slightly Embarrassed“ hatte sich angemeldet. Sie galten als eine der besten Bands der Stadt aber man sagte ihnen nach, dass sie total abgehoben und arrogant waren. Einmal waren sie mit The Rainbow Mess aneinander geraten. Ihr Sänger hatte sich mit Morton angelegt und sie hatten sich ziemlich geprügelt. Erst später hatte Sayji erfahren, dass es dabei um ihn gegangen war. Was genau passiert war, wollte Morton ihm aber nie erzählen. Jetzt stand der Drummer vor der Anmeldeliste und starrte sie an als ob sie etwas dafür könnte. „Was sollen wir nur tun? Ohne Francisco haben wir keine Chance gegen die. Ich kann seine Solos nicht übernehmen. Das kann ich einfach nicht“, rief Starla aufgebracht und wirbelte durch den Raum. „Uns bleibt nur eins übrig... aufgeben“, meinte Ayeku betrübt. „Nein, das werden wir nicht! Francis wird kommen. Er kommt jeden Moment durch diese Tür, da bin ich mir sicher“, sagte Sayji laut und deutete auf den Eingang. „Er wird nicht kommen, Say-chan“, sagte Morton leise, „Ich hab´s gesehen... Ich hab durch das Fenster geguckt und gesehen, was er mit ihm angestellt hat. Er hat Francis so dermaßen zugerichtet, dass er kaum mehr stehen konnte... Ich hab versucht reinzukommen, das Fenster einzuschlagen aber sie sind alle aus Panzerglas und die Türen waren zu... Francis hat mich gesehen und mir klargemacht, dass ich gehen sollte und keinem davon erzählen“ Sie starrten ihn ungläubig an. „Warum hast du nicht die Bullen gerufen? Du guckst zu, wie dein bester Freund vermöbelt wird und kommst nichtmal auf die Idee dein Handy rauszuholen und die Bullen zu rufen?!“, fragte Zahara und funkelte ihn wütend an. „Und wenn ich es getan hätte? Die Bullen wären gekommen, hätten geklingelt und in der Zwischenzeit hätte sein Vater ihn im Keller eingesperrt. Dann hätte er ihnen erzählt, er wäre nicht da, was er ja eigentlich auch nicht sein sollte. Und dann wären die Bullen wieder gefahren und er hätte Francis womöglich noch mehr angetan als sowieso schon. Er hätte ihn vielleicht umgebracht, versteht ihr?“ Morton sah sie verzweifelt an. Er hatte wahrscheinlich sogar Recht. So langsam betraten auch die anderen Bands den Raum. Der Sänger von Slightly Embarrassed stolzierte an ihnen vorbei und lächelte herablassend. Wenige Minuten später begann der Wettbewerb. The Rainbow Mess sollten als vorletzte Band spielen und so hatten sie noch genug Zeit sich einen Schlachtplan zu überlegen. „Komm schon, Starla. Es ist doch nur der eine Song. Du kannst sein Solo spielen. Erzähl nicht, dass du es noch nie versucht hast!“, sagte Zahara zu der kleinen Gitarristin, die mittlerweile den Tränen nahe war, weil alle auf sie einredeten. „Ich hab´s versucht und es nicht hingekriegt. Bitte, glaubt mir doch. Ich kann´s nicht“, quietschte sie und versuchte in die andere Ecke des Zimmers zu flüchten. „Dann spiel was Anderes. Was Einfacheres“, meinte Sayji und sah sie aufmunternd an. Der Song, den sie heute spielen wollten war in der Tat der mit dem schwierigsten Solo aber gleichzeitig einer von ihren besten. „Aber das geht doch nicht. Das hört sich mit einem anderen Solo total scheiße an. Wir nehmen einen anderen Song“, sagte Morton kurz entschlossen. Sie debattierten weiter, während der Raum sich langsam leerte, weil alle anderen Bands zu ihrem Auftritt mussten. „Hey, ihr Versager! Hat euer komischer Gitarrist sich vor Angst in die Hose gemacht, oder warum ist er nicht da?“, fragte der Sänger von Slightly Embarrassed und seine Bandmitglieder lachten. „Er holt noch sein Samurai-Schwert, damit er dir deinen Schwachkopf abschlagen kann“, fauchte Morton und sah aus als würde er ihm gleich ins Gesicht springen. Aber bevor noch etwas geschah flog die Eingangstür auf und Francis erschien im Türrahmen. Er trug eine Sonnenbrille, obwohl es mittlerweile dunkel war und er humpelte stark. Es war auch von weitem schon offensichtlich, dass er furchtbare Schmerzen haben musste. Aufgeregt eilten sie zu ihm. „Bin ich zu spät?“, fragte er heiser und bahnte sich seinen Weg zum nächstbesten Sessel. „Nein, bist du nicht. Wir werden absagen. In deinem Zustand kannst du nicht spielen“, sagte Zahara, die ihn erschrocken musterte. „Natürlich kann ich spielen. Wir werden nicht aufgeben... Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben? Und eine Schmerztablette, wenn´s geht“, sagte Francis und Sayji eilte los. Er hörte, wie Zahara weiter auf den Gitarristen einredete. Er musste erst fünf Leute fragen, bevor er die Tablette bekam und schon rannte er zurück. „Francis, du gehörst in ein Krankenhaus und nicht auf die Bühne“, sagte die Managerin gerade. „Meinst du denn, ich lasse mich erst halbtot schlagen wegen dem Gig, klaue meinem Alten das Auto und komme dann hierher und gebe auf?! Du spinnst doch!“, entgegnete er. „Hey, wenn der Mann spielen will dann sollten wir ihn lassen“, meinte Ayeku und legte Zahara beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Wenn´s euch irgendwie weiterhilft, dann kann ich ja danach zu einem Arzt gehen“, meinte Francis, der die Tablette geschluckt hatte, „Könntet ihr jetzt vielleicht aufhören so einen Terror zu machen. Das ist ja peinlich“ Tatsächlich beruhigten sie sich und fingen endlich an sich mental auf den Auftritt vorzubereiten. Nur Morton stand immer noch bei Francis und entschuldigte sich mit brüchiger Stimme. „Du hast das richtige getan, Mann. Danke, dass du nicht die Bullen gerufen hast“, sagte der Sitzende. „Wenn du meinst, Fran“, sagte der Andere resignierend. Er war der Einzige, der Francis „Fran“ nennen durfte. Und solange er das tat, war zwischen den Beiden alles okay. Kurze Zeit später kam eine junge Frau zu ihnen, die ihnen mitteilte, dass sie gleich dran waren. Francis erhob sich und sie stellten sich in einer Ecke zusammen. „Also, Leute. Hört zu: Wir gehen jetzt da raus und geben unser Bestes. Wir können gewinnen. Und auch wenn nicht, ist es nicht das Ende der Welt. Also dann...“, meinte Francisco, schnappte sich seine Gitarre, warf seine Jacke achtlos in eine Ecke und ging voraus. Sie folgten ihm und warteten am Bühnenaufgang auf ihren Einsatz. Die Band, die grade ihren Song beendete war nicht besonders gut. Entweder war ihre Melodie so schlecht komponiert oder der Gitarrist verspielte sich dauernd; so genau konnte man das nicht sagen. Als sie fertig waren bekamen sie nur verhaltenen Applaus und den wohl auch nur für ihre vergebliche Mühe. Der Vorhang fiel und sie verließen die Bühne. Sofort machten The Rainbow Mess sich daran, das Equipment für ihre Zwecke umzubauen. Morton ließ sich noch ein paar Teile für das Schlagzeug bringen. Er hatte es gern so groß, dass er sich dahinter verstecken konnte. Die Anderen stimmten ihre Instrumente auf die Akustik des Saals ab. Es war schwierig ohne Soundcheck die richtigen Einstellungen zu finden aber normalerweise gelang es ihnen immer. Sie gaben dem Moderator ein Zeichen, er trat durch den Vorhang und kündigte sie an. Sayji spürte kaum noch etwas von seiner Nervosität. Die Aufregung um Francis hatte seine Kapazitäten erschöpft und den Gitarristen neben sich zu wissen beruhigte ihn auf eine komische Art und Weise. Der Vorhang hob sich aber sie blieben im Dunkeln stehen. Der Lichttechniker hatte offensichtlich ihre Wünsche mitgeteilt bekommen. Morton zählte vor und Ayeku setzte mit dem Intro ein. Als Francisco die ersten Gitarrennoten erklingen ließ flammten die Scheinwerfer auf. Mehrere von ihnen richteten sich auf Sayji als er anfing zu singen. Das Publikum jubelte. Seine Stimme hatte immer so einen Effekt. Wenn jemand den kleinen Halbjapaner sah, der würde ihm niemals eine solche Stimme zutrauen. Er konnte sehr tief singen, aber auch sehr hoch. Er konnte jedes Gefühl durch seinen Gesang ausdrücken, auch wenn er es gerade nicht fühlte. So konnte er auch jede Art von Musik singen, egal ob Punk oder Soul; egal ob Metal oder Pop-Balladen. Aber er selbst sang am liebsten diese wütenden Rocksongs, wie auch dieser einer war. Er konnte seiner Stimme so etwas Psychopathisches geben, was richtig dazu passte und den Zuhörern einen Schauer über den Rücken jagte. Und er selbst merkte, dass er an diesem Abend wirklich in Höchstform war. Das jubelnde Publikum spornte ihn immer mehr an und er war wieder der alte Sayji, der die Show in der Hand hatte. Aber gleich würde er Francisco das Feld überlassen und er würde es mit Freuden tun. Während er die letzte Zeile des Refrains sang trat er etwas zur Seite, um die Bühnenmitte freizumachen. Die ersten Töne des Solos zerschnitten die stickige Luft förmlich und Sayji war erleichtert, dass das Ganze genauso kraftvoll klang wie sonst. Erst nach ein paar Sekunden trat Francisco aus dem Schatten, in dem er bis dahin gestanden hatte. Die Zuschauer verstummten ehrfürchtig, als sie sahen in welchem Zustand er war. Er trug seine Sonnenbrille immer noch, die Verletzungen traten im Scheinwerferlicht noch mehr heraus und er hielt sich komisch. Trotzdem spielte er göttlich und man konnte hören, dass er sehr wütend war. Das Solo endete und Sayji begann wieder zu singen. Irgendwann gegen Ende des Songs lehnte sich Francis rückwärts an seine Schulter. Es besorgte Sayji aber er sang trotzdem weiter und Francis spielte auch immer noch so gut wie vorher. Zum Glück war der Sänger in seinen Schuhen fast so groß wie sein Nebenmann, sodass das Anlehnen problemlos klappte. Sayji schrie die letzte Zeile ins Mikro, Morton schlug noch einmal mit aller Kraft auf seine Drums ein und Francisco ließ den letzten Ton ewig lange im Raum nachhallen. Es war still. Dann brach plötzlich ohne Vorwarnung ein unglaublicher Jubel los. Erleichterung machte sich unter den Musikern breit und sie lachten wieder. Das Publikum wurde erleuchtet und sie konnten sehen, dass die Band Purple vor der Bühne an einem Tisch saß, wo sie sich offensichtlich Notizen gemacht hatten. Doch sie saßen nicht mehr. Sie waren aufgestanden und jubelten mit. „Seht ihn euch an“, sagte Sayji und deutete auf den Gitarristen, der sich immer noch an ihn lehnte, „Unser Francisco... Das ist verdammtnochmal ein Mann, oder?“ Das Publikum stimmte ihm lautstark zu und Francis lächelte ihn auf die Art und Weise an, die immer Schmetterlinge in seinem Bauch verursachte und seine Knie weich werden ließ. Sie verbeugten sich, bedankten sich beim Publikum und der Vorhang fiel. Erschöpft begaben sie sich hinter die Bühne und ließen sich auf die Couch sinken. Die anderen Bands waren wohl draußen oder an der Bar, denn sie waren allein in dem Raum. Morton musste Francis stützen und Sayji trug seine Gitarre. Jemand brachte ihnen was zu trinken und sie hörten entspannt zu, wie ihre Erzfeinde Slightly Embarrassed angekündigt wurden. Mit Genugtuung stellten sie fest, dass der Bassist seinen Einsatz verpasste und der Drummer kurz darauf aus dem Rhythmus kam. Der Sänger jedoch erlaubte sich keinen Fehler. „Der Typ ist ziemlich gut“, meinte Sayji. Er war wirklich gut. Seine Stimme war klar und passte perfekt zu ihrem Musikstil. „Nicht halb so gut wie du... Außerdem ist er´n Arschloch“, erwiderte Morton und wurde fast schon wieder wütend. „Was hat er damals eigentlich gemacht, dass du ihn geschlagen hast?“, fragte Sayji neugierig und sah in die braunen Augen. Er wollte es unbedingt endlich wissen. „Er hat dich beleidigt. Er hat gesagt du wärest eine kleine Schlampe und er würde dich gern mal an sein Bett fesseln und vergewaltigen. Er hat dann sehr detailliert beschrieben, was er so alles mit dir anstellen will und... Es war echt ekelhaft und ich hab ihn angeschrien, dass er aufhören soll so von dir zu reden. So war das“, meinte Morton und erinnerte sich schaudernd an die Worte des Sängers. „Und deshalb hast du ihn verprügelt? Du hättest doch einfach gehen können und ihn weiter dummes Zeug labern lassen“, sagte Sayji, der sich doch über ihn wunderte. Morton schlug immer schnell zu, aber so leicht war er normalerweise nicht zu provozieren. „Na ja, ich bin ja weggegangen und... und dann hab ich gehört, wie er gesagt hat, dass er dich...“ Er hörte auf zu reden und sah in die andere Richtung. „Was hat er gesagt? Erzähl schon, Morton. Ich will wissen, was andere Leute über mich sagen“, drängte Sayji und genervt gab er nach. „Er hat gesagt, er fickt dich bis du blutest und, dass keiner ihn davon abhalten wird. Dann ist er auf dich zugegangen und bei mir sind die Sicherungen durchgebrannt. Glaub mir, er hätte es gemacht. Dem Kerl trau ich alles zu. Bist du jetzt zufrieden?“ Sayji war nicht zufrieden. Er war gleichzeitig ein bisschen geschockt und sehr dankbar. „Danke. Ich finde es echt toll von dir, dass du dich geprügelt hast, um mich zu verteidigen. Also nicht das Prügeln an sich, aber die Tatsache, dass du es für mich getan hast...“, meinte er und legte kurz den Arm um den Schlagzeuger. Francis richtete sich wieder auf. „Habt ihr das gehört? Ihr ach so perfekter Sänger hat grade den Refrain versaut“, sagte er und deutete Richtung Bühne. „Unser Auftritt hat sie wahrscheinlich nervös gemacht. Vor allem dein Auftritt, Bruder“, antwortete Morton grinsend. „Sobald wir wissen, wie es ausgegangen ist, werde ich dich ins Krankenhaus fahren“, meinte Sayji und legte kurz die Hand auf Francis´ Knie, das irgendwie zitterte. Er hörte keinen Widerspruch, was ihm etwas Angst machte. „Zuerst müssen wir aber noch die Karre zurückbringen. Wenn mein Vater merkt, dass ich damit abgehauen bin flippt er wieder aus“, sagte der Gitarrist und erschauderte leicht. Sayji wollte ihn grade fragen, was er eigentlich diesmal angestellt hatte, um diesen Wutanfall auszulösen, da drückte Morton ihm seinen Autoschlüssel in die Hand. „Hier. Fahr ihn nach Hause, dann nimmst du mein Auto und bringst ihn ins Krankenhaus. Aber sei um Himmels Willen vorsichtig damit. Lass dir Zeit. Ich brauch´s wohl heute und morgen eh nicht, ich geh nämlich gleich Party machen“, sagte er. Jules Morton überließ ihm sein Auto?! Hatte er Fieber? Das war nicht normal. Gerade wollte Sayji was sagen, da legte er ihm den Finger über die Lippen. „Sag kein Wort, sonst überleg ich´s mir vielleicht anders. Das ist der ultimative Vertrauensbeweis“, meinte er todernst. Sayji nickte bloß und lächelte ihn an. Slightly Embarrassed beendeten ihren Song und das Publikum applaudierte. Es war immerhin kein schlechter Song gewesen und sie waren auch keine schlechten Musiker; das musste man ihnen lassen. Der Moderator rief alle teilnehmenden Bands auf die Bühne. Es dauerte eine Weile, bis sie sich alle dort eingefunden hatten. Dann wurden die ersten sieben Bands mit jeweils sehr kurzen Kommentaren von der Bühne geschickt. Band Nummer acht bekam schon etwas mehr Lob als die Anderen und man sagte ihnen eine große Zukunft voraus. Dann waren nur noch The Rainbow Mess und Slightly Embarrassed übrig. Zachary, der Sänger von Purple, stand auf und nahm das Mikro in die Hand. Zuerst wandte er sich an Letztere. „Ihr wart gut“, begann er, „Euer Song war sehr gut geschrieben und ich weiß, dass ihr technisch normalerweise mehr draufhabt. Ein paar kleine Fehler kann man immer verzeihen. Ihr seid eine gute Band und ihr werdet eines Tages Erfolg haben“ Die Musiker sahen sich untereinander an. Sie wussten nicht, was sie davon halten sollten. „Aber ihr...“, sagte Zachary zu The Rainbow Mess, „Ihr seid einfach nur hervorragend. Exzellentes Songwriting, perfekte Teamarbeit und sogar ein bisschen Show. Die Leidenschaft, die den Anderen fehlt, habt ihr doppelt und dreifach. Deine Stimme... genial. Und die Tatsache, dass du in deinem Zustand noch so ein Solo spielen kannst, das uns alle von den Socken haut ist einfach unglaublich. Ihr werdet mal ganz groß; größer als wir alle hier. Und deshalb wird es uns eine Freude sein, mit so einer Band auf Tour zu gehen auch wenn wir damit riskieren, dass ihr uns jeden Abend in den Schatten stellt“ Er wollte noch etwas sagen aber die Begeisterungsstürme übertönten ihn. Die Musiker und ihre Managerin lagen sich in den Armen. „Hey, hört nochmal kurz zu“, rief Zachary und der Lärm legte sich etwas, „Ich soll euch außerdem mitteilen, dass der Chef eurer Plattenfirma backstage mit dem Vertrag wartet. Herzlichen Glückwunsch“ Gut gelaunt ließ er sich wieder auf seinen Stuhl sinken und beobachtete, wie die Band aufgeregt hinter der Bühne verschwand. Von da an war alles wie im Rausch. Kapitel 4: ... und was danach geschah. -------------------------------------- Sayji kam erst wieder zu sich als er vor Francis´ Haustür hielt und der Gitarrist neben ihm leicht nervös wurde. Er hatte seine Sonnenbrille abgenommen und nun sah der Andere, dass er ein riesiges Veilchen hatte und seine Augen verweint waren. „Say-chan... Ich... ich weiß, es kommt plötzlich aber... wenn ich dich jetzt fragen würde, ob du mir hilfst...“, murmelte der Ältere und sah ihn unsicher an. „Ich helfe dir. Egal, was du von mir verlangst“, antwortete sein Nebenmann. Francis atmete tief durch. „Sayji, könnte ich vielleicht ein paar Tage bei dir wohnen? Nur solange bis ich was Anderes gefunden hab“, fragte er. „Solange du willst. Aber zuerst müssen wir ins Krankenhaus. Du hast es versprochen...“, sagte der Fahrer und legte wieder die Hand auf sein Bein. „Ja, ich... hol noch schnell meine Sachen... Ähm, würdest du vielleicht mitkommen?“ Diese Frage war Francis peinlich aber Sayji stimmte sofort zu. Sie schlichen ins Haus und in die erste Etage, wo Francis´ Zimmer war. Aus dem Schlafzimmer seines Vaters hörten sie lautes Schnarchen und die Geräusche des Fernsehers. Als sie den kleinen Raum am Ende des Flurs betraten musste Sayji lächeln. Hier hatten sie früher Stunden verbracht und zusammen an Songs gebastelt. Francis wandte sich zum Kleiderschrank. Eine halb volle Reisetasche stand darin. Er warf seine restlichen Klamotten in die Tasche und schloss sie vorsichtig. Dann ging er zu seinem CD-Regal und packte seine ganze Musik und seine Filme in einen Rucksack, in dem schon sein Laptop verstaut war. Schließlich stand er unschlüssig vor einem anderen Regal, in dem jede Menge Fotos und Bücher standen. Er ergriff seine Schulbücher und sah sie nachdenklich an. „Die wirst du vielleicht nochmal brauchen. Nimm sie mit“, flüsterte Sayji. „Okay. Könntest du die tragen und den Verstärker, wenn´s geht. Ich hol den Rest“ Sie machten sich mit dem Gepäck wieder so leise wie möglich auf den Weg nach unten. Mortons geliebtes Auto war vor der Einfahrt des Nachbarhauses geparkt. Blank poliert und frisch gewaschen stand es da. Sayji hantierte mit dem Türschloss und bekam es nach einer halben Ewigkeit endlich auf. Sie packten die Sachen auf den Rücksitz. „Ich gehe nochmal rein. Ich muss ihm wenigstens eine Nachricht hinterlassen“, meinte Francis und wandte sich zum Gehen. „Ich komme mit“, sagte Sayji, dem die Angst in seinen Augen nicht entgangen war. Sie betraten das Haus wieder und gingen in die Küche. Francis schrieb eine Notiz und klebte sie an den Kühlschrank. Dann machten sie sich auf den Weg das Haus wieder zu verlassen. Als sie gerade bei der offenen Eingangstür angekommen waren hörten sie ein Geräusch hinter sich. „Bleibt stehen, oder ich knall euch ab“, erklang eine betrunkene Stimme und eine Waffe wurde demonstrativ geladen. Langsam drehten die Jungs sich um. Dort stand Mr. Killingham mit dem Schrotgewehr auf dem Treppenabsatz. „Dad, ich bin´s, Francis. Und Sayji ist bei mir“, sagte sein Sohn und schob seinen Begleiter unauffällig rückwärts über die Türschwelle. „Guten Abend, Mr. K.“, sagte der Junge höflich, während er langsam zurückwich. „Ich kenne keinen Francis und auch keinen Sayji“, meinte der Mann und zielte auf sie. „Erkennst du deinen eigenen Sohn nicht mehr?“, fragte Francis mit zitternder Stimme. „Ich habe keinen Sohn mehr“, sagte der Vater und trat eine Stufe nach unten, wobei er weiter die Waffe auf sie richtete. „Lauf!“, flüsterte Francis, zog schwungvoll die Haustür zu und schloss sie von außen ab. Der Knall eines Schusses zerriss die nächtliche Stille und die Beiden rannten so schnell sie konnten zum Auto. Sie sprangen rein und Sayji fuhr mit Vollgas und quietschenden Reifen los. „Anscheinend hat er das gepanzerte Fenster erwischt“, meinte er als er in den Rückspiegel sah. Francis saß zitternd neben ihm auf dem Beifahrersitz, war totenblass und hielt sich die Seite. „Francis?! Hat er dich getroffen?!“, fragte der Fahrer alarmiert und fuhr Schlangenlinien während er den Anderen prüfend ansah. „Nein, hat er nicht... Aber vorhin hat er mir da hin getreten und vom Laufen ist da was... ich weiß auch nicht genau... Bitte, fahr mich schnell ins Krankenhaus... Es tut so weh, Sayji“ Den letzten Satz brachte er kaum noch heraus und er lehnte sich nach vorne, sodass sein Kopf auf dem Armaturenbrett ruhte. Der Angesprochene gab Gas und innerhalb weniger Minuten erreichten sie das nächste Krankenhaus. Sayji legte eine Vollbremsung vor der Notaufnahme hin und zerrte seinen Freund aus dem Auto. Er stützte ihn, was nicht so einfach war, denn der Kleinere trug nun flache Schuhe. Zwei Sanitäter kamen ihnen entgegen und luden Francis auf eine Trage. Sie liefen zum Krankenhaus und Sayji kam hinterher. Zu seiner Überraschung erzählte Francis den Männern bereitwillig, was mit ihm geschehen war. Er hatte Angst, das war offensichtlich. Sie brachten ihn in einen Behandlungsraum und Sayji musste draußen bleiben. Ein paar Minuten stand er ratlos da, dann beschloss er, nach draußen zu gehen und das Auto zur Seite zu fahren, um sich abzulenken. Als er sich selbst im Innenspiegel sah, erschrak er. Er sah furchtbar aus. Hatte er etwa geweint? Das hatte er in der ganzen Aufregung gar nicht mitbekommen. Als er das Auto geparkt hatte beseitigte er schnell seine verlaufene Schminke und eilte zurück ins Krankenhaus. Das Licht über dem Behandlungsraum brannte noch immer und so konnte er sich sicher sein, dass Francis noch drin war. Einer der beiden Sanitäter kam auf ihn zu. „Hey, setz dich doch“, meinte er und zeigte auf eine Reihe Plastikstühle gegenüber der Tür. „Du bist Sayji, nicht wahr? Dein Freund hat von dir gesprochen. Er mag dich wohl sehr“, meinte der junge Mann als sie saßen. „Das will ich hoffen. Er ist schließlich mein bester Freund... Er wird doch wieder gesund, oder?“, fragte Sayji ängstlich. „Er wird ganz sicher wieder gesund und er ist hier in guten Händen. Die Ärzte meinen, es sei nichts Ernstes“ Der Junge war sich sicher, dass er das nur so sagte, um ihn zu beruhigen. Nach einer Weile öffnete sich die Tür des Behandlungsraums und ein Arzt trat heraus. „Sayji Allister? Sie können Ihren Freund gleich wieder mitnehmen. Außer einigen Prellungen hat er nichts davongetragen. Achten Sie darauf, dass er sich ein paar Tage lang ausruht und dann wird er bald wieder auf den Beinen sein“, meinte er und Francis erschien hinter ihm. „Ja... ja, das werde ich tun. Ich danke Ihnen“, sagte Sayji überrascht. Er hinterließ noch seine Adresse und dann gingen sie. „Geht´s dir echt wieder besser?“, fragte er als sie im Auto saßen. „Ja, ich weiß nicht, was eben los war. Vielleicht war es die Angst, die die Schmerzen verursacht hat. Oder vielleicht die Tatsache, dass mein Vater meine Existenz verleugnet hat...“, meinte Francis. „Was hast du ihm eigentlich getan, dass er dich auf einmal so sehr hasst?“, fragte Sayji weiter und fuhr los. „Ich hab ihm die Meinung gesagt. Zum ersten Mal in meinem Leben hab ich es gewagt ihm zu sagen, was ich von ihm halte“ Und dann erzählte Francis, wie es dazu gekommen war. Er hatte seinem Vater schon vor einigen Tagen von dem Wettbewerb erzählt. Als er an diesem Abend das Haus verlassen wollte hielt er ihn aber zurück und fragte ihn, wohin er ginge. Daraufhin hatten sie sich gestritten. „Er hatte es doch tatsächlich schon wieder vergessen. Da hab ich ihn einen alten Säufer genannt und dann ist er ausgetickt“, sagte Francis, „Ich hatte vorher schon beschlossen abzuhauen aber ich wusste noch nicht genau, wann. Und als wir dann vorhin vor dem Haus standen ist es mir klargeworden. Ich werde nie wieder zurückgehen. Ich werde es so machen wie mein Bruder“ Sayji hielt das für eine gute Idee. Francis´ Bruder Logan war vor vier Jahren abgehauen und hatte sich seitdem nie wieder blicken gelassen. „Wo ist dein Bruder eigentlich?“, fragte der Jüngere. „Ich weiß es nicht. Als ich das letzte Mal von ihm gehört hab, war er in Seattle und wollte Jura studieren. Ob er das allerdings gemacht hat, weiß ich nicht. Ich habe keine Telefonnummer und keine Adresse von ihm... Ich vermisse ihn ja nichtmal“, sagte Francis und sah aus dem Fenster. „Das ist kein Wunder. Ihr habt euch nie wirklich nahegestanden. Ich glaube, bei meiner Schwester und mir wäre das genauso“, meinte der Fahrer und es tat ihm schon ein bisschen leid, das sagen zu müssen. „Deshalb erzähl ich dir das ja. Weil ich weiß, dass du das verstehst“ Nachdem Francis das gesagt hatte, verbrachten sie den Rest der Fahrt schweigend. Sie kamen an ihrem Ziel an und beschlossen, das Gepäck erst am nächsten Tag auszuladen. Überrascht stellte Sayji fest, dass ihr einziges Gästezimmer abgeschlossen war, und zwar von innen. „Das macht nichts. Du kannst mein Bett haben. Ich schlafe auf der Couch“, meinte er. „Wieso? Ich kann doch auf der Couch schlafen. Ist schließlich dein Bett“, entgegnete Francis. „Du musst dich ausruhen und das geht am besten im Bett. Außerdem ist die Couch viel zu kurz für dich“ Das stimmte. Sayji selbst war ja nicht groß und er musste sich zusammenfalten, um auf seiner Couch zu liegen. Nachdenklich sah Francis zwischen den beiden Möbelstücken hin und her. „Wir könnten auch Beide im Bett schlafen. Groß genug ist es ja. Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht“, meinte er grinsend. Sayji stimmte zu. Francis würde die ganze Nacht bei ihm sein. Das war einfach wundervoll. Wenn der Gitarrist dann irgendwann eingeschlafen wäre, könnte er sich in aller Ruhe an ihn kuscheln und wenn sie morgens aufwachten wäre sein schlanker Körper das erste, was er spüren würde. Diese Vorstellung ließ ein seliges Lächeln auf Sayjis Gesicht erscheinen. „Hey, Say-chan. Schläfst du schon?“, fragte Francis und riss ihn aus seinen Gedanken. Erschreckt stellte Sayji fest, dass die Träumerei ihn nicht nur glücklich gemacht, sondern auch erregt hatte und wandte sich errötend seinem Kleiderschrank zu. „Ähm, nein ich äh... Ich geh jetzt duschen. Du kannst auch, wenn du willst. Schließlich haben wir zwei Badezimmer“ Francis stimmte zu und sie verschwanden beide in den jeweiligen Zimmern. Sayji lehnte die Stirn gegen die kalten Kacheln. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich heute Nacht das Bett zu teilen, überlegte er. Was war, wenn Francis etwas bemerkte? Eigentlich war es egal. Früher oder später würde es sowieso rauskommen. Aber er hatte auch irgendwie Angst davor, dass er versuchen könnte, über Francis herzufallen und der würde ihn dann für einen Perversen halten. Er würde ihn ganz sicher für einen Perversen halten, wenn er ihn in seinem jetzigen Zustand sah. Er befreite sich aus seiner viel zu engen Hose und stieg unter die Dusche. Zuerst musste er das beseitigen, bevor er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Sayji drehte das Wasser an und sofort hatte er wieder sehr unanständige Phantasien. Wenn er jetzt in einer von diesen Sex-Geschichten wäre, würde die Tür aufgehen und Francis würde zu ihm in die Duschkabine steigen. Die Vorstellung, was sie dann miteinander anstellen würden trieb ihn fast in den Wahnsinn. Er hörte, wie im anderen Bad das Wasser aufgedreht wurde. Dort stand Francis jetzt vollkommen nackt. Nackt...! Ein Gedanke, der Sayjis Selbstkontrolle endgültig besiegte. Er stellte sich vor, wie das Wasser an diesem Traumkörper herunterlief, wie die Tropfen sich ihren Weg suchten, über die breiten Schultern und den durchtrainierten Bauch und dann... Sayji keuchte auf. Das war zu viel für ihn gewesen. Erleichtert und auch ein bisschen beschämt ließ er sich auf den Boden der Duschkabine sinken. Es war immerhin nicht das erste Mal gewesen, dass er dabei an ihn gedacht hatte. Er stand wieder auf und versuchte sich zusammenzureißen. Schnell duschte er fertig und zog sich an. Das Rauschen aus dem anderen Bad war auch verstummt. Sayji machte sich wieder auf den Weg in sein Zimmer, wo er nervös hin und her lief. Er hörte Schritte auf der Treppe und atmete tief durch, um sich wieder einzukriegen. Aber als Francis das Zimmer betrat war es auch schon wieder vorbei. Er war nur mit Boxershorts bekleidet und stand peinlich berührt in der Tür. „Hab meine Klamotten vergessen“, meinte er und ging zu seiner Reisetasche, die auf der Couch stand. Sayji versuchte krampfhaft den Blick von seinem Oberkörper zu wenden aber er schaffte es nicht. „Hey, Say-chan. Ich glaub du hast Nasenbluten“, sagte Francis besorgt. Und tatsächlich stellte Sayji fest, dass er Recht hatte. Schnell griff er nach einem Taschentuch und drückte es auf seine Nase. Warum stieg ihm auch immer das Blut zu Kopf, wenn er einen Mann ohne Klamotten sah? Das war total unpraktisch. „Das ist nichts weiter. Du solltest dich anziehen, sonst erkältest du dich noch“, sagte er. Einerseits hätte er Francis gern noch weiter angesehen aber andererseits würde es dann wohl nie mehr aufhören zu bluten. Und er könnte sich tatsächlich erkälten, wenn er noch weiter so da rumstand. Sayji ließ sich aufs Bett fallen und Francis, jetzt angezogen, setzte sich neben ihn. „Bist du wirklich okay? Du siehst aus als hättest du Fieber“, sagte er und sah ihn eindringlich an. „Nein, alles in Ordnung. Hab wohl zu heiß geduscht... Geh doch schonmal schlafen. Ich komme gleich wieder“, antwortete der Andere und stürmte wieder aus dem Zimmer. Wie sollte er das bloß überstehen? Am Anfang hatte er es für eine gute Idee gehalten aber mittlerweile war er ganz anderer Meinung. Das Nasenbluten hörte auf und er wusch mit eiskaltem Wasser sein Gesicht. Aber das hielt seine Gedanken auch nicht an. Verzweifelt betrachtete er sein Spiegelbild. „Reiß dich zusammen, Sayji. Er schläft nicht zum ersten Mal in deinem Bett“, sagte er zu sich selbst. Nein, er tat es nicht zum ersten Mal aber damals war Sayji noch nicht in ihn verliebt gewesen. Sie hatten früher oft beieinander übernachtet und sich dabei immer ein Zimmer geteilt. Und meistens hatten sie zusammen im Bett geschlafen, damit sie sich die ganze Nacht unterhalten konnten. Sayji erinnerte sich an eine Situation als sie eingeschneit waren und das Heizöl ausging. Sie hatten furchtbar gefroren, sich unter einem Berg von Decken ganz nah aneinander gekuschelt und sich in den Armen gehalten. Wenn Sayji jemals seine schönsten Erinnerungen aufzählen müsste, wäre das eine davon. Dieser Moment der absoluten freundschaftlichen Zweisamkeit und vollkommener Ruhe. Der Gedanke daran beruhigte ihn auch jetzt und er sah sich in der Lage ins Zimmer zurückzukehren. Wenn Francis schon schlief könnte er ja doch auf die Couch ausweichen. Das klang fast nach einem Plan. Aber er schlief noch nicht. Immerhin saß er schon auf dem Bett und hatte sich bis zum Kinn zugedeckt. Er lächelte Sayji munter an, als dieser das Zimmer betrat. Betont lässig ging der Jüngere zum Bett und kroch unter die Decken. „Wir sollten schlafen. Es ist schon sehr spät und der Tag war so anstrengend“, meinte er und wartete auf die Antwort. „Ja, du hast Recht. Gute Nacht, dann“, sagte Francis, ließ sich auf das Kissen sinken und schloss die Augen. „Gute Nacht“, murmelte Sayji, betrachtete ihn einen Moment lang und löschte dann das Licht, um sich danach selbst hinzulegen. Er war beruhigt. Zwischen ihnen war ein Sicherheitsabstand und einige Lagen Stoff. Und wenn er am nächsten Morgen aufwachte würde er sofort aus dem Bett flüchten. Gerade grübelte er darüber, wer wohl im Gästezimmer schlief, da wurde er aus seinen Gedanken gerissen. „Say-chan?“, flüsterte Francis. „Hm“, machte der Angesprochene bloß. Er wollte jetzt ein langes Gespräch auf jeden Fall vermeiden. „Darf ich dich vielleicht in den Arm nehmen?... Bitte“, fragte der Gitarrist unsicher und fast flehend. Sayji war mit einem Schlag hellwach. Wenn er das zuließ, könnte er sich selbst und seine Gefühle dann noch kontrollieren? Bevor er fertig gedacht hatte sprach sein Mund schon, ohne ihn vorher zu fragen. „Warum willst du das tun?“, fragte er und fand, dass das ziemlich dumm klang. „Ach, vergiss es. Ich wollte dir nicht zu nahe treten“, meinte der Andere. War er beleidigt? Oder enttäuscht? Sayji rutschte zu ihm rüber. „So war das doch nicht gemeint. Es kam mir nur komisch vor... Und außerdem, wenn du mich umarmen willst, musst du doch nicht vorher fragen“, sagte er. Jetzt, da er so nah bei Francis lag konnte er die Hitze spüren, die von ihm ausging. Und auch wenn es dunkel war, sah er ihn praktisch vor sich, wie er ihn gerade nachdenklich musterte. Zumindest hätte er das getan, wenn er seinen Gegenüber gesehen hätte. „Danke“, flüsterte Francis und legte einen Arm um ihn, „Es ist nur... ich fühle mich so kalt... und so einsam... Ich brauche einfach ein bisschen... du weißt schon...“ Sayji wusste es. Er zog ihn an sich und streichelte beruhigend über seine Haare. „Ist schon in Ordnung. Ich bin ja hier. Schlaf jetzt, Francis. Das wird dir gut tun“, sagte er. „Say-chan, du bist echt ein Engel“, flüsterte der Größere und legte seine starken Arme um ihn. Sayji ließ sich fallen. Es war im Moment alles egal. Er vergaß seinen Liebeskummer und gab sich dem Moment hin. Von unglaublichem Frieden erfüllt schlief er schließlich ein. Als er am nächsten Morgen erwachte zuckte er erstmal zusammen, denn ein Paar braune Augen blickte direkt in seine. „`N Morgen“, flüsterte Francis heiser und lächelte müde. Seine Arme waren immer noch um Sayji geschlungen, der nicht wusste, ob er das jetzt unangenehm finden sollte oder nicht. Hatten sie etwa die ganze Nacht so gelegen? Und wie spät war es eigentlich? „Soll´n wir noch ein bisschen schlafen? Es ist erst neun Uhr“, murmelte Francis und zog Sayji noch enger an sich. Der Jüngere unterdrückte den Impuls ihn zu küssen und befreite sich stattdessen mit sanfter Gewalt aus seiner Umklammerung. „Wir sollten vielleicht meinen Eltern mal sagen, dass du hier bist und auch länger bleibst. Außerdem müssen sie erfahren, dass wir auf Tour gehen. Und ich will endlich wissen, wer im Gästezimmer schläft“, sagte Sayji und schwang sich aus dem Bett. Sie verschwanden wieder in diversen Badezimmern, um sich anzuziehen und trafen sich schließlich im Flur wieder. Von da aus gingen sie in die Küche. Sayji erstarrte auf der Türschwelle. Dort saß doch tatsächlich seine amerikanische Großmutter an der Küchenzeile und trank ihren morgendlichen Tee, sehr stark und mit so viel Zucker, dass der Löffel drin stehen blieb. „Guten Morgen, Sayji und unbekannter Fremder“, sagte sie steif wie immer. Sayji mochte sie nicht aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Er sammelte sich und stellte Francis vor. Dann fragte er sie, wo seine Eltern wären. „Die schlafen noch“, sagte sie und man konnte sehen, was sie davon hielt. Die Jungs frühstückten und warteten. Irgendwann kam Sayjis Mutter in die Küche. „Francis, dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen! Wie schön, dass du mal wieder hier bist. Wie geht´s dir?“, fragte sie, während sie ihn auf diese unglaublich mütterliche Art und Weise umarmte und besorgt musterte. „Gut. Und Ihnen, Mrs. Allister?“, meinte Francis mit einem tapferen Lächeln. Er war bei der Umarmung leicht zusammengezuckt, ob nun vor Schmerz oder aus psychologischen Gründen war schwer zu sagen. „Oh, sehr gut“, meinte sie, „Viel Arbeit, wie immer“ Sie lächelte fröhlich und auch Francis sah wieder besser gelaunt aus. Er hegte einen tiefen Respekt gegenüber Sayjis Mom für alles, was sie in ihrem Leben schaffte und geschafft hatte, und außerdem mochte er sie sehr. Und sie hatte Sayji zur Welt gebracht und aufgezogen. Das allein war für Francis schon ein Grund sie zu mögen. Sie unterhielten sich noch eine Weile und dann erzählte Sayji ihr, dass sein Freund eine Zeit lang bei ihnen bleiben würde. „Natürlich, mein Junge. Bleib so lange du willst. Du bist jederzeit willkommen. Nur leider haben wir kein Gästezimmer mehr übrig. Aber es gibt da einen Raum, den wir schnell zu einem machen könnten“, meinte sie. Francis wurde verlegen und errötete leicht. „Bitte machen Sie sich keine Umstände ich kann bestimmt bald bei jemand anders einziehen. Und bis dahin könnte ich auch auf dem Boden schlafen, das macht mir nichts aus“, sagte er abwehrend. „Oder wir könnten uns weiter ein Bett teilen, bis... du weißt schon“, schlug Sayji vor und wusste selbst nicht wieso er das sagte. Wollte er sich neuerdings selbst quälen? Dann versuchten sie seiner Mutter schonend beizubringen, dass sie für eine längere Zeit auf Tour gingen. Sie schwankte zwischen Stolz und Besorgnis. „Aber... die Schule... und euer Leben hier... was wird daraus?“, fragte sie und sah von einem zum anderen. „Es ist ja nicht so, dass wir für immer weggehen. Außerdem hoffe ich, dass es mir endlich mal was bringt, dass mein Vater Schuldirektor ist. Er lässt uns doch sicher den Schulabschluss nachholen“, sagte Sayji. Sie sah ihn kurz nachdenklich an. „Das tut er... Ich werde euch vermissen“, meinte sie dann, lächelte und verschwand aus der Küche. Die Großmutter hatte alles mit angesehen und sah ihr kopfschüttelnd nach. Sie wollte etwas sagen, besann sich aber eines besseren und verließ schließlich den Raum. So waren die Jungs wieder allein und sie sollten es auch noch eine ganze Weile bleiben. Kapitel 5: Leicht ungewöhnliche Tour-Vorbereitungen --------------------------------------------------- Schon drei Wochen nach dem Wettbewerb sollte die Tour losgehen. Sie steckten bereits mitten in den Vorbereitungen, da funkte Sayjis Vater dazwischen. Er hatte anscheinend gerade erst davon erfahren und war strikt dagegen, dass sein Sohn ein „Zigeunerleben“ führte. „Sayji, du wirst nicht gehen. Ich lasse es nicht zu, dass du deine ganze Zukunft wegwirfst!“, sagte er wütend und baute sich vor seinem Sohn auf. „Aber das ist doch meine Zukunft, Dad. Wir sind schon so weit gekommen, da müssen wir weitergehen“, erwiderte Sayji. „So etwas hat doch keine Perspektive. Ihr werdet scheitern und als verarmte Drogenabhängige enden. Mein Sohn soll eines Tages ein respektabler Bürger mit einem bodenständigen Beruf werden und kein Musiker, der durch das Land zieht. Du wirst nicht gehen“, fuhr der Mann fort. „Und wie willst du mich aufhalten? Im Keller einsperren?“, fragte Sayji spöttisch und sah ihm fest in die Augen. „Ich habe das Recht dich aufzuhalten. Du bist noch nicht volljährig“ Der Vater entgegnete den gleichen Blick, aus den gleichen hellblauen Augen. Sie sahen aus als ob sie gleich aufeinander losgehen würden, da mischte sich Francis ein, der alles mit angehört hatte. „Ähm, Mr. Allister, Sir... Bitte, lassen Sie Sayji mit uns gehen. Wir werden auf ihn aufpassen und so“, meinte er. „Darum geht es doch gar nicht! Auch wenn ich anmerken muss, dass ihr wohl unfähig wäret, auf irgendwen aufzupassen. Aber wenn er in ein paar Wochen als gescheiterter Rockstar hier angekrochen kommt, dann hat er alle Chancen im Leben verspielt und wird mir dann für immer und ewig auf der Tasche liegen, weil er ohne Schulabschluss und ohne Ausbildung niemals eine normale Arbeit finden wird. Ich habe diese ganze Musiker-Sache lange genug toleriert, jetzt ist Schluss“ Sayjis Vater beobachtete mit Genugtuung, wie der Junge geschlagen zu Boden sah. Aber Francis gab noch nicht auf. „Sehen Sie das wirklich so? Haben Sie Ihren Sohn nur in die Welt gesetzt, damit er irgendwann Bankdirektor wird und in der Nachbarschaft vorzeigbar ist? Bedeutet es Ihnen überhaupt irgendwas, dass Sayji wohl einer der besten Rocksänger der Welt ist?“, fragte er aufgebracht. „Ich will, dass mein Sohn es zu etwas bringt im Leben. Und ich bezweifle, dass er ohne meine Hilfe zu irgendwas zu gebrauchen ist. Wenn man sich nur mal seine Schulnoten anguckt und wie er rumläuft. Die Leute reden über uns; meine Position als Schuldirektor ist gefährdet und das alles nur, weil mein nichtsnutziger Sohn davon träumt ein Rockstar zu werden“ Sayji konnte nur mühsam seine Tränen zurückhalten und Francis wurde so langsam ernsthaft wütend. „Wie können Sie nur so von ihm reden? Was sind Sie denn für ein Vater? Und was sind Sie für ein Mensch? Sayji ist anscheinend nur ein Statussymbol für Sie. Aber, wenn Sie wüssten... Ohne ihn sind wir nichts. Dieser Junge hat so viel Talent, dass es für drei Leute reichen würde. Er wird die Welt erobern. Also, haben Sie ein Herz, wünschen Sie uns viel Spaß und dann gehen Sie“, sagte Francis und legte dem Sänger besorgt eine Hand auf die Schulter. Wenn sein Vater so weitermachte würde Sayji noch zusammenbrechen. „Soso, er hat also Talent. Und wo soll er das bitte herhaben? Er konnte doch nie was, außer süß aussehen“, fuhr Mr. Allister fort. „Sie haben sich nie für ihn interessiert, sonst wüssten Sie was er draufhat... und außerdem, wenn er Ihnen wirklich so wenig bedeutet, dann können Sie ihn ja auch gehen lassen“, erwiderte Francis und Sayji fand, dass das ziemlich plausibel klang. „Gut Sayji, geh wohin auch immer du willst aber du musst nicht meinen, dass ich jemals stolz auf dich sein werde. Sobald du diese Stadt verlässt, bist du nicht mehr mein Sohn“, sagte Mr. Allister kalt und verließ das Zimmer. Die beiden Jungs standen wie vom Donner gerührt da und starrten auf die geschlossene Tür. „Warum hasst er mich nur so? Was hab ich denn getan?“, fragte Sayji mit zitternder Stimme und konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Francis legte die Arme um ihn und zog ihn an sich. „Wie es aussieht haben wir jetzt Beide kein Zuhause mehr“, flüsterte der Größere nach einer Weile. Sayji beruhigte sich wieder etwas und wischte die Tränen aus seinem Gesicht. „Warum heul ich eigentlich? Kann mir doch egal sein, ob ich nie wieder hierher zurückkomme. Und wenn ich ihn nie wieder sehe dann würde das auch keinen großen Unterschied machen“, sagte er und wollte eher sich selbst davon überzeugen. „Aber es macht einen Unterschied für dich. Es ist dir nicht egal, genauso wenig wie es mir egal ist, dass mein Vater mich umbringen wollte. Deswegen sind wir Menschen, Say-chan... Und wenn du deswegen heulen willst, dann solltest du das tun, das hilft nämlich“, meinte Francis lächelnd und beobachtete, wie sein Freund wieder schluchzend das Gesicht an seiner Schulter vergrub. Während sie so da standen hörten sie, wie Sayjis Vater das Haus verließ und in sein Auto stieg. „Sind wir jetzt allein?“, fragte Francis und Sayji nickte, „Wir wollten doch noch an diesem einen Song weiter schreiben, erinnerst du dich? Wäre auch eine gute Ablenkung von dieser Sache“ Der Kleinere stimmte zu, Francis schnappte sich seine Gitarre und sie gingen ins Wohnzimmer. Eine lange Zeit waren sie damit beschäftigt Klavier und Gitarre aufeinander abzustimmen und als sie es endlich hatten ging die Sonne schon wieder unter. Gerade probten sie den Song zum letzten Mal, da gab es einen Durchzug und die Küchentür schlug zu. Sie drehten sich um und Nanami stand da und starrte sie ungläubig an. „Habt ihr das grade gespielt?“, fragte sie und hinter ihr tauchten noch drei Mädchen auf, die die beiden Musiker neugierig musterten. „Ja, wieso?“, fragte Francis lässig und lehnte sich rückwärts gegen die Couch, vor der er stand. Die drei Mädels im Hintergrund fingen an entzückt zu quietschen und sich aufgeregt anzusehen. „Das war toll... Ich wusste gar nicht, dass ihr auch so Musik macht“, meinte Nanami und sah ihren großen Bruder überrascht an. „Na ja, eher seltener... Unsere normale Musik ist für Menschen wie dich ja leider nur Krach“, meinte Sayji mit einem halben Lächeln. „Es hört sich halt an wie diese ganzen uncoolen Rockbands. Du weißt schon... Das ist halt nichts für uns“, antwortete sie und die drei anderen Mädchen stimmten ihr zu. „Du meinst, das ist nichts für euch, weil es uncool ist. Wenn alle das hören würden, dann würdet ihr´s auch mögen. Aber nein, es ist ja `out´ Musik zu hören, die mit richtigen Instrumenten gemacht wird, und bei der wirklich Leute singen und wo sich nicht alles gleich anhört. Aber wisst ihr, es ist nicht komplett eure Schuld. Die Gesellschaft und der Kapitalismus sind dran schuld. Ihr müsst euch nur überlegen, ob ihr zu der Masse gehören wollt, die ihren Horizont nicht erweitern will und sich weigert nachzudenken oder, ob ihr euch traut ihr selbst zu sein und nicht so wie alle Anderen. Denkt mal drüber nach, Mädels“, sagte Sayji und die Angesprochenen sahen ihn verwirrt an. Ein Mädchen, wenn er sich richtig erinnerte war ihr Name Ruby Porter, musterte ihn nachdenklich und er konnte etwas in ihren Augen entdecken, das ihm Hoffnung machte. „Wenn du meinst, Sayji. Kommt, wir gehen uns fertig machen. Wir gehen nämlich jetzt auf eine extrem angesagte Party, wo kommunistische Querdenker wie ihr erst gar nicht reingelassen werden. Die halbe Stadt wird da sein...“, sagte Nanami, drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte aus dem Zimmer. Ihre Freundinnen folgten ihr, nur Ruby warf noch einen Blick auf die Jungs. Kaum waren sie gegangen brach Francis in Gelächter aus. „Hat sie uns grade „kommunistische Querdenker“ genannt? Die Kleine ist ja mal krass. Kaum zu glauben, dass ihr Geschwister seid“, meinte er und nahm seine Gitarre ab, „Beeindruckende Rede, übrigens. Ich glaube, die eine mit den dunklen Haaren macht sich echt Gedanken dadrüber“ Sayji musste grinsen. Dann war es ihm also auch aufgefallen. „Sie heißt Ruby und ist total in Ordnung. Ich glaube, sie ist noch die Normalste von denen. Nicht so abgehoben und kleinkariert wie die anderen“, sagte er und klappte den Deckel des Klaviers zu. „Und, was machen wir jetzt? Gehen wir auch auf irgendeine „angesagte Party“ oder hängen wir nur freakig vor der Glotze ab?“, fragte Francis und ließ sich auf der Couchlehne nieder, wo er hin und her schaukelte. „Ich sage, wir gehen zu `Joe´s Bar´ und spielen ein bisschen Billard“, schlug Sayji vor. Bevor noch einer von ihnen etwas sagen konnte, kamen Schritte die Treppe hinunter und die Küchentür öffnete sich langsam. Zaghaft trat die kleine Ruby ein. Sie kam auf sie zu und schien zu überlegen, was sie jetzt sagen sollte. „Du hast Recht, Sayji“, murmelte sie dann errötend. „Inwiefern?“, fragte der Junge verwirrt. Ruby war doch sonst nicht so schüchtern. Hatte er sie etwa irgendwie aus der Fassung gebracht? „Na ja, mit dem was du über die Gesellschaft und so gesagt hast. Ich... ich bin eigentlich eine von euch, wisst ihr?“, meinte sie und es war ihr anscheinend jetzt nicht mehr so peinlich. „Eine von uns? Du meinst eine, die nicht so ist wie die Anderen“, sagte Francis und sie nickte. „Ich bin ganz anders als alle meine Freundinnen. Mein Vater war in einer Rockband. Ich bin mit der Musik und mit der Einstellung aufgewachsen. Aber ich musste mich immer verstellen, damit ich dazugehöre. Musste mir CDs kaufen, die ich eigentlich nicht haben wollte und mich in diese furchtbaren Klamotten quälen. Ich hatte Angst, dass die anderen Mädchen mich nicht mögen und, dass die Jungs mich nicht beachten, weil ich lieber Band-Shirts und zerrissene Jeans anziehe als Miniröcke und hautenge Tops. Aber das wird sich ab heute ändern. Ich werde mich für diese oberflächlichen Zicken nicht mehr verbiegen. Dann bin ich halt jetzt das schwarze Schaf, ist mir egal. Ich danke euch. Ihr habt mir die Augen geöffnet“, meinte sie lächelnd. „Das ist gut. Du musst das tun, was für dich das Richtige ist. Sei du selbst und nutze deine Jugend solange du sie hast“, sagte Sayji gut gelaunt. Ruby grinste die Beiden an, verabschiedete und bedankte sich und verschwand. „Ein schlaues Mädchen“, murmelte Francis. Die beiden Jungs machten sich gut gelaunt auf den Weg zu Joe´s Bar. Der Wirt war ein Freund von Mortons Vater und hatte ihnen damals ihren ersten Auftritt verschafft. Sie verbrachten einige Stunden dort und gingen dann wieder nach Hause. Als sie schon fast da waren wurden sie beinahe von einem Cross-Motorrad über den Haufen gefahren. Es kam Sayji vage bekannt vor und als der Fahrer vor ihnen anhielt und seinen Helm abnahm wusste er auch wieso. Es war Morton und der raste immer so. Aber das war nicht sein Motorrad. „Alter, du hast mein Bike geholt!“, sagte Francis fassungslos und strahlte ihn an. „Klar, Ehrensache. Ich hab die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gewartet in eure Garage einzusteigen. Mann, dein Alter ist echt paranoid. Das Schloss war kaum zu knacken und wo ich grade wieder zumachen wollte kam er zurück. Aber ich hatte den Helm an und er hat mich nicht erkannt. Und dann bin ich so schnell wie möglich abgehauen... Du hast an der Maschine aber ganz schön geschraubt. Ich hab gedacht ich würde auf einer Rakete sitzen. Dafür, dass die Teile alle aus dem Schrott sind... Respekt, Mann“, sagte Morton, während sie weiter die Straße entlang gingen. „Es hat ja auch lange genug gedauert“, meinte Francis bloß. Das stimmte wohl. Sayji erinnerte sich, dass er schon seit Jahren an diesem Motorrad bastelte. Er hatte ihn manchmal heimlich beobachtet. Ein Bild manifestierte sich in seinem Kopf: Francis, vollgeschmiert mit Öl und nur bekleidet mit einer zerrissenen Jeans, in der Garage bei der Arbeit. Sayji wäre damals fast von der Kiste unter dem Fenster gefallen als er ihn so sah, diese ganzen Muskeln und dazu sein konzentrierter Gesichtsausdruck... Er musste aufpassen, dass er nicht zu lange darüber nachdachte, sonst würde er entweder wegtreten oder sich in irgendeine Peinlichkeit verstricken. Er hörte dem Gespräch der Anderen wieder zu. „... treffen wir uns um sieben und besprechen mal alles ordentlich“, sagte Morton gerade. „Ist gut, na dann bis morgen“, sagte Francis und der Andere ging wieder die Straße runter. Sie waren vor Sayjis Haus angekommen ohne, dass dieser es bemerkt hatte. „Wo kann ich das Motorrad hinstellen?“, fragte der Größere und sah sich suchend um. „In der Garage müsste noch Platz sein“, meinte der Hausherr verwirrt. Er war immer noch nicht ganz da. Sie brachten das Bike in einer Ecke unter und gingen ins Haus. Schon vor der Haustür hörten sie die lauten Stimmen von Sayjis Eltern und seiner Großmutter, die jetzt schon seit zwei Wochen ohne ersichtlichen Grund bei ihnen wohnte. Im Flur blieb der Junge wie angewurzelt stehen. Sie stritten wegen ihm. Bevor er anfangen konnte, richtig zuzuhören packte Francis seine Schultern und schleifte ihn zur Treppe. „Nein, lass mich zuhören!“, fauchte Sayji und versuchte sich zu befreien. Wortlos hob Francis ihn hoch und legte ihn über seine Schulter. Der Kleinere war so perplex, dass er sich ohne Gegenwehr bis in sein Zimmer tragen und auf dem Bett absetzen ließ. Sein Freund hockte sich vor ihn, ergriff seine Hände und sah ihm in die Augen. „Kein Kind sollte seine Eltern streiten hören“, sagte Francis leise. „Sie streiten aber dauernd... und diesmal ging´s um mich. Hab ich denn kein Recht zu erfahren, was sie über mich sagen?“, fragte sein Gegenüber mit brüchiger Stimme. „Du wirst es erfahren, sobald sie es aussortiert haben. Du sollst aber davon verschont bleiben, was sie sich während ihrem Streit so alles an den Kopf werfen... Mein Vater hat mich immer gezwungen zuzuhören und dann zu sehen, wie er meine Mutter verprügelt. Sowas ist furchtbar und ich will dich davor bewahren so gut ich kann“, antwortete der Andere mit beruhigender Stimme. „Danke“, flüsterte Sayji. Francis setzte sich neben ihn auf das Bett und sie warteten. Irgendwann verstummten die Stimmen im Erdgeschoss für eine lange Weile und kurz darauf hörten sie Schritte auf der Treppe. Die Anspannung war fast greifbar als es an der Tür klopfte und Sayjis Vater eintrat. Seine Frau stand gleich hinter ihm, ihre langen schwarzen Haare verdeckten ihr Gesicht und sie sah zu Boden. Auf dem Treppenabsatz erschien auch noch die Großmutter, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollte. „Francis, würdest du bitte rausgehen. Es handelt sich um eine Familienangelegenheit“, sagte Mr. Allister und der Angesprochene stand kurz unentschlossen zwischen ihm und seinem Sohn. „Ich äh, also... ich würde aber lieber bei Sayji bleiben“, sagte er dann, setzte sich wieder und ergriff die Hand des verängstigten Jungen. „Das hier ist mein Haus und ich befehle dir, zu gehen. Das ist eine Familienangelegenheit“, wiederholte der Mann wütend. „Er gehört zur Familie“, sagte Sayji leise und lehnte sich unsicher an Francis. „Tut er das?... Wenn das so ist könnt ihr beiden Brüder euch ja zusammen eine neue Bleibe suchen. Meine Entscheidung von heute Mittag bleibt bestehen. Wir haben beschlossen, euch eine Frist bis Freitag zu setzen. Spätestens bis dahin habt ihr eure Sachen gepackt und seid verschwunden. Und dann werdet ihr nie wieder dieses Haus betreten, ist das klar?“, fragte er und sah von Einem zum Anderen. „Klar“, sagte Sayji gefasst und Francis nickte. Eine unangenehme Stille breitete sich aus, die plötzlich von einem Schluchzen durchbrochen wurde. „Say-chan, es tut mir so leid...“, sagte Mrs. Allister und wischte ihre Tränen weg, „Ich wollte nicht, dass es so weit kommt...“ Ihr Mann drehte sich um. „Yoshiko, hör auf meinen Sohn gegen mich aufzuhetzen“, sagte er drohend. „Da gibt es nicht mehr viel aufzuhetzen. Das ist doch deine eigene Schuld“, entgegnete sie und sah endlich auf. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet und ein deutlicher Handabdruck zierte ihre Wange. „Und weißt du was? Wenn Sayji geht, dann gehe ich auch, endgültig. Mit so einem Unmenschen wie dir kann ich nicht mehr unter einem Dach leben“, fuhr sie fort. „Ich, ein Unmensch?! Wie kannst du es wagen...?“ Ihr Mann trat einen Schritt auf sie zu und hob drohend die Hand. „Na los, schlag mich doch. Dann sehen alle hier, zu was du geworden bist“, sagte sie herausfordernd. Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Aber er hatte nicht mit den blitzschnellen Reaktionen der beiden Jungs gerechnet. Sayji stellte sich schützend vor seine Mutter und Francis hielt mit aller Kraft den Arm des Angreifers fest. Mr. Allister sah ihn fassungslos an. „Wie können Sie nur Ihre Frau schlagen?“, fragte Francis ungläubig. „Und das fragst ausgerechnet du mich? Du müsstest das doch eigentlich von zu Hause gewöhnt sein“, sagte der Mann und blickte mit einem spöttischen Lächeln auf ihn herab. „Sie wussten es?“, fragte Francis erschrocken. „Natürlich wusste ich es. Deine eigene Mutter hat es mir erzählt, kurz bevor sie sich erschossen hat, das feige Weib“, erklärte Sayjis Vater arrogant. Geschockt ließ Francis seinen Arm los. „Sie war alles andere als feige. Sie hat sich erschossen, weil es der letzte Ausweg war. Und ich würde wetten, wenn Sie ihr auch nur eine Sekunde richtig zugehört hätten, dann wäre Ihnen das jetzt klar“, sagte er mit überraschend ruhiger Stimme. Seine Mutter war sein größter Schwachpunkt aber vor diesem Kerl wollte er seine Schwäche nicht zeigen. „Suizid ist so ziemlich das Feigste, was es gibt. Nicht wahr, Sayji?“, wandte der Vater sich an seinen Sohn. Nein, das durfte er nicht zu ihm sagen, nicht zu Say-chan, schoss es Francis durch den Kopf. Es konnte fatale Folgen haben, wenn man sowas zu ihm sagte, denn er hatte es in einer sehr verzweifelten Phase mehrmals versucht und auch mehrmals nur knapp überlebt. Sayji sah seinen Vater einen Moment lang emotionslos an. „Fick dich, Dad“, murmelte er dann gerade laut genug, dass alle es hören konnten. In der nächsten Sekunde klebte sein Vater ihm so eine, dass er auf dem Boden landete. Sofort war Francis bei ihm und half ihm wieder hoch. In der Zwischenzeit hatte Mr. Allister den Raum verlassen und seine Frau folgte ihm wutentbrannt. „Verdammt, das gibt blaue Flecken“, murmelte Sayji, der sich seine schmerzende Wange hielt. „Warte hier. Ich besorge was zum Kühlen“, meinte Francis und lief in den Keller, wo die Kühltruhe stand. Als er zurückkam hatte sein Freund sich noch nicht von der Stelle bewegt. Er stand nur da und starrte ins Leere. Francis zog ihn zum Bett, brachte ihn dazu sich hinzusetzen und drückte ihm den Eisbeutel in die Hand. Dann zog er sein Handy aus der Hosentasche und rief Zahara an, die ihm verschlafen antwortete. „Ich weiß, dass es mitten in der Nacht ist, aber...“, begann er und wusste nicht mehr weiter. „Was, aber? Sag schon, Francisco“, meinte sie mit einem weiteren Gähnen. „Bei Sayji gibt es einige äh... Familienprobleme. Sein Vater hat uns rausgeworfen, wir haben bis Freitag Zeit. Und weil wir dann ja eh wegfahren hab ich mich gefragt, ob wir vielleicht unseren Kram bei dir unterstellen könnten, bis wir was Anderes gefunden haben. Bitte, Zahara“, sagte Francis und wartete gespannt ab. „Klar, kein Problem. Musst nicht so betteln... Packt eure Sachen, ich komme euch abholen sobald der Morgen graut“ Der letzte Teil des Satzes hörte sich mal wieder übertrieben theatralisch an. So war sie immer, wenn man sie mitten in der Nacht aufweckte. Bevor ihr Gesprächspartner sich bedanken konnte, hatte sie schon aufgelegt. Francis riss Sayji aus seinem Trancezustand und erzählte ihm davon. Der Junge kommentierte das alles bloß mit einem schwachen Kopfnicken und im nächsten Moment stiegen wieder Tränen in seinen Augen auf. Innerhalb kürzester Zeit war sein Leben komplett auf den Kopf gestellt worden. Sie waren jetzt eine richtige Rockband mit einem Plattenvertrag und einer bevorstehenden Tour aber als Konsequenz davon war seine Familie zerbrochen. Sein Vater hatte ihn einfach so rausgeschmissen und schließlich seine Mutter und ihn auch noch geschlagen. Und er hatte Francis fertiggemacht. Was war bloß aus dieser Familie geworden. „Sayji? Bitte, hör auf dir Gedanken zu machen, das bringt nichts“, meinte Francis und auch seine Stimme zitterte. Der Angesprochene sah auf und entdeckte Tränen in den haselnussbraunen Augen. Damit er das nicht länger sehen musste nahm Sayji ihn in den Arm. So saßen sie eine Weile da und trösteten sich gegenseitig. „Wir sollten so langsam mal anfangen zu packen“, meinte Francis irgendwann und der Andere stimmte ihm zu. Sayji räumte zuerst seinen Kleiderschrank, dann seinen Schuhschrank und schließlich sein Bücherregal. Die Sachen, die er mit auf Tour nehmen wollte kamen in einen großen Koffer, alles andere in eine Kiste. Bald war Beides zu klein. „Wie kannst du nur so viele Klamotten haben?“, fragte Francis ungläubig, der das Chaos im Koffer skeptisch betrachtete. „Das sind halt meine Bühnenoutfits. Du kannst das nicht beurteilen, schließlich stehst du meistens ohne Klamotten da“, meinte der Kleinere schmollend. „Ich stehe nicht ohne Klamotten da, sondern ohne Shirt. Schließlich sollen die Leute mein Tattoo sehen“, erwiderte der Gitarrist und zog grinsend sein T-Shirt in die Höhe, um das leicht verschnörkelte `California´ zu offenbaren, das er auf dem Bauch trug. Mühevoll wandte Sayji seinen Blick wieder auf den Koffer. „Ja, und was mach ich jetzt? Ich muss das doch alles mitnehmen. Ich will nichts hier lassen“, meinte er nachdenklich. „Entweder brauchst du noch einen Koffer oder du musst es platzsparend einpacken“, sagte Francis und machte sich daran, alles wieder auszuräumen. Den Rest der Nacht waren sie damit beschäftigt ihre Sachen zu packen und als Zahara tatsächlich im Morgengrauen vorfuhr waren sie gerade fertig. Sie räumten alles in den Van und fuhren zu ihrer Wohnung, wo sie die Sachen wieder ausluden, schließlich im Gästezimmer auf das Bett fielen und augenblicklich einschliefen. Kapitel 6: Goodbye – Hello -------------------------- Endlich ging es los! The Rainbow Mess und Purple gingen zusammen auf Tour. Da Erstere sich keinen Tourbus leisten konnten fuhren sie in Zaharas Van und waren in der freitäglichen Abenddämmerung grade dabei ihre restlichen Sachen dort unterzubringen als eine Stimme hinter ihnen erklang. „Hey, nehmt ihr mich mit?“, fragte ein Mädchen. Sayji hatte ihre Stimme direkt erkannt. Es war die kleine Ruby aber sie hatte sich verändert. Ihre ehemals dunkelbraunen Haare waren hellblond gefärbt und sie hatte sie abgeschnitten, sodass sie ihr frech ins Gesicht hingen. Anstatt ihrer normalen modischen Klamotten trug sie zusammengeflickte Jeans-Shorts (mitten im Winter), eine zu große grüne Jacke und abgelatschte rote Chucks. Um ihren Hals hing eine Kette mit einem Gitarrenplättchen und sie hatte eine große schwarze Tasche dabei, die sie demonstrativ auf den Boden fallen ließ. „Wie, mitnehmen? Wer bist du überhaupt?“, fragte Morton, der ihr am nächsten stand. „Das ist Ruby. Sie ist eine Freundin von meiner Schwester“, antwortete Sayji, den die ganze Sache doch ziemlich verwirrte. „Ich war ihre Freundin. Ich fange jetzt ein neues Leben an, in einer anderen Stadt“, meinte das Mädchen entschlossen. „Du meinst, du bist abgehauen?“, fragte Francis halb belustigt. „So könnte man es nennen. Ich habe die alte Ruby hinter mir gelassen“, murmelte sie und steckte die Hände in die Jackentaschen. „Aber... deine Eltern... Sie werden dich suchen und dann bekommst du furchtbaren Ärger. Und wir übrigens auch“, sagte Sayji, der sich nicht sicher war, ob er ihr nun diesen Gefallen tun wollte oder nicht. „Niemand wird mich suchen. Meine Mutter ist froh, wenn sie mich los ist. Und meine so genannten Freundinnen haben mich bestimmt morgen schon vergessen, weil ich für sie nur ein austauschbares Modepüppchen war. So wie ich jetzt bin, ist hier kein Platz für mich“, erklärte Ruby und ein komischer Ausdruck legte sich über ihr hübsches Gesicht. „Und was ist mit deinem Vater? Er wird dich doch bestimmt vermissen“, meinte Sayji wieder. Nanami hatte mal erwähnt, dass Ruby sehr an ihrem Vater hing. „Mein Vater ist seit drei Jahren tot. Er hatte Krebs“, sagte das Mädchen und versuchte tapfer zu lächeln, was ihr nur halbwegs gelang. Eine unangenehme Stille trat ein. „Also, nehmt ihr mich jetzt mit oder muss ich trampen?“, fragte Ruby, die ihre gute Laune wiedergefunden hatte, nach einer Weile. „Okay, du kannst mitkommen“, sagte Zahara zur allgemeinen Überraschung, „Wo willst du überhaupt hin?“ Die Angesprochene strahlte über´s ganze Gesicht und zuckte bloß unwissend die Schultern. „Ist mir egal. Hauptsache weit weg von hier“, meinte sie. „Und was willst du tun, wenn du weit weg bist?“, fragte Ayeku, dem die Sache offensichtlich nicht so ganz geheuer war. „Mir einen Job suchen, damit ich überleben kann. Was denn sonst?“, meinte Ruby, weiterhin strahlend. „Wie wär´s, wenn du bei uns bleibst? Du weißt schon, als Roadie, oder so“, schlug Francis vor. „Meinst du das ernst? Das wäre sowas von geil!“, antwortete das Mädchen und blickte erwartungsvoll in die Runde, ob irgendeiner widersprechen würde. Aber keiner tat es und freudestrahlend umarmte sie Francisco und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Jetzt müssen wir aber so langsam echt los“, meinte Zahara. Sie packten die restlichen Taschen in den hoffnungslos überfüllten Van und machten sich gutgelaunt auf die Reise. Plötzlich meldete sich Francis aus der hinteren Reihe. „Kannst du mal kurz da vorne anhalten? Ich muss noch was erledigen“, meinte er und sie hielten am Straßenrand. Sayji hatte sofort gesehen, wo sie sich befanden. Es war der Friedhof, auf dem Francis´ Mutter begraben war. Der Gitarrist sprang aus dem Fahrzeug, lief eilig auf die andere Straßenseite und verschwand hinter den Friedhofstoren. „Was will er hier?“, fragte Ruby vorsichtig. „Er besucht seine Mutter. Sie starb vor einem Jahr“, antwortete Sayji und bemerkte, wie ihr Blick von neugierig zu verständnisvoll wechselte. „Und... wie kommt er damit zurecht?“, fragte sie weiter. „Es geht so“, antwortete der Junge. Das war eine ziemliche Lüge. Er wusste, dass Francis überhaupt nicht mit dem Tod seiner Mutter klarkam aber das musste ja nicht jeder wissen. Schließlich musste sein Freund seinem Image als über-cooler Typ gerecht werden und die Tränen, die er wegen seinem Verlust immer noch fast jeden Tag vergoss, passten einfach nicht ins Bild. Nachdem sie einige Minuten gewartet hatten, klingelte das Telefon. Zachary rief an. „Er fragt, wo wir bleiben. Wir müssen fahren, sonst halten wir alles auf“, erklärte Zahara, nachdem sie aufgelegt hatte. Sayji sprang direkt aus dem Auto und ging Francis suchen. Er wusste, wo sich das Grab von Mrs. Killingham befand, schließlich war er damals selbst auf ihrer Beerdigung gewesen und hatte Francis beigestanden, der am Tag vorher auch fast versucht hatte, sich das Leben zu nehmen (zum ersten und einzigen Mal bis heute). Wenn Sayji damals nicht im richtigen Moment aufgetaucht wäre, hätte er sich womöglich die Pulsadern aufgeschnitten. Schaudernd erinnerte der Sänger sich an den Anblick, als er in das Zimmer seines Freundes gekommen war und dieser mit dem Messer am Handgelenk dagesessen hatte. An diesem Tag war Francis wirklich so verzweifelt gewesen, dass er, genau wie seine Mutter, keinen Ausweg mehr sah. Er hatte Angst vor der Zukunft, in der er mit seinem Vater allein gewesen wäre, ihm ausgeliefert. Sayji hatte ihm möglicherweise an diesem Tag das Leben gerettet. Er ging weiter über den Friedhof. Die Wege waren bedeckt mit gefallenen Blättern, die unter seinen Schuhen knirschten und vom Wind durch die Gegend geweht wurden. Es war ziemlich kalt. Er fand Francis auf dem Boden vor dem Grab hockend, wie er fast zärtlich über die feuchte Erde und den Grabstein strich. „Francis? Kommst du? Wir müssen weiter“, sagte Sayji vorsichtig und der Andere nickte. „Nur noch einen Moment. Geh doch schonmal vor“, antwortete er. Der Kleinere machte sich auf den Rückweg und nach wenigen Metern hatte der Gitarrist ihn eingeholt. Schweigend gingen sie nebeneinander her und erreichten bald den Van, wo sie einstiegen und losfuhren. Auf einem Rastplatz hinter der nördlichen Stadtgrenze trafen sie auf Purple. In den vergangenen drei Wochen hatten sie so viel miteinander zu tun gehabt, dass sie sich schon fast als gute Freunde bezeichnen konnten. „Da seid ihr ja endlich!“, rief die Schlagzeugerin Amy Welsh, die die Älteste in der Band war. „Tut uns leid, wir wurden aufgehalten“, meinte Zahara. „Habt ihr Zuwachs bekommen?“, fragte der Gitarrist Ray Lightner mit einem neugierigen Blick auf Ruby, die sich hinter den großen Jungs versteckt hatte. „Ach ja, das ist Ruby Porter. Durch einige besondere Umstände ist sie jetzt unser Roadie“, erklärte Zahara. „Können wir jetzt endlich losfahren? Wir kommen noch zu spät“, meinte die ewig schlecht gelaunte Bassistin Jenna Hillerey ungeduldig und war schon wieder halb in den Bus gestiegen. Ihre Bandmitglieder folgten ihr (fast) alle. „Corey, komm schon“, sagte Amy und zog ihren kleinen Bruder am Kragen Richtung Tourbus. Es war kaum zu glauben, dass dieser verträumte, schüchterne Junge der Lead-Gitarrist war, der diese rasanten Solos spielte und immer wie wahnsinnig über die Bühne wirbelte. Amy hatte mal erwähnt, dass Scheinwerferlicht und Publikum wie eine Droge auf ihren Bruder wirkten und ihn zu einem anderen Menschen machten. Jeder Musiker kannte das ein Stück weit, aber bei Corey war es irgendwie extrem. Sie fuhren weiter. Ihr Ziel hieß Seattle und eine 13-Stunden-Fahrt lag vor ihnen. Mit dem Bus und dem vollgepackten Van würde es möglicherweise noch länger dauern. Wenn sie sich beeilten und keine Pause machten, konnten sie am nächsten Morgen da sein aber Purple hatten nur einen Busfahrer und der musste zwischendurch anhalten. So würden sie versuchen wenigstens die Hälfte der Strecke heute zu schaffen, sich in irgendeinem Motel auszuruhen und am nächsten Vormittag weiterzufahren. Während sie an der Pazifikküste entlang fuhren grübelten sie alle darüber, was diese Tour ihnen bescheren würde. Sayji machte sich Sorgen um Francis und darum, wie sich ihre Beziehung entwickeln würde wenn sie Tag und Nacht zusammen waren. Mit Grauen stellte er sich vor, was passieren könnte, wenn sie sich irgendwann ein Zimmer teilen mussten. Das hatten sie in letzter Zeit zwar dauernd getan aber Sayji hatte die meisten Nächte auf der Couch oder sonstwo verbracht. Francis seinerseits dachte über Familienangelegenheiten nach. Er hatte Angst, dass Sayji den Rauswurf zu Hause gar nicht so gut verkraftete, wie es den Anschein hatte. Außerdem wurde er immer nervöser, um so näher sie Seattle kamen. Er musste an seinen Bruder Logan denken. Vielleicht war er immer noch dort; vielleicht trafen sie sich sogar zufällig. Was würde dann passieren? Würde er seinem Bruder an die Gurgel gehen, weil er ihn zurückgelassen hatte oder würde er sich wieder mit ihm verstehen? Möglicherweise würde er auch gar nichts fühlen und das war an sich schon schlimm genug. Aber auch die anderen Bandmitglieder hatten ihre größeren und kleineren Sorgen. Ayeku konnte seinen Blick einfach nicht mehr von Sayji wenden. Seit diesem Wettbewerb löste der kleine Sänger irgendwelche unbekannten Gefühle bei ihm aus, die ihm unheimlich waren. Sicher, er hatte sich auch früher schon sexuell zu ihm hingezogen gefühlt aber das hier war etwas Anderes. Aber es war auch keine Liebe in dem Sinne. Es war einfach eine gewisse unbeschreibliche Anziehung zwischen ihnen. Starla beobachtete ihre Freunde genau. Keiner von ihnen schien jetzt schon unter der Krankheit zu leiden, die ihr zu schaffen machte. Das war bei den meisten auch kein Wunder, denn ihnen fehlten einfach die Kapazitäten diese Krankheit zu bekommen. Die Gitarristin litt unter akutem Heimweh, und zwar schon nach zwei Stunden Fahrt. Managerin Zahara beobachtete die Band im Innenspiegel und die schlafende Ruby auf dem Beifahrersitz. Sie waren alle noch Kinder, auf ihre eigene Art. Sie würde auf diese Kinder aufpassen aber sie wusste, wie schwierig sie sein konnten. Hoffentlich ging diese Tour ohne größere Zwischenfälle, Gefängnisaufenthalte und Krankheiten über die Bühne. Sie würde persönlich dafür sorgen, wenn es sein musste. Und Morton? Er machte sich eigentlich nur über eine Sache Sorgen: Was war, wenn er mit einem Mädchen schlafen wollte aber kein Kleingeld mehr für Kondome hatte? Kapitel 7: #1 – Seattle, Washington ----------------------------------- Nachdem sie die Nacht in einem billigen aber annehmbaren Motel verbracht hatten, machten sie sich gegen Mittag auf den Weg nach Seattle. Nach weiteren sechs Stunden Fahrt entlang der Küste kamen sie endlich an. Als sie vor dem Hotel aus dem Van stiegen traf sie ein wahrer Kälteschock. In San Francisco war es schon nicht warm gewesen aber hier waren die Temperaturen fast arktisch. Sie hatten gehofft das berühmte smaragdgrüne Leuchten der Stadt zu erleben aber das sah man nur bei Sonnenschein. Aber trotzdem war die Metropole und ihre Umgebung sehr eindrucksvoll. Schnell holten sie ihre Sachen und brachten sie in die reservierten Hotelzimmer. Zu seiner Erleichterung teilte Sayji sich das Zimmer mit Starla, die sich als erstes auf das Bett fallen ließ und theatralisch seufzte. Er setzte sich neben sie und überlegte, ob es sich lohnte, seine Sachen überhaupt auszupacken, denn sie würden übermorgen schon wieder wegfahren. Es klopfte an der Tür und er öffnete. Ruby stand davor. „Hey, ich komm euch einsammeln. Wir fahren direkt zur Konzerthalle, bauen schonmal alles auf und kommen dann nachher hierhin zurück, zum Umziehen“, erklärte sie und verschwand ans andere Ende des Gangs, wo Francis und Morton sich eingerichtet hatten. Sayji und Starla holten ihre Jacken und gingen ins Foyer, wo Zahara schon auf sie wartete und bald auch die Anderen eintrafen. „Die Halle ist gleich um die Ecke, in der nächsten Straße“, erklärte die Managerin und deutete vage in eine Richtung. „Dann können wir ja zu Fuß gehen“, meinte Sayji, der die letzten paar Stunden genug gesessen hatte. Seine Bandmitglieder stimmten zu und sie gingen schonmal voraus, während Zahara noch auf Todd Bayside, den Manager von Purple, wartete, um mit ihm ein bisschen unklaren Kleinkram zu besprechen, während sie im Van mit den Instrumenten zur Halle fuhren. Die Band lief die Straße entlang. Sayji trug zwei Jacken, trotzdem fror er bis auf die Knochen, was die Anderen zum Anlass nahmen sich etwas über ihn lustig zu machen. „Guck mal, da vorne ist so ein Geschäft, wo man diese Nordpol-Mäntel kaufen kann. Wir sollten dir einen besorgen“, meinte Francis und zeigte die Straße hoch. „Ja, aber er braucht einen extra Kurzen... mit einer großen Kapuze, damit die Haare drunter passen“, fuhr Morton todernst fort. „Ihr s-seid so f-fies“, sagte Sayji mit klappernden Zähnen, was sie in Lachen ausbrechen ließ. Sie erreichten die Konzerthalle fast zeitgleich mit ihrer Managerin und ihrem einzigen Roadie. Ruby sprang unbeeindruckt von der Kälte sofort aus dem Van und fing an die Sachen auszupacken und durch den Hintereingang in das Gebäude zu schleppen. Die Anderen unterstützten sie tatkräftig und sie hatten bald schon alles reingebracht. Die beiden Manager hatten es sich in der Zwischenzeit im hauseigenen Café bequem gemacht. Ruby und die Band bauten die Instrumente und diverse Verstärker auf, stellten alles ein und gingen schließlich noch einmal ein paar Songs durch. „Wir haben noch nie in so einer großen Halle gespielt“, meinte Sayji ehrfürchtig und ließ seinen Blick durch den Zuschauerraum schweifen. „Das wird bestimmt genial“, sagte Francis neben ihm lächelnd und die Anderen stimmten zu. Plötzlich fiel Sayjis Laune in den Keller. War er etwa der Einzige, der hier tierisch nervös war? Starla kam gut gelaunt wieder aus dem Badezimmer aber ihr Lächeln verschwand als sie ihren Freund Sayji betrübt auf dem Bett sitzend vorfand. „Hey, was ist los mit dir?“, fragte sie und ließ sich neben ihm nieder. „Ach, nichts. Ich bin nur ein bisschen aufgeregt, das ist alles“, log er. In Wirklichkeit starb er fast vor Aufregung und hatte sich gerade überlegt die Zimmer-Bar zu plündern, um seine Nervosität zu ertränken. „Ja, so langsam fängt das bei mir auch an. Aber ich bin mir sicher, das vergeht sobald wir auf der Bühne stehen“, meinte sie zuversichtlich. Sie hätte seine Angst nicht verstanden, überlegte Sayji. Er verstand es ja selbst kaum, schließlich waren sie doch schon so oft vor Leuten aufgetreten. Na ja, nur eben nicht vor so vielen Leuten und möglicherweise auch vor Kameras und Musikjournalisten. Was passierte, wenn sie von der Bühne gepfiffen wurden? Wenn der Auftritt ein totaler Reinfall wurde und sie aus der Tour geschmissen wurden? Mit Schrecken stellte er sich vor, was passierte wenn sie wirklich nach dem ersten Auftritt schon wieder nach San Francisco kamen. Er sah seinen Vater vor sich, der mit Genugtuung auf ihn, den „gescheiterten Rockstar“, herabsah. Starlas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Hey, ist wirklich alles klar? Du zitterst ja total und du bist ganz blass“, meinte sie besorgt. „Ich bin immer blass“, murmelte Sayji nur und verfluchte seine Unfähigkeit sich zusammenzureißen. „Warte hier. Ich hole Francis. Mit mir redest du ja eh nicht drüber“ Bevor er sie davon abhalten konnte war Starla aus dem Zimmer gelaufen und kam eine Minute später mit dem besorgten Gitarristen zurück. „Ich lasse euch allein“, sagte sie und verließ mit einer theatralischen Geste den Raum. „Sie übertreibt mal wieder maßlos“, meinte Sayji, als die Tür sich geschlossen hatte. „Tut sie das? Du siehst wirklich nicht gesund aus...“, antwortete Francis und setzte sich neben ihn, „Bist du aufgeregt?“ Der Andere musste grinsen. Er erinnerte sich an eine ähnliche Unterhaltung vor einigen Wochen, am Tag vor dem Wettbewerb. „`Aufgeregt´ ist gar kein Ausdruck mehr dafür... Bist du denn nicht wenigstens ein bisschen nervös?“, fragte er halbwegs fassungslos. Wie konnten die Anderen nur alle so cool bleiben? „Wir sind alle nervös. Das ist normal. Vorhin war ich bei Ayeku; der hat auf seinem Bett gesessen und wie verrückt meditiert. Und, ob du´s glaubst oder nicht, Morton dreht da drüben gleich durch. Der läuft die ganze Zeit im Kreis rum und quatscht vor sich hin. Sogar Zahara ist aufgeregt... Aber ich bin mir sicher, es wird ein voller Erfolg nachher. Und wenn nicht haben wir ja noch 16 Versuche es richtig zu machen“, erklärte Francis unter Zuhilfenahme vieler Handgesten. Das war ein klares Anzeichen dafür, dass er tatsächlich nervös war. „Aber, wenn wir sie Sache versauen... vielleicht schicken sie uns dann wieder heim. Und das war´s dann...“, murmelte Sayji und blickte zu Boden. „Sag mal... Hier geht´s doch nicht um den Auftritt, oder? Hier geht´s um die Sachen, die dein Vater gesagt hat“, stellte der Gitarrist fest. Der Andere zuckte erschrocken zusammen. „Bin ich so leicht zu durchschauen?“, fragte er. Tatsächlich war der Gedanke an die öffentliche Blamage nicht annähernd so schlimm, wie die Vorstellung, dass es wirklich so kommen könnte, wie sein Vater gesagt hatte. „Hey, ich war schließlich dabei. Und ich kenne dich viel zu gut; du kannst mir nichts vormachen, vor allem nicht wenn es um sowas geht“ Sayji seufzte. Er hatte Recht, wie so oft. „Aber ich kann es nur wiederholen: Mach dir nicht so viele Gedanken. Wenn wir erstmal losgelegt haben sind wir bestimmt nicht mehr nervös und dann wird alles gut... Du solltest so langsam anfangen dich fertig zu machen. Wir wissen beide, wie lange du immer brauchst“, fuhr Francis fort und stand auf, um den Raum zu verlassen. Als Starla eine Minute später wieder in das Zimmer kam war Sayji schon im Bad verschwunden. Sie standen auf der dunklen Bühne und hörten dem Moderator zu, der sie ankündigte. „... und jetzt, aus San Francisco: The Rainbow Mess!“, sagte er und verschwand. Im nächsten Moment begannen sie zu spielen und Sayji stellte fest, dass Francis Recht hatte. Die ganze Nervosität der letzten Stunden war sofort verflogen als sie sich auf ihren Auftritt konzentrierten. Dem Publikum gefiel ihre Musik anscheinend, denn sie wurden von der ersten Minute an ohne Pause bejubelt. Dass sie so gut ankommen würden hätte keiner von ihnen erwartet und es motivierte sie zusätzlich noch. Der Tour-Auftakt wurde ein voller Erfolg und sie waren alle erleichtert. Diese Tatsache wurde nach dem Konzert ausgiebig begossen. Nach dieser kurzen Nacht ereilte sie am Morgen ein relativ schmerzhaftes Erwachen, das aber durch ein kleines Sekt-Frühstück gelindert werden konnte. „Ich hab´s ja schon immer gesagt: Gegen einen Kater hilft Alkohol am besten“, meinte Morton, der den Großteil der vergangenen Nacht in einem fremden Bett und auf dem Flur verbracht hatte. „Du musst es ja wissen“, murmelte Starla, die den Kopf auf den Tisch gelegt hatte und irgendwie deprimiert wirkte. Sayji stupste sie an, um sie vom Einschlafen abzuhalten. „Hey, sollen wir nachher shoppen gehen?“, fragte er. Das heiterte sie immer wieder auf. Und tatsächlich war sie auf einmal hellwach und schenkte seinem Vorschlag ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Eine Stunde später waren sie schon in der Innenstadt und liefen in ein Geschäft nach dem Anderen. Shopping mit Starla war echt anstrengend, selbst für den Klamotten-Freak Sayji. Aus irgendeinem Grund waren Francis und Ruby auch mit ihnen gekommen. Die Mädchen waren gerade in einem Dessous-Laden verschwunden, da trat plötzlich ein hochgewachsener, dunkelhaariger Typ auf die Bildfläche und ließ Francis kreidebleich werden. Er hatte es gewusst: Logan. Der Ältere schien sie nicht zu bemerken und Francis war hin und her gerissen. Sollte er ihn ansprechen? Was würde geschehen? Er traf seine Entscheidung und ging entschlossen auf seinen Bruder zu, der interessiert die Plakate an einer Litfaßsäule studierte. Sayji kam unauffällig hinter ihm her. Er hatte auch ein Interesse daran mit dem Kerl ein ernsthaftes Wort zu reden. „Logan?“, sagte Francis mit fester Stimme und überrascht drehte der Angesprochene sich um. In seinen Augen war klar und deutlich zu sehen, dass er sie erkannte und er schluckte schwer. „Ja, bitte? Kennen wir uns?“, fragte er dann und wurde sichtlich nervös. „Was soll das heißen?!... Ich bin dein Bruder, du musst mich doch erkennen... Und Sayji. Sicher erinnerst du dich an Sayji“, erwiderte Francis unsicher. „Das muss eine Verwechslung sein. Ich habe keinen Bruder in San Franc... ähm, wo auch immer“, meinte der Ältere und wandte sich zum Gehen. Francis ergriff den Ärmel seiner Jacke. „Logan... bitte, sprich doch wenigstens kurz mit mir“, sagte er fast flehend. „Wir haben uns nichts mehr zu sagen“, antwortete sein Bruder und wollte nun endgültig flüchten, aber Francis machte keine Anstalten ihn loszulassen. „Sag mir wenigstens wieso, dann kannst du gehen“, sagte er eindringlich. „Ich wollte Karriere machen und meine Vergangenheit hinter mir lassen. Ist das denn so schwer zu verstehen? Und jetzt lass mich endlich los“, antwortete Logan. Er wollte schon gehen, drehte sich aber noch einmal um. „Wie ich sehe hast du dich nicht verändert. Du bist immer noch so ein naiver kleiner Träumer wie damals. Wartet ihr Jungs immer noch auf euren großen Durchbruch?“, fragte er von oben herab. Spöttisch lächelnd zeigte Francis auf eins der Werbeplakate an der Säule. „Da steht unser Name... Du hast dich auch nicht verändert. Du bist immer noch so ein karrieregeiles, rücksichtsloses Arschloch wie früher“, sagte er, drehte sich um und zog Sayji mit sich fort. Sie beschlossen zum Hotel zurückzugehen, denn Francis wollte Zeit zum Nachdenken, und zwar allein. Schweigend liefen sie nebeneinander her. Sayji überlegte, ob er seinem Freund nicht endlich erzählen sollte, was vor vier Jahren zwischen ihm und Logan gewesen war. Schließlich überwand er sich. „Ich hab mit ihm geschlafen, damals“, sagte er geradeheraus, als ob nichts dabei wäre. „Ich weiß... Er hat´s mir erzählt. War ganz furchtbar stolz drauf und hat mir lang und breit dargelegt, wie blöd du doch bist dich auf ihn einzulassen und, dass er dich nur ausgenutzt hat“, entgegnete Francis. „Ja, das hab ich dann auch gemerkt... Es war mein Erstes Mal“ Wie angewurzelt blieb der Größere stehen. „Was?! Warum ausgerechnet mit ihm? Ich meine... Grundsätzlich geht es mich ja nichts an mit wem du ins Bett steigst aber... dass du ausgerechnet ihm dieses... ähm, diese besondere Situation...“ Sayji unterbrach sein aufgebrachtes Gestotter. „Ich weiß. Im Nachhinein denke ich auch so aber damals war ich noch nicht so schlau. Ich war so unsicher und... ich hatte einen Freund, der mich unbedingt verführen wollte aber ich hab mich nicht getraut. An diesem Tag wollte ich zu dir und mich bei dir ausheulen, wie üblich. Aber du warst nicht da und Logan hat meine hilflose Situation voll ausgenutzt. Hat mir erzählt, wir könnten ja vorher ein bisschen üben und, dass er irgendwie auf mich steht. Dabei hatte er zu der Zeit eine Freundin und ich glaub er hatte vorher selber noch nie was mit einem Kerl... Aber, egal. Ich bereue es zwar immer noch aber es ist jetzt Vergangenheit... Lass uns endlich weitergehen, sonst frieren wir noch fest“ Sie setzten ihren Weg fort. „Immerhin weiß ich jetzt, warum ich ihn nicht vermisse“, sagte Francis und damit war das Thema endgültig abgehakt. Zumindest würden sie nicht mehr drüber sprechen. Jeder von ihnen machte sich noch so seine Gedanken. Francis war tief in seinem Inneren erleichtert, dass er endlich wusste, was mit seinem Bruder war und er ihn jetzt ohne schlechtes Gewissen aus seinen Gedanken verbannen konnte. Er war Logans Geist endlich los. Sayji seinerseits erinnerte sich schmerzerfüllt an diesen einen Tag. Er war so dämlich gewesen und so... gab es überhaupt ein Wort dafür? Unreif konnte man es wahrscheinlich nennen. Er hatte sich freiwillig ausnutzen gelassen, nur um vor seinem Freund nicht wie die unerfahrene 13-jährige Jungfrau dazustehen, die er ja war. Er rief sich Logans letzte Worte in Erinnerung. „Ich ruf dich an, Honey“, hatte er gesagt als er ihn zu Hause absetzte. Er hatte niemals angerufen, denn zwei Tage später war er Richtung Seattle verschwunden. Kapitel 8: #2 – Boise, Idaho ---------------------------- Als sie Seattle am Nachmittag wieder verließen fielen die ersten Schneeflocken vom Himmel. Sie würden nun acht Stunden Richtung Südosten fahren, nach Boise, der Hauptstadt von Idaho, wo Amy und Corey aufgewachsen waren. Vor einigen Jahren hatten sie ihre Heimatstadt verlassen, um mit Coreys Internet-Bekanntschaft Zachary und dessen bestem Freund Ray eine Rockband zu gründen. Auf eine Zeitungsannonce hin war dann auch noch Jenna zu ihnen gestoßen und das war die Geburtsstunde von „Purple“. Nun würden sie zum ersten Mal wieder nach Hause zurückkommen und ihre alten Freunde wieder sehen. „Es ist ein tolles Gefühl, als Rockstar wiederzukommen“, hatte Amy am Morgen gesagt. „Wir können Allen, die uns auf der Highschool als Loser bezeichnet haben, endlich so richtig den Mittelfinger zeigen“, hatte ihr Bruder grinsend hinzugefügt. Das musste wirklich ein tolles Gefühl sein. Die schlafenden Bandmitglieder erwachten von einem Ruck und von lautem Hupen hinter ihnen. Der Van war auf dem Standstreifen des Highways zum Stehen gekommen, es war stockdunkel und die Scheibenwischer waren damit beschäftigt, den Schnee von der Windschutzscheibe zu schieben. Vor sich konnten sie den Tourbus von Purple ausmachen und Zahara stieg gerade aus, um sich zu erkundigen, warum sie angehalten hatten. Ruby, die als Einzige nicht geschlafen hatte, war gerade mit der Heizung beschäftigt und verpasste dem Armaturenbrett einen harten Schlag. „Kennt sich einer von euch mit Autoheizungen aus?“, fragte sie hoffnungsvoll nach hinten. „Was macht sie denn, warm oder kalt?“, fragte Francis, der Mechaniker unter ihnen. „Gar nichts“, antwortete Ruby verzweifelt. Der Gitarrist kletterte nach vorne und fummelte an den Knöpfen herum. Schließlich nahm er die Abdeckung mit Hilfe eines Schraubenziehers ab und blickte prüfend auf die Elektronik dahinter. Er konnte keinen offensichtlichen Fehler finden. „Vielleicht ein Kurzschluss. Hast du irgendein Geräusch gehört, als du sie angemacht hast? So eine Art Knistern, vielleicht?“, fragte er. „Nein, überhaupt nichts“, antwortete Ruby. „Dann können wir nichts machen, außer uns warm anziehen“, meinte Francis und ging wieder nach hinten, um sich eine Jacke zu holen. In der Zwischenzeit war Zahara zurückgekehrt. Sie schaute nur kurz auf die Tankanzeige, rechnete irgendetwas auf einem Notizzettel aus und verschwand wieder. „Was hat sie vor?“, fragte Francis skeptisch. „Keine Ahnung. Frag sie...“, meinte Ruby bloß, die gerade dabei war sich in eine Decke einzuwickeln. Der Junge sprang aus dem Van und ging zu Zahara, die sich gerade mit dem Busfahrer am Benzintank zu schaffen machte. „Wir haben keinen Sprit mehr“, erklärte er Francis. „Ja, und wir haben ausgerechnet, wenn wir uns den Rest von unserer Tankfüllung teilen, schaffen wir es beide noch locker bis auf die nächste Tankstelle“, fügte die Managerin hinzu. „Aber wäre es nicht sicherer, wenn wir vorfahren und dann mit Sprit zurückkommen? Was ist, wenn wir beide liegen bleiben?“, fragte der Musiker nachdenklich. „Das ist doch Zeitverschwendung. Wir haben es ausgerechnet; es geht auf“, antwortete der Busfahrer. Schulterzuckend machte Francis sich auf den Weg zurück in den Van, wo er schon erwartet wurde. Er erklärte seinen Mitreisenden die Situation und die waren genauso skeptisch wie er. Sie setzten ihre Reise durch den dichten Schneefall fort. Es ging nur langsam voran und irgendwann war Zahara fertig mit den Nerven, sodass Ayeku das Steuer übernahm. Er war der Einzige von ihnen, der Schnee wirklich mochte und auch gern bei diesen Bedingungen Auto fuhr. Außerdem war er vernünftig genug keine Spielereien beim Fahren zu veranstalten, so wie Morton das getan hätte oder zwischendurch mal zu vergessen, dass ja Schnee lag, so wie es dem schusseligen Francis passiert wäre. Sie krochen weiter durch die Nacht, es war verdammt kalt und keiner von ihnen wusste mehr wirklich, wo sie überhaupt waren. Natürlich hatten sie den Highway nicht verlassen aber so langsam müsste diese blöde Tankstelle mal auftauchen. Vielleicht waren sie auch schon daran vorbeigefahren. Mittlerweile war es Mitternacht und somit der 24. Dezember. „Heftiger Schneefall legt seit dem Abend den gesamten Nordwesten lahm“, sagte der Nachrichtensprecher im Radio gerade. Er berichtete von Stromausfällen und umgestürzten Bäumen und davon, dass in den nächsten Tagen noch mehr Schnee erwartet wurde. „Meint ihr, wir kommen jemals in Boise an?“, fragte Sayji fast schon hoffnungslos. Er wollte aus diesem blöden Schnee raus, irgendwohin wo es schön warm war. „Wir kommen da schon noch hin. Die Frage ist nur, wann? Wenn wir Pech haben kommen wir zu spät zum Konzert und wenn das hier so weitergeht sind wir niemals pünktlich zu Silvester in Las Vegas. Ich muss telefonieren...“, sagte Zahara und kramte ihr Handy aus dem Handschuhfach. Sie rief Todd Bayside an, um mit ihm zu besprechen, was sie im Falle einer Verspätung tun sollten. Er beruhigte sie und sagte, dass sie ja noch fast einen ganzen Tag Zeit hatten, um ihr Ziel zu erreichen. „Warum gehen wir eigentlich mitten im Winter auf Tour?“, fragte Sayji. „Wegen dem Silvester-Konzert in Vegas. Es sollte ein Bestandteil der Tour sein. Und dann wollten Amy und Corey unbedingt an Weihnachten zu Hause spielen. So hat sich das dann ergeben. Das mit dem Wetter hätten wir uns aber eigentlich denken können“, meinte Zahara seufzend und legte die Füße auf das Armaturenbrett. Zwanzig Minuten später wurde sie aus ihrer bequemen Haltung gezwungen, denn der Van fing an ganz komisch zu ruckeln. Sie fuhren auf den Seitenstreifen, wo der Motor mit einem seltsamen Geräusch abstarb. „Na super. Der Sprit ist leer“, sagte Ayeku und ließ sich mit einem Seufzer wieder in den Sitz sinken. Sie hingen fest. Und wenn es so weiter schneite würde man sie nichtmal mehr finden, wenn es hell wurde. „Was sollen wir denn jetzt tun? Die Heizung ist kaputt und wir stecken ohne Sprit im Schnee fest“, sagte Ruby, die in ihrer dicken Decke praktisch unterging. „Am besten, wir gehen schlafen“, meinte Ayeku und stieg vom Fahrersitz wieder nach hinten. Zahara telefonierte schon wieder. Es stellte sich heraus, dass der Tourbus schon vor zehn Minuten liegen geblieben war. Die Managerin und der Busfahrer hatten bei ihrer Sprit-Rechnung vergessen die Kälte mit einzukalkulieren und so waren die Tanks schneller leergegangen als bei normalen Außentemperaturen von 20°C. „Das war's dann wohl. Legen wir uns hin und schlafen, bis der Räumdienst kommt“, sagte Zahara niedergeschlagen. Sie schaltete das Radio und die Scheinwerfer noch aus, damit sie nicht später auch noch eine leere Batterie zu beklagen hatten und verteilte die restlichen Decken. Sayji lag wach und fror fürchterlich. Er hatte in dieser Nacht noch kein Auge zugetan. So hatte er auch mitbekommen, dass der Verkehr auf dem Highway mittlerweile vollkommen stillstand. Seine Mitreisenden waren anscheinend alle tief und fest am Schlafen. Er konnte Zaharas Umrisse auf dem Beifahrersitz ausmachen und die kleine Ruby hatte sich direkt dahinter auf dem ersten Sitz zusammengekauert. Vor ihm schlief Starla und gegenüber Ayeku. Er hörte Mortons Schnarchen aus der hinterletzten Ecke und Francis hinter ihm war bestimmt auch schon längst im Traumland angekommen. Doch da vernahm er das leise Quietschen der Sitzpolster und einen Augenblick später rutschte eine schlanke Gestalt mitsamt Decke neben ihn auf den Sitz. „Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte Francis kaum hörbar. „Nein, mir ist so furchtbar kalt“, antwortete der Andere in der selben Lautstärke. „Ich weiß. Ich hab dich bis da hinten hin zittern gehört... Komm her, ich halte dich warm“, meinte der Gitarrist und zog den Kleinen mit unter seine Decke. Sayji erschrak darüber, was diese Berührung bei ihm auslöste. Es war als hätte man ihn meterweit in die Luft geworfen und dort hängen gelassen. Sein ganzer Körper kribbelte und ihm wurde augenblicklich warm. Francis legte die beiden Decken über sie und schloss den Jungen in seine Arme. Als er dann auch noch anfing sanft über seine Haare zu streicheln hätte Sayji fast laut aufgestöhnt. Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass Francis diese Berührungen anders meinte. Natürlich tat er das nur aus Freundschaft aber wie schön wäre es doch gewesen, wenn dem nicht so wäre. Sayji biss sich auf die Zunge, um sich zu beherrschen. Grade war er kurz davor gewesen sich aufzurichten und Francis zu küssen aber in letzter Sekunde hatte er sich davon abhalten können. Wo sollte das noch hinführen? Diese Nähe machte ihn beinahe wahnsinnig. Er lag fast auf dem Anderen und so konnte er mal wieder deutlich spüren, was für einen tollen Körper dieser hatte. Wie in Trance ließ er seine Hand über Francis´ Oberkörper wandern und schließlich unter seinen Pulli. Nur ganz leicht berührten seine Fingerspitzen die warme Haut. Francis gab ein erschrockenes Geräusch von sich und ergriff Sayjis Handgelenk. „Du hast verdammt kalte Finger. Und außerdem kitzelt das“, flüsterte er und zog die kleine Hand wieder unter seiner Kleidung hervor. „Entschuldige“, murmelte Sayji und konnte spüren, dass er gerade knallrot wurde. Was war nur in ihn gefahren? Warum war er auch mit diesen unglaublich starken Gefühlen gestraft, die sein rationales Denken abschalteten, sobald Francis ihm zu nahe kam. Er versuchte sich einfach an der Tatsache zu erfreuen, dass ihm jetzt endlich nicht mehr kalt war und machte es sich noch ein bisschen bequemer. Francis gehörte in diesem Moment nur ihm allein und das war doch auch schon was. Fast wäre er eingeschlafen, da brachte ihn ein Geräusch wieder in die Realität zurück. Ein leises, gedämpftes Schluchzen zerriss die Stille. Francis lauschte aufmerksam, um herauszufinden wo es herkam. Dann lehnte er sich leicht nach vorne. „Starla?“, flüsterte er in die Dunkelheit. Das Schluchzen verstummte und sie hörten, wie das Mädchen sich aufsetzte und den Kopf auf die Rückenlehne des Sitzes legte. Selbst unter diesen Lichtbedingungen konnten sie ihre pinken Haare erkennen. „Seid ihr auch noch wach?“, fragte sie mit zitternder Stimme. „Sind wir... Was ist denn los mit dir?“, fragte Sayji seine beste Freundin. Er hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass es ihr nicht gut ging. „Ich will nach Hause“, murmelte sie und fing wieder an zu weinen. Das war es also. Starla litt unter akutem Heimweh; praktisch der Normalzustand, wenn sie auf Reisen ging. Sayji erinnerte sich mit Schrecken an die erste mehrtägige Klassenfahrt in der Grundschule, die sie von vorne bis hinten heulend in ihrem Zimmer verbracht hatte. Was sollten sie tun, wenn das Heimweh noch schlimmer wurde? Francis hatte Starla mittlerweile dazu aufgefordert, zu ihnen nach hinten zu kommen und das Mädchen stand mitsamt ihrer Decke auf und ließ sich auf seiner anderen Seite nieder. So saßen sie da und schliefen schließlich alle ein. Als Sayji am nächsten Morgen erwachte spürte er, dass jemand mit dem Kopf auf seiner Schulter schlief. Er öffnete die Augen und sah nur noch pink. Starla hatte es sich neben ihm bequem gemacht und ihre langen Haare hingen in der ganzen Gegend rum. Vorsichtig strich er die Strähnen aus ihrem Gesicht und beobachtete sie eine Weile beim Schlafen. Sie sah aus wie eine Porzellanpuppe mit der blassen Haut und den fast noch kindlichen Gesichtszügen. Sayji fand, dass sie einfach süß aussah, egal ob sie schlief oder wach war. Wenn er auf Mädchen stehen würde, wäre sie genau sein Typ. Deshalb war sie auch nicht umsonst das einzige Mädchen, mit dem er jemals geschlafen hatte. Sie waren damals noch sehr jung gewesen und sich noch nicht so ganz sicher, ob sie beide wirklich zu 100% homosexuell waren. Aus diesem Grund hatten sie es einmal miteinander ausprobiert... und waren zu dem Schluss gekommen, dass sie doch lieber beim eigenen Geschlecht blieben. Allerdings hatten sie seitdem untereinander überhaupt keine Hemmungen mehr und brachten es auch schonmal fertig, die Nacht ohne Klamotten im selben Bett zu verbringen. Jetzt saßen sie aber angezogen hier in ihrem „Tourbus“ und Sayji spürte jeden einzelnen Knochen in seinem Körper überdeutlich. Außerdem war ihm schon wieder kalt. Und wo war überhaupt Francis abgeblieben? Vorsichtig richtete der Junge sich auf und sah sich um. Alle Anderen schliefen noch aber der Gesuchte war nirgends zu sehen. Er schob Starla von seiner Schulter und stand auf, um genauer hinzusehen. Nein, kein Francis da. Besorgt zog Sayji seine Schuhe an und schnappte sich die nächstbeste Jacke. Absolut nicht ausgeschlafen machte er sich auf den Weg nach draußen, wobei er über einige in den Gang gestreckte Körperteile steigen musste, um die Tür zu erreichen. Es schneite nicht mehr aber als er auf den Boden treten wollte versank er fast 20cm tief in der weißen glitzernden Masse, bevor sein Fuß auf festen Untergrund traf. Das war ja wohl zum Kotzen... und eiskalt war es auch. Zu allem Überfluss war es erst halb acht Uhr morgens, also nicht wirklich eine annehmbare Zeit, um aufzustehen und draußen rumzulaufen. Aber egal... Sayji entdeckte Spuren im Schnee, die aussahen als könnten sie von Francis´ Springerstiefeln stammen. Er folgte ihnen an einem LKW vorbei, der vor ihnen fast in den Straßengraben gerutscht war. Als er diesen passiert hatte fiel er aus allen Wolken. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Ungefähr 500 Meter vor sich erblickte Sayji eine Tankstelle; die wahrscheinlich wunderschönste amerikanische Provinztanke, die er jemals gesehen hatte. Wenn es nicht so kalt gewesen wäre, hätte er sie vor Freude auf Knien angebetet. Euphorisch ging er darauf zu. Vielleicht hatten die da Kaffee... Während er ging bemerkte er, dass es ein Fehler gewesen war keinen Schal und bloß die durchlöcherten Chucks anzuziehen. Was die Schuhe betraf hatte er die Wahl gehabt zwischen diesen hier, wasserdichten High Heel-Stiefeln und seinen geliebten Plateau-Schuhen. Also hatte er die ungefährlichste Variante gewählt und nicht dran gedacht, wie er es hasste nasse Füße zu haben. Schließlich kam er halbwegs klatschnass und vollkommen durchgefroren an der Tankstelle an und betrat das Café, wo er in der hintersten Ecke einen grünen Haarschopf herausgucken sah. Erst als er praktisch vor ihm stand entdeckte Francis ihn und stieß sich vor Schreck den Kopf an der Wand. „Hier bist du also“, sagte der Kleinere und baute sich demonstrativ vor ihm auf. „Sayji... Bist du denn des Wahnsinns, einfach so ohne Schal durch die Gegend zu laufen?... Wo kommen wir denn hin, wenn du jetzt deine Stimme verlierst“, sagte Francis und wickelte seinem Freund ein besonders flauschiges Exemplar besagten Kleidungsstücks um den Hals, das er irgendwie aus seiner Jackentasche gezaubert hatte. „Danke“, murmelte Sayji, gerührt über so viel Fürsorge. Der Größere verschwand, um dem Sänger einen Kaffee zu besorgen. Sayji sah ihm nach, während er unauffällig seine Nase in dem Schal vergrub, der so wunderbar nach Francis roch... Seine Gedanken drifteten ab; er dachte an letzte Nacht. Es war genauso gewesen wie damals, als sie eingeschneit waren. Nur waren diesmal seine Gefühle anders. Was sollte er bloß tun, wenn sie noch einmal in so eine Situation gerieten? Er war sich mittlerweile nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee war, seine Gefühle geheim zu halten. Wenn er es ihm endlich sagte, dann hätte dieser ganze Kummer vielleicht ein Ende und seine Seele wäre befreit von dieser Last. Aber möglicherweise würde Francis sich von ihm abwenden. Er war zwar tolerant und überhaupt nicht homophob aber es würde doch seine Einstellung gegenüber Sayji ändern, wenn er davon wüsste. Er würde ihn dann nicht mehr so anlächeln, wie er es gerade tat, als er mit dem Kaffee zurückkam. „Schlafen die Anderen noch?“, fragte Francis, während er sich erneut niederließ. „Eben haben sie noch geschlafen... Wir sollten sie erst wecken, wenn der Bus an der Tankstelle steht. Die erschrecken sich bestimmt zu Tode“, antwortete Sayji grinsend. „Was denkst du, was ich vorhatte“, entgegnete Francis und hob den Spritkanister hoch, der bis dahin unter dem Tisch gestanden hatte. So machten sie sich, als sie ihren Kaffee getrunken hatten, mit dem gefüllten Kanister auf den Rückweg. Sie füllten den Treibstoff in den Tank und fuhren mit dem Bus und seinen schlafenden Insassen bis zur Tankstelle. Die Schneedecke war zum Glück so fest, dass man mit ein bisschen Vorsicht und fahrerischem Können problemlos vorankommen konnte. Sie erreichten ihr Ziel kurze Zeit später und während Francis den Van betankte, weckte Sayji ihre Mitreisenden. Eigentlich musste er nur Zahara wecken, die mit ihrem erschreckten Schrei die Anderen aus dem Schlaf riss. Als sie sich endlich alle wieder eingekriegt hatten riefen sie bei Purple an, um herauszufinden, wo genau sie gestrandet waren. Es stellte sich heraus, dass Zachary und Amy schon auf dem Weg zur Tankstelle waren. Ein freundlicher Autofahrer mit Schneeketten hatte sich bereit erklärt sie mitzunehmen. Als sie ankamen gab es fast ein kleine Wiedersehensfeier. Starla und Amy fielen sich überschwänglich um den Hals. Sie waren die besten Freundinnen geworden in letzter Zeit. „Wir sind vorhin an einem Schild vorbeigefahren. Bis Boise sind es noch 25 Kilometer“, erzählte Zachary. „Na dann sind wir ja so gut wie da“, meinte Zahara erfreut. Als sie endlich alles geregelt hatten konnte die Reise weitergehen. Der Verkehr auf den Highway floss mittlerweile wieder so halbwegs und Räumfahrzeuge waren auch unterwegs. Sie schafften die restliche Strecke innerhalb von drei Stunden und kamen pünktlich zur Mittagszeit in Boise an. Dort bezogen sie ihr Hotel, wo sie sich erstmal wieder richtig aufwärmten und ausruhten. Am Abend betraten sie pünktlich um acht Uhr die Bühne. Das Publikum war zwar durch das Schneechaos stark dezimiert, weil viele es nicht bis in die Stadt geschafft hatten, trotzdem machten die Zuschauer einen Höllenlärm und jubelten ihnen zu. Als Purple auf die Bühne kamen wurden sie sogar noch lauter. „Wenn die Leute alle wüssten, wie wir hier hingekommen sind“, meinte Zachary, als er während einer kurzen Pause zu ihnen hinter die Bühne kam. Er sah jetzt schon total abgekämpft aus und schien leichtes Fieber zu haben. Allerdings wirkte er während den Auftritten immer so. Er war einer von diesen Sängern, die nie stillstanden. Er lief umher, kletterte auf Boxen herum und tanzte wie verrückt. Dabei traf er trotzdem immer den richtigen Ton und seltsamerweise kam seine Frisur nie aus der Ordnung. Zachary und Corey waren diejenigen, die bei Purple am meisten im Rampenlicht standen. Trotzdem war der andere Gitarrist Ray der erklärte Liebling der weiblichen Zuschauer. Er war extrem hübsch und trug meistens irgendwelche sexy schwarzen Klamotten, was ihn ein bisschen bedrohlich rüberkommen ließ. In Wirklichkeit war er eher zurückhaltend und sanft. Er war einer von den Typen, die man einfach lieben musste und seine Bandkollegen behaupteten immer, dass er keinen einzigen Feind hätte. Die beiden Damen im Bunde waren so unterschiedlich, wie sie nur sein konnten. Amy lachte immer und war freundlich zu jedem, wobei sie trotzdem ihre Meinung sagte. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie immer die Stimmung rettete. Jenna hingegen war meistens schlecht gelaunt und womöglich auch ein bisschen hinterhältig. Wenn es darum ging Streit anzuzetteln war sie immer vorne mit dabei. Einmal war sie aus der Band geflogen aber nachdem sie sich entschuldigt hatte wurde sie wieder aufgenommen, weil sie eine klasse Musikerin war. Kurz danach war Purple der große Durchbruch gelungen und jetzt waren sie hier; in Amys und Coreys Heimatstadt. So schloss sich der Kreis. ------------------------------------- Könnte sein, dass das hier vorerst das letzte Kapitel ist. Das nächste ist noch nicht fertig und ich komm momentan nicht wirklich weiter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)