Der ganz normale Wahnsinn 1: Bittersweet Symphony von Konnichi (Teil 1/3) ================================================================================ Kapitel 1: Der Absturz ---------------------- Rico erwachte aus einem tiefen Schlaf. Er hatte einen seltsamen Traum gehabt. Kein Geräusch war zu hören und als er die Augen öffnete war alles um ihn herum weiß. War er tot? Er hatte von einem Flugzeugabsturz geträumt. War das etwa wirklich passiert? Der weiße Raum war vielleicht so eine Art Zwischenwelt. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es im Jenseits so langweilig aussah. Er hörte Schritte, die näher kamen und sich dann wieder entfernten. Neugierig versuchte er sich umzusehen. Er konnte sich zwar nicht viel bewegen, erkannte aber schließlich auf der anderen Seite des Raums ein großes Fenster. Nun wurde ihm auch der medizinische Geruch bewusst und die Gespräche auf dem Flur. Er war nicht tot; er war im Krankenhaus! An dem Ort, wo er am wenigsten sein wollte. Der Mann schaffte es, seinen Kopf so weit zu drehen, dass er den Rest des Raums überblicken konnte. Im Bett neben ihm lag ein Junge mit zwei gebrochenen Beinen, der verzweifelt an die Decke starrte, daneben stand noch ein Bett, das auch von einer männlichen Person belegt war, soweit er sehen konnte. Der verzweifelte Junge war auf ihn aufmerksam geworden und sah ihn aus traurigen dunklen Augen an. „Hey, warst du auch in dem Flugzeug?“, fragte er leise auf Portugiesisch. „Ja, wieso?“, antwortete Rico mit heiserer Stimme. Der Junge seufzte und sah wieder an die Decke. „Ich war der Pilot“, sagte er dann und brach in Tränen aus, „Es tut mir so leid“ Rico war sprachlos. Dieser kleine Kerl war der Pilot gewesen? Kein Wunder, dass sie abgestürzt waren. Der Junge war doch höchstens achtzehn, es war fast unmöglich, dass er schon Pilot war. Rico musste es schließlich wissen, er war nämlich selbst einer. Die Zimmertür ging auf und eine Ärztin stand da. „Sie sind aufgewacht; das ist gut. Wie geht es Ihnen?“, fragte sie Rico. „Ging schonmal besser. Abgesehen davon, dass ich mich nicht bewegen kann ist alles okay“, antwortete er und sie lächelte aufmunternd. „Das liegt daran, dass Sie drei Rippen gebrochen haben und voll unter Schmerzmittel stehen. Allerdings können Sie froh sein, dass es nicht schlimmer ist“ Sie kam rüber und sah sich den Patienten genauer an. „Wann komme ich denn hier wieder raus?“, fragte der schon fast ungeduldig. „Sobald Sie sich wieder bewegen können und sich stark genug fühlen. Sie können dann nach Hause fliegen, müssen sich aber noch längere Zeit schonen“ Sie sagte das als ob sie wüsste, dass das so gut wie unmöglich für ihn war. „Kann ich wieder arbeiten, wenn ich gesund bin?“, fragte er gespannt und war erleichtert als sie nickte. Die Ärztin wollte noch etwas sagen, aber da piepste es in ihrer Tasche und sie musste gehen. „Was arbeitest du?“, fragte der Junge, der für die ganze Misere verantwortlich war. „Ich bin Pilot“, antwortete Rico mit einem bitteren Lächeln. „Ist nicht wahr...“, murmelte der Kleine fassungslos und wurde noch blasser. „Ich bin übrigens Ricardo, aber alle nennen mich Rico“, versuchte der Ältere ihn abzulenken. „Mein Name ist Lucifer. Glücklicherweise werde ich immer Lucas genannt“, sagte der Andere. „Hast du echt dieses Flugzeug geflogen?“, wollte Rico wissen. Lucas nickte. „Es hatte ein technisches Problem und ist immer weiter gesunken, ich wusste nicht, was ich machen sollte. Schließlich sind wir an einigen Bäumen hängen geblieben und auf einem Feld ziemlich unsanft gelandet. Zum Glück haben die meisten Menschen überlebt. Es tut mir alles so leid“, erklärte der Jüngere. „Es sind echt Leute dabei gestorben? Also normalerweise darf das bei einer Notlandung nicht passieren“, sagte Rico lauter als vorher. „Ich weiß es auch nicht. Es tut mir leid; es ist einfach so passiert“, rief Lucas aufgebracht. „Also, Jungs, ich weiß ja nicht worüber ihr streitet, aber geht das nicht ein bisschen leiser? Ich hab Kopfweh“, meldete sich eine Stimme in akzentuiertem Englisch aus dem dritten Bett. Die beiden anderen waren auf einen Schlag ruhig. Wer war der denn jetzt schon wieder? „Bist du auch ein Opfer von dem Flugzeugabsturz? Dann bedank dich bei dem da“, sagte Rico und fragte sich im selben Moment, warum er seine schlechte Laune eigentlich an Lucifer ausließ. „Ja, ich war in dem Flugzeug, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, was los war. Solange ich das nicht weiß, werde ich keinen verurteilen, der vielleicht gar keine Schuld hat“, antwortete der Mann. „Du bist komisch“, stellte Rico fest. „Nein, ich bin Alex“, sagte der Andere. „Alex... kommst du aus Deutschland?“, fragte der bewegungslose Rico, der nicht einmal wusste, wie sein Gesprächspartner aussah. „Nicht ganz. Ich komme aus Österreich. Aber du bist aus good old Germany; das hört man nämlich“, antwortete der Angesprochene auf Deutsch mit diesem lustigen Akzent, den Rico sehr mochte. Plötzlich flog die Tür schwungvoll auf und ein kleines, schwarzhaariges Mädchen betrat den Raum. Mit einem Freudenschrei sprang sie auf Lucifers Bett, umarmte ihn und fing an in unvorstellbarer Geschwindigkeit auf Portugiesisch zu reden. Alles, was Rico mitbekam war, dass sie sehr besorgt gewesen war und die Ärzte sie nicht früher zu ihnen lassen wollten. Mit einer Engelsgeduld hörte Lucas sich alles an und als sie endlich wieder aufhörte zu reden wandte er sich an die Anderen: „Leute, das ist meine kleine Schwester Gabriela. Sie redet immer und überall“ Das Mädchen strich den schwarzen Haarvorhang aus ihrem Gesicht und lächelte freundlich in die Runde. Rico traf fast der Schlag, als er in ihr Gesicht blickte. Sie war nicht nur unglaublich hübsch, sondern sah seiner verstorbenen Zwillingsschwester Lucia täuschend ähnlich. Mit Mühe konnte er seine Gedanken sammeln und wenigstens ein schwaches „Hallo“ hervorbringen nachdem Lucas ihn vorgestellt hatte. Sie sah ihn aber auch ziemlich fasziniert an, was er sich nicht wirklich erklären konnte, denn so gut sah er nun auch wieder nicht aus (seiner Meinung nach). „Ich kenn´ dich“, sagte sie nach einer Weile. „Ach, wirklich?... Woher denn?“, fragte er verwundert. „Weiß ich nicht. Aber ich kenn´ dich“, antwortete das Mädchen und musterte ihn mit einem prüfenden Blick. Dann wandte sie sich wieder ihrem Bruder zu. Rico war zutiefst verwirrt. Warum sah sie ihr so ähnlich? Vielleicht war das auch nur Einbildung; eine Sinnestäuschung ausgelöst durch den Schlag auf den Kopf, oder so. Aber auch ihre Bewegungen und ihre Art zu sprechen waren genau wie die von Lucia. Rico glaube nicht an Wiedergeburt aber das hier war schon gruselig. Und selbst wenn das grundsätzlich möglich wäre, hätte es doch in diesem Fall nicht ganz hingehauen. Seine Schwester war vor elf Jahren gestorben. Und Gabriela war definitiv älter als elf. Er versuchte seine Gedanken wieder von dem schmerzhaften Verlust abzulenken. Wie lange war er eigentlich schon in diesem Krankenhaus? Und warum war er in diesem Flugzeug gewesen? Ach ja, richtig. Er wollte seine Freunde besuchen, zwei Journalisten, die in Brasília an einem größeren Projekt beschäftigt waren und die er schon länger nicht mehr gesehen hatte. Deshalb hatte er direkt nach seiner Ankunft in São Paulo diesen Flug gebucht und tatsächlich den letzten freien Platz in der Maschine bekommen. Wenn er fünf Minuten zu spät gewesen wäre, würde er bestimmt jetzt nicht bewegungsunfähig hier liegen. Die Tür öffnete sich wieder und besagte Journalisten standen im Zimmer. Matteo Vincenci, der wahrscheinlich ordentlichste und pünktlichste Italiener der Welt und sein Kollege und bester Freund Joona Tarkinnen, ein überaus gesprächiger und aufgedrehter Finne. Beide sahen blass und besorgt aus, wobei das bei Matteo noch mehr auffiel. „Rico, zum Glück bist du am Leben! Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wie geht´s dir? Na ja, okay, gut wohl nicht... Ich würde dich ja gern umarmen, aber ich glaub, dann stirbst du vor Schmerzen...“, sagte Joona in gewohnter Geschwindigkeit. Der leicht überrumpelte Rico konnte nur lächelnd nicken, was wohl alle seine Fragen beantwortete. „Und das ist dir alles nur passiert, weil du uns besuchen wolltest. Nicht zu fassen. Dann ist es ja theoretisch unsere Schuld“, fuhr der Finne fort und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Matteo, schlag ihn mal kurz, damit er aufhört so´n Zeug zu denken“, sagte Rico scherzhaft und der Angesprochene lachte kurz auf, wobei sein Gesicht schon wieder etwas mehr Farbe bekam. Rico und Joona hatten es sich zur Aufgabe gemacht den chronisch-depressiven Matteo immer wieder aufzuheitern und in egal welcher Situation zum Lachen zu bringen. Das war ziemlich einfach, es sei denn er war mal wieder an einem Tiefpunkt angelangt. „Ach, übrigens, wir haben Myriam angerufen. Sie macht sich tierische Sorgen und kommt hierher sobald sie kann“, sagte Joona gut gelaunt. Sie hatten seine Frau angerufen? „Was habt ihr ihr erzählt? Ihr wisst doch, dass sie schnell die Nerven verliert“, sagte er besorgt. In letzter Zeit war sie wirklich wieder ein totales Nervenbündel geworden. „Nur die Wahrheit. Wir dachten, sie sollte es wissen“, meinte Matteo beruhigend. „Matteo? Bist du das wirklich?“, meldete sich eine Stimme hinter ihnen. Gabriela sah ihn mit ihrem prüfenden Blick an. „Luna? Krass, dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen“, antwortete der Angesprochene. „Luna?!“, fragten Rico und Joona gleichzeitig. „Das ist mein Spitzname. Sie nennen mich so, weil ich unbedingt eines Tages auf den Mond fliegen will“, erklärte das Mädchen. „Sie war mal mit meinem Cousin zusammen. Daher kennen wir uns“, sagte Matteo. „Und jetzt weiß ich auch wieder, woher ich dich kenne“, fügte sie an Rico gewandt hinzu, „Matteo hat da so ein Foto, das mir mal in die Hände gefallen ist... Was für ein Zufall...“ Sie grinste gut gelaunt und unterhielt sich dann wieder mit ihrem Bruder. Jetzt, da er Besuch von seinen Freunden hatte, fühlte Rico sich gleich viel besser und Lucifer ging es wohl auch so. Nur Alex, der Mann im letzten Bett, war ganz allein und starrte anscheinend an die Decke. Rico fühlte eine seltsame Verbundenheit zu ihm, als wäre es Schicksal, dass sie sich hier begegneten. Er spürte auch, dass es ihm wohl nicht so gut ging. Unauffällig gab er seinen Freunden ein Zeichen, die aber anscheinend nicht merkten, was er von ihnen wollte. Na dann musste er es anders anstellen. Er hoffte, dass Alex kein Russisch und auch kein Spanisch sprach, denn in einer Mischung aus diesen beiden Sprachen bedeutete er Joona, mit seiner guten Laune mal in die andere Ecke des Raums zu gehen. Mehr oder weniger (un-)offensichtlich schlenderte der Finne zum Fenster und fing gut gelaunt ein Gespräch mit Alex an. „Das war eine gute Idee“, sagte Matteo grinsend zu seinem Freund und ließ sich dann mit ernsterem Gesichtsausdruck zaghaft auf dessen Bett nieder. Mit einem melancholischen Lächeln strich er eine widerspenstige Strähne aus Ricos Gesicht. Der Liegende ergriff seine Hand. „Ich bin so froh, dass ihr da seid... Danke“, sagte er leise und küsste zärtlich Matteos lange schlanke Finger, woraufhin der Mann leicht errötete. Wenn jemand sie beobachtete und es nicht besser wusste, der hätte sie für ein Liebespaar gehalten aber das waren sie keineswegs. Sie waren einfach nur sehr gute Freunde, die sich ihre Freundschaft nunmal so zeigten. Außerdem halfen diese Zärtlichkeiten Matteo aus seinen Depressionen raus und momentan steckte er offensichtlich wieder in einer sehr Ernsthaften fest. Rico wusste nur zu gut, wie tief er fallen konnte, wenn man ihn nicht rechtzeitig auffing. Immerhin kannten sie sich schon seit sechs Jahren und in dieser Zeit waren sie beide öfters ganz unten gewesen und hatten sich gegenseitig wieder hochgeholfen. Jetzt war Matteo wieder am abstürzen. „Was ist los mit dir?“, fragte Rico. „Es ist nichts. Bitte mach dir keine Sorgen“ Der Italiener konnte ihm nicht in die Augen sehen. Das war ein klares Anzeichen dafür, dass er log. „Ich mache mir mehr Sorgen, wenn ich nicht weiß, was du hast“, entgegnete der Liegende. „Weißt du, einerseits bin ich überglücklich, dass du am Leben bist... aber meine Schwester... Sie ist auch im Krankenhaus und dreimal darfst du raten wieso... Sie hat gesagt, sie wäre die Treppe runtergefallen“ Rico hatte schon geahnt, dass sowas kam. Matteos Schwester Barbara lebte zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern bei ihrem Vater, der sie schlicht und ergreifend als Haushälterin brauchte. Außerdem ließen die Männer des Hauses grundsätzlich ihre ungezügelten Aggressionen an ihr aus. Sie behauptete immer, es wäre nicht wahr und dachte sich irgendwelche Ausreden aus, wenn sie wieder mit Knochenbrüchen in die Klinik kam. Wahrscheinlich drohten sie ihr mit etwas viel Schlimmerem, wenn sie es verriet. Matteo hatte diese Hölle als Kind selbst erlebt und wollte seiner Schwester helfen, aber sie ließ ihn ja nicht. Aber Rico wusste auch nicht weiter. Sie hatten dieses Thema schon so oft besprochen und sie hatten beide schon versucht mit Barbara zu reden aber es brachte nichts. Wenn sie nur endlich den Mut fassen könnte, zur Polizei zu gehen... „Da ist noch etwas“, begann Matteo, „Wir haben versucht, Paddy bescheid zu sagen was passiert ist, aber er ist irgendwie nicht zu erreichen. Letztens habe ich ihn zufällig gesehen. Meine Güte, der sieht ganz schön schlimm aus in letzter Zeit“ Da hatte er wohl Recht. Paddy, Patrick O´Brian, war einer von Ricos besten Freunden. Sie kannten sich seit fast zwanzig Jahren und waren miteinander aufgewachsen. Dabei war Rico immer so etwas wie Paddys großer Bruder gewesen und hatte auf ihn aufgepasst. Aber seit einiger Zeit ging es dem Jungen nicht so gut. Rico hatte versucht rauszufinden was los war aber der irische Sturkopf seines Freundes schien in dieser Angelegenheit praktisch unüberwindbar. Plötzlich klingelte ein Handy, Joona lief rot an und beantwortete den Anruf. „Wir müssen weg. Der Chef verlangt nach uns“, sagte er und kam wieder rüber, um sich Matteo zu schnappen. „Hey, mach dir keine Sorgen, Alter. Die kriegen dich hier schon wieder hin. Und wir kommen auch bald wieder vorbei“, sagte er dann zu Rico und sie verschwanden genauso plötzlich, wie sie gekommen waren. Als er wieder allein war wurde Rico mit einem Mal klar, dass sein Leben und das seiner Mitmenschen aus Problemen bestand. Kapitel 2: Ein seltsamer Ort ---------------------------- Rico wollte endlich aus diesem blöden Krankenhaus raus. Seit drei Tagen war er jetzt schon hier, er hatte es noch nichtmal geschafft allein aufzustehen und war auf fremde Hilfe angewiesen. Immerhin hatten sie ihm diesen nervenden Verband schonmal abgemacht aber das war auch kein großer Fortschritt. Wo sollte das noch hinführen? Entschlossen, es nun endlich zu versuchen, setzte er sich auf, was allein schon viel Kraftanstrengung brauchte. Sein rechtes Bein fühlte sich ziemlich komisch an und er war sich nicht sicher, ob es ihn tragen würde. „Was machst du da?“, fragte Lucas aus dem Bett neben ihm ängstlich. „Siehst du doch. Ich stehe auf“, antwortete er knapp und versuchte seine Beine aus dem Bett zu bekommen. Ein stechender Schmerz auf der rechten Seite ließ ihn zurückzucken. „Hab´s mir anders überlegt“, murmelte er und legte sich geschlagen wieder hin. Langsam ließen die Schmerzen nach aber als er sich wieder aufsetzte tat es erneut weh. Da konnte doch irgendwas nicht stimmen. Genau im richtigen Moment kam die Ärztin ins Zimmer. Sie erzählte den Patienten, dass sie sich auf dem Weg der Besserung befanden und dass sie wohl keine wirklich bleibenden Schäden erlitten hatten. „Ich hab da mal eine ganz blöde Frage“, begann Rico, „Wenn meine Rippen gebrochen sind, warum tut dann mein Bein weh?“ Einen Moment lang schien sie nachzudenken. „Das liegt daran, dass zu allem Überfluss wohl auch noch Ihr Rücken ausgerenkt ist. Ich wollte Sie gerade abholen kommen, um das Problem beseitigen zu lassen“, sagte sie dann und trat einen Schritt in den Flur. Sogleich kamen zwei junge Krankenschwestern in das Zimmer. „Diese beiden Damen werden Sie zum Physiotherapeuten bringen. Wenn Sie nett zu ihm sind, lässt er Sie vielleicht aufstehen“, meinte die Ärztin lächelnd. Die jungen Frauen machten sich daran, sein Bett aus dem Zimmer zu schieben. „Hey! Moment mal. Sie wollen mich doch nicht allen Ernstes in einem Bett über den Flur schieben?! Ich will da zu Fuß hingehen“, protestierte der Patient. „Wie wollen Sie gehen, wenn Ihr Bein wehtut? Möglicherweise können Sie ja zurück zu Fuß gehen“, erwiderte die Ärztin. „Darf ich mich wenigstens anziehen? Wenn mich jemand so sieht... Das ist ja wohl mehr als peinlich“, startete er den nächsten Versuch zur Verteidigung seines Stolzes. „Och, wieso? Sie sind doch sehr ansehnlich. Klamotten wären da nur von Nachteil“, sagte die Frau, die weiterhin grinste. Rico gab auf und rutschte unter die Bettdecke. „Sadistin!“, grummelte er als das Bett sich in Bewegung setzte. „Das hab ich gehört!“, rief sie ihm lachend hinterher. Seit er hier war trieb sie ihre komischen Späße mit ihm und ärgerte ihn andauernd. Aber er machte es ja mit ihr auch nicht anders, da brauchte er sich nicht zu wundern. „Hey, ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig. Der Physio ist ziemlich schwul. Drehen Sie ihm bloß nicht den Rücken zu“, sagte eine der Krankenschwestern und die Andere nickte bekräftigend. Die wollten ihn doch verarschen... Oder vielleicht auch nicht. Der Mann, ein ziemlich gut-aussehender Typ, musterte ihn tatsächlich mit einem mehr als interessierten Blick sobald sie allein waren. Das konnte ja heiter werden. Er stellte sich als Antonio vor und bat Rico sich auf die Bettkante zu setzen. Vorsorglich hatte dieser die Bettdecke mitgezogen und versteckte sich ein bisschen dahinter. „Dann wollen wir doch mal sehen...“, meinte der Therapeut und zog das schützende Stück Stoff weg. Rico versuchte sein peinliches Krankenhaushemd noch ein bisschen nach unten zu bekommen und errötete. „Schüchtern, was?“, fragte Antonio mit einem zweideutigen Grinsen, „Sie sehen sehr süß aus, wenn Sie sich schämen“ Rico wurde das doch langsam zu viel. Grundsätzlich war er auch Männern nicht vollkommen abgeneigt aber bei dem hier war das irgendwie was Anderes. Er war einfach eine Ecke zu unverschämt. „Lassen Sie das, okay? Das ist... sehr unangenehm“, sagte er und versuchte dabei entschlossen zu klingen. „Schon gut, ich höre ja auf. Zumindest vorerst“, entgegnete der Andere. Verdammt, waren die denn hier alle so drauf? Das konnte doch nicht normal sein. Kaum hatte er das gedacht, da wanderte eine Hand die Innenseite seines Oberschenkels hinauf. „Hey, was...?“, begann er erschrocken aber Antonio sah ihn dermaßen unschuldig an, dass er verstummte. „Keine Panik. Das ist mein Job. Jetzt bitte eine ehrliche Antwort. Tut Ihnen das weh?“, fragte er. „Ein bisschen. Aber nicht mehr als vorher“, meinte Rico. „Gut, und das hier?“, fragte der Andere und machte dasselbe wie vorher auf der anderen Seite seines Beins. Wieder verneinte Rico. Er versuchte noch einige andere Sachen aber nichts verursachte seinem Patienten große Schmerzen. „Wenn Sie mir wehtun wollen, warum drücken Sie dann nicht mal etwas fester?“, fragte Rico irgendwann herausfordernd. Ihm war aufgefallen, dass die Berührungen doch sehr zärtlich waren. „Wollen Sie denn, dass man Ihnen wehtut?“, stellte Antonio eine Gegenfrage und strich über eine der zahlreichen Narben an Ricos Unterarm. „Das geht Sie nichts an“, sagte der Patient und zog seinen Arm weg. Das war einer seiner Schwachpunkte. Die meisten dieser Narben hatte er selbst verursacht; er wusste nicht mehr genau, wann und wie es angefangen hatte. Er wusste nur noch, dass es irgendwann zur Sucht geworden war. Mithilfe eines Psychologen hatte er es einmal besiegt, war aber nach einem Jahr schon wieder rückfällig geworden. Er konnte einfach nicht mehr damit aufhören. Selbst wenn er gewollt hätte, er konnte es einfach nicht. Während er nachdachte hatte Antonio sich neben ihm niedergelassen. „Das ist eine Krankheit, wussten Sie das? Und man kann sie heilen“, sagte der Therapeut leise. „Ja, das sagen sie alle. Aber ich glaube, man kann das nicht bei jedem heilen. Bei mir zum Beispiel nicht“, entgegnete Rico. Sein Gegenüber sah ihm in die Augen. „Das kann man nicht wissen, wenn man es nicht versucht“, meinte er. „Aber ich hab´s doch versucht. Schon oft. Und einmal hat´s ja auch geklappt aber halt nicht lange“ Rico fragte sich, warum er ihm das überhaupt erzählte, es ging ihn doch eigentlich überhaupt nichts an. „Das ist wirklich sehr schade“, sagte Antonio und lächelte ihn traurig an. Rico fiel plötzlich auf, dass er einen Pulli mit langen Ärmeln trug, obwohl es mindestens 25 Grad warm war. Sollte er etwa auch...? „Wir sollten vielleicht mal mit dem weitermachen, weswegen wir hier sind. Würden Sie sich bitte ausziehen und wieder hinlegen“, riss ihn die Stimme aus seinen Gedanken. „Ausziehen?!“, fragte er und war wieder genauso aufgebracht wie vorher. „Keine Angst, ich guck Ihnen schon nichts weg. Wenn es Sie so sehr stört, kann ich mich auch umdrehen... Also, bitte. Ausziehen und auf den Bauch legen“, befahl Antonio lachend. Er hatte wohl schon vorher gewusst, dass das dem Anderen nicht gefallen würde. Tatsächlich stand er auf und drehte sich um. Widerwillig zog Rico das Hemd aus und legte sich auf das Bett. Er gab dem Therapeuten bescheid und der errötete bei seinem Anblick leicht. „Würden Sie bitte aufhören mich anzustarren“, sagte der Liegende und dachte an das, was die Krankenschwester ihm vorhin gesagt hatte. „E-Entschuldigung... Es ist nur... Ach, vergessen Sie´s“, stotterte der Andere und trat an das Bett heran. Zögerlich legte er die Hand auf die Stelle, wo die Schmerzen vorhin hergekommen waren. „Mal sehen... Tut es hier immer noch weh?“, fragte er und klang wieder professioneller. „Wenn ich liege nicht. Sonst schon“, antwortete Rico wahrheitsgemäß. Der Andere drückte auf die besagte Stelle und seinem Patienten entfuhr ein lautes „Autsch!“ und einige Schimpfwörter. „Schon gut, schon gut. Ich mach´s nicht nochmal“, sagte Antonio und streichelte beruhigend seinen Rücken, „Die gute Nachricht ist, dass nichts ausgerenkt ist. Es ist nur eine harmlose Verspannung. Die schlechte Nachricht ist, dass ich da nichts machen kann, ohne Ihnen wehzutun“ Ach, jetzt wollte er ihm auf einmal doch wehtun, oder was? „Wie meinen Sie das denn? Was haben Sie vor?“, fragte Rico und hatte Mühe die Nervosität aus seiner Stimme zu verbannen. „Warum haben Sie denn solche Angst? Ich will Sie bloß massieren und nicht vergewaltigen. Man sagt mir nach, ich hätte Zauber-Hände“, meinte Antonio fröhlich und grinste ihn an. „Muss das denn jetzt sein? Ich meine, kann ich nicht wiederkommen, wenn ich eine Hose anhabe?“, erwiderte Rico und schämte sich fast für seine Befürchtungen. Belustigt stand der Andere auf und ging zu einem Schrank in der Ecke. „Hier, nehmen Sie eine von meinen“, sagte er und reichte ihm ein Paar Boxershorts. Er drehte sich wieder um und wartete, bis Rico sie angezogen hatte. „So ist es besser. Danke“, meinte der Patient und verkniff sich die Frage, warum er nicht schon früher damit gekommen war. „Also dann“, sagte Antonio voller Elan und bedeutete ihm, sich wieder so hinzulegen wie vorher, „Zum Glück sind diese Betten so hart, dass man sich die Massage-Liegen sparen kann“ Er kniete sich auf besagtes Bett. „Ja, das hab ich auch schon gemerkt“, antwortete Rico und musste tatsächlich lächeln. „Das sind übrigens sehr hübsche Tattoos. Bedeuten die was?“, fragte der Therapeut neugierig. „Nicht so wirklich. Ich war ziemlich betrunken als die gemacht wurden“, antwortete der Gefragte und erinnerte sich an seinen Schrecken, als er morgens aufgewacht war und plötzlich eine Tätowierung hatte. Es sollte ja öfters vorkommen, dass jemand das einmal passierte aber ihm war es gleich dreimal passiert. Als erstes hatte er sich das Zeichen für Chaos und einen sinnlosen Spruch auf dem rechten Oberarm machen gelassen. Danach ein Pik-Ass unten links auf den Rücken und schließlich ein undefinierbares Gebilde aus gebogenen Linien und Sternchen, das sich auf der rechten Seite vom Hals bis zwischen die Schulterblätter erstreckte. Er mochte seine Tattoos, obwohl es keine Absicht gewesen war. Antonio mochte sie anscheinend auch, denn er zog die Linien mit dem Finger nach. „Ich glaube, ich muss mir auch so welche zulegen“, murmelte er und begann endlich, den schlanken Körper seines Patienten zu massieren. Rico war positiv davon überrascht, wie gut sich das tatsächlich anfühlte. Es war ihm in diesem Moment ziemlich egal, ob der Typ ihn anmachen wollte oder nicht; er hätte ihn stundenlang weitermachen gelassen. Er konnte förmlich spüren, wie sich eine Verspannung nach der anderen löste und wie vorsichtig Antonio war, seinen gebrochenen Rippen nicht zu nahe zu kommen. „So, Sie sollten jetzt mal versuchen aufzustehen“, sagte der Therapeut nach einer Weile und holte Rico aus seinem angenehmen Halbschlaf. Der Mann stieg vom Bett und beobachtete mit medizinischem Interesse, wie sein Patient sich aufrichtete und vorsichtig aufstand. „Es tut gar nicht mehr weh. Ich fürchte, ich muss Ihnen danken“, meinte er grinsend als er einen mehr oder weniger unsicheren Schritt vorwärts machte. „Keine Ursache. Ist schließlich mein Job. Und ich habe es gern getan“, antwortete Antonio lächelnd. Plötzlich kam Rico eine Frage in den Sinn, die er ihm stellen wollte. „Als ich da vorhin so lag, was war es, das Sie mir sagen wollten?“, fragte er. „Ich wollte bloß anmerken, dass Sie fast aussehen wie mein Ex-Freund“, meinte der Andere und konnte nur mit Mühe sein Lächeln aufrecht erhalten. „Ihr Ex-Freund, den Sie offensichtlich vermissen“, fügte Rico hinzu und Antonio nickte. Es klopfte an der Tür und beide zuckten zusammen. Der Therapeut öffnete und die zwei jungen Krankenschwestern, die Rico zu ihm gebracht hatten, standen davor. Eine der Beiden sagte etwas zu dem Mann, der sich daraufhin wieder umdrehte. „Ihre Eskorte ist da. Sie sollten sich besser wieder ins Bett legen. Im Flur ist es ziemlich kalt und Sie haben immerhin fast nichts an“ Zu seiner Überraschung gehorchte der Patient und kroch augenblicklich wieder unter seine Bettdecke. Sie brachten ihn in sein Zimmer zurück, wo nur noch Lucifer auf ihn wartete und ihn gespannt ansah. Die beiden Mädchen verschwanden und Rico grinste seinen Leidensgenossen an. „Guck, ich kann gehen“, sagte er und schwang sich aus dem Bett, „Und zu allererst gehe ich endlich wieder ganz allein ins Badezimmer“ Er packte ein paar notwendige Sachen zusammen (aus irgendeinem Grund hatte seine Tasche den Flugzeugabsturz unbeschadet überstanden und stand an der Wand) und begab sich in den kleinen Nebenraum. Dort erschrak er fast als er sein Spiegelbild erblickte. Er sah furchtbar aus, als hätte er tagelang nicht geschlafen. Seine dunkelbraunen Haare standen in einige Richtungen ab und er stellte fest, dass er mal wieder einen Haarschnitt gebrauchen könnte. Außerdem hatte er mehr Bart als ihm lieb war und diese Tatsache änderte er als erstes. Seine Frau sagte immer, mit Bart würde er alt aussehen und sie hatte ziemlich Recht damit. Aber er fand momentan, dass er auch ohne älter aussah als 29. Krampfhaft versuchte er richtig zu lächeln, denn das machte ihn immer jünger als er war, aber es klappte nicht. Alle sagten immer, er hätte ein hübsches Gesicht aber er wusste, dass das nicht stimmte. Als Kind war er ziemlich süß gewesen, das war schon wahr, aber das war mit den Jahren vergangen. Spätestens seit seine Nase nicht mehr so ganz gerade war fand er sich nicht mehr hübsch. Eigentlich fiel es kaum auf, man merkte einfach nur, dass am Gesamtbild etwas nicht stimmte. Aber wenn er grinste, sah man es deutlicher. Das Einzige mit dem er halbwegs zufrieden war, waren seine dunkelbraunen Augen. Er wusste, dass ein Blick von ihm viele Leute aus der Fassung bringen konnte und er hatte sich verschiedene Blicke für einzelne Lebenslagen antrainiert. Leider verriet sein Blick aber auch alle seine Gefühle, was beim Lügen nicht gerade von Vorteil war. Auch in diesem Moment sah er wieder die verschiedenen Emotionen in seinen Augen herumwirbeln. Seufzend löste er sich von seinem Spiegelbild und stieg unter die Dusche. Als das Wasser auf seinen Körper fiel, sah er an sich herunter und bemerkte, dass seine Narben an diesem Tag irgendwie deutlicher sichtbar waren als sonst. Nicht nur seine Arme waren übersät mit diesen Zeichen des Lebens, sondern auch der Rest seines Körpers. Er war öfters in Schlägereien geraten, wobei ihm auch das mit der Nase passiert war, und irgendwelchen Leuten in diverse Messer gelaufen. Außerdem hatte er seit seinem neunten Lebensjahr eine ziemlich große Blinddarmnarbe, die von einer amateurhaften Not-Operation stammte. Aber am meisten störte ihn sein sehr offensichtliches „Brandzeichen“ auf dem linken Schlüsselbein. Es war eine sternförmige Narbe, etwas größer als die Spitze seines Daumens und er hatte sie, seit er siebzehn war. Nein, er durfte sich nicht daran erinnern. Nicht, wenn er unter einer Dusche stand und eine scharfe Rasierklinge in greifbarer Nähe war. Um sich abzulenken drehte er das Wasser auf `Kalt´ und sang leise vor sich hin bis er fertig war. Er zog sich an; zerrissene Jeans, ein schwarzes T-Shirt mit dem Abbild durchlöcherter Spielkarten und seine vollkommen kaputten blauen Chucks, in denen er immer noch rumlief obwohl er sich Neue locker leisten konnte. Dazu noch sein geliebtes Nieten-Armband und den passenden Gürtel, der nicht dazu gedacht war, die Hose oben zu halten. In seinen Lieblingsklamotten fühlte er sich gleich viel besser und er lächelte seinem (plötzlich viel jüngeren) Spiegelbild zu, als er den Raum verließ. Er betrat gleichzeitig mit einer anderen Person das Krankenzimmer wieder. Diese andere Person war anscheinend niemand geringeres als der komische Alex, sein zweiter Zimmergenosse, den er bis zu diesem Tag noch nie zu Gesicht bekommen hatte und der ihn gut gelaunt begrüßte. Er war größer als Rico, hatte nicht so dunkle Haare und ein Gesicht, das man nicht so schnell wieder vergaß, vor allem wegen seinem lieben Lächeln und seinen unglaublich himmelblauen Augen. Er ging auf Krücken und unter seinem T-Shirt zeichnete sich ein Verband ab, was seiner Laune aber keinen Abbruch tat und ihn kaum zu stören schien. Fröhlich verkündete er, dass sie ihn auch in die Physiotherapie schickten, und zwar jetzt gleich. Er legte eine Telefonkarte auf seinen Nachtschrank und war schon wieder halb verschwunden als Rico ihm noch hinterherrief: „Hey, pass auf. Der Kerl ist schwul und vielleicht ein bisschen notgeil“ Alex drehte sich noch einmal um. „Danke für die Warnung“, sagte er lachend und machte sich auf den Weg. Rico trat auf den kleinen Balkon, um sich diesen Tag, der erst halb vorbei war, nochmal durch den Kopf gehen zu lassen. Er kam zu dem Schluss, dass er wirklich an einen seltsamen Ort geraten war. Kapitel 3: Ein Stück Hintergrund -------------------------------- Neugierig lief Rico durch die Gänge des Krankenhauses und sah sich um. Es gab nicht viel Interessantes; hier sah es aus wie in jedem anderen Krankenhaus auch. Frustriert über die Langeweile seiner Umgebung kehrte er in sein Zimmer zurück und fand zu allem Überfluss auch noch Lucas schlafend vor. Hier musste es doch irgendwas zu tun geben. Fieberhaft überlegend ging er wieder auf den Balkon und machte sich eine Kippe an. War ihm egal, ob man das hier durfte oder nicht. Verdammt, das tat weh. Er hatte ganz vergessen, dass er nicht tief atmen konnte aber seine schmerzenden Rippen riefen ihm diese Tatsache wieder ins Gedächtnis. So ein Mist. Nichtmal seine tägliche Dosis Nikotin war ihm vergönnt. Immerhin war es ein Grund, zumindest kurzfristig, mit dem Rauchen aufzuhören. Er hatte vor drei Jahren wieder damit angefangen, als es bei der Geburt seiner Tochter Cristina Komplikationen gegeben hatte. Immerhin hatte es ihm geholfen, die Nerven zu behalten. Und der Gedanke an seine Familie half ihm auch jetzt und plötzlich hatte er etwas zu tun. Er würde sie anrufen; es wurde so langsam Zeit. Gut gelaunt ging er zum Empfang und kaufte sich eine Telefonkarte. Es dauerte eine Zeit, bis er herausgefunden hatte wie das mit dem Telefon funktionierte und schließlich klingelte es auf der anderen Seite. Und es klingelte. Zehnmal piepste es, dann wurde die Leitung unterbrochen. Das war frustrierend. Aber er fand sogleich eine andere Möglichkeit. Matteo wohnte direkt neben ihm und seine Frau Carla war um diese Uhrzeit bestimmt zu Hause. Gespannt wartete er und tatsächlich antwortete sie nach dem dritten Klingeln. In aufgeregtem Italienisch fragte sie ihn, wie es ihm ginge und wartete kaum seine Antworten ab. Sie war das krasse Gegenteil von Matteo: Überaus aufgedreht, unordentlich und unvernünftig; eine sture Kämpferin, die mit allem fertig wurde und fast immer bekam was sie wollte. Das einzige, was die Beiden gemeinsam hatten, war das Temperament und wenn sie sich mal stritten konnte Rico danach in seinem Garten die Scherben der Fenster aufsammeln. Sie waren echt ein seltsames Paar. „Rico?! Hörst du mir überhaupt zu?“, sagte Carla immer noch aufgeregt. „Entschuldige, was hast du gesagt?“, fragte er und wachte aus seinen Gedanken auf. „Ich hab gesagt, Myriam ist so gut wie unterwegs zu dir. Es gab ein paar Probleme wegen dem Visum und so. Sie hat die Kinder bei mir gelassen. Wäre ja auch unmöglich gewesen, die Beiden mitzunehmen... Sie schlafen schon. Laura versteht sich total gut mit Noemi aber ich mach mir Sorgen um Cristina“, antwortete sie so schnell, dass er Mühe hatte zu folgen. „Was ist denn mit ihr?“, fragte Rico alarmiert und wurde endgültig aufmerksam. „Ich weiß nicht, es ist generell... Nimm´s mir nicht übel, aber kann es sein, dass sie ein bisschen... seltsam ist?“ Fast hätte er gelacht. Das fiel ihr erst jetzt auf? Seine Kleine war seltsam, das konnte man nicht leugnen. Sie war ungewöhnlich intelligent für ihr Alter und hatte lieber mit Erwachsenen zu tun als mit Kindern. Sie war drei Jahre alt und hatte vor Kurzem versucht sich selbst das Lesen beizubringen. Außerdem war sie von Natur aus eher verschlossen, was ihr Leben schwerer machte. Sie hatte keine Freunde aber das schien sie nicht zu stören; sie lebte in ihrer eigenen Welt und dachte sich gern irgendwelche Geschichten aus. Und sie tat immer, was sie wollte. Wenn sie um zwei Uhr morgens spazieren gehen wollte, dann tat sie es. Sie war ihr eigener Herr und ließ sich nicht gerne etwas vorschreiben. Trotzdem war sie sehr vernünftig. Er hatte Angst, dass sie irgendwann bald erwachsen wurde. Er wollte nicht, dass Cristina keine Kindheit hatte, so wie das bei ihm der Fall gewesen war. Das war auch der Grund, warum er nie versucht hatte, an ihrer Seltsamkeit etwas zu ändern. Er war geduldig mit ihr und akzeptierte sie so wie sie war. In seiner Familie gab es nur zwei weitere Menschen, die das schafften, nämlich seine Mutter und seine 16-jährige Halbschwester Marina, die ihre Nichte immer als „voll cool“ bezeichnete. Carla sprach wieder mit ihm. „Also ich weiß nicht, vielleicht solltest du die Sache mal im Auge behalten. Manchmal tritt sie so weg und starrt vor sich hin. Dann muss man sie erst wieder in die Realität zurückholen“, meinte sie besorgt. „Mach dir keine Sorgen, das ist normal. Wenn sie das macht, denkt sie sich grade wieder eine von ihren Geschichten aus, die sie dann ihrer Schwester erzählt. Wenn ihre Schwester grade nicht da ist, dann kommt es auch schonmal vor, dass sie mit der Katze redet oder mit den Möbeln, weil die antworten ihr genausowenig“, erklärte er. Es war wahr. Die kleine Laura, erst ein Jahr alt, sah ihre Schwester immer nur mit großen Augen an, wenn die ihr von Feen und Einhörnern erzählte. Also machte es für Cristina keinen Unterschied ob sie mit Menschen sprach, die ihr nicht antworteten und sie nicht verstanden, oder mit Tieren und Gegenständen. Vor Kurzem hatte Rico sie im Badezimmer angetroffen, wo sie der Dusche ihre neuste Story erzählte. „Hm. Na ja, wenn du meinst. Aber sie wird es nicht einfach haben, in der Schule und so, das kann ich dir jetzt schon sagen“, sagte Carla und klang dabei irgendwie wie ihre eigene Mutter. „Sie wird ihren Weg finden. Und wenn nicht, dann werde ich ihr helfen“, entgegnete Rico bloß. Sie unterhielten sich noch eine Zeit lang und legten schließlich auf. Im selben Moment wachte Lucas auf und beklagte sich zum wiederholten Mal, dass ihm langweilig war und er das Bett ungemütlich fand. Rico hatte eine Idee, was sie tun konnten. Er fand ein Kartenspiel in seiner Tasche und sie hatten zumindest kurzfristig Beschäftigung. „Zu zweit macht das irgendwie keinen Spaß...“, murmelte der Jüngere irgendwann. Fünf Minuten später kam seine kleine Schwester zu Besuch und sie konnten sie überreden mitzuspielen. Irgendwann gesellte sich auch Alex wieder zu ihnen und gewann von da an ein Spiel nach dem anderen. Nach einigen Stunden voller Kartenspiele ging Luna wieder und auch Rico machte sich auf den Weg noch einmal spazieren zu gehen. Aber er kam nicht weit, denn ihm wurde schwindelig und er musste in sein Zimmer zurückkehren. Er fragte sich, ob das von dem Absturz kam oder einen anderen Grund hatte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ihm das passierte. Kaum hatte er sein Bett erreicht durchfuhr ihn ein altbekannter Schmerz. Ach so, das war es. Das Schmerzmittel ließ so langsam nach und sein Körper beschwerte sich über den unfreiwilligen Drogenentzug. Hastig kramte er in seiner Tasche nach seinen Tabletten. Seit zwei Monaten überstand er keinen Tag mehr ohne diese Medikamente. Er hatte versucht sich selbst von seiner Heroinsucht zu heilen aber die Entzugserscheinungen waren ihm über den Kopf gewachsen. Die Schmerzen hatten ihn umgehauen und er hatte zu diversen Schmerzmitteln gegriffen, damit es keiner merkte. Nur Paddy wusste nämlich von seinen Drogenproblemen und er wollte um jeden Preis verhindern, dass es jemand anders mitbekam. Also hatte er andauernd diese Tabletten geschluckt und irgendwann war es zur Gewohnheit geworden. Er hatte die eine Sucht für eine andere aufgegeben. Aber von Heroin abhängig zu sein war weit schlimmer gewesen. Es war teurer, gefährlicher und die Entzugserscheinungen waren viel krasser. Außerdem musste er bei der Arbeit immer aufpassen. Rico hatte genug Verstand, um nicht zugedröhnt ein Flugzeug zu steuern, auch wenn er nur Frachtmaschinen flog. Deswegen hatte er immer versucht seinen Heroinkonsum minimal zu halten. Aber er konnte es sich auch nicht erlauben, während dem Start plötzlich furchtbar zu zittern. Nach diversen Selbstversuchen und einigen abgesagten Flügen, weil er zu nichts mehr imstande war, hatte er endlich eine Lösung gefunden. Er musste bloß darauf achten, dass sein Trip beim Start noch nicht ganz vorbei war und er so schon wieder einen klaren Kopf hatte. Wenn sie erstmal in der Luft waren gab es immer noch den Autopiloten oder den Copiloten, meistens sein Freund Paddy. Wenn alles okay war ging Rico aufs Klo und setzte sich einen Schuss, und zwar genau die richtige Menge, um bei der Landung wieder voll da zu sein. Vor den routinemäßigen Untersuchungen, die für Piloten vorgeschrieben waren, ging er immer seinen Kumpel im Krankenhaus besuchen, der ihn einer Blutwäsche unterzog, damit die Ärzte keine Spuren der Drogen in seinem Blut finden konnten. Bis jetzt hatte es immer gut geklappt. Aber vor Kurzem waren sein Beruf und seine Sucht in Konflikt geraten. Er hatte sich aus Versehen eine kleine Überdosis verpasst und den Großteil der Reise unzurechnungsfähig auf dem Klo verbracht, wo der Flugingenieur ihn schließlich fand. Zum Glück war sein Gehirn zu dem Zeitpunkt schon wieder so weit eingeschaltet gewesen, dass er ihm erzählen konnte ihm wäre schlecht geworden. Er hatte das Flugzeug zwar noch sicher auf den Boden gebracht aber beschlossen, dass es einfach zu gefährlich war, so weiterzumachen. Und von da an hatte er versucht dagegen anzukämpfen und es schließlich auch mehr oder weniger geschafft. Diese Schmerztabletten waren auf jeden Fall eine gute Alternative, denn sie betäubten nicht nur Schmerzen sondern auch die Nerven und die Gefühle aber man wurde nicht high davon, was ein großer Vorteil war. Aber er fragte sich, wie lange er das machen konnte. Die Dinger hatten doch bestimmt irgendwelche langfristigen Nebenwirkungen. Es gab keine Droge, egal ob medizinisch oder nicht, die ohne Nebenwirkungen funktionierte. Rico gab diese sinnlosen Überlegungen auf und trat auf den Balkon. Die untergehende Sonne tauchte die überfüllte Stadt in einen goldenen Glanz und ein erfrischender Wind wehte. Abwesend betrachtete er die Szene und ließ sich von den Geräuschen der Autos und Menschen auf der Straße beruhigen. Fast wären seine Gedanken wieder abgedriftet, da kam jemand durch die Balkontür und sprach ihn an. „Nette Aussicht, oder?“, meinte Alex, stellte sich neben ihn und ließ seinen Blick über die Stadtlandschaft schweifen. „Sag mal, wie hat es dich eigentlich hierher verschlagen?“, fragte Rico. Das wollte er schon die ganze Zeit wissen. „Mein Chef hat mich geschickt. Ich arbeite als Buchhändler und als letzten Auftrag, bevor ich meinen eigenen Laden bekomme, sollte ich hierher fliegen und einen Amerikaner besuchen, der einige alte Bücher zu verkaufen hat. Na ja, ich hab´s noch nicht bis zu ihm geschafft... Und du? Warum bist du hier?“, sagte Alex und sah ihn neugierig an. „Ich wollte meine Freunde besuchen; die Beiden, die hier waren. Sie arbeiten als Journalisten. Ich hab in letzter Sekunde noch einen Platz in dem Flugzeug gekriegt“, erzählte der Gefragte. Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile und es stellte sich heraus, dass sie bald praktisch Nachbarn werden würden. Rico zählte zu den wenigen Normalsterblichen, die ein mittelgroßes Haus im Steuerparadies Monaco ihr Eigen nennen konnten. Er hatte es von seiner Oma geerbt, die es aus unerklärlichen Gründen schon immer besessen aber nie bewohnt hatte. Das Haus lag ganz am Rand des Stadtstaats, neben ihm wohnte nur noch Matteo mit seiner Familie. Man musste von seiner Haustür aus nur die Straße überqueren und schon stand man am Strand. Es war ein Haus, wie jeder eins wollte. Alex besaß ein Ähnliches, nur ohne die Verbindung zum Meer. Es war nicht so direkt sein Haus; es gehörte seiner Frau und teilweise ihrer Familie. Und der Buchladen, den er im Zentrum eröffnen würde gehörte auch nicht ganz ihm, sondern zur Hälfte seinem jetzigen Chef, dem er jeden Monat Abgaben zahlen würde, um ihm die andere Hälfte abzukaufen. „Was denkst du, ist es irgendwie Schicksal, dass wir uns hier treffen?“, fragte Rico leicht belustigt. „Schon möglich. Normalerweise glaube ich nicht an sowas aber so einen großen Zufall kann es eigentlich gar nicht geben“, antwortete Alex. Diese Antwort versetzte Rico einen leichten Stich. Der Mann glaubte also nicht an das Schicksal; hatte der es gut. Er selbst war überzeugt davon, dass alles was ihm passierte Schicksal war. Die ganzen schlechten Erfahrungen seines Lebens waren eine Strafe des Schicksals für irgendetwas und er fragte sich schon die ganze Zeit für was. Er war sich sicher, dass er das alles schuld war; die Sache mit seiner Schwester, das jahrelange Mobbing in der Schule, die Probleme seiner Eltern miteinander, dieser Flugzeugabsturz... Die Liste würde ewig lang werden, wenn er weiterdachte. Aber Alex riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich geh jetzt schlafen. Bin todmüde. Das solltest du vielleicht auch tun; du schläfst ja fast im Stehen“, meinte er und verließ den Balkon wieder. Er hatte Recht. Rico merkte erst jetzt, wie müde er eigentlich war und auch er begab sich in sein Bett. -------------------------------------- Okay, ich gebe zu, dass dieses Kapitel möglicherweise nicht wirklich plausibel ist. Aber das ist alles Absicht... XP Außerdem ist der Titel doof. Hat jemand einen besseren? Kapitel 4: Unfreiwillige Erinnerungen ------------------------------------- {A.d.A.: Okay, so viel vorweg: Das hier ist mein Lieblingskapitel. So langsam nimmt die Story Form an, denke ich} Rico lag da und wartete auf den Schlaf. Eigentlich hätte er augenblicklich einschlafen müssen, so müde war er, aber es wollte einfach nicht funktionieren. Aus dem Nebenbett hörte er Lucifers unverständliches Gemurmel. Der Junge sprach immer im Schlaf und wenn man mal verstand was er sagte, dann war es kompletter Blödsinn. Es hieß, jeder würde das machen aber er selbst zählte da wohl zu den großen Ausnahmen. Er redete nur, wenn er einen Albtraum hatte und dann waren es klar formulierte Wörter oder Sätze. Seine Frau war mal einen ganzen Tag lang böse auf ihn gewesen, weil er sie im Schlaf angeschrien hatte. Er wusste bis heute nicht, was er eigentlich in der Nacht geträumt hatte aber es würde ihn sehr interessieren. Lucas verstummte und fing stattdessen an, mit seiner Bettdecke zu kämpfen. Mit dem Allgemeinwohl im Sinn stand Rico auf und ging zu ihm rüber. Vorsichtig versuchte er ihn zu beruhigen ohne ihn zu wecken, denn wenn er wach war würde er nur wieder herummeckern. Als der Schlafende sich beruhigt hatte ging Rico nochmal zur Balkontür, um einen letzten Blick auf die Stadt zu werfen. Die Wolke, die den Mond verdeckt hatte, zog zur Seite und das Krankenzimmer wurde von silbernem Mondlicht erhellt. Diese Lichtverhältnisse ließen sogar diesen trostlosen, langweiligen Ort gespenstisch-schön erscheinen. Vollkommen beruhigt drehte Rico sich wieder um. Sein Blick fiel auf Alex, der mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen friedlich in diesem silbernen Schein schlief. Einen Moment lang war Rico versucht sich auf seinem Bett niederzulassen und ihm beim Schlafen zuzusehen, konnte sich aber zurückhalten und verschwand wieder in seinem eigenen Bett. Als er dort lag überkam ihn endlich der Schlaf. Aber er schlief nicht gut; ein Albtraum störte seine Nachtruhe. Ein einsamer dunkelhaariger Junge saß auf der verrosteten Schaukel in dem grauen Innenhof, der von ebenso grauen Mietshäusern gesäumt war. In einem dieser Häuser stritten sich jetzt gerade seine Eltern. Wegen ihm und seinen Geschwistern. Oder wegen dem Geld. Er meinte ihre Stimmen bis in den Hof hören zu können, aber das war eigentlich Blödsinn. Sie stritten sich in letzter Zeit oft aber grundsätzlich war das nichts Neues. Seit Rico und seine Zwillingsschwester Lucia lebten, also seit neun Jahren, hatten sie ihre Eltern fast immer streitend erlebt. Er dachte an seinen sechsjährigen Bruder Sergio, der jetzt da oben war und das alles mit anhören musste. Der Kleine würde noch einen ernsthaften Schaden bekommen, wenn das so weiterging. Seufzend stand Rico von der Schaukel auf und ergriff seine Schultasche. Irgendwann musste er hochgehen, soviel stand fest. Aber er überlegte es sich anders, setzte sich wieder und schaukelte leicht vor und zurück, wobei er seine Füße über den Boden schleifen ließ. Er brauchte neue Turnschuhe und wenn er die hier kaputtmachte hatte er eine größere Chance, tatsächlich welche zu bekommen. Warum war er eigentlich hier? Warum waren sie nicht in Spanien geblieben? Sicher, sie waren arm gewesen, aber das waren sie hier in Deutschland auch. Und dort hatte er wenigstens Freunde gehabt, nicht so wie hier, wo er sich jeden Tag mit anderen Schlägertypen prügeln musste, um in die Schule und auch wieder nach Hause zu kommen. Deprimiert sah er sich um. Hier war alles grau und trostlos. Ein kleines Mädchen bog um die Ecke und betrat den Innenhof; seine siebenjährige Schwester Blanca. „Hey, Rico. Streiten die schon wieder?“, fragte sie und lehnte sich an das rostige Schaukelgestell. „Klar streiten die“, meinte er bloß und schaukelte geistesabwesend weiter. Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Es war das Magenknurren seiner Schwester gewesen. „Haben sie dir wieder dein Essen geklaut?“, fragte er und sie nickte. Es passierte ihm selbst auch fast täglich also war es keine Neuigkeit. „Lass uns hochgehen und gucken, ob es Mittagessen gibt“, sagte er, stand auf und nahm das Mädchen bei der Hand. Sie machten sich auf den Weg in den fünften Stock. Schon im unteren Teil des Treppenhauses konnten sie die lauten Stimmen ihrer Eltern hören und als sie in der dritten Etage waren flog ihre Wohnungstür mit einem Krachen auf. Die Stimmen waren so laut, dass man sie sicher in der ganzen Nachbarschaft hörte. „Mir reicht´s! Es ist aus, Thomas! Das war das letzte Mal!“, schrie ihre Mutter und stürmte die Treppen runter. „Nein, warte, Paula! Du kannst mich doch nicht mit den Kindern allein lassen!“, rief der Vater ihr nach aber sie hörte nicht und flüchtete blindlings aus dem Haus. „Das war´s. Jetz´ isse weg“, murmelte Blanca traurig und lehnte sich an ihren großen Bruder, der der Mutter geschockt hinterher sah. Erschreckt fuhr Rico aus dem Schlaf auf. Seine kleine Schwester hatte damals Recht behalten. Die Mutter war nur noch einmal wiedergekehrt. Mit den Scheidungspapieren und einem Antrag auf das Sorgerecht für die vier Kinder. Natürlich hatte es wieder Streit gegeben. An diesem Tag hatte ein jahrelanges Tauziehen um die Kinder begonnen. Rico erinnerte sich, dass er innerhalb eines Jahres fünfmal zwischen Mutter und Vater hin und her geschoben worden war. Nach der Trennung hatten er und seine Geschwister bei der Mutter in Spanien gelebt, die allerdings dann ihre hart erkämpfte Arbeitsstelle wieder verlor und auf der Straße stand. Sie wurden wieder nach Deutschland geschickt und lebten bei ihrem Vater, wo das Jugendamt sie schließlich wegholte, weil er nicht in der Lage war für sie zu sorgen. So ging es hin und her. Wenn Ricos Erinnerungen stimmten waren sie sogar eine kurze Zeit lang in einem Heim gewesen, wo ihr Vater sie dann abholte und schwor sich zu bessern. Er schaffte es erst, als er eine Frau kennen lernte. Sie sorgte dafür, dass alles mehr oder weniger in Ordnung kam, passte auf die Kinder auf und versuchte ihnen die Mutter zu ersetzen, die sie alle so furchtbar vermissten. Zu dieser Zeit bekam Ricos Vater das alleinige Sorgerecht zugesprochen. Aber alles wurde anders als die Frau bei der Arbeit von einer Leiter stürzte und tödlich verletzt wurde. Danach wurde es noch schlimmer als vorher. Der Vater kümmerte sich nicht um sein Transportunternehmen, das ihm sein schwer-kranker Bruder überlassen hatte, und war bald schon hoch verschuldet. Er heiratete zwar wieder aber seine neue Frau Nicola war damals nicht besser als er. Sie waren noch ärmer als vorher, hatten nichts zu Essen, keine ordentlichen Klamotten und keine Schulbücher. Damit sie überleben konnten begannen die Kinder, selbst Geld zu verdienen. Sie gingen in die Fußgängerzone und versuchten sich als Straßenmusiker. Rico spielte Gitarre, das hatte seine Mutter ihm beigebracht, Blanca sang und Lucia tanzte dazu, in dem einzigen Kleid das sie besaß und grundsätzlich barfuß. Der kleine Sergio war entweder gar nicht dabei oder stand daneben und hielt den Hut, in dem sie das Geld sammelten. Manchmal zog er auch allein los und klaute den Leuten die Brieftaschen. Ja, Sergios kriminelle Energie hatte sich auch damals schon gezeigt. So oft Rico auch versuchte ihm beizubringen, dass es falsch war andere Leute zu bestehlen und zu schlagen, es war einfach hoffnungslos. Später waren Sergio und seine Kumpel eine der schlimmsten Jugendbanden der Stadt geworden, raubten Menschen und Geschäfte aus und quälten die Leute, die sie nicht leiden konnten. Sie verpassten ihnen sternförmige Brandzeichen. Vorsichtig legte Rico die Hand über sein eigenes Brandmal. Er war der Erste gewesen... Ohne es zu wollen fiel er wieder in unruhigen Schlaf und durchlebte in seinen Träumen verschiedene Episoden aus seiner doch sehr bewegten Kindheit und Jugend... „Wir brauchten eine Testperson und da kamst du grade richtig, Bruder“, sagte Sergio mit einem gemeinen Lächeln und stocherte in dem Lagerfeuer, das sie eigens zu diesem Zweck angezündet hatten. Rico versuchte sich zu befreien aber vier Leute hielten ihn fest. Vier Jungs im Kleiderschrankformat, die zwar jünger waren als er, aber gegen die er schmächtiges Kerlchen nichts ausrichten konnte, obwohl er ziemlich stark war. „Lasst mich los! Das ist unfair!“, rief er und wand sich zwischen ihren starken Händen. „Unfair? Denkst du die Welt ist fair, Rico? Denkst du das?“, fauchte Sergio und kam ihm mit seinem Messer gefährlich nahe. „Nein, sie ist nicht fair. Aber du musst deine Wut dadrüber doch nicht an anderen Menschen auslassen. Hört auf, bevor es zu spät ist“, antwortete sein Bruder. Die Umstehenden lachten ihn aus. „Jetzt im Ernst: An wem soll ich meine Wut auslassen, wenn nicht an Menschen, die immer so schön schreien und flehen?“, fragte Sergio mit gespielter Nachdenklichkeit. „Wenn du unbedingt irgendwas schlagen musst, dann kauf dir eine Axt und werd Holzfäller. Wirklich, Sergio. Du kannst nicht dein Leben lang andere Menschen quälen“, meinte Rico eindringlich und versuchte verzweifelt ihn zu überzeugen. „So, kann ich nicht? Ich werd´s dir zeigen. Und mit dir fang ich an“, sagte sein kleiner Bruder und kam mit einem bedrohlichen Blick auf ihn zu. Ganz langsam schlitzte er mit dem Messer sein T-Shirt auf und achtete darauf, dass die Klinge immer leicht über Ricos Haut fuhr. Ein falscher Atemzug oder ein kleines Zucken und er würde ihn schneiden. Als Sergio mit seiner Tätigkeit fertig war winkte er einem Jungen namens Tim, der bis dahin nur am Rand gestanden hatte. „Bitteschön, dein Patient“, meinte er und wandte sich dann an Rico, „Mein Freund hier wird jetzt leider deinen hübschen Körper ein bisschen verunstalten. Ich würde ja gerne selber an dir rumritzen aber er will sich unbedingt an dir rächen, für das was du seiner Schwester angetan hast“ Der Junge kam auf ihn zu und starrte ihn böse an. „Ich hab keiner Schwester von irgendwem was angetan! Lasst mich gehen!“, rief Rico, den so langsam wirklich die Panik überkam. „Hast du nicht? Und was ist mit meiner Schwester Sandra? Erinnerst du dich an sie?“, fragte Tim bedrohlich. „Natürlich erinnere ich mich. Aber ich hab ihr nichts getan. Ich weiß nicht, was sie dir eingeredet haben...“, antwortete Rico und versuchte sich wieder zu beruhigen. Sandra war bis vor Kurzem seine Freundin gewesen. „Du hast mit ihr geschlafen und dann hast du sie abserviert, eiskalt wie du bist“, sagte Tim wütend. „Ich hab sie nicht abserviert. Ich hab mit ihr Schluss gemacht, weil sie mich betrogen hat, und zwar sieben Mal“ Darum ging es hier also. „Lügner!“, rief der Andere, griff nach etwas, das bis dahin im Feuer gelegen hatte und kam auf ihn zu. Voller Entsetzen erkannte Rico, dass es ein glühendes Metall in der Form eines Sterns war. Er wurde wieder festgehalten und schloss in Panik die Augen. Im nächsten Moment durchfuhr ihn ein unglaublicher Schmerz... Rico saß im Treppenhaus und wartete. Er hatte heute keinen Bock auf Schule gehabt und damit sein Vater nichts bemerkte musste er hier warten, bis seine Geschwister zurückkamen. Plötzlich hörte er die Wohnungstür aus der fünften Etage. Panisch flüchtete der Junge die Treppen hinunter und aus der Tür. Als er gerade über den Hof lief wurde ein Fenster geöffnet. „Ricardo Herres! Beweg dich SOFORT hier hoch!“, rief sein Vater wütend. Der Junge erstarrte. Was sollte er jetzt tun? Wenn er weglief würde das die Wut seines Vaters nur noch steigern. Wenn er aber jetzt in die Wohnung ging, würde er ihn sicher auch schlagen. Also machte es keinen Unterschied. Er drehte sich um und ging wieder ins Haus. Sein Vater beobachtete ihn vom Flurfenster aus, bis er durch die Tür getreten war. Er erwartete seinen Sohn in der fünften Etage auf dem Treppenabsatz und zerrte ihn in die Wohnung. Kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen verpasste er dem Kleinen eine harte Ohrfeige. „Was fällt dir ein einfach die Schule zu schwänzen, du kleiner Nichtsnutz?!“, rief er. Rico antwortete nicht. Wenn er jetzt etwas sagte würde die Sache wohl noch schlimmer. Sein Vater war immer unberechenbar, wenn er gesoffen hatte und das war in letzter Zeit öfters der Fall. Rico und seine Geschwister hatten die Hoffnung längst aufgegeben, dass irgendwann in naher Zukunft alles besser wurde, ihr Vater aufhörte zu trinken und sie endlich wieder Geld hatten ohne auf der Straße zu betteln. „Beantworte meine Frage! Na los, heute noch“, befahl der Mann und packte seinen Sohn am Kragen. „Was soll ich denn in der Schule? Das bringt doch sowieso nichts“, meinte Rico und sah ihm fest in die Augen. „Das bringt also nichts? Und was ist mit deiner Zukunft? Hast du auch schonmal da dran gedacht?“, fragte der Vater. „Wir Kinder aus „schwierigen Verhältnissen“ haben doch eh keine Chance auf eine Zukunft“, antwortete der Junge, riss sich los und flüchtete so schnell er konnte... Traurig kletterte Rico auf das Dach des Wohnhauses, in dem er jetzt schon seit sechs Jahren wohnte. Sie hatten heute in der Schule über Berufswünsche geredet. Natürlich hatten sie alle ihre Träume aber die Anderen hatten wenigstens die Chance, diese Träume zu erfüllen. Er hatte keine Ahnung, wie er jemals zu etwas werden würde. Rico wollte nämlich unbedingt Pilot werden aber die Ausbildung war teuer und Geld war bei ihnen immer noch nicht an der Tagesordnung. Es war hoffnungslos. Deprimiert setzte er sich auf die Kante des Dachs und ließ die Beine über dem Innenhof baumeln. Ob man wohl starb, wenn man hier runtersprang? Sollte er es ausprobieren? Gerade als er das dachte kam Blanca aus dem Haus und fing an im Hof Fußball zu spielen. Wenn er jetzt vom Dach sprang, würde sie es mit ansehen und das wollte er nicht. Verzweifelt betrachtete er seine schwarzen Stiefel, die schon wieder fast kaputt waren. Dabei hatte er sie erst vor vier Monaten aus dem Geschäft mitgehen gelassen. Und seine Jeans, eine von zweien, würde bestimmt bald auseinander fallen, so viele Löcher hatte die. Aber das war okay. Solange Sommer war, konnte man es auch ohne ordentliche Klamotten aushalten. Außerdem fand er, dass es gut aussah. Es passte zu seinen Gefühlen und seinem Charakter. Er war zerrissen. Aber egal wie viele Löcher seine Seele auch hatte, er gab nicht so einfach auf; zumindest noch nicht. Noch hatte er seine Schwestern und seinen Bruder, die ihn brauchten. Rico stand wieder auf. So langsam wurde es doch kalt hier oben. Unentschlossen stand er auf der Kante und sah nach unten. Ein plötzlicher Impuls sagte ihm, er sollte doch mal in die andere Richtung gucken. Der Junge richtete seinen Blick in Richtung des klarblauen Himmels, breitete die Arme aus und plötzlich passierte etwas, das schon lange nicht mehr passiert war. Er lächelte. Es ging ihm in diesem Moment vollkommen ohne Grund so gut, dass er seine Sorgen kurz vergessen konnte. Aber als er die Tür zum Dach hörte beschlich ihn dieses negative Gefühl wieder und er wusste, dass wer auch immer da jetzt kam, ihm etwas mitteilen würde, dass ihn nicht gerade glücklich machte. Tatsächlich stand Lucia hinter ihm und sah ihn ernst an. „Rico, du wirst es nicht glauben: Nicola ist schwanger“, sagte sie... Rico erwachte am nächsten Morgen nur langsam. Das erste, was er wahrnahm war, dass er nicht allein im Bett lag. Jemand hatte den Arm um ihn gelegt; wer, war ihm im Moment ein Rätsel (Es war ein Mann, so viel stand fest). War aber eigentlich auch egal. Die Schmerzen seiner gebrochenen Rippen ignorierend kuschelte er sich näher an die große Wärmequelle in seinem Rücken und genoss die Ruhe und den Frieden dieses Augenblicks. Der Mann hinter ihm regte sich, zog ihn kurz noch enger an sich und machte dann Anstalten aufzustehen. Rico hielt seinen Arm fest und brachte ihn so zum Bleiben. „Nicht weggehen“, murmelte er verschlafen. Er wollte nicht allein sein. Immer noch mit geschlossenen Augen drehte er sich um und umarmte seinen Besucher, der diese Geste zurückhaltend erwiderte. Als Ricos Finger den Rücken entlang wanderten und auf einen Verband trafen, wusste er wer der Fremde in seinem Bett war. Endlich sah er auf, um sich zu vergewissern, und tatsächlich strahlten ihn Alex´ himmelblaue Augen an. „Was machst du in meinem Bett?“, fragte er leise und verwirrt. „Du hattest die ganze Nacht Albträume, hast geweint und im Schlaf geredet. Ich hab dich geweckt und wollte dich beruhigen und dann hab ich mich zu dir gelegt und dich umarmt, weil dir so kalt war. Irgendwann bin ich dann halt auch eingeschlafen“, erklärte Alex und nach einer kurzen Stille fragte er: „Bist du sauer auf mich?“ Rico musste lachen. Er hörte sich bei dieser Frage an wie ein kleiner Junge. „Wenn es so wäre, hätte ich dich schon längst sehr unsanft auf den Boden befördert“, meinte Rico grinsend. Sie hörten, wie Lucifer aufwachte und kurz darauf meldete sich seine Stimme. „Ihr... ihr liegt ja zusammen im Bett!“, sagte er geschockt. Rico richtete sich etwas auf, sodass er ihn über Alex´ Schulter hinweg ansehen konnte. „Ja, und? Hast du ein Problem damit?“, fragte er und plötzlich kam ihm eine Idee. Den würde er drankriegen. „Nein, hab ich nicht. Aber... ich meine... Habt ihr etwa, ähm, miteinander geschlafen?“, fragte der Jüngere. „Nein, aber das können wir ja noch nachholen“, antwortete sein Gesprächspartner mit einem dämonischen Grinsen. Dann wandte er sich an Alex, der blöderweise kein Wort verstanden hatte. „Tu so, als ob wir zusammen wären... und als ob du mich flachlegen willst“, sagte er auf Deutsch und am Lächeln des Österreichers konnte er erkennen, dass er sein Vorhaben durchschaut hatte. Grinsend zog er Rico an sich und küsste ihn. Aber er tat nicht nur so, er machte es wirklich und Rico erwiderte den Kuss ohne Hintergedanken. Er musste zugeben, dass es sich gut anfühlte und errötete bei dieser Feststellung. Um seiner Rolle gerecht zu werden schob er seine Hand unter das T-Shirt des Größeren und streichelte seinen Rücken, was eine leichte Gänsehaut bei ihm auslöste. Alex löste ihren Kuss, legte stattdessen seine Lippen auf Ricos Hals und ließ eine Hand zu seinem Hintern wandern. Der Kleinere öffnete kurz die Augen, nur um mit Genugtuung festzustellen, dass Lucifer sie fasziniert-geschockt anstarrte. Er wurde selbst wieder etwas aktiver und schob seine Hand von Alex´ Rücken in seinen Schritt. Der Mann zuckte leicht zusammen, ließ sich aber sonst nichts anmerken. Spielerisch biss er in Ricos Hals und stellte fest, dass er das lieber gelassen hätte. Dem Kleineren entfuhr ein erregtes Stöhnen und reflexartig drückte er seine Hand etwas zusammen. Einen Moment lang vergaßen sie beide, dass das nur ein Spiel war. Alex ergriff Ricos Handgelenke, drehte ihn auf den Rücken und nagelte ihn so am Bett fest. Er küsste ihn wieder und schob sein Knie zwischen seine Beine. Rico spürte seine Selbstbeherrschung schwinden, befreite seine linke Hand und schnappte sich die Bettdecke, die er schnell über sie Beide warf. „Hör auf, sonst fall ich wirklich noch über dich her“, flüsterte er atemlos und Alex ließ von ihm ab. „Was? Du bist doch nicht echt schwul, oder?“, fragte der Größere halbwegs überrascht. „Nein, aber wenn du mich so anmachst... außerdem bin ich irgendwie bi... weiß auch nicht genau“, meinte Rico leise. „Also, ich bin nicht schwul und auch nicht bi aber... irgendwie war das doch ziemlich na ja, du weißt schon... und du hast einen geilen kleinen Arsch“, erwiderte Alex und streichelte zur Bestätigung besagtes Hinterteil. Rico wurde knallrot, konnte sich aber im nächsten Moment schon wieder zusammenreißen. „Wir sollten unseren Scherz mal aufklären, oder?... Jetzt nimm deine Hand da weg, oder ich kann für nichts mehr garantieren, Süßer“, sagte er und als der Andere seinem Befehl nachgekommen war schlug er die Decke zurück und sie grinsten beide den total perplexen Lucifer an. „Verarscht! Und du bist drauf reingefallen“, rief Rico lachend. Zu ihrer Belustigung wurde das Gesicht des Jüngsten noch ungläubiger und er blickte von einem zum anderen. „Ihr seid so fies“, sagte er dann und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Die beiden Anderen mussten lachen aber Rico konnte sich nicht zu 100% über ihren Erfolg freuen. Er lehnte sich wieder zu Alex rüber und sah ihm in die Augen. „Wegen dir brauch ich jetzt Sex. Das ist alles deine Schuld“, sagte er leise. „Vergiss es“, meinte der Größere und wollte aufstehen aber er wurde festgehalten. „Wieso nicht? Du darfst auch meinen geilen kleinen Arsch f-“, flüsterte der Andere, wurde aber von einem Finger auf seinen Lippen unterbrochen. „Vergiss es, Rico“, wiederholte Alex, stand auf und verschwand im Badezimmer. „Och, menno“, murmelte der Liegende und stand ebenfalls auf, um auf den Balkon zu gehen. Er betrachtete wieder die Stadt und seine Gedanken kamen auf die Träume der letzten Nacht zurück. Das war alles genauso passiert und es war noch längst nicht das Schlimmste gewesen. Rico zwang sich, nicht mehr darüber nachzudenken. Er blickte in das Krankenzimmer, wo Lucas immer noch so auf dem Bett lag. Der schmollte verdammt lange. Ob Alex jetzt wohl beleidigt war? Er musste sich entschuldigen, das war sicher. Was war da eben überhaupt wieder in seinem Kopf vorgegangen? Wenn Alex ja gesagt hätte, dann hätte er es sofort getan. Diese Anwandlungen waren echt gruselig und er war sich sicher, dass er eines Tages etwas tun würde, das ihn in Schwierigkeiten brachte und das er bereuen würde. Aber alles nachdenken brachte nichts. Er musste sich in Zukunft zusammenreißen. Schaudernd überlegte er, was wohl passierte wenn seine Frau jemals von diesen Gedanken erfuhr. Einmal hatte er Myriam mit einer Frau betrogen und damals hätte sie ihn fast für immer verlassen. Er wagte gar nicht daran zu denken, was sie tat wenn er sie mit einem Mann betrog. Als er sich einige Zeit später eine Kippe anmachte kam Alex gerade aus dem Badezimmer. Er vermied es, Rico anzusehen und schien flüchten zu wollen. Dann überlegte er es sich aber anders und trat auch nach draußen. „Gut, dass du kommst. Ich ähm... wollte mich entschuldigen, wegen vorhin. Es ist irgendwie mit mir durchgegangen“, sagte Rico ohne Umschweife und sah ihn ernst an. „Nein, ich muss mich entschuldigen. Es ging nicht gegen dich persönlich. Ich mache sowas nur grundsätzlich nicht“, erwiderte Alex. „Ich ja eigentlich auch nicht. Also, ich hab´s noch nie gemacht aber ich würde es nicht kategorisch ausschließen“, erklärte der Andere zu seiner Überraschung. „Aber du hast doch gesagt, du bist bi“, meinte Alex verwirrt. „Ich denke jeder Mensch ist grundsätzlich bi. Die Einen bemerken es und die Anderen halt nicht. Ich persönlich tendiere auf jeden Fall zu Frauen aber es könnte durchaus mal vorkommen, dass ich mich von einem Mann verführen lasse, wenn mir grade danach ist. Also, ich kenne viele Leute, bei denen das genauso ist“ Nachdenklich sah Alex ihn an. „Wenn du meinst... Sag mal, deine Albträume heute Nacht... Da ging es um deine Kindheit, oder?“, fragte er. „Ja, wenn man es denn so nennen will“, murmelte Rico nervös. „Willst du´s mir erzählen?“, fragte sein Gesprächspartner weiter. Der Angesprochene zögerte kurz, dann erzählte er ihm zumindest mal von seinen verworrenen Familienverhältnissen. „Aha... Das ist wirklich kompliziert... Und wer ist Sergio?“, fragte Alex. Rico zuckte beim Klang dieses Namens. „Woher weißt du von ihm? Den hab ich doch nie erwähnt“, murmelte er verwirrt. „Du redest im Schlaf. Ich hab zwar kein Wort verstanden, weil es Spanisch war aber diesen Namen hast du andauernd wiederholt“, sagte Alex und kam auf ihn zu. Er legte eine Hand auf seine linke Schulter, wanderte dann mit dem Zeigefinger unter den Bund seines T-Shirts und zog daran, bis das Brandzeichen zu sehen war. „Hat er zufällig das hier verursacht?“, fragte er. Leicht geschockt sah Rico ihn an. Wie konnte er das wissen? „Er hat es nur bedingt verursacht. Sergio ist... war... mein kleiner Bruder. Er war ein krimineller Psychopath und der Chef einer brutalen Jugendbande. Sie haben ihre Feinde gebrandmarkt, um jeden abzuschrecken, der sich mit ihnen anlegen wollte. Er hat mir nicht persönlich dieses Zeichen verpasst aber er hat praktisch den Befehl dazu gegeben“, erzählte Rico mit einiger Überwindung. „Er `war´ dein Bruder? Ist er... du weißt schon... tot?“, fragte Alex, der zwischen Neugier und Entsetzen schwankte. Aber Rico zuckte nur unwissend mit den Schultern. Er wusste es nicht und es war ihm auch ein Stück weit egal. „Er ist verschwunden, vor elf Jahren... abgehauen, nachdem...“, murmelte er und konnte es nicht aussprechen. „Nachdem, was? Nachdem er etwas Unverzeihliches getan hatte?“, fragte sein Gesprächspartner flüsternd. Rico sah ihm in die Augen. Irgendwie vertraute er dem Kerl und früher oder später würde er es sowieso rausfinden. Also konnte er es ihm genauso gut sagen. „Nachdem er Lucia erstochen hatte“ Kapitel 5: Seine Familie kann man sich nicht aussuchen... --------------------------------------------------------- {A.d.A.: Dieses Kapitel beginnt mit einer eingebauten Songfic. Der Text ist aus "Hurt" von den Nine Inch Nails (Das ist sowas von Ricos Song...) ärztlicher Warnhinweis: Die Szene am Anfang bitte, um Gottes Willen, nicht nachmachen Disclaimer: Lyrics (c) Nine Inch Nails Ich wusste gar nicht, dass man neuerdings Songfics nicht mehr einbauen darf... Hat sonst immer geklappt... Tschuldigung} Gekonnt ignorierte Rico das zaghafte Klopfen an der Tür und zwang sich selbst, nicht irgendetwas sehr Unfreundliches zu antworten. Er hatte sich im Badezimmer eingeschlossen, nachdem er Alex von Sergio erzählt hatte. Er versuchte krampfhaft, die Erinnerungen zu unterdrücken aber er hatte keine Chance. (Try to kill it all away/ but I remember everything) Irgendetwas hatte Rico an diesem verhängnisvollen Tag dazu gebracht, zu dieser Seitenstraße zu gehen und er hatte Lucia dort gefunden, als sie schon halbtot gewesen war. Das Blut hatte ihre weiße Haut rot gefärbt und wollte einfach nicht mehr aufhören zu fließen. In Panik hatte er sie auf den Arm genommen und zum Krankenhaus geschleppt, das glücklicherweise nur ein paar Straßen weiter war. Zuerst hatte noch Hoffnung bestanden aber schließlich war sie doch qualvoll verblutet. Sie hatte ihn zurückgelassen (You are someone else/ I am still right here) und er war immer noch hier, obwohl er seitdem schon oft versucht hatte sich das Leben zu nehmen. Es war als ob er ohne Lucia nicht fähig war, richtig zu leben. Eine Hälfte fehlte. Jeden Morgen wenn er aufstand wurde es ihm schmerzhaft bewusst (The needle tears a hole/ the old familiar sting) und die Schmerzen wurden nicht weniger. Im Gegenteil; es wurde immer schlimmer und er konnte nichts dagegen tun. (Full of broken thoughts/ I cannot repair) Er hatte versucht, dieses Gefühl mit Drogen zu betäuben; zuerst mit Alkohol, später mit Heroin und jetzt mit Schmerztabletten und es zu verdrängen, indem er sich körperliche Schmerzen zufügte. (I focus on the pain/ the only thing that´s real) Wenn er das machte konnte er es zumindest kurzfristig vergessen aber es hatte natürlich auch seine Nachteile. Er war schließlich dadurch zu einem Säufer und Junkie geworden und musste seinen narbenbedeckten Körper immer verstecken. Er war nicht mehr derselbe Rico wie damals, (What have I become/ my sweetest friend?) er hatte sich verändert. Natürlich hatten die ganzen Schicksalsschläge und Ungerechtigkeiten ihn früher auch nicht kaltgelassen aber irgendwie war es nicht so schlimm gewesen. Heute war seine Psyche ein einziger Scherbenhaufen und jede negative Kleinigkeit vergrößerte diesen Haufen nur noch. Wenn nicht bald etwas passierte, würde er noch vollkommen kaputtgehen und an der Last zerbrechen. (If I could start again/ a million miles away) Entweder musste alles zusammenbrechen, was seinen Tod bedeuten würde, oder es musste sich bessern, was sehr unwahrscheinlich war. Es würde sich niemals bessern. Bis jetzt hatte sich sein Leben erst einmal zum Guten gewendet, nämlich als er Myriam kennen lernte. Aber auch diese wundervolle Frau, die er über alles liebte, konnte ihn nicht von seiner Vergangenheit heilen. So sehr sie es auch versuchte, ohne Lucia funktionierte er nicht und niemand konnte die Lücke füllen, die sie hinterlassen hatte. Er würde alles dafür geben, seine Schwester wiederzuhaben (You could have it all/ my empire of dirt) aber er wusste mittlerweile, dass es hoffnungslos war. Doch diese Erkenntnis konnte ihm auch nicht helfen. Er vermisste sie einfach so sehr. Und nicht nur sie hatte ihn verlassen, auch andere Menschen. (Everyone I know/ goes away/ in the end) Irgendwann würden sie ihn alle verlassen. So wie er mit den Menschen in seiner Umgebung umging, war das nur die logische Folge. Außerdem war es wahrscheinlich sein Schicksal, einsam und allein zu sterben; an irgendeiner schmerzhaften Krankheit langsam und qualvoll einzugehen, wenn alle anderen ihn längst schon vergessen hatten. Rico hielt diese Gedanken nicht mehr aus. Blind vor Tränen suchte er eine Rasierklinge aus der Tasche, die er im Bad deponiert hatte. Das neue, unbenutzte Stück Metall fühlte sich kalt zwischen seinen Fingern an, erwärmte sich aber bald, als er ohne zu zögern auf seinen linken Arm losging. Sein Kopf war nach wenigen Sekunden wie leergefegt. Er dachte nicht mehr; er fühlte nur noch. (I hurt myself today/ to see if I still feel) Rico war unter die Dusche gestiegen, hatte danach fachmännisch seinen blutenden Arm verarztet und lauschte nun an der Tür, bis Alex wegging und er sich endlich raustrauen konnte. Tatsächlich hörte er bald, wie sein Zimmergenosse den Raum verließ. Hastig und nur mit einem Handtuch bekleidet stürzte er in das Krankenzimmer und zu seinem Schrank, immer darauf bedacht aus Lucifers direktem Sichtfeld zu bleiben. „Rico, was machst du da? Was ist los?“, fragte der Jüngere und blickte suchend in die Richtung, in der er den Angesprochenen vermutete. Aber der hatte sich mehr oder weniger hinter dem Nachtschrank versteckt. „Lucas, ich hab nichts an. Hör jetzt bitte auf zu spannen und guck in die andere Richtung“, sagte er und tatsächlich kam der Liegende seiner Bitte nach. Als er sich angezogen hatte ließ Rico sich erschöpft auf seinem Bett nieder. Irgendetwas zehrte an seinen Kräften; entweder der Blutverlust oder diese ganzen Emotionen. Oder vielleicht auch beides. „Hey, was ist mit dir? Du bist ganz blass“, meinte Lucifer besorgt. „Nein, alles okay. Mir ist nur ein bisschen schwindlig“, antwortete Rico. Er würde normalerweise niemals zugeben, wie dreckig es ihm wirklich ging. Es verwunderte ihn sowieso ziemlich, wie viel er gegenüber Alex schon offenbart hatte, obwohl er ihn kaum kannte. Es gab nur wenige Leute, die wussten wie Rico wirklich war. Eigentlich nur seine Familie, Paddy und Matteo. Vor allen anderen zeigte er nie seine wahren Gefühle. Es kam vor, dass er seine Depressionen mal nicht komplett verstecken konnte aber das, was rauskam war nur ein Bruchteil dessen, was er wirklich fühlte. Wenn die Menschen gewusst hätten, wie es tatsächlich in seiner Seele und seinem Herzen aussah hätten sie sofort die Männer mit den weißen Westen gerufen, aus Angst er könnte im nächsten Moment Amok laufen. Er musste sich immer verstecken. Aber in den letzten Tagen hatte er das nicht mehr so ausgiebig getan. Vielleicht hatte das etwas mit dem Schlag auf den Kopf zu tun, den er anscheinend bei diesem Absturz abbekommen hatte. Oder vielleicht lag es auch an Alex, der allein schon mit seinem Lächeln augenblicklich Ricos Sympathie und einen Teil seines Vertrauens gewonnen hatte. Besagter Alex kam wieder zur Tür rein. Besorgt sah er Rico an, der sich zu einem kleinen Lächeln zwang. Das Gesicht des Größeren verdunkelte sich; er kaufte ihm seine gute Laune nicht ab. Bevor einer von ihnen noch etwas sagen konnte erschienen zwei weibliche Wesen im Türrahmen. Rico konnte sehen, dass Alex in diesem Moment genauso fühlte wie er: Er freute sich, seine Frau wieder zu sehen. Myriam stürzte sofort auf Rico zu und wollte ihn umarmen, hielt aber im letzten Moment inne. „Es tut dir doch bestimmt weh, wenn ich das jetzt mache, oder?“, fragte sie unsicher. Wortlos zog er sie an sich. Er konnte jede Art von Schmerzen ertragen, solange sie nur bei ihm war. Vorsichtig legte Myriam die Arme um ihn, setzte sich auf seinen Schoß und atmete tief durch. Das tat sie immer, wenn sie kurz davor war in Tränen auszubrechen, das wusste er aus Erfahrung. Er schob sie etwas von sich, um sie anzusehen und tatsächlich glitzerten Tränen in ihren sonst so glühenden schwarzen Augen. Alles an ihr war schwarz: ihre Haare, ihre Augen, ihre Klamotten (zumindest meistens) und auch ihre Vergangenheit. Zärtlich strich Rico seiner schwarzen Lady eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich bin so unglaublich froh, dass du hier bist“, sagte er leise und im nächsten Moment waren sie mit einem innigen Kuss beschäftigt. Es war ihnen egal, dass die Anderen ihnen zusehen konnten; in diesem Moment zählten nur sie beide und die Tatsache, dass sie jetzt hier waren. „Ich hab mir so furchtbare Sorgen gemacht... und dann hat das alles so lange gedauert... und dann hab ich mir noch mehr Sorgen gemacht“, sagte sie, immer noch aufgebracht. Ihr Akzent kam durch, wenn sie sich aufregte; das war nicht praktisch. „Aber jetzt musst du dir keine Sorgen mehr machen. Du bist hier, ich lebe noch und habe noch alle Körperteile und wenn alles gut läuft sind wir schon bald wieder zu Hause... Es ist nichts passiert. Beruhig dich, bitte“, meinte er und streichelte ihren Rücken. „Nichts passiert... das sagst du so einfach“, entgegnete sie und lehnte sich wieder an ihn. Nach einer Weile ging die Tür wieder auf und Luna trat ein. Sie verstrickte sich sofort in ein Gespräch mit Myriam. Die Beiden unterhielten sich auf Englisch, weil das die einzige Sprache war, die sie beide so mehr oder weniger beherrschten. Während die Frauen sich bekannt machten nutzte Rico die Gelegenheit sich Alex´ bessere Hälfte mal genauer anzusehen. Wenn er sich richtig erinnerte hieß sie Emilia. Sie passten zwar optisch extrem gut zusammen, aber schon von Weitem konnte er erkennen, dass da etwas absolut nicht stimmte. Wahrscheinlich hatten sie sich gestritten, bevor er hergekommen war und so wie sie jetzt da auf dem Balkon standen, sah es aus als wären sie gerade dabei das alles auszusortieren. Außerdem stellte er fest, dass sein Zimmergenosse einen guten Geschmack hatte, was Frauen anging. Emilia war auf eine natürliche Art und Weise hübsch, hatte eine Super-Figur und ewig lange Beine. Sie war dunkelblond, was ihr sehr gut stand. „Hey, Rico. Hör auf, Ella anzustarren“, sagte Myriam und boxte ihn leicht auf die Schulter. „Was?... Wen?“, fragte er perplex. „Na ja, sie. Das ist Ella“, antwortete seine Frau und deutete Richtung Balkon. „Ich starre sie nicht an; ich gucke nur. Außerdem ist sie nicht mein Typ“, erwiderte er. „Oh, nein. Hab ich ganz vergessen. Du stehst ja auf Dunkelhaarige“, sagte Myriam mit einem Zwinkern und ließ sich wieder neben ihm nieder. Da hatte sie wohl Recht. Rico erhob sich. „Komm mit, ich zeig dir wo sie uns hier gefangen halten. Vielleicht darfst du auch mal die Pathologie sehen“, meinte er und sie folgte ihm erwartungsvoll. Myriam hatte eine Schwäche für seltsame Dinge, vor Allem, wenn sie mit Toten zu tun hatten und ein Besuch in der Krankenhaus-Pathologie wäre genau das Richtige für ihren makaberen Humor gewesen. Allerdings war ausgerechnet dort der Zutritt für noch lebende Patienten verboten. Innerhalb kurzer Zeit hatten sie den Rest des Krankenhauses besichtigt. Fast alle, denen sie begegneten starrten Myriam an. Das war kein Wunder, denn sie war eine wirklich ungewöhnliche Erscheinung mit ihren schwarzen Haaren und den Gothic-Klamotten. Sie trug immer sehr hohe Schuhe, in denen sie fast so groß war wie Rico, und haufenweise schwarze Schminke. Bei der Arbeit hatte sie auch meistens noch eine Brille an, was sie sehr intellektuell aussehen ließ und das wirkte wie ein krasser Gegensatz zum Rest von ihr. Myriam war ausgebildete Grafikerin und arbeitete als Web-Designerin in ihrem absoluten Traumjob. Sie war zwar bei einer Firma angestellt, konnte ihre Aufgaben aber alle per Laptop von zu Hause aus erledigen, während sie vor dem Fernseher saß oder mit einer Freundin telefonierte. So konnte sie auch ihre Familie und ihren Beruf unter einen Hut bringen. Außerdem durfte sie sich anziehen, wie sie wollte und im Hintergrund Musik laufen lassen. Das war es wahrscheinlich gewesen, was sie zu diesem Beruf gebracht hatte. Myriam brauchte nämlich in jeder Lebenslage ihre Freiheit und konnte nicht damit umgehen, diese nicht zu haben. Das war schon immer so gewesen und das würde wohl auch immer so bleiben. Wahrscheinlich hatte Rico sich deshalb in sie verliebt, weil sie so anders war, so frei von Vorurteilen und so unabhängig. Und ihm war von Anfang an klargewesen, dass die Beziehung zu ihr schwierig werden könnte. Aber so war das Leben und er würde seine seltsame Myriam um keinen Preis hergeben. Sie verließen das Krankenhaus, um im Café gegenüber etwas zu trinken. Auch dort starrten alle auf Myriam aber sie lächelte die Leute einfach nur strahlend an, während sie einen extra starken Kaffee bestellte. Ja, sie war schon ein Fall für sich. Sie erzählte Rico, dass sie schon wieder neue Nachbarn hatten und die totale Spießer waren. Außerdem verkündete sie mit Stolz, dass sie für ihre Arbeit eine Auszeichnung bekommen hatte. Rico seinerseits erzählte ihr allerlei lustige Geschichten aus dem Krankenhaus. So verbrachten sie den ganzen Nachmittag und später fuhren Myriam und Ella zusammen in ein Hotel. „Da haben sich anscheinend zwei gefunden“, meinte Rico zu Alex, nachdem die Frauen verschwunden waren. „Hm, kann schon sein“, sagte der Angesprochene bloß. Er wirkte irgendwie deprimiert, als ob ihn etwas beschäftigen würde. „Was ist los? Du bist so... anders“, fragte Rico besorgt. „Es ist nichts“, antwortete Alex leise. „Du bist echt ein schlechter Lügner“, stellte der Kleinere fest. Das stimmte wohl, denn der Andere musste leicht grinsen und sah ihn schließlich doch wieder an. „Mein kleiner Bruder sitzt im Knast und meine Mutter liegt im Sterben. Mit keinem von Beiden hatte ich in den letzten paar Jahren Kontakt... und jetzt wünsche ich mir es wäre anders gewesen“ Diese ehrliche und direkte Antwort verschlug Rico kurz die Sprache. „Das ist ja furchtbar“, sagte er dann, „Warum hattet ihr keinen Kontakt?“ Alex überlegte eine Weile und schien seine Antwort zu formulieren. „Na ja, bei meiner Mutter stand immer mein Vater im Weg. Er ist... wie soll ich sagen... ein tyrannischer Herrscher. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben, nie wieder. Er ist grausam“, antwortete er und für einen Moment zeigte sein Gesicht einen hasserfüllten Ausdruck, der überhaupt nicht zu ihm passte. „Alex? Hat er dir wehgetan?“, fragte Rico vorsichtig. Auf den ersten Blick hätte er nicht geglaubt, dass dem Anderen auch so etwas zugestoßen war aber jetzt zeigte er doch klare Anzeichen dafür. „Das hat er. Aber ich hatte es noch gut. Meine Mutter und Christopher hat er viel schlimmer zugerichtet. Ich war ja der beispielhafte älteste Sohn und hab ihn stolz gemacht mit meinen guten Noten und so. Aber der kleine Chris... er war halt anders und mein Vater hat meine Mutter dafür verantwortlich gemacht und sie alle beide gehasst. Und jetzt zeigen sich die Folgen davon“, erklärte Alex. „Du meinst er hat deine Mutter... umgebracht?“, fragte Rico geschockt. „In gewissem Sinne, ja. Sie stirbt an den Spätfolgen der ganzen Verletzungen, würde ich behaupten“, antwortete der Andere seufzend. „Und dein Bruder? Was ist mit ihm passiert?“, fragte sein Gesprächspartner weiter. „Er ist so eine Art Problemkind. Unsere Eltern haben ihn nie geliebt und wenn er mal Aufmerksamkeit bekam, dann nur negativ. Früher war er immer sehr schüchtern aber irgendwann verwandelte er sich, sozusagen. Von einem Tag auf den anderen hat er komplett die Kontrolle über sich verloren. Er hat die fehlende Liebe durch Sex ersetzt, mit Männern und mit Frauen. Damals war er vierzehn. Er hat mir mal erzählt, mit 16 hätte er es zum ersten Mal für Geld gemacht. Aber das Geld hat dann wohl nicht mehr gereicht und er wurde kriminell. Zuerst waren es nur Einbrüche, dann schließlich Raubüberfälle mit seinen Kumpels und einmal haben sie in der Provinz eine Bank ausgeräumt. Erwischt wurden sie nie. Heute hat er zwar einen geregelten Beruf, er ist Dolmetscher bei der deutschen Botschaft in Prag, aber trotzdem macht er noch immer krumme Geschäfte mit Waffenhändlern und Drogendealern. Vielleicht kommt er jetzt zur Vernunft, wo sie ihn endgültig am Kragen haben“ Jetzt war Rico wirklich sprachlos. Anscheinend war er nicht der Einzige, der einen krassen Bruder hatte. „Aber du magst ihn doch trotzdem, oder?“, fragte er schließlich, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. „Ja, das tu ich. Ich liebe ihn; er ist doch mein Bruder. Und ich weiß, dass er eigentlich noch immer der schüchterne kleine Chris ist, der keinem was antun würde und einfach nur geliebt werden will. Aber er lässt mich ja nicht... und es ist außerdem ziemlich schwierig. Sein, ähm... ausschweifender Lebensstil steht zwischen uns. Diese „Schnell leben – jung sterben“ -Mentalität macht mich vollkommen wahnsinnig. Jedes Mal sage ich ihm, dass er endlich zur Vernunft kommen soll und die Finger von den Drogen lassen und jedes Mal streiten wir uns dann. Dabei mache ich mir doch bloß Sorgen, weil ich ihn liebe und weil ich sein Bestes will“ Alex war wirklich verzweifelt und wollte seinem Bruder helfen. „Hast du ihm das alles jemals gesagt?“, fragte Rico, der schon über eine Lösung für dieses Problem nachdachte. „Ich hab´s ihm mal zwischen Tür und Angel hinterher geschrien als wir uns wieder gestritten hatten. Und ich hab´s ihm mal gesagt als er sich nach so einem Streit eine Überdosis verpasst hatte. Allerdings hat er mir damals kein Wort geglaubt. Er war der Meinung ich würde das nur sagen, damit er das nicht noch mal macht... Aber, siehst du, da liegt das Problem: Es will einfach nicht in seinen Kopf, dass ich ihn trotz allem liebe. Er hat keine Ahnung, was er davon halten soll und wie er damit umgehen soll“, sagte Alex hoffnungslos. „Du musst es ihm irgendwie klarmachen. Und du darfst nichts von ihm verlangen, zumindest vorerst. Wahrscheinlich glaubt er, dass du ihn erst liebst, wenn er sein Leben ändert, praktisch als Gegenleistung. Dass es genau andersrum ist, wird er dir wohl nicht so leicht glauben. Du musst ihn einfach ohne wenn und aber akzeptieren“, erklärte Rico. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es so normalerweise funktionierte. „Aber das tue ich ja schon“, meinte Alex bloß. „Das kommt bei ihm aber nicht so an. Er hat keine Ahnung, dass du es eigentlich nur gut meinst“, fuhr der Andere fort. „Ja, das würde ihm ähnlich sehen... Woher weißt du das alles, obwohl du ihn nicht kennst?“, fragte Alex. Er schien irgendwie beruhigt zu sein. „Ich kenne mich mit Menschen aus“, antwortete Rico lächelnd. Er kannte sich vor allem mit menschlichen Problemen aus. Das Klingeln des Telefons ließ sie beide zusammenzucken und Alex ging dran. Rico konnte den Krach auf der anderen Seite bis zu seinem Sitzplatz hören und auch die Stimme, die sich daraus abhob hörte er mehr oder weniger. Alex wurde ganz blass als er den Anrufer erkannte. „Chris?... Was...? Ich dachte du wärest...“, begann er, wurde aber unterbrochen. „Wie, die haben dich rausgelassen?... Aha... Wegen was?... Falschparken?! Weißt du überhaupt was für Sorgen ich mir gemacht hab?! Also echt... Wie? Nein, mir geht´s gut... Ja, ich komm dich bald besuchen. Bis dann“ Vollkommen perplex legte Alex wieder auf. „Wegen Falschparken im Knast. Ich fass es nicht“, murmelte er kopfschüttelnd. Rico grinste vor sich hin. Dieser Chris erinnerte ihn irgendwie an seine Schwester. Er konnte es kaum erwarten diesen chaotischen Jungen bald kennen zu lernen. Kapitel 6: Alle Klarheiten beseitigt? ------------------------------------- Rico konnte mal wieder nicht schlafen. Irgendwann hatte er keine Lust mehr die ganze Zeit tatenlos rumzuliegen und beschloss einen Spaziergang zu machen. Das Krankenhaus hatte im Innenhof einen kleinen Garten und dorthin begab er sich. Als er gerade durch den Flur auf den Ausgang zusteuerte hörte er aus einem Nebenzimmer jemand nach ihm rufen und kurz darauf kam Antonio aus der Tür. „So spät noch unterwegs?“, fragte er und lehnte sich gegen den Türrahmen. „Ja, ich... kann nicht schlafen und ich wollte kurz in den Garten gehen. Das ist doch nicht verboten, oder?“, meinte Rico und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Da lief er hier schon extra mitten in der Nacht durch und dann begegnete er dem. „Macht´s was, wenn ich mitkomme? Hab eh keine Lust mehr auf diese ganzen Akten da drinnen“, sagte der Therapeut und deutete in das Zimmer hinter sich. Das war ja so klar. „Passt schon“, murmelte Rico bloß und setzte seinen Weg fort. Sie gingen in den Garten, der eher einem Urwald im Mini-Format glich und setzten sich auf eine Bank. Es war immer noch ziemlich warm aber nicht mehr so drückend-heiß wie tagsüber. Rico fühlte sich irgendwie unwohl, wenn dieser Kerl in der Nähe war. Er fragte sich warum. Nein, eigentlich wusste er genau warum. Es war dieser durchdringende Blick, der ihn schon wieder so interessiert musterte. Und es war dieses unverschämte Grinsen, als Rico nach einem ziemlich ernst gemeinten Kompliment sehr rot anlief. Und es war vor Allem die Angst, von ihm durchschaut zu werden. Er hatte so was an sich, als würde er einen im nächsten Moment komplett bloßstellen und interessiert beobachten auf welche Art man zerbrach, wenn alle Geheimnisse ans Licht kamen, natürlich die ganze Zeit mit diesem Grinsen im Gesicht. Und dann würde er die Schwächen seines Gegners eiskalt ausnutzen. Ja, genauso kam er rüber... Und trotzdem war Rico auf eine seltsame Art und Weise fasziniert von ihm. Er wusste nicht, ob er ihn jetzt mögen sollte oder Angst vor ihm haben. Sie saßen eine Weile einfach nur da und starrten in den Himmel. „Die Nacht ist wunderschön“, meinte Antonio irgendwann. Rico überlegte, was er jetzt antworten sollte. Die Situation war kurz davor romantisch zu werden und das wollte er nicht unbedingt. „Dann sind Sie also ein Nachtmensch?“, fragte er. „Kann man so sagen. Ich kann mich nachts einfach besser konzentrieren. Die Meisten finden das ziemlich abnormal“, antwortete der Andere. „Das ist doch nicht abnormal. Ich kenne haufenweise Leute, die am liebsten nachts arbeiten. Da stört einen wenigstens keiner“, entgegnete Rico. Er selbst setzte sich auch viel lieber nachts mit seiner Gitarre hin und schrieb Songs. Tatsächlich waren seine besten Lieder und auch seine besten Kunstwerke alle irgendwann nach Mitternacht entstanden. Myriam war da das genaue Gegenteil. Sie war absolut kein Nachtmensch und hörte spätestens in der Abenddämmerung auf zu arbeiten. Rico musste grinsen, als er über diesen einen großen Unterschied zwischen ihnen nachdachte. „Wodran denken Sie grade?“, fragte Antonio neugierig. Ihm war dieses Grinsen nicht entgangen. „An meine Frau. Sie sagt immer, die Nacht ist nur für zwei Sachen gut: zum Schlafen und für diese gewissen körperlichen Aktivitäten“, antwortete Rico wahrheitsgemäß. „Mit dem zweiten Punkt hat sie wohl Recht“, meinte der Andere lachend. Wieder schwiegen sie eine Weile nur und beobachteten sich unauffällig aus den Augenwinkeln. Rico versuchte sich einen Fluchtplan zurecht zu legen, um endlich aus dieser Situation zu entkommen. Natürlich konnte er einfach aufstehen und gehen, aber das war ja zu offensichtlich und außerdem würde Antonio ihn vielleicht aufhalten. Er brauchte einen plausiblen Grund und eine wirklich gute Strategie. Gerade als er kurz vor dem Durchbruch stand fing der Andere wieder an zu sprechen. „Werden Sie eigentlich noch lange hier bleiben?“, fragte er. „Ich denke nicht... Ich mag keine Krankenhäuser also werde ich bei der ersten Gelegenheit verschwinden“, antwortete Rico. Er hoffte wirklich, dass er bald hier weg konnte und die Chancen standen anscheinend auch nicht so schlecht. „Dann bleibt mir ja nicht mehr viel Zeit...“, sagte Antonio nachdenklich. „Zeit wofür?“, fragte Rico verwirrt. Er hatte das dumme Gefühl, dass sein Gehirn grade mal wieder nicht schnell genug schaltete. Bevor er es mitbekommen hatte, war sein Gegenüber näher gerückt und ein Paar warme Lippen drückte sich auf seine. „Dafür“, flüsterte Antonio. Rico saß da wie versteinert und verpasste sich selbst einen mentalen Arschtritt, weil er es hatte soweit kommen lassen. Offensichtlich deutete der Andere seine Erstarrung als Zustimmung, grinste unverschämt und beugte sich wieder nach vorne, um ihn erneut zu küssen. Er machte das einfach so, als ob nichts dabei wäre und ahnte wohl nichtmal ansatzweise, welches Gefühlschaos er damit auslöste. Endlich schaffte Rico es, ihn ein bisschen wegzuschieben. Immer noch dieses Grinsen, nur jetzt war da noch etwas Anderes in seinem Gesichtsausdruck. Er sah aus als wäre er besoffen. „Was soll das werden?“, fragte Rico, gleichzeitig verlegen und voller Befürchtungen. Wer wusste, wozu dieser Kerl fähig war, mitten in der Nacht und in diesem Urwald, wo keiner sie sehen konnte. „Tut mir leid, ich musste einfach wissen, was ich... fühle“, meinte Antonio, plötzlich auch verlegen und errötend. „Und?“, fragte der Andere weiter. Er wollte ihm doch jetzt nicht etwa eine Liebeserklärung machen; sie kannten sich doch praktisch gar nicht. „Ich fühle auf jeden Fall etwas Besonderes... und du bist etwas Besonderes... Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe. Wir sehen uns wieder. Gute Nacht“, sagte Antonio und verschwand eilig aus dem Garten. Als Rico ihm einige Minuten später folgte war sein Büro schon dunkel und verlassen. Das hatte er ja toll hingekriegt, dachte Rico, als er wieder schlaflos in seinem Bett lag und darüber nachdachte, was gerade geschehen war. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er jetzt fühlen sollte. Sie hatten sich geküsst. Gut. Nein, eigentlich nicht... Und außerdem hatte Antonio ihn geküsst. Also sollte er jetzt wohl am ehesten wütend auf ihn sein. Aber das war er nicht. Er war verwirrt, das war alles. Es war Zeit für eine Bestandsaufnahme. Also, er hatte keine Gefühle für Antonio; er mochte ihn noch nichtmal wirklich. Der Mann war ihm suspekt. Folglich sollte es ihm eigentlich egal sein, was passiert war. Und trotzdem konnte er nicht aufhören darüber nachzudenken. Vielleicht war es die Tatsache, dass der Andere Gefühle für ihn hatte und ihn als etwas Besonderes ansah. Ja, das musste es sein. Aber was sollte er nun tun? Das Beste wäre wohl von hier zu verschwinden und mit Myriam nach Hause zu fahren, bevor noch etwas Dummes passierte und er sich von dem Kerl verführen ließ. Das klang doch fast nach einem Plan, dachte er und schlief schließlich doch ein. Am nächsten Morgen musste Rico eine Untersuchung über sich ergehen lassen, die darüber entscheiden sollte, ob er heimgehen durfte. Während er in seinem Zimmer auf das Ergebnis wartete versuchte er sich von den Ereignissen der letzten Nacht abzulenken, indem er sich um Lucifer kümmerte. Der Junge war echt arm dran. Sie wollten ihn heimschicken, obwohl er mit seinen zwei Gipsbeinen nichtmal in seine Wohnung im zweiten Stock gelangte. Und daheim war nur seine kleine Schwester Luna, die ihm in diesem Fall auch keine große Hilfe wäre. Er hatte noch eine jüngere Schwester namens Maria. Sie wohnte allein am anderen Ende der Stadt, war 20 Jahre alt und hatte drei Jobs, damit sie und ihr Sohn überhaupt irgendwie über die Runden kamen. „Und was ist mit deinen Eltern? Oder vielleicht andere Verwandte?“, fragte Rico vorsichtig. Er vermutete eine Tragödie hinter Lucas´ Familienverhältnissen und er sollte Recht behalten. „Ich habe sonst keine Familie, außer irgendeine entfernte Cousine in Argentinien... Mein Vater und meine Großeltern starben bei einem schweren Zugunglück als ich dreizehn war... Der einzige Überlebende war mein großer Bruder José. Unser Vater starb in seinen Armen. Er war danach so traumatisiert, dass er... dass er sich erhängt hat, auf dem Speicher. Ich wollte ihn noch aufhalten aber... na ja, es war halt zu spät“ Lucifer kämpfte mit den Tränen, während er das erzählte. „Du meinst er hat sich vor deinen Augen... Das ist ja furchtbar... Es tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen“, sagte Rico betroffen. „Schon gut. Konntest du ja nicht wissen... Außerdem ist das ja noch nicht alles. Eine Mutter habe ich auch nicht mehr. Sie verschwand vor vier Jahren in Peru und keiner weiß, was mit ihr passiert ist... Man vermutet eine Entführung aber es gibt keine sicheren Hinweise... Wenigstens meine Schwestern haben sie mir gelassen... Ich war schließlich damals schon 18, als wir zu Waisen wurden und so durfte ich mich um sie kümmern... Ich hab keine Ahnung, wie wir es hingekriegt haben aber es ging irgendwie“ Rico war sprachlos angesichts dieser Geschichte. Dass dieser kleine, so schwach wirkende Junge das alles durchgestanden hatte und seinen Schwestern so ganz nebenbei noch Vater und Mutter ersetzte war praktisch unglaublich. Und die Tatsache, dass Lucas schon 22 war, war mindestens genauso unglaublich. Er sah viel jünger aus und er wirkte auch viel jünger. Aber manchmal konnte der erste Eindruck eben auch täuschen. Am Nachmittag erfuhr Rico, dass er in zwei Tagen entlassen werden konnte. Seine Verletzungen waren so weit verheilt, dass er nicht mehr unter ärztlicher Aufsicht bleiben musste und er hatte auch keine langfristigen Folgeschäden davongetragen. Natürlich taten die gebrochenen Rippen noch weh und würden das auch noch eine Zeitlang tun aber das war ja normal. Wenn er wieder zu Hause war, musste er sich noch mindestens zwei Wochen erholen und durfte dann möglicherweise schon wieder arbeiten. Als Myriam das hörte, freute sie sich doppelt. Zum einen darüber, dass es ihm schon wieder gut ging und zum anderen, dass sie ihn die nächsten zwei Wochen lang für sich haben würde. Es störte sie, dass er so selten zu Hause war aber wie sie nunmal war, fand sie auch daran eine positive Seite. „Wenn wir so oft getrennt sind vergessen wir wenigstens nicht, was wir aneinander haben“, sagte sie immer. Außerdem würden sie sich wahrscheinlich viel öfter streiten, wenn er immer da war. So stritten sie sich zwar auch ab und zu aber es war nie so tragisch. Nicht so wie bei Ricos Eltern früher. Apropos, Eltern. Er wunderte sich, dass seine Mutter noch nicht angerufen hatte. Normalerweise machte sie sich immer furchtbare Sorgen, wenn es ihm nicht gut ging und es kam auch schonmal vor, dass sie plötzlich bei ihm auftauchte, weil sie so ein Gefühl gehabt hatte, dass er sie ganz dringend brauchte. Bis jetzt hatte sie damit eigentlich immer richtig gelegen aber es war passiert, dass er sich gerade in Amerika oder sonstwo herumtrieb und sie dann umsonst wie eine Irre von Spanien nach Monaco gerast war. Eigentlich war sie früher gar nicht so über-fürsorglich gewesen. Natürlich hatte sie sich Sorgen gemacht, wenn ihre Kinder die ganze Zeit von ihr getrennt waren aber es war ihr immerhin klar gewesen, dass sie praktisch nichts für sie tun konnte außer am Telefon gute Ratschläge erteilen und hoffen, dass nichts passierte. Sie war immer für sie da gewesen, auch wenn sie die meiste Zeit weit weg war. Erst nach Lucias Tod war sie so extrem geworden, was ja auch halbwegs verständlich war. Sie versuchte immer für alle da zu sein, wohl auch teilweise, um das wieder gutzumachen, was sie in ihrer Kindheit unfreiwillig versäumt hatte. Das führte dazu, dass sie sich selbst unter kaum auszuhaltenden Stress setzte, wenn sie zum Beispiel Blanca hinterher reiste, die mit ihrer noch relativ unbekannten Rockband durch Europa zog und die es immer wieder schaffte in Schwierigkeiten zu geraten. Rico selbst hatte seine Schwester im letzten Jahr fünfmal auf diversen Polizeiwachen abgeholt, wenn sie mal wieder im besoffenen Kopf irgendein Hotelzimmer oder eine Bar zerlegt hatte. Einmal hatte sie eine Massenschlägerei ausgelöst, war aber selbst ohne einen Kratzer aus der Sache rausgekommen. Der Gitarrist ihrer Band hatte einige Tage in Untersuchungshaft gesessen, bis Rico ihn per Kaution freikaufte. Aber meistens kümmerte sich eben die Mutter um solche Sachen und er erfuhr erst davon, wenn alles schon gelaufen war. Schon mindestens tausend Mal hatte er Blanca praktisch angefleht sich doch endlich zusammenzureißen, wenigstens ihrer Mutter zuliebe, aber es nützte nichts. Sie blieb weiter ein rebellischer Vorzeige-Rockstar und pflegte ihr Image durch ihre Eskapaden. Eigentlich war sie immer noch das freche, aber nette kleine Mädchen von früher aber anscheinend wollte sie nicht so sein. Oder sie durfte nicht. Es lag alles an diesem Kerl, ihrem so genannten Manager, mit dem sie seit zwei Jahren verheiratet war. Er redete ihr immer wieder ein, dass dieses aggressive Auftreten zum Erfolg führen würde. Und sie ließ es sich einreden, weil sie ihn offensichtlich liebte. Rico beschloss sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, wenn er wieder zu Hause war. Es musste doch irgendwie gehen... Am nächsten Tag wurde endlich die Ursache für den Flugzeugabsturz bekannt gegeben. Einer der Bordcomputer hatte gesponnen und einfach so einen Sinkflug eingeleitet und das Flugzeug in Richtung des Meers gelenkt. Ohne Lucas´ mutige Notlandung wären mehr als drei Menschen dabei ums Leben gekommen. „Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen“, meinte Rico niedergeschlagen, als er auf dem Bett des Jüngeren saß. „Wieso das denn?“, fragte Lucifer verwirrt. „Weil ich dich für das alles verantwortlich gemacht habe, ohne nachzudenken. Und ich hab dich angeschrien... und meine schlechte Laune an dir ausgelassen. Es tut mir leid“, sagte der Andere. „Ach, so´n Quatsch. Jeder hätte so reagiert. Ich an deiner Stelle hätte mich wahrscheinlich umgenietet“, erwiderte Lucas lächelnd. „Aber Alex hat nicht so reagiert. Er hat offensichtlich nachgedacht, bevor er den Mund aufgemacht hat...“ antwortete Rico. „Du kannst nicht immer zu 100% gerecht sein und immer nachdenken, bevor du redest. Das ist dir doch schon klar, oder?“ Lucifer sah ihn besorgt an. Er konnte seine Gedanken nachvollziehen. „Man kann es aber versuchen“, erwiderte der Ältere schwach. „Himmel nochmal, Rico! Jetzt mach dich doch wegen einer Kleinigkeit nicht so fertig. Vergiss es einfach und gut is'... Ehrlich gesagt hatte ich es schon vergessen, bis du mich wieder dran erinnert hast“, sagte Lucifer. „Wahrscheinlich hast du Recht. Ich denke zu viel... nur halt in den falschen Momenten“, meinte sein Gegenüber bloß. Ihr Gespräch wurde durch Luna unterbrochen, die mal wieder ihren Bruder besuchte. Rico machte sich indessen* auf den Weg zu Antonio. Seit dieser Nacht hatte der Physiotherapeut immer wieder versucht ihn allein zu erwischen, war zwischendurch ab und zu in seinem Zimmer aufgetaucht und hatte ihm Nachrichten zukommen lassen, in denen er um ein Treffen bat. Am Morgen hatte Rico beschlossen die Sache zu beenden, bevor sie richtig angefangen hatte und überlegte seitdem fieberhaft, was er am Besten zu ihm sagte, wenn sie sich gegenüberstanden. Er musste ihm einfach klarmachen, dass sie sich nicht mehr sehen konnten. Wenn er das nicht tat fand der Kerl womöglich seine Telefonnummer oder seine Adresse heraus und er hatte dann seinen persönlichen Stalker. Man wusste ja nie. Oder er hatte sich wirklich ernsthaft in ihn verliebt und er würde ihn mit einem gebrochenen Herzen zurücklassen. Beides waren Sachen, die er nicht wirklich wollte. Nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hatte klopfte er an der Tür zu Antonios Büro. Eine weibliche Stimme rief: „Herein“ und zögernd betrat er den Raum. Hatte er sich vielleicht in der Tür geirrt? Die Frau stellte sich als Putzfrau heraus, die gerade mit dem Fenster beschäftigt war.„Guten Tag. Ich suche Antonio“, sagte er und versuchte seine Verwirrung zu verstecken. „Der arbeitet nicht mehr hier. Er wurde gefeuert“, antwortete sie knapp. Jetzt erst fiel Rico auf, dass alles leergeräumt worden war und Antonios persönliche Sachen fehlten. „Warum das denn?“, fragte der Mann. „Offiziell wegen seinen ständigen Verspätungen aber inoffiziell... Sie wissen schon, es kursiert da so eine Geschichte“, sagte die Putzfrau und machte eine vage Handbewegung. „Welche Geschichte?“, fragte Rico gespannt. Sie winkte ihn näher zu sich heran und senkte verschwörerisch den Blick. „Es heißt er hätte mit Patienten Sex gehabt... mit Männern. Und das schon seit Jahren immer wieder. Letzte Nacht hat die Oberschwester ihn mit einem Jungen erwischt, der gerade mal 16 war und ihn achtkantig rausgeschmissen und jetzt hat er Hausverbot. Stellen Sie sich das vor! Und man munkelt er hätte auch noch Drogen genommen... Und dabei wirkte er immer so nett“ Rico starrte sie an; unfähig seine Gedanken zu sortieren. „Vielen Dank für die Auskunft“, murmelte er und flüchtete. Er war so ein Idiot! Nichtmal eine Sekunde lang hatte er daran gedacht, dass Antonio ihn nur rumkriegen wollte, so wie hunderte Patienten vor ihm. Er hatte seinem Ego die Oberhand gelassen und insgeheim die Aufmerksamkeit genossen, die ihm durch diesen Kerl zuteil wurde. Aber als er ihn dann in dieser Nacht nicht sofort ranließ war er einfach zum Nächsten gegangen. Von wegen „Du bist etwas Besonderes“. Zu wie Vielen hatte er das wohl noch gesagt? Und wie Viele waren darauf hereingefallen? Das hätte er sich doch denken können, dass der Typ so ein sexsüchtiger Männerheld war, der nicht lange wartete und jeden gleich flachlegte. Aber er hatte es sich nicht gedacht und ein Teil von ihm hatte sogar mit dem Gedanken gespielt etwas mit Antonio anzufangen. Was für ein Glück, dass er es nicht getan hatte. Aber trotzdem... es schmerzte, dass er so belogen worden war. Rico verließ am nächsten Tag zusammen mit Myriam das Krankenhaus. Er war um eine Erfahrung reicher geworden aber sein angekratztes Selbstwertgefühl hatte dabei weiteren Schaden genommen. ----------------------------------- * Gibt es dieses Wort? (Ich mein´s ernst) Kapitel 7: Manche Dinge sind nicht so wie sie scheinen ------------------------------------------------------ Seit ihrer erfolgreichen Heimkehr war eine Woche vergangen. Rico hatte seiner Frau nichts von der Sache mit Antonio erzählt und hatte das auch nicht vor. Es war ja nichts passiert, insofern gab es auch nichts zu erzählen. Trotzdem hatte sie natürlich gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Er schaffte es einfach nicht, das alles aus seinen Gedanken zu verdrängen und das besorgte ihn irgendwie. Aber etwas Anderes machte ihm viel mehr Sorgen: Cristina dachte seit diesem Absturz wohl ziemlich oft über den Tod nach. In der letzten Nacht hatte sie weinend vor seinem Bett gestanden und gesagt: „Ich will nicht, dass du stirbst“ Es hatte zwei Stunden gedauert, bis sie sich wieder so weit beruhigt hatte, dass er sie ins Bett bringen konnte. Als er sie am nächsten Tag vom Kindergarten abholte, in den sie erst seit Kurzem ging, sah sie ihn schon wieder so komisch an. Rico beschloss sich mal ernsthaft mit ihr zu unterhalten. Auf dem Heimweg legten sie eine Pause am Strand ein und saßen eine Weile einfach nur da und beobachteten die Menschen. Es war ein ziemlich trüber Tag, und so waren nicht viele unterwegs. „Wir müssen uns mal unterhalten...“, begann Rico. Seine Tochter sah ihn forschend an. „Hab ich was angestellt?“, fragte sie schüchtern und ihre ernsten braunen Augen wurden noch eine Spur dunkler. „Nein, das hast du nicht aber... ich muss einfach mal mit dir über eine bestimmte Sache reden. Du denkst in letzter Zeit viel nach, oder? Über den Tod?“, fragte er vorsichtig. „Meine Gedanken sind meine Sache, Papa“, antwortete sie fast schon panisch und wollte aufspringen. „Hey, Cristina, bleib ruhig“, sagte er leise und sah ihr fest in die Augen, „Ich mach mir doch bloß Sorgen. Du bist immer so traurig in letzter Zeit“ Mal wieder fiel Rico auf, wie erwachsen seine Kleine schon war. Sie war zwar erst drei Jahre alt aber man konnte sich mit ihr unterhalten als wäre sie mindestens schon acht oder so. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie fast immer nur mit Erwachsenen zusammen war und zu Kindern keine richtige Beziehung aufbauen konnte. Jetzt sah sie ihn mit einer Ernsthaftigkeit an, die ihm fast schon Angst machte. „Ich will nicht, dass du stirbst... und die Mama darf auch nicht sterben und Laura auch nicht und Onkel Paddy und Matteo und die Anderen auch nicht“, sagte das Mädchen. „Ich glaub nicht, dass einer von uns so bald stirbt“, begann Rico und überlegte sich gut, was er jetzt sagte, „Aber weißt du, Crissi, jeder Mensch stirbt irgendwann; keiner kann ewig leben. Es gehört zum Leben dazu. Die meisten Leute sterben, wenn sie alt sind oder krank. Aber natürlich sterben auch Leute bei Unfällen oder so... Die Welt ist gefährlich. Deswegen sagen wir dir ja auch immer wieder, du sollst vorsichtig sein und auf dich aufpassen“ Sie schien das in Gedanken abzuwägen und blickte nachdenklich auf das Meer hinaus. „Aber was ist, wenn es nichts nützt, aufzupassen? Wenn man mit dem Flugzeug abstürzt kann man sich doch nicht mehr helfen“, meinte sie. Rico fand, dass das ein gutes Argument war, hatte aber auch darauf eine passende Antwort. „An solchen Sachen kann man leider nichts machen. Man nennt das Schicksal. Jeder Mensch stirbt normalerweise, wenn seine Zeit gekommen ist. Natürlich ist das traurig und oft ist es auch ziemlich unfair aber es gehört zum Leben dazu. Verstehst du das?“ Sie nickte, hatte aber gleich das nächste Argument parat. „Ja, aber was ist, wenn man ermordet wird? Ist das dann auch Schicksal?“, fragte sie. Rico erschauderte bei dieser Frage. Wie krass war das denn?! Eine Dreijährige machte sich Gedanken über Mord und Totschlag. „Manchmal. Aber Mord bleibt trotzdem ein Verbrechen... Man weiß ja nicht, ob die Person nicht fünf Minuten später sowieso gestorben wäre. Keiner kennt das Schicksal... Ich kannte mal einen Mann, der ermordet wurde. Es stellte sich heraus, dass er todkrank war und sowieso nicht mehr lange gelebt hätte. Aber sein Mörder wurde trotzdem bestraft“, erklärte Rico. Cristina sah wieder auf das Meer hinaus, dann drehte sie sich zu ihm um und lächelte. „Ich glaub ich hab´s jetzt verstanden. Den Tod kann man also nicht aufhalten, richtig?“, sagte sie. „So ist es. Aber wenn man Jemand sieht, der in Gefahr ist, dann hilft man ihm, wenn man kann. Vielleicht ist es ja auch Schicksal, dass man denjenigen vor dem Tod rettet“, fuhr er fort. Er wollte ihr nicht den Eindruck vermitteln, dass es egal war, wenn Menschen starben. Er wollte bloß, dass sie das Prinzip verstand. „Natürlich. Man weiß es ja nicht selber, also sollte man tun, was man für richtig hält“, antwortete seine Tochter. Sie hatte das Prinzip verstanden, stellte er lächelnd fest. Am darauf folgenden Samstag ging Cristina wie immer spazieren und als sie eine Zeit später wieder über den Zaun in den Garten geklettert kam war sie nicht mehr allein. Ein ziemlich großer blonder Junge war bei ihr, der Rico seltsam bekannt vorkam. Es stellte sich heraus, dass er Erik hieß und tatsächlich genauso alt war wie Cristina. Erst als Rico ihm einmal in die Augen sah ging ihm ein Licht auf, wieso er glaubte ihn zu kennen. Sie hatten diesen unverkennbaren himmelblauen Farbton, den er nur von einer einzigen Person kannte. Außerdem sprach er mit einem leichten Akzent. „Wohnst du schon lange hier?“, fragte Rico. „Nö, erst seit heute“, antwortete Erik lächelnd. „Sag mal, heißt dein Papa zufällig Alex Kerten?“, fragte der Mann weiter und der Kleine nickte. „Wieso? Kennst du den?“ Er sah ihn so skeptisch an, dass Rico fast laut lachen musste. Diesen Blick hatte er bei Alex schon viel zu oft gesehen. „Kann man so sagen. Könntest du mir vielleicht zeigen, wo ihr jetzt wohnt?“ Er stimmte zu und sie stiegen alle drei wieder über den Zaun und nahmen eine Abkürzung durch diverse Gärten und Seitenstraßen, bis sie vor einem Haus mit beeindruckendem Meerblick standen. Einige Möbelpacker waren noch damit beschäftigt, diverse Kisten in den Flur zu tragen, während ihre Kollegen schon auf dem Bürgersteig saßen und Feierabend hatten. Erik führte die beiden Besucher in das Haus und schon im Flur konnten sie eine laute Frauenstimme hören, die sich anscheinend über irgendetwas beschwerte. „Papa ist da im Wohnzimmer. Aber pass auf, meine Oma ist nämlich auch da“, sagte Erik und verschwand zusammen mit Cristina in Richtung Hintertür. Rico zögerte einen Moment, bevor er das Wohnzimmer auf der linken Seite betrat, denn dort kam die laute Stimme her. Dann durchquerte er die Tür und erblickte auf der anderen Seite des Raums Alex, der sich das Gemecker seiner Schwiegermutter mit einer Engelsgeduld anhörte. Als er Rico entdeckte hellte sich sein Gesicht augenblicklich auf und er kam auf ihn zu. Er humpelte immer noch leicht, was wohl auf seine Verletzungen bei dem Absturz zurückzuführen war, aber er sah um Einiges gesünder aus als noch vor einer Woche. „Rico, schön dich zu sehen... Wie hast du uns so schnell gefunden?“, fragte er strahlend, während er ihn umarmte. „Ich habe zufällig deinen Sohn Erik in unserem Garten getroffen. Er sieht dir übrigens verdammt ähnlich“, antwortete Rico. „Dann ist Cristina deine Tochter?... Das dachte ich mir schon fast“, meinte sein Gegenüber grinsend. Ihr Gespräch wurde durch ein empörtes Räuspern unterbrochen. Alex´ Schwiegermutter machte sich bemerkbar und es war nicht zu übersehen, dass sie sich ein bisschen verarscht vorkam. Nachdem sie sich einander vorgestellt hatten musterte sie Rico skeptisch, dem in diesem Moment erst bewusst wurde, dass er mal wieder rumlief wie der letzte Henker. Er war gerade mit seinem neusten Bild fertig geworden und trug immer noch die uralten Klamotten mit den Farbflecken, die er beim Malen immer anhatte. Bevor die ältere Frau jedoch etwas sagen konnte, betrat Emilia den Raum. Sie trug ein Baby auf dem Arm, den kleinen Jakob, der erst zwei Monate alt war. Freundlich begrüßte sie Rico und erkundigte sich auch nach Myriam. Dann nahm sie ihre Mutter Ursula mit in die obere Etage, damit sie gemeinsam das Kinderzimmer einrichten konnten. Rico und Alex gingen zusammen auf den Balkon. „Sag mal, ist die immer so?“, fragte der Ältere der Beiden und deutete in die Richtung, in die Ursula verschwunden war. „Du meinst meine überaus zuvorkommende Bilderbuch-Schwiegermutter? Das da eben war noch gar nichts“, antwortete sein Gegenüber und sah seufzend auf das Meer. Rico musste grinsen. Er kannte dieses Problem nur zu gut. „Die wohnt aber nicht hier, oder?“, fragte er fast schon ängstlich. „Nein, zum Glück nicht. Das wäre ja auch noch schöner... Allein schon der Gedanke daran...“ Alex schauderte theatralisch und zog ein Päckchen Kippen aus der Hosentasche. „Du hast bestimmt auch nicht damit gerechnet, den Drachen inklusive zu kriegen, als du geheiratet hast“, meinte Rico mitfühlend und Alex brach in Lachen aus. „Also so hat das noch Keiner formuliert... Hört sich an als hättest du damit Erfahrung“, entgegnete er. „Das kann man wohl sagen. Aber mittlerweile haben wir uns irgendwie arrangiert. Es herrscht ein friedlicher Waffenstillstand“ Tatsächlich hatte er sich mit Myriams Mutter darauf geeinigt wenigstens so zu tun, als könnten sie sich leiden und seitdem lief alles bestens... zumindest solange sie es nicht länger als 24 Stunden miteinander aushalten mussten. „Du und Myriam, woher kennt ihr euch eigentlich? Ihr passt so gut zusammen als hättet ihr euch gesucht und gefunden“, sagte Alex und bemerkte nicht, wie Rico bei dieser Frage leicht zusammenzuckte. „Wir haben uns vor sechs Jahren bei „Rock am Ring“ getroffen. Man könnte von Liebe auf den ersten Blick reden... Und wie war das bei euch?“, fragte er. „Es war irgendwie sehr... normal. Wir haben uns vor vier Jahren kennen gelernt als ich eine Zeitlang in Norddeutschland gearbeitet habe. Ella kam fast jeden Tag in den Laden und irgendwann kamen wir ins Gespräch, haben uns ein paar Mal verabredet und schließlich ineinander verliebt“, erzählte Alex. „Das ist ja fast wie in so´nem Film“, meinte Rico. „Ja, genau das hat mein Bruder auch gesagt“, entgegnete der Andere. „Apropos, dein Bruder. Hast du dich schon mit ihm ausgesprochen?“ Rico war froh, das Thema wechseln zu können. „Nicht wirklich. Ich will das nicht am Telefon machen... aber irgendwie hab ich Angst ihm gegenüberzutreten und, dass wir uns dann wieder streiten. Ich hab sowieso Angst, dass wir uns wieder streiten“, sagte Alex nachdenklich. „Soll ich vielleicht mitkommen? So als Vermittler zwischen euch?“, fragte Rico. Er wollte verhindern, dass Alex sich wieder vor dem Gespräch mit Chris drückte. Die Beiden mussten diese Missverständnisse zwischen sich endlich klären, denn es war offensichtlich, dass er sehr unter der Situation litt. „Hast du denn überhaupt Zeit zum Mitkommen?“, fragte er erstaunt. „Im Moment schon. Ansonsten mach ich mir Zeit“, meinte Rico. Als er sich eine Weile später mit Cristina auf den Heimweg machte, musste er unwillkürlich daran denken, dass er Alex vorhin belogen hatte. Es war die übliche Lügengeschichte, die er immer in dieser Situation erzählte: Er hatte Myriam nicht bei einem Konzert kennen gelernt. In Wahrheit war ihre Begegnung auch kein Zufall gewesen. Aber das konnte er niemand erzählen. Nichtmal seine eigene Mutter kannte die wahre Geschichte. Rico war nämlich ein Undercover-Agent auf Teilzeit und arbeitete schon seit Jahren für die CIA und das FBI gleichzeitig. Er hatte dort Freunde in relativ hohen Positionen, die ihm ab und zu Aufträge zukommen ließen, wenn sie ihn brauchten. Die Art von Aufträgen, von denen niemand etwas wissen durfte und die wahrscheinlich auch sonst niemand übernehmen wollte. Dadurch, dass er sieben Sprachen fließend beherrschte und verdammt gut lügen konnte wenn es drauf ankam, gab er einen guten Spion ab und hatte schon so manchen Einsatz hinter sich. Schon am Anfang hatte er allerdings dafür gesorgt, dass er sich von Waffen fern halten durfte und nicht als Scharfschütze eingesetzt wurde. Er war nur der Mittelsmann zwischen den Behörden und den Verbrechern; der Spion eben. Nur einmal hatte er in Notwehr einen Mann erschießen müssen und sein Gewissen plagte ihn heute noch deswegen. Damals wollte er mit dem Job aufhören aber dann kam dieser verhängnisvolle Anruf... Sie fragten ihn, ob er nicht einen Spezialauftrag übernehmen wollte und zu seinem großen Glück sagte er „Ja“. Eine Stunde später stand besagter Spezialauftrag vor seiner Wohnungstür: Myriam. Sie kam aus Bosnien, wo damals immer noch Krieg herrschte. 1995 waren sie und ihre Familie knapp einem Massaker entronnen und ein Jahr danach hatte man sie in ein Kriegsgefangenenlager gesteckt. Ihr Vater, ein Russe, der wegen regierungskritischer Veröffentlichungen auch von seinen Landsleuten verfolgt wurde, zettelte in diesem Lager einen Aufstand an und sie konnten entkommen. Jahrelang flüchteten sie innerhalb des Landes und verloren sich mehr als einmal aus den Augen. Fünf Jahre nach ihrer Flucht aus dem Lager hatten die Russen sie ausfindig gemacht aber die CIA kam ihnen zuvor und rettete die Familie. Allerdings wurde der Vater schon nach wenigen Wochen in Deutschland auf offener Straße erschossen. Myriams Bruder Zahid verschwand spurlos, ihre Mutter ließ sich in Schutzhaft nehmen und sie selbst endete als Spezialauftrag vor Ricos Tür, damit er sie eine Zeitlang beschützte und versteckte. Er war sofort fasziniert von dieser Frau; er sah die Persönlichkeit, die sich hinter dem tiefen Trauma verbarg; das fröhliche, aufgedrehte Mädchen aus Sarajevo, das einen Hang zu Abenteuern hatte. Sie hing direkt an ihm als würden sie sich schon seit Jahren kennen und wären beste Freunde. Später erzählte sie ihm oft, dass sie ihm von der ersten Sekunde an blindlings vertraut hatte und sie eine merkwürdige Verbindung zwischen ihnen gespürt hatte. Er kümmerte sich um sie, brachte ihr Deutsch bei und half ihr sich ein neues Leben aufzubauen. Wenn sie nachts Albträume hatte tröstete er sie und hielt sie in seinen Armen, bis es ihr besser ging. Sie sagte heute noch, dass sie das Kriegstrauma ohne ihn wohl nie überwunden hätte. Eines Tages wurde den Beiden bewusst, dass sie sich schon längst unsterblich ineinander verliebt hatten und einen Tag später kam die endgültige Entwarnung von der CIA. Myriam war außer Gefahr und sie konnten beruhigt zusammen leben, solange sie es schafften, die Lüge über ihre Vergangenheit aufrecht zu erhalten. Rico fand ihre Mutter wieder und sorgte dafür, dass sie auch ein besseres Leben bekam (was die Frau Schwiegermutter anscheinend schon längst vergessen hatte). Nur ihren Bruder Zahid suchte er immer noch vergeblich. Aber er würde nicht aufgeben, bis er ihn gefunden hatte. Er würde alles tun, um Myriam und ihren geliebten kleinen Bruder wieder zu vereinen und sie endlich wieder vollkommen glücklich zu sehen. Sie war zwar jetzt schon glücklich aber sie sagte immer, dass er ihr unheimlich fehlte, als ob sie nicht komplett wäre. Und keiner konnte das besser verstehen als Rico. ----------------------------------- Zur Erklärung: Die Geschichte spielt ca im Jahr 2005. Sonst wäre das alles nicht wirklich plausibel. Und es gibt wirklich Kinder, die ihrem Alter so weit voraus sind wie Cristina. Ich hab schon mehrere kennen gelernt. Kapitel 8: Besuch bei Chris --------------------------- Einige Tage später machten Rico und Alex sich auf den Weg nach Tschechien, um sich mit Chris zu treffen. Zuerst wollten sie hinfahren, aber das war einfach zu weit. So flogen sie von Nizza aus und landeten wenige Stunden später auf einem Flughafen außerhalb von Prag. Chris wollte sich vor dem Gebäude mit ihnen treffen. Tatsächlich entdeckte Alex ihn schon nach ein paar Sekunden, oder besser gesagt, er erkannte sein Auto, ein uraltes amerikanisches Modell mit einer dunkellila Lackierung und neongrünen Streifen. Als sie näher kamen sahen sie auch den Fahrer. Er hatte sich lässig gegen den Kofferraum gelehnt und sich der Junisonne zugewandt. Alex rief seinen Namen und er drehte sich augenblicklich um. Rico konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Der sah ja in Wirklichkeit noch besser aus als auf dem Foto, das Alex ihm gezeigt hatte. Sein Aussehen stellte sogar den übermäßig hübschen Matteo in den Schatten. Chris hatte etwas von einem Rockstar, mit seinen langen schwarzen Haaren, der zerrissenen Jeans und dem schwarzen Band-T-Shirt. Sein Gesicht glich dem eines Engels, sein Körper allerdings war eher geschaffen für einen Dämon; einen Sex-Dämon. Er war zwar ziemlich klein und zierlich, hatte aber extrem lange Beine und eine sportliche Figur, was durch die enge Jeans noch betont wurde. Und er hatte so eine gewisse Ausstrahlung, als ob er sich im nächsten Moment ausziehen und auf der Motorhaube dieses Autos räkeln würde. Kurz gesagt: Der Kerl war die pure Sünde. Außerdem sah er so unglaublich jung aus, viel jünger als 22. Aber dann sah Rico in seine Augen, die von einem noch intensiveren Himmelblau waren als die seines Bruders, und das Gefühl Chris flachlegen zu wollen verschwand augenblicklich. Sein Blick hatte etwas Zerbrochenes an sich, etwas von ausgenutzter kindlicher Unschuld und einer schrecklichen Vergangenheit. Das Leben hatte offensichtlich seine Spuren hinterlassen. Außerdem wirkte er plötzlich furchtbar nervös. Die beiden Brüder umarmten sich und Chris schien ruhiger zu werden. Dann stellte Alex ihn und Rico einander vor. Neugierig musterte der Junge den Unbekannten, was diesen seinerseits nervös machte. „Rico ist ein cooler Name. Aber ziemlich ungewöhnlich“, sagte er dann. Der Angesprochene vergaß in seiner Aufregung vollkommen zu erwähnen, dass das ja nur sein Spitzname war. „Meine Mutter nannte mich so. Sie kommt aus Spanien“, antwortete er. „Wusste ich's doch. Du hast sowas Südeuropäisches an dir“, sagte Chris fröhlich. Wenn er lachte sah er einfach süß aus, stellte Rico fest. Dann fiel sein Blick auf das schwarze T-Shirt. „Hey, die Band kenn´ ich. Die sind ziemlich gut“, sagte er und deutete auf den Namen, der in russischen Buchstaben dort geschrieben stand. „Oh, ja, die sind vor Allem verdammt laut. Letztes Jahr hab ich die live gesehen und außerdem hab ich den Sänger schonmal gevögelt...“, sagte Chris, schlug sich dann die Hand vor den Mund und sah Rico von unten herauf an. „Das wolltest du jetzt nicht wissen, oder?“, fügte er peinlich berührt hinzu, als sein Gegenüber leicht errötete. Der Kleine war überaus direkt; das gefiel Rico irgendwie. Sie sahen sich an und mussten lachen. „Also... Ich geh mal kurz irgendwie... weg und dann könnt ihr Jungs besprechen, was ihr zu besprechen habt... Ihr findet mich da, wo es Kaffee gibt“, meinte Rico grinsend und machte sich auf den Weg zurück in das Flughafengebäude. Vom Café aus konnte er bequem über den ganzen Parkplatz schauen und er hatte die Brüder in seinem Blickfeld. Sie sprachen über ihn, das war offensichtlich. Aber dann wechselten sie das Thema und klärten die ernsteren Dinge. Zu gern hätte er gewusst, was sie sagten. Eigentlich sollte er ja ursprünglich zwischen ihnen vermitteln aber dazu war es dann doch nicht gekommen. Er hatte ja nicht wirklich eine Ahnung, was genau vorgefallen war und nachdem er sehr lange darüber nachgedacht hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, wenn sie das allein regelten. Er war nur dabei, damit sie sich auch wirklich trafen und Alex nicht im letzten Moment noch abhaute. Rico trank Kaffee und tat so, als würde er eine Zeitung lesen aber in Wahrheit beobachtete er sie. Das war wohl nicht besonders höflich aber es war nunmal eine alte Angewohnheit. Er stellte fest, dass Alex echt ein guter Redner war. Sogar von seinem Platz aus konnte er erkennen, wie er Chris nach und nach von was-auch-immer überzeugte. Außerdem konnte er sehen, dass der jüngere Bruder psychisch wohl ziemlich labil war, denn er brach mehrmals fast in Tränen aus und Alex musste ihn erstmal wieder beruhigen. Irgendwann schienen sie ihr Problem gelöst zu haben und umarmten sich sehr lange. So sah das also aus, wenn Brüder sich wieder versöhnten, dachte Rico traurig. Er verließ das Café und ging wieder zu den Beiden auf den Parkplatz. „Und, alles geklärt?“, fragte er mit einem Lächeln. Alex sah ihn mal wieder skeptisch an aber Chris nickte strahlend. Bevor noch einer von ihnen etwas sagen konnte, klingelte das Handy des Jüngsten und er kramte es aus seiner Hosentasche. Er unterhielt sich mit der Person auf der anderen Seite in unglaublicher Geschwindigkeit auf Tschechisch. Rico fand, dass sich das irgendwie... sexy anhörte und stellte gleichzeitig fest, dass er, obwohl er fließend Russisch sprach, keine Chance hatte auch nur ein Wort von dem zu verstehen, was Chris sagte. „Du kannst die Sprache aber verdammt gut“, meinte Rico, nachdem der Kleine wieder aufgelegt hatte. „Ist praktisch meine zweite Muttersprache. Wir sind ziemlich nah an der Grenze aufgewachsen und ich hab mich schon als Kind total angestrengt es zu lernen, im Gegensatz zu meinem Bruder hier“, erklärte Chris und deutete auf den Angesprochenen. „Na ja, ich hab´s halt nicht so mit Sprachen. Dafür kann ich eben besser Mathe und Physik und so“, meinte dieser. „Ja, stimmt. Du hast früher immer meine Hausaufgaben gemacht“, sagte sein Bruder lachend. Jetzt war es mit Ricos innerem Gleichgewicht endgültig vorbei. Eine Erinnerung tauchte aus seinem Gedächtnis auf, von seinem eigenen Bruder und wie er verzweifelt versucht hatte, dem Kleineren die Hausaufgaben zu erklären. Sergio war in der Schule immer ein hoffnungsloser Fall gewesen und mehrmals sitzen geblieben. Er war zwar intelligent, aber einfach zu faul zum Lernen und mit einer grundsätzlichen Abneigung gegenüber Systemen und Regeln gesegnet. Rico hatte versucht seinem kleinen Bruder zu helfen aber der hatte seine Hilfe nie angenommen. Fast so wie Chris sich nicht von Alex helfen lassen wollte, aber wohl aus anderen Gründen. „Hey, Rico. Alles klar?“, fragte Chris und riss ihn so aus seinen Gedanken. „Klar. Hab wohl zu viel Kaffee getrunken“, antwortete Rico lächelnd und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Warum war er bloß so verdammt sensibel? Und warum sah Alex ihn schon wieder so skeptisch an? Der Kerl hatte es echt drauf, Leute zu durchschauen; sogar ihn, den Spion. „Na ja, ich muss jetzt leider schon wieder weg. Das war mein Chef eben am Telefon; ich soll sofort auf die Arbeit kommen. Der hat echt Nerven...“, sagte Chris seufzend, „Tut mir leid, dass ich abhauen muss. Ich hoffe wir sehen uns bald wieder“ Der letzte Satz war eindeutig an Rico gerichtet gewesen. „Das hoffe ich auch“, antwortete dieser grinsend. Chris verabschiedete sich von seinem Bruder und verschwand eilig in Richtung seines Autos. „So war das irgendwie nicht geplant“, murmelte Alex kopfschüttelnd und sah ihm hinterher. Aufgrund mangelnder Beschäftigung ließen die Beiden sich in der Wartehalle des Flughafens nieder und versuchten die Zeit totzuschlagen. Es war immerhin nur noch eine Stunde bis ihr Flugzeug Richtung Heimat abhob, die würden sie auch noch irgendwie rumkriegen. Rico starrte schlecht gelaunt auf seine Schuhe und versuchte sich die Tatsache nicht anmerken zu lassen, dass er kurz vor einem Zusammenbruch stand. Es war eine schlechte Idee gewesen, hierher zu kommen; das hätte er wissen müssen. Er hatte die Sache mit Sergio offensichtlich noch kein bisschen überwunden, sonst würde ihm das alles nicht so nahe gehen. Seine eigene Empfindlichkeit machte ihn so wütend... „Was ist los mit dir?“, fragte Alex besorgt. Wieder dieser Blick. „Nichts“, antwortete Rico eine Spur zu unfreundlich, wie er fand. „Schon klar... Es ist wegen deinem Bruder, oder?“, fragte der Andere weiter. „Alex, bitte... Thema-Wechsel“, murmelte der Ältere bloß. „Wieso? Ist es so schlimm für dich? Du hast doch gestern noch gesagt, das wäre dir egal“ Wollte der ihn ärgern?, überlegte Rico. Dann kam er zu dem Schluss, dass dem wohl nicht so war. Der Mann nahm einfach alles wörtlich. „Du hast da glaub ich was falsch verstanden... Können wir dieses Gespräch nicht auf später verschieben? Ich will nicht unbedingt in der Öffentlichkeit einen Anfall kriegen“, erwiderte er und sah sich unauffällig um. „Geht klar... Tut mir leid“, meinte Alex und sah ihn schuldbewusst an. „Macht nichts“ Mit diesen Worten lehnte Rico sich zurück und beobachtete weiter die Leute, bis ihr Flug ausgerufen wurde und sie sich endlich auf den Heimweg machten. Sie sprachen kaum, doch als sie sich auf der Straße nach Hause befanden, ergriff Alex wieder die Initiative. Das war anscheinend seine Spezialität, obwohl er sonst eher zurückhaltend war. „Also, willst du jetzt über die Sache reden?“, fragte er. „Eigentlich gibt es nicht viel zu reden“, begann Rico, „Ich bin froh, dass du dich wieder mit deinem Bruder vertragen hast aber gleichzeitig macht es mich traurig, weil ich weiß, dass ich das nie tun werde“ Er sah aus dem Fenster auf das Meer und wartete ab, was der Andere dazu sagen würde. „Wenn dein Bruder noch hier wäre, würdest du dann versuchen dich mit ihm zu vertragen?“, fragte er. Rico wusste, worauf er hinauswollte. Er wollte wissen, ob er sich nicht mit Sergio vertragen konnte, weil der verschwunden war oder, weil er es nicht konnte. „Der Gedanke meinen Bruder wieder zu sehen löst bei mir eine ziemliche Mordlust aus. Ich hoffe, das beantwortet deine Frage... Er hat mir meine Zwillingsschwester weggenommen und reihenweise Menschen gequält, verletzt und wohl auch ermordet... Auch wenn ich es könnte, würde ich ihm nicht vergeben“, antwortete der Angesprochene. „Wie war er so, bevor er... halt, kriminell wurde?“, fragte Alex weiter. „Er war eine verlorene Seele, hoffnungslos verloren, und zwar von Anfang an. Schon als kleiner Junge war er kriminell und respektlos. Irgendwelche moralischen Werte waren ihm nicht beizubringen und... es hört sich vielleicht übertrieben an, aber er hatte einfach kein Gewissen. Alles was er hatte war sein Stolz, sein übergroßes Selbstwertgefühl, eine unbändige Zerstörungswut und einen rasenden Hass auf den Großteil der Menschheit und die Gesellschaft“, erzählte Rico. Das war so ungefähr die Zusammenfassung von Sergios Charakter und ein kurzer Einblick in das, was sein großer Bruder mit ihm erlebt hatte. „Nimm es mir nicht übel, aber habt ihr damals drüber nachgedacht, dass er vielleicht krank sein könnte?“, fragte Alex. „Und wie. Ich hab ihn persönlich zu allen möglichen Fachärzten geschleppt. Zu Psychologen und Neurologen und allen. Ich dachte, vielleicht ist er irgendwann mal auf den Kopf gefallen oder vielleicht ist er traumatisiert worden, durch die Streitereien unserer Eltern und so. Es gab die unterschiedlichsten Theorien, was ihm fehlen könnte aber am Ende haben sie ihn alle als komplett gesund eingestuft und gesagt, er hätte einfach eine sehr unmenschliche Persönlichkeit und wir sollten aufpassen, dass er nichts anstellt“ Rico erinnerte sich, wie enttäuscht er gewesen war, dass Sergio nicht krank war. Er hatte gehofft, dass ihm vielleicht endlich geholfen wurde, wenn sich herausstellte, dass er psychisch gestört war oder sonstiges. Und er fühlte sich schuldig. Er hatte Sergio schließlich erzogen und war für seine Entwicklung verantwortlich. Hatte er ihn zu diesem Unmenschen gemacht? Hatte er ihn vielleicht nicht genug geliebt oder war zu streng mit ihm gewesen? In der Tat hatte er nur einmal wie ein richtiger großer Bruder reagiert. Schaudernd erinnerte er sich daran... Sie betraten die psychologische Station der Klinik und gingen zum Sprechzimmer. Während sie warteten beobachtete Rico seinen 10-jährigen Bruder aus dem Augenwinkel. Sergio saß extrem gerade auf seinem Stuhl und zeigte außer Sturheit und Ablehnung keine Emotionen. Zu gern hätte Rico gewusst, wie er wirklich in diesem Moment fühlte. Hatte er Angst? Oder schämte er sich vielleicht? Fühlte er überhaupt irgendetwas? Rico nahm sich fest vor, ihn hier zu lassen, wenn es sein musste, egal ob er wollte, oder nicht. Gerade als er das gedacht hatte kam der Arzt herein und begann die Befragung seines voraussichtlich neuen Patienten. Irgendwann bat er Rico, kurz rauszugehen, damit er allein mit Sergio sprechen konnte. Der Junge wartete gespannt vor der Tür und als sie dann aufging hatte er sich gedanklich schon auf die nächste medizinische Zurückweisung eingestellt. „Ich werde deinen Bruder ab heute ein paar Tage hier behalten, zur Beobachtung. Dann wird sich entscheiden, ob er in Behandlung bleibt“, erklärte der Arzt. Rico freute sich; das war doch endlich mal ein Fortschritt. Aber dann sah Sergio ihn an und seine Freude verschwand. Er hatte diesen bettelnden Blick, den sein großer Bruder noch nie bei ihm gesehen hatte und er hatte offensichtlich Angst, auch das war etwas Neues. „Rico... por favor, no...“, flüsterte er kaum hörbar. Allen guten Vorsätzen zum Trotz gab der Angesprochene augenblicklich nach. „Muss er denn hier bleiben? Reicht es nicht, wenn wir jeden Tag vorbeikommen?“, fragte er schnell. „Das reicht leider nicht. Er muss auch nachts hier sein“, antwortete der Arzt. „Dann bleibe ich bei ihm“, sagte Rico entschlossen. Aber auch das ging nicht. Er versuchte mit dem Mann zu diskutieren aber der schob ihn einfach zur Tür raus. Das letzte, was er sah war, wie Sergio sich die Tränen aus den Augen wischte. Diesen Anblick würde er niemals vergessen. Irgendetwas zerbrach in seinem Herzen, als er den Kleinen so verloren und ängstlich dastehen sah und die Schuld überkam ihn wie eine Flutwelle... Rico hatte an diesem Tag die Klinik mit einer seltsamen Vorahnung verlassen und er sollte Recht behalten. Als er Sergio am nächsten Tag besuchte war der Junge seltsam teilnahmslos und starrte die meiste Zeit nur ins Leere. Außerdem war er leichenblass und sehr erschöpft. Dieser Zustand verschlimmerte sich in den folgenden Tagen. Rico fand heraus, dass sie ihn schon am ersten Abend unter Drogen gesetzt hatten, um ihn ruhig zu stellen, weil er anscheinend ein bisschen wütend geworden war. Sofort rief er seine Mutter an, die Sergios Entlassung aus der Klinik anordnete. Und das war die einzige medizinische Behandlung, die sein Bruder jemals bekommen hatte. Danach wurde er noch schlimmer und richtete seinen Hass immer öfter gegen seine eigene Familie, besonders gegen Rico. Damals war er endgültig verloren gegangen. Nach ihrem Ausflug nach Prag verbrachten Rico und Alex immer mehr Zeit miteinander. Sie gingen zusammen Surfen und besuchten sich gegenseitig, wenn sie grade Zeit hatten. Auch ihre Familien verstanden sich gut, besonders Cristina und Erik. In dieser Zeit fiel Rico auf, dass er sich in Alex zu seinem Glück wohl nicht getäuscht hatte. Er war zuverlässig und man konnte ihm trauen. Außerdem verstand er auch die seltsamsten Ansichten und zeigte bei den unvermeidbaren Diskussionen mit Rico extrem viel Geduld. Er sprach normalerweise nicht besonders viel aber wenn er etwas sagte, meinte er es auch so. Im Großen und Ganzen war er eher zurückhaltend und meistens entspannt, was dazu führte, dass er eigentlich dauernd die Zeit vergaß. Man konnte Alex kurz gesagt als seltsamen aber liebenswerten Typen bezeichnen. Außerdem war er ziemlich intellektuell, weil er einen Großteil seiner Zeit nicht nur mit dem Lesen, sondern auch mit dem Schreiben von Büchern verbrachte. Rico hatte einige seiner Arbeiten gelesen und war schwer beeindruckt. Es waren teilweise recht philosophische Abhandlungen über den Sinn des Lebens und über menschliche Gefühle, die in Kurzgeschichten verpackt waren aber er arbeitete auch an einem Krimi und einem Roman über eine seltsame Familie und deren Geschichte. Seine Werke waren kein Mainstream aber auch nicht so seltsam, dass es kein Mensch lesen würde. Sie waren inspirierend und brachten den Leser dazu, nachzudenken und ein paar grundlegende Dinge in Frage zu stellen. Sollten diese Geschichten jemals veröffentlicht werden, hatte er eine große Zukunft vor sich. Wie er Rico erzählte verband ihn auch das Schreiben mit seiner Frau Ella, obwohl die, im Gegensatz zu ihm, ihre Arbeiten direkt veröffentlichte, denn sie war für viele dieser Geschichten verantwortlich, die man so in Frauenzeitschriften fand. Es war ein bisschen wie bei Rico und Myriam, wobei es bei ihnen die Kunst war, die sie auf eine seltsame Art und Weise verband und praktisch auch zusammengebracht hatte. Das klang fast wie ein weiterer Beweis, dass nichts im Leben zufällig geschah. Kapitel 9: Ein beunruhigender Wandel ------------------------------------ Als Rico wieder arbeiten gehen konnte fand er, dass es dafür so langsam echt mal wieder Zeit wurde. Er merkte erst wenn er gezwungen war daheim zu bleiben, wie sehr ihm das ständige Reisen fehlte. Die Menschen, die ihr gesamtes Leben an einem Ort verbrachten waren ihm echt ein Rätsel. Wie konnte man das aushalten? Jeden Tag dasselbe, immer die selben Menschen, die selbe Aussicht aus dem Fenster, die selben täglichen Aktivitäten... Diese Lebensweise war ihm vollkommen unverständlich. Apropos unverständlich: Der Dienstplan war auf rätselhafte Weise in letzter Sekunde geändert worden. Ursprünglich sollte Paddy mit ihm fliegen aber der war einfach nicht aufgetaucht. Sowieso wusste keiner, wo er abgeblieben war und alle verzweifelten Versuche ihn zu erreichen, waren kläglich gescheitert. Er war zwar noch nie besonders zuverlässig gewesen aber so etwas machte er normalerweise nicht. Rico machte sich Sorgen um seinen langjährigen besten Freund. Er wusste, dass Paddy unter schwersten Depressionen litt, die oft noch schlimmer waren als seine eigenen oder die von Matteo und er wusste auch, was passieren konnte, wenn man ihn in diesem Zustand allein ließ. Einmal war er auch eine Zeit lang von der Bildfläche verschwunden und als Rico schließlich krank vor Sorge in seine Wohnung eingebrochen war, hatte er ihn vollkommen verstört und körperlich am Ende vorgefunden. Er hatte sich in einem Anfall von Paranoia, ausgelöst durch Fieberfantasien, eine Woche im Bad eingeschlossen und nur von Wasser gelebt. Wenn sein Freund nicht noch rechtzeitig gekommen wäre, dann würde er sicherlich nicht mehr unter den Lebenden weilen. Auch jetzt war er wieder so in der Versenkung verschwunden. „Als ich ihn das letzte Mal gesehen hab, sah er gar nicht gut aus“, meinte einer der anderen Piloten. „Ja, der ist hier rumgelaufen wie der wandelnde Tod. Vielleicht solltest du mal nach ihm sehen“, fügte eine der Stewardessen hinzu. „Das werde ich tun“, antwortete Rico und ging zu dem Mann, der für den Dienstplan verantwortlich war und ließ sich zum nächstmöglichen Zeitpunkt für einen Flug nach Deutschland eintragen. Als er einige Tage später vor Paddys Wohnungstür stand zögerte er kurz, bevor er klingelte. Was würde er zu ihm sagen? Man musste immer vorsichtig sein, was man sagte, denn Paddy war sehr sensibel und sein Selbstbewusstsein tendierte Richtung Null. Wenn er jetzt nicht aufpasste würde er wieder einen paranoiden Anfall auslösen, denn der Andere würde glauben, dass er ihn ausspionierte und dann würde wieder irgendetwas Dummes und Gefährliches passieren. Einmal war Paddy aus dem Fenster der Pilotenschule gesprungen, weil er glaubte er würde verfolgt. Zu seinem Glück war es nur der erste Stock gewesen und unter dem Fenster befand sich eine Hecke, die den Sturz abfing. Außerdem machte Rico sich Sorgen, in welchem Zustand sein Freund sein würde. Paddy war unberechenbar, wenn er in seiner depressiven Phase steckte. Vielleicht würde er Rico nichtmal erkennen, was nicht zum ersten Mal passieren würde. Womöglich würde er ihn angreifen oder vielleicht würde er flüchten... Dieses ganze Nachdenken nützte doch nichts. Er konnte es sowieso erst herausfinden, wenn er vor ihm stand. Kurz entschlossen drückte Rico auf den Klingelknopf und wartete. Nichts geschah und so klingelte er noch einmal. Als sich weiterhin nichts tat probierte er einfach mal, ob die Tür abgeschlossen war. Und, oh Wunder, sie öffnete sich sofort als er dagegen drückte. Vorsichtig trat er ein und erschrak erstmal über den Zustand der Wohnung. Der Flur war wahllos vollgestellt mit Möbeln, die wohl ursprünglich ins Wohnzimmer gehörten; durch die offene Küchentür erblickte er den wohl unordentlichsten Raum, den er jemals gesehen hatte und musste den Drang unterdrücken, dort mal ordentlich zu putzen. Er war ja selbst kein Freund von Ordnung aber so weit ließ er es niemals kommen. Am Ende des Flurs befand sich das Schlafzimmer. Auch dort stand die Tür offen. Es sah aus als hätte vor Kurzem jemand ziellos darin gewütet. Außerdem, seit wann war Paddys Schlafzimmer komplett schwarz? Klar, der Junge hatte eine Vorliebe für diese Farbe aber er hatte diese Wohnung doch nicht eingerichtet. Das waren seine jüngeren Schwestern Ciara und Rachel gewesen, die beide eine Schwäche für bunt hatten. Rico bahnte sich seinen Weg zwischen den Möbeln durch, um ins Wohnzimmer zu schauen. Wie erstarrt blieb er vor der Tür stehen. Was war das?! Die Wände waren schwarz-rot angestrichen und mit seltsamen Bildern und Symbolen behängt, es gab kaum noch Möbel, alles war mit schwarzen Kerzen zugestellt und eine Art Altar war in der Mitte aufgebaut worden. Der Boden war mit einem riesigen Kreide-Pentagramm und weiteren Symbolen bemalt, mit bekannten und weniger bekannten Teufelssymbolen. Um den Altar herum befanden sich verdächtig aussehende rote Flecken und ein blutiges Messer lag darauf. Stolpernd flüchtete Rico aus dieser Horror-Wohnung, die direkt aus seinen Albträumen zu kommen schien. Warum tat Paddy das? Welche Wahnvorstellung hatte jetzt von ihm Besitz ergriffen? Und war ihm überhaupt klar, was er da tat? Er hatte schon immer eine Vorliebe für die dunkle Seite gehabt aber, dass es so weit kommen würde hätte Rico nie geglaubt. Gerade weil der Junge sich so gut mit dem Okkultismus auskannte hatte er sich dem nie zugewandt. Er wusste, welche Gefahren sich hinter Teufelsanbetungen und Beschwörungen verbergen konnten. Man sagte immer, es funktioniert nur, wenn man dran glaubt und Paddy glaubte dran. Seine leibliche Mutter, die Professorin für Okkultismus an einer irischen Universität war, hatte ihre Kinder zu Lebzeiten sehr spirituell erzogen. Irische Mythen waren bei den O´Brians die bevorzugten Gute-Nacht-Geschichten gewesen und im ganzen Haus befanden sich haufenweise Bücher zu diesem Thema. Diese Büchersammlung war das Einzige, was Paddy und seinen drei Geschwistern von den Eltern geblieben war. Sie starben beide bei einem schweren Orkan, als ihr Haus überflutet wurde. Wie es genau passiert war wollte Paddy niemals erzählen. Er war damals erst sechs Jahre alt, sein Bruder Shane gerade acht. Die beiden Schwestern waren noch sehr klein und konnten sich daher an nichts mehr richtig erinnern, vor allem Ciara nicht, die damals noch ein Baby war. Doch nichtmal ihnen hatten Paddy und Shane jemals erzählt, wie ihre Eltern zu Tode gekommen waren. Rico vermutete, dass sie sich geopfert hatten, denn man fand die Kinder in einem kleinen Zimmer, in dem unmöglich auch die Eltern noch Platz gefunden hätten, und das der einzige Raum im ganzen Haus war, der nicht verwüstet war. Es war eine Art Schutzraum, der leider nur auf zwei Erwachsene und ein Kind ausgelegt war. An seinen Wänden, innen und außen fanden sich Schutzsymbole, die die Mutter wohl noch kurz vor dem Sturm angebracht hatte. Deshalb war Paddy bis heute davon überzeugt, dass ihnen eine übernatürliche Macht das Leben gerettet hatte. Auch die Adoption durch ein deutsches Ehepaar schrieb er den Mächten „von oben“ zu und seine Begegnung mit Rico, der in der Nachbarschaft wohnte und später sein Babysitter und bester Freund wurde, bezeichnete er als „Schicksal“. Warum also war er jetzt plötzlich den dunklen Mächten verfallen? Wer hatte ihm wieder irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt? Gerade als er das dachte bemerkte Rico, dass er immer noch vor dem Haus stand und ziemlich durchgeknallt wirken musste. Mittlerweile dämmerte es schon und er sah wohl nicht gerade vertrauenserweckend aus in seinem langen schwarzen Mantel. Er überquerte die Straße und stellte sich auf der anderen Seite hinter eine Hausecke, von wo aus er problemlos den Eingang beobachten konnte. Zwei Minuten später kam eine junge Frau die Straße entlang und blieb einen Moment lang unentschlossen vor dem Haus stehen, bis sie sich überlegte reinzugehen. Täuschte er sich oder war das Catherine, Paddys Freundin? Er folgte ihr und begegnete ihr im Treppenhaus wieder, wo sie ihn sofort erkannte. „Du warst in seiner Wohnung, oder?“, fragte sie mit forschendem Blick. „Das war ich. Dann weißt du also, was er da treibt“, antwortete er und verdächtigte sie einen Moment lang sogar, daran schuld zu sein. „Du meinst die schwarzen Wände und die Teufelsanbetung? Ich war dabei als es anfing... allerdings hatte ich keine Ahnung, dass es so dermaßen ausarten würde. Zuerst dachte ich es wäre mal wieder eine von seinen verrückten Launen, alles schwarz zu streichen, aber als er dann mit so einer Satansbibel kam wusste ich, dass er es ernst meint... Ich hab versucht ihn davon abzubringen aber er hat mir nicht zugehört und mich schließlich rausgeworfen... Der Mann ist vollkommen besessen von irgendetwas, einer Wahnvorstellung oder so“, erklärte Catherine und lehnte sich seufzend gegen das Treppengeländer. „Welche Art von Wahnvorstellung?“, fragte Rico angespannt. Wenn er das wusste, konnte er womöglich helfen. „Irgendwas mit seinen Eltern, glaube ich... Bitte, wenn jemand ihn retten kann, dann bist du das“, sagte sie flehend. Er war nicht überrascht von diesen neuen Informationen. Paddy hatte den Verlust seiner Eltern bis heute nicht überwunden und hatte als Kind schon versucht ihre Geister beim Gläserrücken heraufzubeschwören. Jetzt war er einen Schritt weitergegangen. Catherine hatte die Situation erfasst; Patrick war besessen davon, die Beiden wieder zu sehen. „Weißt du, wie er zu dieser Vorstellung kommt? Hat er in letzter Zeit vielleicht mit irgendwelchen seltsamen Leuten zu tun gehabt?“, fragte Rico hoffnungsvoll. „Also, ich habe keinen von denen jemals kennen gelernt aber es gab da wohl einige... Sie hatten ziemlich komische Namen und einen von ihnen nannte er aus Versehen einmal den „Meister“... Sie haben sich am Anfang nur mittwochs und samstags getroffen aber später eigentlich jeden Tag. Tatsächlich müssten sie grade bei einem Treffen sein“, sagte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. „Du weißt nicht zufällig, wo?“, fragte Rico weiter aber diesmal schüttelte sie den Kopf. „Wir könnten warten, bis er wiederkommt. Also, nur wenn du Zeit hast...“, meinte sie und begann, die Treppen wieder hinaufzusteigen. „Ja, ich hab zur Not bis übermorgen Zeit“, sagte Rico und folgte ihr. Sie kamen bei der Wohnungstür an. „Wenn er uns sieht, haut er bestimmt ab“, sagte Catherine fast schon verzweifelt. „Dann solltest du hier oben warten und ich unten. Ich stell mich in 'ne Ecke und wenn er dann wieder runterkommt halte ich ihn auf“, entgegnete er und machte sich auf den Weg. Jetzt mussten sie nur noch warten. Eine unbestimmte Zeit später hörte Rico die Haustür. Er schaute aus der Nische hervor und beobachtete Paddy, der durch den Flur schwankte. Er war furchtbar blass und schien gegen seinen Schwindel kaum noch anzukommen. Wacklig machte er sich auf den Weg nach oben und Rico schlich hinterher. In diesem Zustand würde er ihnen wohl sowieso nicht weglaufen. Angespannt wartete der Ältere auf der Treppe, bis Paddy seine Wohnung erreicht hatte. Plötzlich rief Catherine seinen Namen und sie hörte sich sehr erschrocken an. Alarmiert eilte er die restlichen Stufen hinauf und durch den Flur. Paddy saß kraftlos an die Wand gelehnt neben der Tür und seine Freundin kniete besorgt vor ihm. Aus seinem Ärmel sickerte Blut auf den sauberen Holzboden und er sah aus als würde er gleich vollends umkippen. Catherine wirkte total hilflos, wie sie da hockte und ängstlich zwischen den beiden Männern hin und her sah. Rico ließ sich auch auf dem Boden nieder und brachte Paddy dazu, ihn anzusehen. Seine blau-grauen Augen waren wie von Fieber verschleiert. „Hey, Kleiner. Wir kriegen das schon wieder hin... Stirb jetzt bloß nicht weg... Catherine, ruf einen Krankenwagen“, sagte der Größere und versuchte ruhig zu bleiben. „Nein... nicht ins Krankenhaus...“, flüsterte Paddy bettelnd und klammerte sich in seinen Mantel. „Aber...“, begann Catherine, die unentschlossen mit ihrem Handy spielte. „Bitte... ich flehe euch an... kein Krankenhaus...“, sagte der Junge und ihm kamen die Tränen. „Gut, dann nicht. Komm schon, steh auf... wir müssen reingehen“, sagte Rico, während er seinem Freund auf die Beine half und ihn in die Wohnung schleppte. In der Zwischenzeit war Catherine ins Bad geeilt und hatte den Verbandskasten geholt. Mit vereinten Kräften legten sie Paddy auf die Couch, die im Flur geparkt war und Rico zog seinen Ärmel nach oben, um sich die Verletzungen anzusehen. Er wich kaum merklich zurück, als er die blutenden Schnitte entdeckte, die über seinen gesamten rechten Arm verliefen. Einige von ihnen waren zentimeterbreit und hätten definitiv genäht werden müssen. Seine eigenen Narben waren nichts dagegen, dachte Rico, während er vorsichtig die Wunden versorgte, die nicht nur neueren Ursprungs waren. Paddy gab die ganze Zeit keinen Ton von sich. Er blickte nur verbissen an die Decke und schien mit sich selbst zu kämpfen. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sich sicher gegen die Hilfe seines Freundes gewehrt. Paddy ließ sich offiziell nie gern helfen, dazu war er einfach zu stolz. Aber manchmal konnte man in seinen Augen sehen, dass er insgeheim hoffte, dass ihm jemand zu Hilfe kam. Schon als Kind war er unglaublich sensibel und verletzlich gewesen, was wohl auch auf den Verlust seiner Eltern zurückzuführen war. Aber aus lauter Sturheit hatte er nie zugegeben, dass ihn das alles so sehr mitnahm. Für ihn war das ein Zeichen von Schwäche und er fürchtete sich vor seiner eigenen Schwäche. Und jetzt gerade lag er, so schwach wie er nur sein konnte, vor seinem zur Teufelsanbetung gedachten Wohnzimmer auf der Couch. Es brach Rico das Herz, ihn so zu sehen. So tief unten war er noch nie gewesen. Und auch der Grund für all das hier war zum verzweifeln. Obwohl der genaue Grund möglicherweise ein ganz anderer war, als sie annahmen. „Wie fühlst du dich?“, fragte Rico, als er Paddy fertig verarztet hatte. „Eigentlich ziemlich scheiße“, antwortete der Liegende und versuchte zu lächeln, was ihm nicht gelang. „Du solltest dich ausruhen und so“, meinte sein Freund besorgt und überlegte, was er sonst noch für seinen Patienten tun konnte. „Ich bin aber nicht müde... Ich hab bloß Durst“, widersprach Paddy und Catherine eilte sofort in die chaotische Küche, um ihm etwas zum Trinken zu besorgen. „Was hast du da bloß wieder angestellt?“, fragte Rico und strich dem Kleineren seufzend die blonden Haare aus der Stirn. „Ich kann nicht drüber reden... Versuch erst gar nicht, mich danach zu fragen“, sagte Paddy. „Warum nicht?“, fragte der Andere weiter. „Es ist ein Geheimnis... Du wirst schon noch früh genug davon erfahren, denn bald ist es vorbei... Wir mussten viele Opfer bringen aber es hat sich gelohnt“, antwortete sein Freund in mysteriösem Ton. „Opfer im Sinne von... Blutopfer?“, fragte Catherine, die mit einem Glas Wasser in der Hand wieder in den Flur kam. „Ja, auch Blutopfer. Aber mehr kann ich euch nicht verraten. Habt noch ein bisschen Geduld...“ Das war das Letzte, was er ihnen erzählte. Danach bekamen sie kein weiteres Wort aus ihm heraus. Und so mussten sie wohl oder übel warten, bis es „vorbei“ war. ------------------------------------ Mit diesem Kapitel verabschiede ich mich in die Winterpause. Ich werde irgendwann im Januar dann wieder unter die Lebenden zurückkehren. Frohe Weihnachten! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)