Emo(tions)gesteuert von Tharaia (Und am Ende bleibt immer die Frage: Warum?) ================================================================================ Prolog: Abschied ---------------- Leise weinend saß ich im Flieger auf meinem Platz und starrte durch das Fenster hinunter auf die Wolken. Gerade war unter uns meine Heimat aus meinem Blickfeld verschwunden. Der Fernsehbildschirm über dem Gang, der die Flugroute anzeigte, machte deutlich, dass wir gerade angefangen hatten, den Atlantischen Ozean zu überqueren. Ich zog die Nase hoch und fischte das Foto aus meinem Rucksack, das mir Griffin, mein bester Freund, noch zugesteckt hatte, bevor ich in die Maschine gestiegen war. Es zeigte uns beide am Strand von Miami, breit grinsend und mit ziemlich verknoteten Gliedmaßen im Sand liegend. Wir hatten uns gebalgt, spaßeshalber, ohne Grund, einfach so. Vor einem halben Jahr, als wir beide noch glaubten, nichts könnte uns trennen, nicht einmal der anstehende Wechsel aufs College. Aber jetzt würde ich niemals auf ein College gehen. Und Griff wahrscheinlich nie wieder sehen. Salzige Tropfen fielen aus meinen Augen auf das Foto, ich wischte sie schnell weg, bevor sie das wertvolle Erinnerungsstück beschädigen konnten. Es wunderte mich sowieso, dass ich noch Tränen übrig hatte. Denn Griff und ich hatten am Flughafen geheult wie zwei Schlosshunde und uns gegenseitig die T-Shirts getränkt. Dass uns jede Menge Leute angestarrt hatten, war uns so ziemlich egal gewesen. Wir waren so was gewohnt. Ich meine, wie viele Jungs liefen Händchen haltend durch die Straßen? Seufzend sah ich zu May hinüber. Meine Mutter hatte eine Schlafmaske auf und schnarchte leise. Ich lächelte. Die hatte wohl keine Probleme damit, um die halbe Welt zu ziehen. Na ja, sie hatte es ja schon mal gemacht. Eigentlich flog sie heute nach Hause. Nach dreiundzwanzig Jahren zum ersten Mal. Ich zwang mich, ein Schluchzen zu unterdrücken und kniff stattdessen seufzend die Augen zu. Warum musste auch ausgerechnet jetzt das alles passieren? Warum musste meine Tante, wenn sie schon all die Jahre trotz Lungenkrebs fröhlich vor sich hin gelebt hatte, plötzlich sterben? Und warum musste sie in ihr verdammtes Testament schreiben, dass sie ihrer Schwester – meiner Mutter – ihr Haus vermachte und sich wünschte, sie würde dort wohnen und sich wieder mit ihren Eltern versöhnen? Und warum, gottverdammt, glaubte meine Mutter auch noch, dass das eine gute Idee war und sie der Bitte unbedingt Folge leisten musste? Die letzten dreiundzwanzig Jahre hatte sie doch ihrer Familie, vor der sie mit Achtzehn in die Staaten geflüchtet war, nicht einmal einen Brief schreiben wollen, von einem Anruf oder einem Besuch ganz zu schweigen! Und jetzt wollte sie plötzlich wieder zu ihnen ziehen? Ich stöhnte entnervt. Versteh einer die Frauen. Mein Blick fiel auf das Foto, das ich noch immer in der Hand hielt. Lächelnd strich ich die Konturen von Griffs Grinsen nach, das so ansteckend war, bevor ich das Foto umdrehte. „Hey Lio, Don’t take things so seriously, you’ll be happy sooner than you can imagine, I swear! I won’t say, don’t cry, cause your eyes are so beautiful when filled with tears. But you’re much prettier with a BIG smile on your face! So make sure you get something to laugh soon as possible. And you know I believe in dreams, so we have to see us again one day, cause that’s all I’ll dream of from now on! And I’ll send you a terrorist that bombs you out of your house if you won’t phone me! I love ya, Griff” Ich hatte keine Ahnung, wie oft ich diesen kleinen Brief in der letzten halben Stunde, die wir jetzt schon getrennt waren, gelesen hatte. Aber er trieb mir auch jetzt wieder die Tränen in die Augen. Und während ich mich immer weiter von meinem alten Leben entfernte, mein Herz vor Angst und Trennungsschmerz sich bis auf Erbsengröße zusammenzog, blieb in meinem Kopf nur eine Frage übrig. Warum? ~~~ Bevor irgendwer irgendetwas dazu schreibt: Mir ist durchaus bewusst, dass die englische Grammatik in Griffs 'Brief' nicht völlig korrekt ist. Aber das ist sogenanntes colloquial English, Umgangssprache. Unsere Umgangssprache ist auch nicht grammatikalisch korrekt. Und dieses Mal hab ich sogar schon fertige Charaktersteckbriefe UND ne komplette Storyline in meinem Ideen-sammel-Block. Nur nicht wirklich ne Ahnung vom Inneren der Emo-Szene... ich kenn zu wenig echte. Aber genau das reizt mich auch irgendwie OwO Kapitel 1: Neue Heimat ---------------------- „Schaaaatz! Wir sind da, mach die Augen auf!“ Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken und ich hob eher widerwillig meine Lider an. Schon als wir am Flughafen in Frankfurt gelandet waren, hatte ich gewusst, dass es mir hier nicht gefallen würde. Der Himmel war grau, alles voller Wolken und generell völlig anders als mein geliebtes Florida. Es gab keine Palmen, die Stadt wirkte total kalt und abstoßend und überhaupt waren alle Leute, denen wir bisher begegnet waren (okay, es waren nicht viele, nur Flugpersonal und unser Taxifahrer), furchtbar unfreundlich. Von wegen berühmte deutsche Gastfreundschaft. Ich hatte davon noch nichts gemerkt. Ich hatte vor unserer Abreise sogar einen Blick in den Atlas geworfen und herausgefunden, dass Deutschland nur einen winzigen Küstenstreifen hatte, und den auch noch ganz oben im Norden. Keine Chance auf Surfen nach der Schule oder abends nach dem Shoppingtrip zwischen den ganzen Tüten im Sand zu sitzen und die Sonne im Meer versinken zu sehen. Ich wusste jetzt schon, dass ich meine neue Heimat hassen würde. Als ich nun, da das Taxi wohl endgültig gehalten hatte, langsam die Augen aufschlug, war mir sofort klar, dass ich meine Meinung nicht ändern würde. Mein Blick erfasste zwei lange Reihen von weiß verputzten, absolut gleich aussehenden Reihenhäusern, ein winziger Vorgarten vor der Tür und den Jägerzaun zwischen sich und der großen, bösen Welt. Alles hier schrie förmlich nach bravem Bürgertum. Und hier sollte ich leben? „Und? Ist es nicht umwerfend?“ Meine Mutter strahlte mich an, als hätte sie die Hiroshima-Bombe verschluckt. Ich murrte nur und sah sie skeptisch an. „Ich mag’s nicht. Können wir nicht wieder nach Hause?“ Aber sie rannte nur enthusiastisch mit einem Schlüssel wedelnd auf die Eingangstür von Nummer 27 zu, die genauso aussah, wie alle anderen auch. Von dem Fehlen von irgendwelchem dämlichen Türschmuck, der stark nach Kindergartenarbeit aussah, mal abgesehen. „Warte nur, bis du den Garten siehst!“ Garten? Was interessierte mich ein verdammter Garten?! Ich wollte meine Freunde zurück! Meine vertraute Umgebung! Aber mir wurde jetzt so einiges klar. Ein Garten. Mum und ihr Pflanzentick hatten da wohl den Ausschlag zum Umzug gegeben. Sie hatte schon immer einen eigenen Garten haben wollen. Aber hätten wir dann nicht auch in einen Bungalow in einem Vorort von Miami ziehen können, statt in das dämliche Reihenhaus ihrer toten Schwester auf einem völlig anderen Kontinent? Seufzend betrat ich hinter ihr das Haus. Die sich bewegende Gardine von Gegenüber hatte ich dabei sehr wohl bemerkt. Also nicht nur Bürger, sondern auch noch Spanner. Das wurde ja immer besser. Und woher kam bloß diese dämliche Gewissheit, dass ich für die nächsten Monate DAS Klatschthema hier in der Gegend sein würde? Vorausgesetzt, ich hielt es überhaupt so lange hier aus. Eigentlich schien das Haus von innen gar nicht so übel zu sein, es war auf jeden Fall viel solider gebaut als die alte Mietskaserne, in der wir in Miami gewohnt hatten. Und die Wände machen einen sehr dicken Eindruck, was mir das erste Lächeln für diesen Tag auf die Lippen zauberte. Keine Beschwerden mehr von Nachbarn, wenn ich mitten in der Nacht auf die Idee kam, Gitarre spielen zu wollen! Ein Traum! Nun doch neugierig geworden inspizierte ich den Flur, doch der gab von einer großen Garderobe und einem noch größeren Garberobenspiegel abgesehen nicht viel her. Da war das Wohnzimmer doch schon wesentlich interessanter. Meine Familie hatte ich eigentlich nie wirklich kennen gelernt, deshalb hatte ich auch keine Ahnung, wie meine Tante wohl so draufgewesen war. Wahrscheinlich hatte sie noch nicht mal gewusst, dass es mich gibt, denn gefunden hat uns erst ihr Notar, und auch das war wohl nicht einfach gewesen, denn immerhin hatte Mum zwischendurch mal geheiratet und deshalb einen amerikanischen Nachnamen. Die Betrachtung der Möbel im Wohnzimmer ließ jedenfalls erahnen, dass Tantchens Konto nicht allzu dick gewesen sein mochte, denn sie sahen sehr stark nach den Billigprodukten von IKEA aus. Zwar etwas persönlich gestaltet, aber nichtsdestotrotz eindeutig schwedischer Möbelramsch. Ein paar helle Flecken an den Wänden zeigten, dass hier Bilder abgehängt worden waren. Da hatte unsere liebe Familie wohl schon geplündert. Mum beweinte derweil einen eingetrockneten Benjamin ficus, der auf der Fensterbank stand und wohl – im Gegensatz zu den Bildern – nicht gerettet worden war. „Hier muss doch irgendwo eine Gießkanne sein…“, murmelte sie und verschwand in der Küche. Ich beschloss, mir die oberen Stockwerke anzusehen, denn wenn Mum eine Pflanzen-Rettungsaktion startete, stand man ihr am besten nicht im Weg herum. Der erste Stock offenbarte ein rot tapeziertes Schlafzimmer, einen Raum, der bis auf einen gigantischen Schreibtisch völlig leer war und ein Bad mit wunderschönen weißen Kacheln, in denen ich ein Muschelmuster zu erkennen glaubte. Und noch eins höher gab es nur noch zwei Türen. Und an beiden klebte ein Zettel, auf dem Lio’s realm draufstand. Verwundert hob ich die Augenbrauen. Ich bekam zwei Zimmer? Ich öffnete zuerst die linke Tür und lugte hinein. Was ich sah, raubte mir den Atem. Das Zimmer war bis auf eine Matratze auf dem Boden zwar gänzlich leer und mit einer schrecklich geschmacklosen Blümchentapete versehen, aber so riesig! Bestimmt gut doppelt so groß wie das Kämmerchen, das ich in Miami bewohnt hatte. Eine Dachgaube mit großer Fensterfront machte das Zimmer hell und irgendwie einladend. Der Blick ging direkt auf Mums heißgeliebten Garten hinunter. Ich strahlte. Wenn in diesem verdammten Land mal die Sonne schien, wäre es hier drin bestimmt richtig schön. Vor allem, wenn man diese schreckliche Tapete loswurde und mit ein bisschen gelber Farbe nachhalf. Ich hatte schon eine ungefähre Ahnung, womit ich die restlichen zwei Wochen Ferien, die mir laut den Schulunterlagen, die man uns in die USA geschickt hatte, noch blieben, verbringen würde. Aber da war ja noch das zweite Zimmer… Zögernd drückte ich die Tür auf und erwartete irgendwie, auf eine Art Abstellkammer oder so etwas zu stoßen, doch… Fehlanzeige. Mir quollen die Augen über. Ja, klar, auch hier sollte man optisch ein wenig was tun, aber DAS war ja mal zu geil! „MUM!“, schrie ich und stürzte die Treppen nach unten. „Ist das dein Ernst? Ich krieg ein eigenes Bad?“ Sie stand, eine kleine Gießkanne in der Hand, lächelnd im Wohnzimmer und bewässerte das bedauernswerte Bäumchen auf der Fensterbank. „Na, irgendwas Gutes musste ich dir doch tun. Außerdem kriegen wir uns dann morgens beim Duschen nicht mehr in die Haare…“, meinte sie und sah mich leicht schuldbewusst an. Ich war gerade nicht in der Lage, zu bemerken, dass sie anscheinend doch eine gewisse Vorstellung davon hatte, was sie mir mit dem Umzug angetan hatte, und fiel ihr bis über beide Ohren strahlend um den Hals. „Danke, Mum! Du bist die Beste!“ Sie tätschelte mir etwas unsicher den Rücken. „Nana, jetzt übertreib mal nicht…“ Aber ich konnte genau spüren, wie sehr sie sich doch darüber freute, dass mir wenigstens irgendetwas am Umzug gefiel. Und ich war irgendwie froh, ihr diese Freude machen zu können, ohne ihr etwas vorzulügen. Ich hasste Lügen. Und konnte es nicht besonders gut. Das Räuspern des Taxifahrers riss uns aus unserer Zweisamkeit. „Entschuldigung, aber Sie haben noch Taschen bei mir im Wagen…“ „Ich hol sie.“, sagte ich zu Mum, und folgte dem Fahrer mit einem aufmunternden Nicken. Zwei Stunden später saß ich mit meiner geliebten Les Paul auf den drei Stufen, die zur Eingangstür des Reihenhauses hoch führten, das ab sofort mein Zuhause sein sollte. Der weiße Lack der E-Gitarre glänzte im Licht der untergehenden Sonne, und die Marlboro Light, die ich zwischen den Lippen stecken hatte, glühte orangerot auf, als ich an ihr zog. Sanft glitten meine Finger über die Saiten und entlockten dem Instrument leise, aber für eine Gitarre ohne Klangkörper erstaunlich klare Töne. Der Verstärker war noch nicht da, der würde erst mit dem ganzen Rest aus dem Frachtflugzeug kommen. Aber meinem Schätzchen hatte ich eine andere Position als die des Handgepäcks einfach nicht zumuten können. Fast schon automatisch griff meine linke Hand die Akkorde für Backyard Babies’ „Minus Celsius“. Der Song passte einfach gerade wie die Faust aufs Auge. Mir war arschkalt, denn ich war keine Temperaturen unter 23° Celsius gewöhnt, und man hatte mir erzählt, dass Deutschland solche Werte gerade mal im Hochsommer erreichte. Ich musste dringend bald warme Pullover kaufen gehen, davon besaß ich nämlich nur einen einzigen. Und wenn ich nicht bald mehr hatte, würde ich garantiert in diesem schrecklich frostigen Klima erfrieren. Und außerdem war ich noch immer ein kleines bisschen wütend auf meine Mutter. Aber nur ein bisschen. Immerhin hatte sie viele Umstände mit dem tollen Zimmer und dem eigenen Bad wieder gut gemacht. Außerdem hatte sie mir vorhin, als wir die Möbel durchgesehen hatten, die noch von meiner Tante waren, und die Brauchbaren rausgelesen hatten, versprochen, dass ich mir die Einrichtung für meine Zimmer komplett selbst aussuchen dürfte. Und sie würde es bezahlen. Bei der Gelegenheit hatte sie mir auch gleich einen weiteren Grund für den Umzug offenbart: Irgendein großer deutscher Verlag hatte die Rechte für ihre sämtlichen Bücher gekauft und ließ sie jetzt gerade übersetzen, um damit den Weihnachtsmarkt zu überschwemmen. Großes Marketing, großer Profit. Und für uns etwas mehr Geld in der Tasche. Meine Mutter schrieb nämlich Romane. Für Kinder. Irgendwelcher Mist mit Titeln wie „The Strawberryfairy“ oder so. Wie das dann wohl auf Deutsch hieß? „Die Erdbeerfee“? Um Himmels Willen! Ich verstand wirklich nicht, wie man solche Bücher lesen konnte. Ich tat’s jedenfalls nicht. Aber irgendwer musste es tun, sonst wären wir schon längst verhungert. Leise die Melodie vor mich hinsummend drückte ich die Zigarette auf einer der Stufen aus und widmete mich ganz der Gitarre. Dass ich mittlerweile aus drei Häusern heraus beobachtet wurde, war mir bewusst. Aber was soll’s. Ich war es gewohnt, angestarrt zu werden, auch wenn ich es nicht unbedingt mochte. Verbieten konnte ich es den Leuten nicht, und verhindern erst recht nicht. Für sie war ein männlicher Teenager, der mit seiner Mutter eine fremde Sprache sprach, seelenruhig rauchte, obwohl er zu jung dafür war und in aller Öffentlichkeit ein Instrument spielte, ohne dass er dazu gezwungen war, außerdem noch in ihren Augen wohl Frauenkleider trug und sich die Augen schminkte, wohl nichts Alltägliches. Oh, das hätte ich fast vergessen. Einen Vater gab’s ja auch nicht im Haus. Noch ein Grund mehr, um sich das Maul zu zerreißen. Kapitel 2: Ein Anfang --------------------- Nervös kaute ich auf meinem Toast herum und starrte den strahlend blauen Himmel an. Meine Mutter mir gegenüber hatte wieder einmal ihr atomares Supergrinsen aufgesetzt und vertilgte einen Salat. Die digitale Uhr am Herd zeigte 06:30 Uhr an. Mein Wecker hatte mich also vor exakt fünfzehn Minuten aus diversen Alpträumen gerissen. Heute war mein erster Schultag, und wir hatten in den letzten Wochen wirklich viel geschafft. Wir hatten ein Drittel des Hauses neu tapeziert und gestrichen, die anderen Räume konnte man so lassen, wie sie waren. Außerdem waren wir shoppen gewesen und hatten uns mit Produkten diverser Möbelhäuser eingedeckt. Mums unvergleichlichem Gespür für günstige Dinge, die aber qualitativ gut waren und ihrem kreativen Talent verdankten wir jetzt ein Heim, das sich in zwei Wochen von einem verlassenen Haus in ein kuscheliges Nest verwandelt hatte. Zwar konnte man es mit einem botanischen Museum verwechseln, weil May außerdem einen Großeinkauf bei sämtlichen Floristen der Umgebung getätigt hatte, doch das war ich gewohnt. Unser Wohnzimmer sah schon immer so aus wie die koloniale Residenz eines Naturforschers irgendwo in Indien. Sie hatte Möbel aus dunklem Holz gekauft, die Wände in einem warmen, zarten Beige gestrichen und zwischen ominösen Topfpflanzen aller erdenklicher Größen, die in jedem freien Eckchen herumstanden oder von der Decke hingen, ihre geliebten hinduistischen Figürchen von was weiß ich für Göttern aufgestellt. Dazu klang gerade „Touch of Grey“ von Grateful Dead aus unserem alten, klapperigen CD-Spieler. Sie war eben ein Relikt der Hippie-Bewegung, mit ziemlich vielen Klischees und anderen ulkigen Gewohnheiten behaftet. So zum Beispiel die Tatsache, dass sie nie eine andere Frisur trug als offene Haare mit einem Halstuch oder einem Seidenschal um die Stirn. „Schatz?“ Sie lächelte mich über den Rand ihrer Kaffeetasse an. „Solltest du dich nicht langsam fertig machen?“ Ich nickte nur schwach und stand auf. Ich gab es nicht zu, aber ich war furchtbar nervös und hatte Angst vor der neuen Schule. Es war ja nicht so, als hätte ich einfach nur die Schule gewechselt, sondern einfach alles. Den Staat, das Schulsystem, die Unterrichtssprache, es war einfach ein gigantischer Berg, der hoch vor mir in den Himmel ragte und den ich heute besteigen musste, ob ich wollte oder nicht. Am meisten Angst hatte ich davor, dass ich ab sofort in einer Fremdsprache unterrichtet werden würde. Ich hatte furchtbare Panik, dass mein Deutsch zu schlecht, die Grammatik mies, das Vokabular zu klein und generell alles zu akzentbeladen war, um es verstehen zu können. Immerhin hatte ich bisher nur mit meiner Mutter Deutsch gesprochen. Unterricht, Freizeit, Freunde, das alles lief bei mir auf Englisch. Und das würde sich wohl auch nicht ändern. Jedenfalls im Kopf nicht. Grübelnd schlurfte ich ins Bad und starrte in den Spiegel. Ein verschlafener, zu klein geratener Junge, der obendrein noch aussah wie ein Mädchen, mit großen, unschuldigen blauen Augen und verwuschelten, vorne längeren und hinten streichholzkurzen, schwarz gefärbten Haaren blinzelte mir entgegen. So wie jeden Morgen eben. Rasch war das übliche Waschprogramm durchgelaufen, nach einigen Jahren entwickelt man einfach eine Routine im morgendlichen Badritual, die nicht einmal Müdigkeit unterbrechen kann. Nach dem Zähneputzen und Föhnen angelte ich nach einem kleinen, knatschgrünen Schminktäschchen auf der Ablage und kramte den Kajal raus. Ja, richtig gelesen. In diesem Haus gehörte sämtliches Make-Up nicht meiner Mutter, denn die verabscheute das Gefühl von Schminke auf der Haut, sondern mir. Ich hatte mit fünfzehn angefangen, mich zu schminken. Zu Beginn war es lediglich ein Scherz gewesen, um Griffs Bruder zu ärgern, weil der ein ziemliches Problem mit Homosexualität hatte und es nichts gab, was ihn mehr auf die Palme brachte, als feminine Kerle. Aber irgendwie hatte ich dann den Eindruck bekommen, dass ein bisschen schwarze Farbe im Gesicht mir durchaus stand. Und so war ich dabei geblieben und trug jeden Morgen eine über die Jahre perfektionierte Menge an Kajal um meine Augen auf. Ich hatte es auch mal mit anderen Utensilien und anderer Linienführung probiert, aber mein ganzer Körper war von Natur aus so auf ‚niedlich’ getrimmt, dass es nicht viel Sinn gemacht hatte, das mit Make-Up kaschieren zu wollen. Also unterstrich ich es jetzt eben und stand dazu. Und die großen Geschütze fuhr ich lediglich an Partys oder Konzerten auf. Ich überlegte kurz, ehe ich zur Geltube griff. Normalerweise sparte ich mir das Haarestylen für den Alltagsgebrauch, aber immerhin war heute mein erster Tag an der neuen Schule. Ich wollte ein gutes Bild abliefern. Klamottentechnisch hatte ich da gestern schon vorgesorgt und in einer zweistündigen Selektionsarbeit das perfekte Schuloutfit zurechtgelegt. Auf einem kleinen, sonnengelben Hocker – passend zur Wandfarbe – am Fußende von meinem Bett wartete meine geliebte, schmutziggraue Jeans mit dem leichten Schlag und dem an der Ferse zerrissenen Saum, die auch an den Oberschenkeln und Knien ziemlich abgewetzt wirkte, was mich aber nicht störte; ich würde sie tragen, bis sie sich restlos aufgelöst hatte. Passend dazu ein simples, langärmeliges schwarzes Shirt, das eigentlich ein Girlie-Shirt war, aber bei meiner Größe war es wirklich kein Problem, in der Mädchenabteilung Klamotten shoppen zu gehen, und ein schwarzweiß kariertes Hemd, bei dem ich die Ärmel aufgerollt hatte. Fertig bekleidet bewunderte ich mich noch kurz im Spiegel, befand, dass mein Äußeres in Ordnung war, und ergänzte nur noch das kleine Accessoire, ohne dass ich nicht aus dem Haus ging: Ein Halstuch. Es war sozusagen mein Markenzeichen, dass ich immer ein Stück Stoff um die Kehle gewickelt hatte. Heute fiel die Wahl auf ein Schwarzes mit weißem Paisleymuster. Nicht viel später stand ich im halbherzig gefüllten Bus, der mich von dieser Kindergartenidylle in Richtung Stadt und Öffentliche Jugendverdummungsanstalt bringen sollte. Ich war der einzige aus meiner Altersgruppe hier drin. Der Rest bestand aus Grundschulkindern oder Hausfrauen kurz vor den Wechseljahren. Und selbstverständlich wurde ich begafft. Aber ich machte es mir einfach und sah die ganze Zeit angestrengt aus dem Fenster, was anfangs wirklich öde war, weil wir noch mindestens ein weiteres Wohnviertel mit großen Mietblocks durchquerten. Und dann, ohne Vorwarnung – Hochhäuser. Jedenfalls erkennbar am Horizont. Und die nette Frau von der Durchsage gab gerade den Namen meiner Haltestelle an, den Mum mich gestern so oft hatte vorsagen lassen, bis ich das Gefühl hatte, ich würde mich zeitlebens daran erinnern. Mit leicht zitternden Knien stand ich nun vor diesem riesigen Gebäudekomplex namens Schule und wusste nicht so recht, wohin. Auf dem Schulhof tummelte sich bereits eine ansehnliche Schülermenge. Und keiner von ihnen kümmerte sich um mich. Das war neu, aber ich war ganz dankbar darum, sonst hätte ich den Mund aufmachen müssen – und allein der Gedanke, mich mit einem deutschen Native Speaker herumschlagen zu müssen, löste in mir Panik aus. Also blieb mir nur eins: Ich machte mich allein und auf gut Glück auf die Suche nach dem Sekretariat. Nur wenig später hatte mich eine noch recht junge Lehrerin vor einer Klassenzimmertür abgeliefert. Die Sekretärin, die mich mit ihr mitgeschickt hatte, war sehr nett gewesen, hatte mich mit Stundenplan und anderen Orientierungshilfen wie einer Kurs- und Lehrerliste ausgestattet und sich mit mir auf Englisch unterhalten. Ich hatte erfahren, dass ihr Mann ebenfalls gebürtiger Amerikaner war, sie hatten sich während der Besatzungszeit kennen gelernt, geheiratet und er hatte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, weil sie nicht weggewollt hatte. Ich konnte sie gut verstehen. Ich hatte auch nicht von zu Hause weg gewollt. Und erst recht wollte ich nicht jetzt allein vor meinen Kurs treten und mich vorstellen. Laut Stundenplan hatte ich jetzt Doppelstunde Englisch, Tutorkurs. Und danach Pause und im Anschluss doppelstündig Geschichte, zum Glück auch auf Englisch, weil ich in das Bilingual-Programm der Schule aufgenommen worden war. Die ersten vier Stunden also kein Problem. Was danach kam, wollte ich allerdings lieber gar nicht erst wissen. Im Moment hatte ich allerdings ein wichtigeres Problem. Denn meine zur Faustgeballte und völlig verkrampfte Hand hatte sich zwar wie befohlen erhoben, verharrte jetzt aber regungslos und wollte partout nicht gegen das Holz der Tür klopfen. Reiß dich zusammen, Lio, schalt ich mich selbst und zwang meine weichen Knöchel, zweimal gegen das helle Holz zu pochen. Nichts geschah. Vorsichtig und leicht verunsichert drückte ich die Tür auf. Dreiundzwanzig Augenpaare starrten mich an, inklusive einem Lehrer um die Vierzig, dessen spießiges Äußeres jedem in den USA kursierenden Gerücht über den verklemmten, bürokratisch korrekten Deutschen gerecht wurde. „What do you want?“ Sein geschraubtes Oxford-Englisch klang genauso bescheuert, wie ich es erwartet hatte. Aber irgendwie brach es in mir einen Damm. „I’m Lior Hawthorne, the clerk told me to come here“, antwortete ich nach kurzem Zögern. Der Lehrer warf einen kurzen Blick auf seine Liste, dann nickte er, doch der missbilligende Blick entging mir nicht. „Right, please take a seat.“ Ich nickte nur und sah mich dann nach dem nächsten freien Platz um. Das Mädchen mit dem dicken blonden Zopf lächelte mich freundlich an, und da neben ihr noch niemand saß, huschte ich so schnell und leise wie möglich zu ihr hinüber. Doch mehr als ein schüchternes „Hi!“ ihrerseits war nicht drin, bevor der Pauker den Unterricht wieder aufnahm. Aber es war immerhin ein Anfang. ~~~ Die englischen Passagen werden in der OF noch öfter vorkommen. Es ist sogar ein ganzes englisches Telefongespräch geplant. Wenn ein Leser Verständnisprobleme hat, sollte er mir das bitte mitteilen, und ich werde irgendwo eine deutsche Übersetzung unterbringen! Kapitel 3: Auf den ersten Blick ------------------------------- Als es zur 5-Minuten-Pause klingelte, wurde ich regelrecht bestürmt. Kaum dass der Lehrer das Wort „Pause“, welches in der Tat das erste Deutsche in seinem Unterricht war, ausgesprochen hatte, fand ich mich von einer Mädchentraube umringt und mit Fragen bombardiert. Ich verstand kein Wort. Und demnach musste ich etwas hilflos dreingeblickt haben, denn ein Mädchen mit definitiv nicht natürlichen Haarfarben und einer verrückten Frisur drängte sich zu meinem Tisch durch und brachte ihre Mitschülerinnen zum Schweigen. „Jetzt aber mal langsam, so wird das nichts.“ Freundlich lächelnd drehte sie sich zu mir um. „Also. Wer bist du und wo kommst du her?“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie langsamer und deutlicher redete als die anderen Mädchen eben, aber das konnte auch Einbildung sein. Ich räusperte mich und versuchte eine Antwort. Dabei machte ich den Fehler, in ihre tiefbraunen Augen zu blicken. Sofort lief ich knatsch rot an und senkte den Blick, um intensiv meine Füße unter dem Pult zu inspizieren. Antworten musste ich trotzdem. Und ohne Blickkontakt schaffte ich es auch, meine Stimmbänder dazu zu bringen, einen Ton von sich zu geben. „I-ich bin Lio… und ich komme aus Miami, wir sind in den Sommerferien umgezogen…“ Sofort hörte man das ein oder andere Mädchen quietschen oder mit seiner Nachbarin zu tuscheln anfangen hören. Die Bunthaarige, die inzwischen auf meinem Tisch saß, lachte. „Ein Ami, was? Na, dann pass auf, dass dir die Nachhilfe-Anfragen nicht über den Kopf wachsen!“ Verwirrt sah ich sie an, aber sie kam nicht mehr dazu, mir zu antworten, denn in dem Moment betrat erneut der spießige Pauker den Raum und scheuchte mit einem süffisanten „Time is up, ladies“ alle wieder auf ihre Plätze. Zu behaupten, dass ich von der folgenden Unterrichtsstunde viel mitbekam, wäre eine glatte Lüge gewesen. Im Gegenteil, es kam zu einem extrem peinlichen Zwischenfall. Ich saß friedlich und gedanklich auf der anderen Seite des atlantischen Ozeans auf meinem Platz und starrte aus dem Fenster, intensiv mit dem Gedanken beschäftigt, zu welcher Tages- beziehungsweise Nachtzeit ich Griff am besten anrufen könnte, ohne ihn allzu sehr zu stören. Aber meiner sehr offenherzigen Mimik war wohl anzusehen, dass ich nicht so ganz bei der Sache war, und das auch noch am ersten Tag. Jedenfalls ragte plötzlich vor mir ein hoher, dunkler Turm in Gestalt meines Lehrers auf. „You should be listening carefully if you want to get good marks”, war sein einziger, strenger Kommentar. Und ich tat das Dümmste was ich machen konnte. Statt brav zu nicken und den Mund geschlossen zu halten, gab ich ihm eine Antwort, die nicht das Produkt eines wohlüberdachten Gedankengangs sein konnte. „Sorry, Sir, but I don’t think you can teach me anything ‘bout my mother tongue.” Dieser Satz war mein Ende, jedenfalls was diesen Lehrer betraf. Ich sah es genau in seinem Blick, dass ich jetzt als ‚Feind‘ eingestuft wurde. Meine Mitschüler mochten ja denken, dass ich der obercoole Ami war, aber im wirklichen Leben war ich nun mal eigentlich alles andere als cool, weshalb mir unter dem Deathglare meines Englischlehrers auch der Angstschweiß ausbrach und ich mich auf meinem Platz noch kleiner machte, als ich ohnehin schon war. Diesmal war ich für das Pausenklingeln aus tiefster Seele dankbar, normalerweise hatte ich nichts gegen Schule, klar konnte man seine Zeit auch sinnvoller verbringen, aber es gab auch schlechtere Optionen. Aber dieser Lehrer machte mir einfach Angst, und so war ich schrecklich froh, flüchten zu können. An der Tür wartete das bunthaarige Mädchen auf mich. Sie grinste mich freundlich an und nickte einladend mit dem Kopf den Schulflur hinunter. „Komm mit, ich zeig dir, wie’s hier so läuft!“ Sie wandte sich um und lief einfach los, und ich folgte ihr. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Ein so nettes Angebot ablehnen, nur weil sie eine seltsame Frisur mit dem fransigen Pony und den bunten Dreads am Hinterkopf hatte und ihre Klamotten ein wenig schräg waren? Sicherlich nicht. Meine Mum hatte mir nicht umsonst von Kindesbeinen an Toleranz als höchste Tugend eingeimpft. Also folgte ich ihr. Irgendwie hatte ich erwartet, dass es hier so war wie zu Hause an der High School, und man sich seinen Weg durch die Flure mühsam erkämpfen musste. Aber entweder bekam ich jetzt doch endlich etwas von der deutschen Höflichkeit zu spüren, und hier verteilte man sich einfach dicht an den Wänden und ließ die Mitte für sich bewegende Personen frei, oder das Mädchen vor mir teilte die Massen wie Moses das Meer. Solche Leute hatte es zu Hause auch gegeben. Cheerleader. Oder das Footballteam. Konnte ja hier ähnlich sein, oder nicht? Wo Menschen waren, gab es eine Hierarchie, und auch deutsche Gymnasien hatten mit hundertprozentiger Sicherheit ihre Schulstars. Nur hatte ich zu Hause nie etwas mit Menschen dieses Schlages zu tun gehabt, weil sie meistens dem seltsamen Phänomen entsprachen, einfach… gaga zu sein, wie Queen es vor ungezählten Jahren so schön ausgedrückt hatten. Die Bunthaarige drehte just in dem Moment, in dem ich in Gedanken an die Rocklegenden grinste, den Kopf und sah mich über die Schulter an, lächelte, wohl zufrieden damit, dass ich ihr nachlief, und öffnete den Mund. „Ich bin übrigens Roka.“ Kurz blinzelte ich verwirrt, denn das klang irgendwie so gar nicht so, wie ich mir einen deutschen Vornamen vorstellte, so gar nicht nach Karl und Hans und Gisela und Petra, ihr wisst schon, was ich meine, oder? Aber dann lächelte ich. „Lio.“ Warum sollte man sich nicht auch hier mit Spitznamen ansprechen? War doch wohl überall auf der Welt unter den Nicht-Erwachsenen Gang und Gäbe. „Ich weiß. Hast du vorhin schon gesagt.“ Sie führte mich auf den Schulhof im Zentrum der Gebäude. „Also, da sind die Naturwissenschaften, Chemie ganz oben und Biologie ganz unten, Physik in der Mitte. Das da drüben“ – sie zeigte auf den größten Gebäudetrakt – „sind die ganzen Klassenräume, da rennt man den meisten Kindern über den Weg. Unsereins hat da Sprachen und Mathe und so was. Und der Rest, also Erdkunde und Geschichte und Philosophie und so weiter, hat da drüben seine Fachräume.“ Ich nickte nur. „Wenn du jemals Fragen hast, frag mich oder sonst irgendwen, ist kein Ding.“ Sie strahlte mich an. „So, und jetzt zeige ich dir das, was wirklich wichtig ist.“ Sie packte meine Hand, um mich nicht zu verlieren, und zog mich durch die Schülermassen. „Pass auf, halt dich von der Treppe fern, da hängen die Hopper und Ghettokinder rum, und die können so ein süßes Kerlchen wie dich gar nicht gern leiden. Die Cafeteria gehört der Partei ‚Reich und aufgeblasen‘, also bleibst du da auch besser nicht länger als nötig. Die Bibliothek ist ganz nett, wenn du was arbeiten willst, denn die ‚freundliche‘ Dame vom Tresen setzt das Lärmverbot resolut durch. Im Endeffekt auch nicht wirklich prickelnd.“ Der Informationsschwall erschlug mich zwar, aber überraschenderweise verstand ich doch, was sie mir sagen wollte, was mich ehrlich gesagt selbst erstaunte. So gute Deutschkenntnisse hatte ich mir dann doch nicht zugetraut. Aber ich überspielte meine Unsicherheit mit einem Lächeln und nickte brav, um zu zeigen, dass ich verstanden hatte. „Deshalb bring ich dich jetzt zu ein paar Leuten, die besser zu dir passen.“ Ein breites Grinsen begleitete ihre Worte, und wir durchquerten ein weiteres Gebäude, was uns auf einen größeren Hof brachte. Zielsicher steuerte Roka eine Baumgruppe an, unter der sich ein paar Bänke befanden, die ein U formten, ein Ort, wie geschaffen für eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich selbst genügte und keine Fremden brauchte. Auf diesen Bänken nun hingen ein gutes Dutzend Gestalten herum, die mein Herz gleich ein bisschen höher schlagen ließen. Denn ich erblickte, wohin ich auch sah, gefärbtes Haar – meistens schwarz, manchmal blond, hier und da bunte Extensions – mit dem unverkennbaren Seitenscheitel und schräg geschnittenem Pony, Chucks und Vans, die unter Röhrenjeans hervor lugten, und aus einem lose um den Nacken getragenen Kopfhörerpaar ließ sich ein Song von „Funeral Diner“ erahnen. Emos. Gleichgesinnte. Das zaghafte, leicht schüchterne Lächeln um meine Mundwinkel vertiefte sich automatisch. Roka unterdessen zog mich gnadenlos mitten in die Gruppe hinein, die sie lautstark begrüßte, sobald sie uns bemerkt hatten, und Küsschen folgten, sobald sie in Reichweite war. Ich blieb am Rand stehen, unsicher, wie ich mich verhalten sollte. Einfach irgendwo dazusetzen? Warten? Wieder gehen? Da war die obligatorische Massenknutscherei aber auch schon vorüber, und die Bunthaarige kehrte an meine Seite zurück und legte mir einen Arm um die Schultern. Ich spürte sofort, wie ich leicht rot um die Nase wurde. Klar, es war normal, dass man sich berührte und berührt wurde, aber trotzdem, wir kannten uns doch noch gar nicht… „Leute, mein Englischkurs hat heute Morgen nen Neuzugang gekriegt, und ich dachte mir, ihr findet ihn vielleicht genauso niedlich wie ich…“ Sie grinste in die Runde, bevor sie bei mir hängen blieb und mir einen leichten Schubs nach vorne gab. „Na los, nicht so schüchtern! Hier beißt keiner! Na ja, jedenfalls nicht feste…“ Ich wurde natürlich sofort wieder feuerrot. Da stand ich also, mit einer weithin leuchtenden Glühbirne, wackligen Knien und einer trockenen Kehle vor elf fremden Gesichtern, die mich teilweise neugierig, teils abwartend anstarrten und musterten. Ich räusperte mich und suchte mein Heil in der Flucht meines Blicks Richtung Boden. Ich konnte einfach nicht reden, wenn mir jemand in die Augen sah! „Hi, ich bin Lio… wir sind vor zwei Wochen von Miami hier her gezogen…“ Schüchtern hob ich den Blick und wurde von vielen freundlich lächelnden Gesichtern in Empfang genommen. Roka ließ sich auf eine der Bänke fallen und zog mich neben sich, man rutschte bereitwillig zusammen und machte uns Platz. Ein etwas rundlicheres Mädchen neben mir griff nach meiner Hand und drückte sie kurz. Der schwarze Pony war mit einer bunten Spange zurückgeklammert und zwei warme grüne Augen blinzelten mich an. „Hi, ich bin Marcy.“ Und damit begann sie, mir die restlichen Leute vorzustellen. Eine Viertelstunde später, in der ich mehr Namen und die dazugehörigen Gesichter, Hobbys und Eigenheiten kennen gelernt hatte, als ich mir auf einmal merken konnte, wandte Marcy sich schließlich einem schweigsamen, recht unauffälligen Typen mit fast weiß gebleichten Haaren zu, der bis jetzt noch keinen Ton von sich gegeben hatte. Meine Augen suchten Roka, die irgendwann von meiner Seite verschwunden war, und fanden sie an einen der Bäume gelehnt, ein viel kleineres und offensichtlich jüngeres Ding mit feinen, blonden Haaren, in denen sich ein paar rosa und blaue Extensions fanden und das aufgrund der Tatsache, dass es in dem babyblauen Kapuzenwollpulli nahezu ertrank, unglaublich dünn sein musste, im Arm. Die Kleine schmiegte sich an Rokas flache Brust, als würde sie dort Schutz suchen, und krallte die unlackierten Fingernägel in das schwarze Oberteil, während Roka ihr anscheinend beruhigende Worte ins Ohr murmelte und ihr immer wieder kleine Küsse auf Wange und Stirn hauchte, während sie ihr über die Haare strich. Ich sah rasch weg, denn ich hatte das dumpfe Gefühl, dass mich das, was sich dort am Baumstamm abspielte, nichts anging. Und dann sah ich ihn. Er lehnte am nächsten Baum, eine Zigarette zwischen den Fingern, die andere Hand lässig in der Tasche der weit geschnittenen Tarnfarbenhose vergraben, die aber auf Hüfte saß und zusammen mit dem figurbetont sitzenden, simplen schwarzen T-Shirt ab und zu einen winzigen Streifen Bauch offenbarte, wenn er sich bewegte, und unterhielt sich mit einem Kerl mit dunkelgrünen Haaren. Seine perfekt geschwungenen Lippen verzogen sich zu einem unglaublich anziehenden Lächeln, als sein Gesprächspartner irgendeinen Witz riss, und schlossen sich so sinnlich um die Zigarette, die zwischen den schwarz lackierten Fingernägeln klemmte, dass sich mir die Frage aufdrängte, wie es wohl wäre, von ihm geküsst zu werden. Er musste ein guter Küsser sein… Der schwarze, nicht zu dick aufgetragene Eyeliner betonte seine schönen, smaragdgrün glühenden Augen, der leicht glänzende Lidschatten war farblich perfekt auf die kastanienbraunen Strähnen im dunkleren, tadellos gestylten Haar abgestimmt, das den Wunsch in mir weckte, es zu berühren. Nur einmal von ihm beachtet werden… Er hob den Blick, und begegnete meinem. Ich versank in den intensivgrünen Tiefen seiner Iriden, und all meine Probleme schienen sich in Luft aufzulösen. Mein Bauch kribbelte sacht, ich fühlte mich unglaublich leicht, fast schon schwerelos. „Kilian? Kommst du?“ Er sah weg, zerriss das schmale Band zwischen unseren Augen, und nickte. „Kilian…“, wisperte ich leise, als er ging. Roka griff nach meinem Handgelenk. „Auf geht’s, Sportsfreund, wir haben Geschichte!“ Ich nickte leicht abwesend, und ließ mich – den Kopf in den Wolken – von ihr mitziehen. Kilian… ~~~ Ich fürchte, ich kann die Deadline nicht einhalten... Ich hab nur noch knapp nen Monat >.< Und noch so viel zu tun! Vielleicht sollte ich die Story zweiteilen, dann könnte ich es unter Umständen noch schaffen. Aber dann hat die hier definitiv kein Happy End o.o Und das Phänomen der Verselbstständigung hat auch wieder zugeschlagen. Eigentlich sollte Roka keine so große Rolle kriegen... und jetzt hab ich auch für sie schon ihre ganz eigene Geschichte im Kopf... vielleicht wird das die Fortsetzung XP Kapitel 4: Von Wolke 7 und teuren Telefonaten --------------------------------------------- Die Heimfahrt sollte eigentlich die pure Hölle sein, denn der Bus war angefüllt mit kleinen, kreischenden Kindern und pöbelnden Jugendlichen, durchmischt mit schnatternden Tratschweibern, aber ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um das zu bemerken. Meine Gedanken schwebten irgendwo auf Wolke Sieben, drehten sich um das dort aufgestellte Bildnis eines wahren Adonis aus Fleisch und Blut, der traumhaft braunes Haar hatte und auf den Namen Kilian hörte. Und diese Augen erst… Ich musste wohl ununterbrochen am Seufzen sein, denn das mit Einkäufen bepackte Mütterchen, mit der ich mir eine Haltestange teilte, warf mir schon seltsame Blicke zu. Aber das selige Lächeln auf meinen Lippen musste ihr wohl versichern, dass es mir keineswegs schlecht ging. Ganz im Gegenteil, es ging mir blendend! Und apropos Lippen… Meine Mutter bezeichnete diesen Zustand als „sich durch den Äther treiben lassen“, wenn ich mich richtig erinnerte. Sie selbst erreichte ihn dadurch, dass sie sich von Räucherstäbchen zupaffen ließ und zu irgendwelcher traditionell indischer Musik auf einem mit Ohne-Kinderarbeit-hergestellt-Gütesiegel versehenen Teppich saß und meditierte. Nach einer viertel Stunde gedanklicher Seligkeit verließ ich das Massenbeförderungsmittel auf vier Rädern und schlenderte, den nun mit einigen schweren Büchern angefüllten, bunt und wild gemusterten Eastpak locker über die Schulter geworfen, auf unsere Haustür zu. Summend schob ich den Schlüssel ins Schloss und öffnete sie, die schwere Tasche landete vor der Treppe auf dem Flurboden, ich würde sie mitnehmen, wenn ich hochging. Irgendwie war es seltsam, so nach Hause zu kommen. Ich musste keine klapprigen, knarzenden Holztreppen bis zur Wohnungstür hochsteigen, von denen man befürchten musste, dass sie irgendwann unter den eigenen Füßen einstürzen würden, keine Babyschreie schallten durch die angrenzenden Wände, und man wusste auch nicht, ob die Nachbarn sich schon wieder gestritten hatten oder nicht. Es war still. Das war ungewohnt, in Miami war es nie still gewesen, unsere Wohnung hatte nur ein paar Stockwerke über einer sehr belebten Straße gelegen. Aber irgendwie gab mir genau diese Stille ein Gefühl von Geborgenheit, wie es zum Beispiel Kirchen tun. Man hat Respekt, aber man weiß, dass man willkommen ist. „Lior?“ Die Stimme meiner Mutter durchbrach die Ruhe, ohne sie zu stören. „Hi, Mum!“, trällerte ich fröhlich zurück und sah ihren Kopf in der Wohnzimmertür auftauchen. Sie lächelte. „War die Schule so toll, dass du so strahlst?“ Ich lächelte leicht verklärt und nickte so langsam, als wäre ich auf Drogen. „Die Leute dort sind so cool! In meinem Englischkurs sitzt zum Beispiel Roka, sie ist zwar ziemlich komisch, aber toll! Ich glaube, wir könnten wirklich Freunde werden! Und Marcy und die anderen sind auch nett. Und dann ist da noch…“ Meine Augenbrauen wanderten verträumt Richtung Decke und mein Blick ins Leere. Sofort war sein Bild wieder vor meinem inneren Auge aufgetaucht. Ich sah ihn genau vor mir, das wunderschöne, fast schon karamellfarbene Schimmern auf seinem Haar, das tiefe Leuchten in seinen Augen, die mich so vereinnahmt hatten. Das Schattenspiel des Blätterdaches auf seiner leicht gebräunten Haut… „Okay, wie heißt er?“ Mit einem unkontrollierten Zucken sämtlicher Muskeln oberhalb der Taille schreckte ich aus meinen Tagträumereien wieder auf und starrte meine Mutter an, als käme sie von einem anderen Stern. Sie grinste amüsiert. „W-was?“ Zu mehr als diesem kurzen Gekrächze fühlte ich mich nicht in der Lage, denn der Hauptteil meines Denkapparates war immer noch auf den kreisenden Bahnen des Äthers unterwegs. Mums Grinsen wandelte sich zu einem sanften Lächeln. „Na, ich kenne mein Schätzchen doch! Wenn du so abwesend dreinschaust, kann dir nur wieder irgendwer den Kopf verdreht haben.“ Das breite Grinsen kehrte zurück. „Also, wie heißt er?“ Ja, sie fragte nach einem ‚Er‘. Weil sie ganz genau wusste, wie ich in der Beziehung tickte. Und sie hatte auch kein Problem damit, ganz im Gegenteil; sie unterstützte mich sogar manchmal, indem sie mir Flyer von Gaybars oder die Telefonnummer ihres Frisörs mitbrachte. Sie hatte mir einmal ganz direkt gesagt, dass sie es sehr mutig und bewundernswert von mir fände, dass ich so offen zu meiner Sexualität stehen würde. In den USA, wo es vor religiösen Umpolungsorganisationen, konservativen Arschlöchern, Rechtsextremen und selbsternannten Inquisitoren, die dir am liebsten den Dämon austreiben würden, von dem du besessen bist, nur so wimmelt, bei weitem keine Selbstverständlichkeit. Meine Mutter war stolz auf ihren kleinen, geschminkten, schwulen Sohn. Ich seufzte ergeben und begab mich zu ihr ins Wohnzimmer, ließ mich dort auf eines der vielen Kissen sinken, die auf dem mit den schon erwähnten garantiert kinderarbeitsfrei gefertigten Teppichen bedeckten Boden lagen. Sie nahm mir gegenüber auf einem anderen Platz. Gespannt sah sie mich an. Ich räusperte mich, und mein Blick sank einmal mehr gen Boden, bevor ich antwortete. „Er… heißt Kilian… und er ist zwei Klassen über mir… und er ist einfach… wunderschön…“ Schon wieder hatte das verträumte Lächeln meine Mundwinkel in Beschlag genommen und ich konnte fühlen, wie mein Gesicht um die Nase herum heiß wurde. Meine Mutter lachte laut und fiel mir um den Hals. „Oh, ich freu mich ja so für dich!“ Ich nickte nur stumm an ihrer Schulter. „Und? Hast du schon mit ihm geredet?“, fragte sie und ihre braunen Augen funkelten vor Neugier. Resignierend seufzte ich und schüttelte den Kopf, der immer mehr zu glühen schien. Es war zwar verdammt peinlich, aber es ging mir immer so: Ich verliebte mich, ohne auch nur ein Wort mit meiner Flamme geredet zu haben, nur, weil ich ihn irgendwo gesehen hatte. Nicht selten endete das im Desaster, weil er entweder hetero, schon vergeben oder generell unerreichbar war. Ich hatte es sogar schon geschafft, ein halbes Jahr lang glücklich in den Frontsänger einer lokalen Metalcoreband in Miami verliebt zu sein, ohne je mehr mit ihm zu tun gehabt zu haben als seine Blogeinträge zu lesen und bei seinen Konzerten einer von vielen schwarzen Haarbüscheln in der Menge zu sein. Als er schließlich offiziell seine Verlobung mit einer vollbusigen Blondine auf MySpace bekannt gegeben hatte, hatte er mir das Herz gebrochen. Griff hatte es damals in langen, tränenreichen Nächten mühsam und mit viel Geduld wieder geflickt. Meine Mutter drückte mich an ihre Brust. „Geh zu ihm und rede mit ihm! Sonst plapperst du doch auch ohne Punkt und Komma.“ Meine hochgezogenen Schultern und der für mich typische Blick eines waidwunden Rehs sprachen deutlich die Sprache des Angsthasen, der ich nun mal war. „Aber… ich muss doch mit ihm auf Deutsch…“ Aufmunternd tätschelte sie mir den Kopf. „Das packst du schon! Und wenn du ihn so ansiehst, kann er ohnehin nicht anders, als dich furchtbar süß zu finden!“ Ich seufzte. „Und wenn er gar nicht auf süße Jungs steht?“ „Das findest du nur heraus, wenn du es probierst!“, lächelte sie und scheuchte mich mit einer Handbewegung davon. „Und jetzt husch! Du hast doch bestimmt Hausaufgaben, und außerdem wartet da ganz sicher jemand sehr ungeduldig auf einen Anruf von dir!“ Und damit hatte sie in der Tat recht. Ich packte meine Schultasche und stürmte in mein Zimmer hoch. Dort angekommen riss ich zuallererst das Fenster auf und schnappte mir meine Zigarettenschachtel. Ich schielte auf die Uhr über dem Schreibtisch. Zehn vor drei. In einer Viertelstunde würde ich Griff anrufen. Dann würde er sicherlich zu Hause sein. Nachdem die Geschäfte zu hatten und bevor die Partys losgingen. Dämliche Zeitverschiebung. Lächelnd stellte ich mich ans Fenster und zündete mir eine Marlboro an. Ob Rachel immer noch ihre irren Poolpartys feierte? Kurz verzog ich das Gesicht, ehe ich zynisch lachend den weißen Rauch ausstieß. Warum sollte sich das auch geändert haben? Ich war ja gerade mal drei Wochen weg. Geschätzte viereinhalb Minuten später war der Glimmstängel aufgeraucht, und ich beförderte ihn in den bereitstehenden Aschenbecher. Noch zehn Minuten. Die konnte ich ja nutzen, um noch ein bisschen von Kilian zu schwärmen… Fast zwanzig Minuten später schreckte ich aus meinen Gedanken auf. „Shit!“ Ich hatte doch tatsächlich die Zeit verträumt! Hastig griff ich zum Telefon und wählte die Nummer, die ich seit Jahren auswendig konnte, mit der neu hinzugekommenen internationalen Vorwahl davor. Gespannt lauschte ich dem Knacken in der Leitung und dann dem Freizeichen. Seit ich weggezogen war, hatten wir erst viermal miteinander telefoniert. Und bisher war es immer Griff gewesen, der die meiste Zeit geredet hatte, ich hatte ja noch nicht wirklich etwas zu erzählen gehabt. Aber heute würde sich das zum Glück ändern, denn jetzt konnte ich ihm von Roka und den anderen erzählen und ihm betreffend Kilian das Ohr abschwärmen… Immerhin war ich ein sehr kommunikativer Mensch, von daher tat es meinem Plappermäulchen gar nicht gut, wenn es zu Schweigen gezwungen wurde. Das breite Grinsen, das sich auf meinem Gesicht ausgebreitet hatte, registrierte ich mal wieder nicht. Da! Endlich nahm er ab! „Hey Griff!“, flötete ich in die Sprechmuschel. „Lio! Jesus, you finally called! How’s your first day?“ Ich lachte herzhaft. Es tat so gut, seine Stimme zu hören! „Great! You don’t believe how crazy people I met here! Especially two of the mates at school.” Auch er kicherte. “Sounds like finally there won’t be any more boring nights for you, huh?” Ich seufzte nur. “Yeah, maybe, but… without you… I miss you, Griff.“ Als ein kurzes Schweigen folgte, konnte ich sein trauriges Lächeln vor mir sehen, als würde er mir hier direkt gegenüber stehen und uns nicht ein ganzer Ozean trennen. „Me too, Sweetie… and how much I do. Y’know, Rob’s givin’ a party tonight, but I don’t really wanna go… no one left to do the funny stuff with, if you know what I mean.” Ich war mir sicher, dass er mein Nicken genauso sehen konnte wie ich sein Lächeln. „I know exactly what you’re talking ‘bout.” Für ein paar Sekunden herrschte Schweigen auf beiden Seiten der Leitung. „Anyway“, ergriff Griff schließlich wieder das Wort, „You met new people. Anything worth talking ‘bout?“ „Oh god, yes!“ Schlagartig kehrte meine gute Laune zurück. Griff war einfach ein lebendes Wunder. Oder Ecstasy. „You know, there’s this girl in my English class, and she’s just neat. Freaky and totally crackbrained, but a real buddy type. She doesn’t even seem like a real girl! You know, not so flashy and girlish and all that stuff. Maybe that’s because she seems to have a girlfriend. In the lovely meaning of the word, y’know. But I like her. She’s called Roka.” “Yeesh, lesbians in Europe? Thought they were so conservative up there. And since when are YOU interested in girls?!” Ich lachte. “Jerk! She’s just nice! Of course I’m not interested in girls anyway!” Auf der anderen Seite hörte ich ihn schmunzeln. Mir war klar, dass jetzt gleich eine typische Griff-Frage kommen musste. „So, localized any hot guys already?“ Bei dieser Frage schmolz ich förmlich dahin. Sofort stieg vor meinem inneren Auge Kilians Bild im Schatten der Platanen auf den Schulhof auf, und ich konnte wieder den schmalen Streifen minimal gebräunter Haut zwischen Hose und Shirt aufblitzen sehen… „Yes… he’s… perfect. You should’ve seen him; he’s so damn handsome… Just the way he smiles gives me the creeps! And his hair… I’ve never seen something so beautiful.” Griffs vor Sarkasmus triefende Stimme riss mich aus meiner Traumwelt zurück in die Realität. „Wooow, little Lio fell in lo-ove! Do you even know his name, dumbass?” Und schon wieder wurde ich rot. War ja nichts Neues. „Ya, his name’s Kilian.“ Verliebter seufzend konnte man definitiv nicht als ich in dem Moment, in dem mir sein Name über die Lippen kam. „So you’ve already talked to him? How’s he?” “I haven’t”, nuschelte ich kleinlaut, mehr am Telefon vorbei als hinein, “Only to think about it makes me shiver…” Griff entrüstete sich sofort. „Lio! Jesus, how often have I told you?! No one will kill you just for talking to him! With your One-Night-Flirts you don’t have that problem either! So, go and get him! And now you gotta help me, I definitely need some booze after that. What drags boys’ attention most in my wardrobe?” Ich seufzte erneut, ehe ich ihm lächelnd beim Ankleiden half. Das war ein altes Ritual bei uns. Früher hatten wir uns sogar gegenseitig geschminkt, bevor wir es selbst gut genug konnten. In dem Sinne waren wir glaube ich wirklich wie Mädchen. Aber das machte uns schon lange nichts mehr aus. „Well, I gotta go now, thanks for the help, darling!“ Durch das Telefon konnte ich hören, wie er Handy, Schlüssel und Portmonee in seine Jackentaschen stopfte. Ich lächelte nur. „No problem, my dear, you know that.“ „Yeah, and Lio?“ „Yes?“ „Promise me you’ll talk to him.“ Ich schluckte und blinzelte. Griff wusste genau, was er da von mir verlangte. Aber abschlagen? Ging nicht. „I-i promise…“, wisperte ich kaum hörbar. Aber er hatte mich wohl trotzdem verstanden. „I love you, Lio, no matter what. Call me whenever there’s a problem.” Mehr als ein genuscheltes Thanks brachte ich nicht heraus. Er war so lieb zu mir! Womit hatte ich so einen guten Freund verdient? „Bye, Lio.“ „Bye… Enjoy the party…“ „Not without you, my love.“ „Liar.“ ~~~ So, ich hoffe, ich habe euch mit dem Batzen Englisch nicht erschlagen ^^ Bei Verständnisproblemen gilt immer noch: Meldet euch, dann wird euch geholfen ^^ Ich habe mich entschlossen, die Story aufgrund der näherrückenden Deadline in zwei Hälften zu teilen. Die erste braucht noch zwei Kapitel, dann ist sie fertig. Ich werde die FF dann vorübergehend auf 'abgeschlossen' stellen, aber ich denke, es wird trotzdem hier weitergehen, einfach der Vollständigkeit halber. Mal sehen ^^ Ich hoffe, man liest sich! Kapitel 5: Tiefer und tiefer ---------------------------- Fünf Tage später hatte ich mein Versprechen noch immer nicht eingelöst. Er lief mir zwar oft genug über den Weg, aber ich traute mich nicht, meinen Adonis anzusprechen. Was unter anderem daran lag, dass allein sein Anblick von Weitem ausreichte, um mir die Knie weich werden zu lassen. Kam er näher, gesellten sich auch noch zittrige Finger, flacher Atem, Schweißausbrüche, akutes Herzrasen und eine ganz und gar peinliche Rotfärbung meiner Wangen dazu. Muss ich noch erwähnen, dass mir sein Anblick die Sprache verschlug? Dass es noch niemand gemerkt zu haben schien, erstaunte mich unter den Umständen wirklich. Aber wer sollte es auch? Ich hatte zwar Anschluss gefunden, aber noch keine wirklichen Freunde. Ich glaube, das passende deutsche Wort, um meine Beziehung zu der Clique zu bezeichnen, wäre „Kumpel“. Sie hatten mich aufgenommen, und ich gehörte auch irgendwie dazu; ich wurde genau wie alle anderen mit Küsschen begrüßt, geknufft, umarmt und mutierte so langsam zum Lieblings-Kuschelopfer der Mädchen – „Ach, ist der süß!“ – aber mit einem von ihnen so wirklich befreundet war ich noch nicht. Auch Roka fehlte mir. Sie war von der Sommergrippewelle erfasst worden, die im Moment die Klassenräume entvölkerte, und hütete seit vorgestern das Bett. Ich war also mal wieder weitestgehend mit mir allein. Und das war schlecht. Um genau zu sein, ganz und gar schrecklich! Denn so hatte ich viel zu viel Zeit, um über ihn nachzudenken. Und keinerlei Ablenkung! Obendrein war heute Freitag. Also Wochenende. Das hieß, ich würde rein gar nichts zu tun haben, da ich noch nicht wusste, wo man sich hier am besten herumtrieb, und meinen Adonis ganze zwei Tage lang kein einziges Mal sehen! Himmel hilf. ¬ Doch manchmal meinte es das Schicksal sogar mit mir gut. Ich saß ausnahmsweise allein auf den Bänken unter den Platanen, da für mich Englisch ausgefallen war und diesen Kurs von meinen neuen Freunden nur Roka mit mir teilte, als eine gewisse Stimme mir den Schock in die Glieder trieb. „Hallo, Kleiner.“ Er stand direkt hinter mir. Und hauchte mir diese harmlosen zwei Worte so verführerisch in den Nacken, dass ich tausend Tode starb. Mit zitternden Gliedmaßen und dem Gefühl, keine Luft zu bekommen, obwohl meine Lungen pumpten wie blöd, drehte ich mich zu ihm um und starrte ihn aus ungläubig geweiteten Augen an. Vielleicht schwang auch etwas Angst darin mit. Was wollte er von mir? Er lächelte mich auf diese ganz bestimmte Art an, die ich von ihm schon kannte. Sein Gesicht verzog sich dabei kaum, aber es war nicht zu übersehen. Lag es an diesem hintergründigen Funkeln in seinen Augen? Oder daran, dass sich die Mundwinkel etwas tiefer in seine Wangen einzugraben schienen? Egal, alles egal. Hauptsache war, er redete mit mir. Auch, wenn er mich dabei ansah wie eine Katze das Goldfischglas. „Hättest du nicht Lust, heute Abend mit in den Club zu kommen?“ Er drückte mir einen Flyer in die Hand. „Einige der anderen sind auch da, es wird dir bestimmt gefallen.“ Ich starrte auf den Flyer. Er kündigte einen Alternative/Hardcore-Abend in einer Diskothek hier in der Stadt an. Ich sah zu Kilian auf. „Ist das ein Date?“ Sein seltsames Lächeln vertiefte sich. Mir rannen Schauer übe den Rücken. „Wenn du es so willst…“ Das Telefon klingelte. Nach einer gefühlten Ewigkeit hob er endlich ab. “Griff! You gotta rescue me!“ “Hey sweetie, what’s up?” Ich klammerte mich an den Telefonhörer, als wäre er meine letzte Rettung. Das war ja auch in der Tat richtig. Griff war meine letzte Rettung. “He asked me out!” “Do you wanna tell me that you’ve seriously overcome your inner gremlins and talked to him?” “Yes, no, he talked to me, but Griff, he asked me out! A Date! Tonight!” “Where’s the problem?“ Völlig überfordert starrte ich meinen weit geöffneten Kleiderschrank an. “I don’t fucking know what to wear! I’m doomed!” “Okay, that is a problem. Been shopping lately?” “Nope.” “Well, then… How about that silver shirt and your white plaid skinny jeans?” Ich blinzelte und begann dann zu strahlen. Es kannte einfach niemand meinen Kleiderschrank besser als Griff. “Griffin, you’re my hero! You saved me!“, ahmte ich gekonnt den gekidnappte-Prinzessin-Tonfall nach. Er kicherte am anderen Ende. “It did me credit, Mylady.” Keuchend stand ich in der Bahn Richtung Innenstadt und umfasste mit beiden Händen die Haltestange, um zu verhindern, dass meine Beine nachgaben. Ich hatte die ganze Strecke von unserem Haus bis zur U-Bahn rennen müssen, weil meine Haare nicht so gewollt hatten, wie sie sollten, und ich trotz ewiger Übung heute beim Schinken so zittrige Finger gehabt hatte, dass ich mich dreimal abschminken und von vorne hatte anfangen müssen, weil ein dummer Strich alles ruiniert hatte. Aber jetzt saß der Kajal, und ich hatte es gewagt, meine Haare am Hinterkopf mit Gel, Spray und Toupierkamm zur so genannten Sonne aufzustellen. Das gab mir wenigstens das Gefühl, ein bisschen größer zu sein. Und mit ein bisschen Glück würde ich noch nicht mal zu spät kommen. Ich spürte, wie sich trotz unmenschlicher Nervosität ein Lächeln in meinen Wangen festsetzte. Allerdings musste ich kurz darauf feststellen, dass meine Portion Glück für heute anscheinend aufgebraucht war. Die Anschlussbahn, die mich zum Hauptbahnhof bringen sollte, von wo aus auf dem Flyer eine kleine Wegbeschreibung inklusive Stadtplanausschnitt abgedruckt war, hatte ich gerade verpasst. Das hieß, zehn Minuten zu warten. Kein Weltuntergang, aber in meiner momentanen Verfassung ein Tiefschlag sondergleichen. Ich hatte fürchterlichen Schiss, dass irgendetwas schief ging. Immerhin ging es hier um mein Date mit dem tollsten, hübschesten, großartigsten und bestimmt auch intelligentesten Jungen der Schule, dem obendrein die wundervollsten Augen gehörten, in die ich je hatte blicken dürfen! Aber letztendlich stand ich dann doch relativ bald vor dem Gebäude des Frankfurter Hauptbahnhofs, nachdem ich aus den vielen Schildern im Inneren schlau geworden war, und starrte auf ein Meer bunter Lichter und noch bunterer Gestalten, die vor mir über die Ampeln schwemmten. Auf der gegenüberliegenden Seite stach mir die Werbung für Iran Air ins Auge, nur wenige Schritte von mir entfernt scharte sich eine Gruppe von Kindern, die ich auf elf oder zwölf schätzte, um zwei Frauen mittleren Alters. Ich starrte auf meine kleine Karte und stiefelte los. Wenige Straßenecken weiter hätte ich schwören können, mich verlaufen zu haben. Doch bei einer Straßenführung wie in Manhattan (erst kürzlich hatte mir irgendwer mitgeteilt, dass man Frankfurt auch als Mainhattan bezeichnete) war das wohl unmöglich. Doch dieses Viertel behagte mir ganz und gar nicht. Jedenfalls nicht die Straßen, durch die mich meine Wegbeschreibung lotste. Bunte Anzeigen, internationale, aber nicht sonderlich vertrauenserweckende Kaschemmen und knapp bekleidete Damen, deren Beruf sich wirklich nicht verbergen ließ, wechselten sich mit beängstigender Regelmäßigkeit zu meinen beiden Seiten ab. Mehr als eine der Prostitutierten sprachen mich an, und ich machte mich jedes Mal schleunig aus dem Staub. Sogar ein paar Kerle pfiffen mir hinterher. In Miami hätte ich mich geehrt gefühlt, hier machte es mir Angst. Gerade, als ich kurz vor der Panikattacke stand, tippte mir jemand auf die Schulter. „Hey, Kleiner… Du bist ja tatsächlich gekommen.“ Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Und sah in die schönsten Augen auf Erden. Intensives Grün leuchtete mir beruhigend aus dem lächelnden Gesicht entgegen, und die langen Wimpern, die dieses Grün eingrenzten, wären in dem schwarzen Eyeliner sicherlich untergegangen, wenn nicht zufällig die rote Beleuchtung des Hauses hinter ihm sie zum Glühen gebracht hätte. „Kilian…“ Er grinste. „Du weißt sogar, wie ich heiße?“ Ich nickte zitternd. Er stand mir viel zu nahe. Und dann hob er auch noch seine Hand und strich mir den leicht verrutschten Pony wieder in Form. „Darf ich auch deinen erfahren?“, wisperte er mir entgegen. „L-lio“, brachte ich gerade noch hervor, bevor ein breites, glückliches Strahlen sich meiner Lippen bemächtigte. Er wollte meinen Namen wissen! Er interessierte sich für mich! „Lio also.“, lächelte er und legte einen Arm um meine Schultern. „Na komm, lass uns reingehen.“ Der Club war überwältigend. Nicht schön, aber er zog einen Besucher sofort in seinen Bann. Wir hatten eine Bar passiert und waren eine Treppe in das Kellergeschoss hinab gestiegen, das sich als größer erwies, als das Haus obendrüber. Eine Vielzahl von Lichteffekten machte eine Dekoration mehr oder minder überflüssig – falls es eine gab, war sie im Moment nicht zu erkennen. Dafür aber umso mehr die Menschenmenge, die den Club füllte. Auf den ersten Blick entdeckte ich viele Hardcore-Punks, mindestens ebenso viele Emos, und durchmischt wurde das ganze mit offensichtlichen Anhängern verwandter Richtungen – besonders die Metalcore-Bandshirts waren auffällig – und Leuten, die sich gar nicht einordnen ließen, aber auch irgendwie passend aussahen. Dass all das hier friedlich nebeneinander feiern konnte, erstaunte mich. Zuhause wären sich die unterschiedlichen Gruppierungen schon längst gegenseitig an den Kragen gegangen. Kilian führte mich zu einem leicht erhöhten Podest, auf dem einige Tische und dreiviertelkreisförmige, bequem aussehende Polsterbänke Sitzgruppen bildeten. Eine war von Leuten belegt, die ich teilweise kannte – der Typ mit den dunkelgrünen Haaren zum Beispiel war dabei, und noch zwei aus der Schulclique, deren Namen mir aber nicht mehr einfielen. Kilian wurde von ihnen lautstark begrüßt, aber wir setzten uns nicht zu ihnen. Stattdessen grinste Kilian sie breit an. „So, Leute, die nächste Runde geht aufs Haus!“, verkündete er, und allgemeiner Jubel brach aus, währender mich anlächelte. „Kommst du mit, tragen helfen?“ Ich nickte eifrig, und folgte ihm zum Tresen. Er rief den Barkeeper beim Vornamen zu sich und orderte eine Runde „Klopfer“ – was auch immer das sein sollte. Eine halbe Minute später wusste ich es, denn wir bekamen ein Tablett überreicht, das dicht mit kleinen Schnapsflaschen bestückt war. Kilian drückte es mir in die Hand und bahnte uns dann den Weg durch die Tänzer zurück zu seinen Freunden. Johlend wurden wir empfangen, und mir das Tablett aus den Händen gerissen. Ich war erst etwas verwirrt, aber Kilian lachte und setzte sich an ein Ende der Bank. Mich zog er auf seinen Schoß. Das schien zwar keinen zu stören, aber allein das Gefühl seiner warmen Brust in meinem Rücken und seiner festen Oberschenkel unter meinem Po trieb mir die Röte ins Gesicht und beschleunigte meine Atmung. Als er dann auch noch einen Arm um meine Hüfte legte, war es um mich geschehen. Mein Geist entschwebte wieder einmal in den Äther. Nur am Rande bekam ich mit, wie die anderen mit ihren Fläschchen auf den Tisch klopften und sie dann leerten. Auch mir wurde eine gereicht, und gedankenlos trank ich. Sofort schüttelte es mich. Das war nichts für mich. In meinem Rücken konnte ich Kilian lachen hören. „Zu hart? Warte, ich hol dir nen Cocktail.“ Und schon stand er auf und tigerte zur Bar zurück. Ich blieb etwas verloren auf der Bank sitzen und sah den anderen zu, wie irgendwer einen Toast auf Kilian ausbrachte, ihn als den besten Freund der Welt bezeichnete – da konnte ich nur zustimmen, das war er bestimmt – und sie ihre zweite Runde leerten. Besagter bester Freund der Welt kam zurück, ein knatschpinkes, milchiges Getränk in den Händen, das er mir mit einem liebevollen Lächeln servierte. „Prost!“, ertönte es schon wieder, und diesmal stimmte ich ein. Der Cocktail schmeckte etwas seltsam, aber nicht schlecht. Ungewohnt. Den kannte ich noch nicht. Kaum war das Glas leer, spürte ich auch schon die Auswirkungen des Alkohols. Mir war schwindelig, und ich fühlte mich, als würde ich schweben. „Willst du tanzen?“, schrie mir Kilian gegen die Musik ins Ohr. Ich nickte. Selbstverständlich wollte ich tanzen! Ich wollte die Welt umarmen! Mit einem seligen Lächeln nahm ich die Hand, die er mir reichte, und folgte ihm auf die Tanzfläche. Dort ließ er mich kurz los, und begann, sich dann rhythmisch zum Takt zu bewegen. Er konnte tanzen. Und wie. Aber ich auch. Und ich tat mein Bestes, ihn davon zu überzeugen. Ich wollte, dass er mich genauso toll fand, wie ich ihn. Also hob ich die Arme über den Kopf und ließ meinen Oberkörper sich wie eine Schlange hin und her wiegen, während die Hüfte sich in die entgegen gesetzte Richtung bewegte. Nicht umsonst hatte ich mal einen Kurs für Orientalischen Bauchtanz besucht. Geburtstagsgeschenk von meiner Mutter. Ich ließ mich von meinem Becken führen, wollte gerade zu einer langsamen Drehung ansetzen, als mich ein Arm packte und an einen warmen Körper zog. „Du machst mich heiß, Lio, weißt du das?“ Die Hand an meiner Brust wanderte tiefer. Ich legte den Kopf an die Schulter hinter mir und sah in Kilians Gesicht. Grinsend nickte ich. Dann wurde alles schwarz. ~~~ Ha! Ich habs doch noch geschafft! Und ihr bekommt ausnahmsweise gleich noch ein Kapitel. Kapitel 6: Fall --------------- Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich allein. Ich lag in einem Doppelbett, das in einem langweiligen Jeansblau bezogen war, in einem recht unpersönlich eingerichteten Schlafzimmer, das ich nicht kannte. Durch die nicht ganz zugezogenen Vorhänge fiel ein breiter Sonnenstrahl quer über das Bett. Langsam setzte ich mich auf und versuchte, mich zu orientieren. Mein Kopf dröhnte. Und bereits bei der ersten kleinen Bewegung schoss ein höllischer Schmerz durch meinen Unterleib. Verdammt. Auf dem Boden entdeckte ich mein Silbergraues T-Shirt, die schwarzweiß karierte Röhrenhose, ein paar schwarze Socken, eine schwarze Unterhose und meine Chucks. Auf dem Nachtschränkchen direkt neben mir stand in einem hübschen Holzrahmen ein Familienfoto. Kilian war drauf. Und der Barkeeper, an dessen Namen ich mich nicht erinnerte. Und zwei Erwachsene. Das Bild musste in etwa drei Jahre alt sein. Ich kroch langsam in meine Klamotten und schlich zur Tür. Sie stand einen Spalt offen. Und es herrschte Totenstille. Vorsichtig, darauf bedacht, keinen Mucks zu machen, schlich ich mich auf den Flur hinaus, auf der Suche nach dem Badezimmer. Die vorsichtige Gangart verhinderte außerdem Schmerzen. Damit hatte ich schon Erfahrung. Die erste Tür, die ich öffnete, erwies sich als ein typisches Jugendzimmer. Bandposter an den Wänden, ein Banner mit der Aufschrift „Jägermeister“ über dem Fenster, ein Computer, ein Fernseher mit einer PS3, ein 1,40m breites Bett, ein Schreibtisch mit Stuhl, Schränke. Die vorherrschende Farbe war smaragdgrün. Und es war verdammt ordentlich. Sogar das Bett war gemacht. Oder gar nicht erst benutzt worden. Und der Dakine-Rucksack, der neben dem Schreibtisch stand, war Kilians Schulranzen. Eine Tür weiter fand ich das gesuchte Badezimmer. Der Anblick, den der Spiegel mir bot, trieb den Schock noch tiefer in meine Glieder. Mein Hals – und mit großer Wahrscheinlichkeit noch so einiges mehr an meinem Körper – war mit Knutschflecken übersät. Ich schluckte. Die Situation ließ nur einen möglichen Schluss zu. Ich hatte mit Kilian im Bett seiner Eltern geschlafen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die ich wie gelähmt damit zubrachte, zu begreifen, was passiert war, wagte ich mich die Treppe hinunter. Ich kam in einen Flur, der mir vage bekannt vorkam, und der mich in die Bar zurückführte, durch die wir den Club betreten hatten. Der Barkeeper stand hinter dem Tresen und gähnte, Kilian saß davor und löffelte in einer Schüssel Joghurt mit Müsli. Und ich stand wie festgefroren an der Tür, und wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Kilian kam mir zuvor. Er sah mich einen Augenblick lang an, und in diesem Blick lag überhaupt nichts mehr von der Liebe und Zuneigung, die ich gestern Nacht geglaubt hatte zu sehen. Noch nicht einmal mehr Freundlichkeit war übrig. Er war einfach nur kalt. „Hey“, meinte er, und schluckte das, was er gerade im Mund hatte, herunter. „Du warst echt nicht schlecht, aber jetzt sei brav und zieh Leine.“ Ich war fassungslos. Wie ich es letztendlich vor die Tür geschafft hatte, war mir ein Rätsel. Aber nicht viel später stand ich auf der Straße. Ich fror, obwohl die Sonne mir direkt ins Gesicht schien. Und ich fühlte mich benutzt. Ich hatte Hoffnungen gehabt. Ich hatte ihm vertraut, naiv, wie ich nun mal war. Ich hatte geglaubt, er würde mich mögen. Und dann das. Ein One-Night-Stand? Vielleicht war ich auch einfach nicht gut genug für ihn. Just in diesem Moment hielt ein Auto neben mir, ein kleiner, metallicblauer VW Polo der neueren Generation. Die Tür öffnete sich, und ein weißblonder Schopf tauchte daraus auf. „Hey. Marcy hat angerufen und gesagt, dich sollte vielleicht besser jemand abholen. Ben hat sie gestern vorgewarnt, aber es war wohl schon zu spät.“ Ich hörte nicht wirklich zu. Ich kannte ihn, er gehörte zur Schul-Clique; der stille Typ, der nie was sagte. Aber das interessierte mich im Moment nicht. Mein Herz war gebrochen worden, wieder einmal. Das war alles, was ich wusste. Er stieg aus, und bugsierte mich relativ rücksichtsvoll ins Auto. „Wo wohnst du?“ Halb benommen nannte ich ihm die Adresse. Die ganze Fahrt über sprachen wir kein Wort. Ich hasste mich. Ich war Kilian nicht gut genug gewesen. Für einmal war ich ausreichend gewesen, hatte er gesagt. Mehr wollte er nicht. Nicht von mir. Ich hasste mich. Was hatte ich falsch gemacht? Ich konnte mich nicht einmal wirklich erinnern! Wir hatten getanzt, das war das letzte, was in meinem Gedächtnis hängen geblieben war. Danach war Filmriss, bis zum Aufwachen in einem fremden Bett. Ich hatte mit meinem Schwarm geschlafen und konnte mich nicht einmal daran erinnern! Ich hasste mich. Warum musste das mir passieren? Ich hatte noch nie einen Filmriss gehabt. Und dabei hatte ich schon öfters mehr Alkohol getrunken als gestern Abend. Andererseits war der Kater auch noch nie so schlimm gewesen wie heute. Mein Kopf dröhnte, als hätte ihn jemand mit einem Schmiedehammer bearbeitet, und mir war speiübel. Der Wagen hielt. Mein weißblonder Chauffeur sah mich an, und ich hob den Blick, um ihm zu danken. Doch er winkte nur ab. „Ist schon in Ordnung. Und… Nimm’s dir nicht so zu Herzen. Das macht er mit jedem so.“ Er sprach so verständnisvoll, dass ich ihn erstaunt ansah. Und in seinen Augen fand ich irgendetwas, das mich dazu veranlasste, zu fragen: „Woher…?“ Er blinzelte nur bedeutungsvoll. Und ich wusste… „Du auch…“ ~~~ So, meine lieben Leser, liebe Wettbewerbsjury. Die ist das vorübergehende Ende. Nach Beendigung der Wettbewerbsauswertung werde ich hier Lios Geschichte forterzählen. Also, bleibt dran! Ich habe es so weit geschafft, wie ich es wollte, und bin daher recht stolz auf mich, und es ist sogar gerade erst halb zwölf, obwohl ich doch sonst meistens erst um diese Zeit mit dem Schreiben anfange... Nunja, jedenfalls gehe ich jetzt in meinen (meiner Meinung nach) wohlverdienten Urlaub. Man liest sich im August! Eure Tharaia Kapitel 7: Puzzleteile ---------------------- Hallöchen! Eigentlich ist es ja nicht meine Art, großartigen Schwafeltext vor meinen Kapiteln zu schreiben, aber hier muss es einfach sein! Ich platze nämlich gleich vor Stolz, weil ich in dem Wettbewerb, für den diese Story entstanden ist, doch allen ernstes den zweiten Platz gemacht habe! Aber wie das bei meinen Werken so ist, verselbstständigen sie sich früher oder später, und für euch heißt dieser zweite Platz eigentlich im Klartext, dass ihr euch jetzt wieder über neue Kapitel freuen dürft. Wobei das nächste eher weniger freudig ist. Aber für Lior kommen auch wieder rosigere Zeiten, versprochen! Nur ob sie dann so bleiben... Lasst euch überraschen! ;P Und jetzt genug gequasselt, viel Spaß beim Lesen! ~~~ „Du auch…“ Ich starrte ihn an; lang, fassungslos, aber ich sah nicht den großen, weißblonden Jungen, der so nett gewesen war, mich heim zu fahren. Ich sah die Puzzleteile der letzten Woche vor meinem Inneren Auge, die sich langsam zusammenfügten. Es machte Sinn. Alles war fast erschreckend schnell gegangen. Ich hatte Kilian an meinem ersten Tag auf der deutschen Schule gesehen und war sofort hin und weg gewesen. Ich hatte mich benommen wie ein sabberndes Fangirl, wenn ich ihm begegnet war. Das waren jedenfalls Rokas Worte dazu gewesen. Der Vergleich war peinlich und irgendwie vulgär, aber er passte. Und Kilian müsste ein Idiot sein, wenn er es nicht bemerkt hätte. Wie sonst wäre er dazu gekommen, mich nur fünf Tage später auf eine Party in einen Club einzuladen, der anscheinend seiner Familie gehörte? Und dass er es nicht spontan oder aus reiner Nettigkeit getan hatte, war nach diesem Ausgang des Abends ja nun wirklich offensichtlich. Er hatte die Chance genutzt und mich flachgelegt. Wahrscheinlich hatte es ihn noch nicht einmal gekümmert, ob er es mit mir oder jemand anderem getan hatte. Ich war kein Einzelfall. Mit einem zittrigen Seufzen, der verriet, dass ich kurz vorm Heulen war, vergrub ich mein Gesicht in den Händen. „Fucking asshole“, wisperte ich in den nach dem Abstellen des Motors stillen Innenraum des Polos und meinte es sogar fast wörtlich. Ich rang um meine Fassung und setzte ein erzwungenes Lächeln auf meine Lippen, das sich so angespannt anfühlte, dass es eher wie ein knurrender Hund aussehen musste. „Thanks for the ride“, murmelte ich, weil mir im Moment die deutschen Worte fehlten. Aber mein Chauffeur verstand mich wohl auch so, denn als ich ausstieg und die Tür ins Schloss drückte, sah ich sein mit einem ehrlicheren Lächeln als meines verbundenes Nicken. Der Weg zum Haus blieb tränenfrei. Das hatte seine Ursache allerdings keineswegs in dem Wissen, dass unsere Nachbarn mich unter Garantie wieder einmal durch die Gardinen beobachteten. Nein, ich konnte einfach nicht weinen. Ich hätte gern, denn dann wäre vielleicht dieser schreckliche Kloß in meinem Hals etwas kleiner geworden, aber es ging nicht. Mit zitternden Fingern steckte ich den Schlüssel ins Schloss. Das Haus schien leer, meine Mutter war wohl nicht da. Aber das konnte mir nur recht sein. Sie hatte es schon früher nicht gemocht, wenn ich einfach so mal mit einem Kerl geschlafen hatte. Nicht, dass es sonderlich viele gewesen wären. Doch ab und zu überkam selbst so einen realitätsfernen Romantiker wie mich das Verlangen nach geteilter Zweisamkeit. Es war eigentlich auch immer schön gewesen. Beide Seiten hatten es gewollt, in der Form, in der es geschehen war; ohne Hintergedanken, ohne Verantwortung. Mit Kilian war es anders. Hätte ich es gewollt, wenn er mich gefragt hätte? Hatte er mich vielleicht sogar gefragt, und ich konnte mich nur nicht erinnern? Warum konnte ich mich eigentlich nicht erinnern? Da war sie wieder. Diese ewige Frage nach dem Warum. Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen und erklomm die wie ein schier unüberwindbares Hindernis anmutende Treppe. Auf meine Beine und meinen Gleichgewichtssinn war kein Verlass, das merkte ich schnell. Erstere schienen sich partout zu weigern, mein Gewicht zu tragen, und Letzteren hatte ich wohl gestern mit dem Alkohol ins Koma befördert. Dabei war es doch wirklich nicht viel gewesen. Nur dieser eine verdammte Cocktail. Warum waren dann die Auswirkungen so stark? Schon wieder ein Warum. Und wieder keine Antwort. Nach einem langen Kampf gegen meinen Körper hatte ich mein Zimmer erreicht und ließ mich auf den Boden sinken. Dass die Sonne meine warme, gelbe Wandfarbe zum Leuchten brachte, merkte ich in meinem Elend noch nicht einmal. Auch mein Hinterteil hatte mir den Aufstieg übel genommen. Es brannte wie die Hölle. Anscheinend war Kilian nicht allzu sanft zu mir gewesen. Ich schluchzte trocken auf. Meine Klamotten rochen nach getrocknetem Schweiß. Ich beugte mich vor und zog mir die Socken von den Füßen, ehe ich mich aus meinem T-Shirt schälte. Wenn ich nur daran dachte, dass es gestern Nacht Kilian gewesen war, der mir diese Kleider abgestreift hatte… Ruckartig und alle Schmerzen ignorierend sprang ich auf und hechtete ins Bad. Ich erreichte die Toilette gerade noch rechtzeitig, ehe ich mich übergab. Ich konnte seine Hände fühlen. Auch, wenn alles andere weg war, spürte ich jetzt seine Berührungen doch zu deutlich. Er hatte mich betatscht, mich hemmungslos an Stellen berührt, über die man in guter Gesellschaft nicht sprach. Am liebsten hätte ich mir den Unterleib abgeschnitten, nur, um dieses garstige Kribbeln loszuwerden. Selbst meine Unterlippe zitterte in Erinnerung an Liebkosungen, die keine waren. Auch der Rest meines Mageninhalts fand seinen Weg ins Klo. Es roch ranzig, nach gärenden Früchten, halbverdautem Essen und Alkohol. Mit einem Mal fühlte ich mich entsetzlich schmutzig. Panik wallte in mir auf, und ich begann, hektisch an meiner Hose herumzuzerren. Ich wollte all das loswerden, all diese falschen Berührungen und halben Erinnerungen vergessen. Flach keuchend wand ich mich aus der engen Röhre und riss mir die schwarzen Retropants vom Körper. Erst jetzt fielen mir die weißen Flecken darauf auf. Würgend beugte ich mich erneut über die Kloschüssel. Der bittere Geschmack der Galle brannte sich in meine Zunge. Als mein Körper das hoffnungslose Vorhaben, noch etwas aus mir heraus zu würgen, endlich aufgegeben hatte, schleppte ich mich auf Knien zur Dusche und kroch hinein. Dass aus dem Versuch, aufzustehen, nur in noch mehr Schmerzen resultieren würden, verriet mir das starke Zittern, das mich befiel, sobald ich eine meiner Extremitäten belastete. Die Kotzerei hatte meinem geschädigten Organismus wohl den Rest gegeben. Müde langte ich nach dem Wasserhahn und drehte ihn mit schwachen Fingern auf, in der Hoffnung, das heiße Wasser würde diese entsetzliche Kälte aus meinen Knochen vertreiben. Doch es half nicht viel. Der Geruch des Duschgels überdeckte rasch den Gestank des Erbrochenen, das ich vergessen hatte, hinunter zu spülen. Wie oft ich nun schon meinen Körper eingeseift hatte, wusste ich nicht. Irgendwann nach dem vierten Mal hatte ich aufgehört, zu zählen. Aber der Schmutz ging einfach nicht weg! Ich konnte ihn immer noch fühlen. Die Spuren, die seine Hände hinterlassen hatten, ließen sich nicht so leicht beseitigen. Angeekelt schrubbte ich über eine Stelle auf meiner Brust, an der ich seine Zunge zu spüren glaubte. In mir stieg ein Gefühl auf, das mir die Kehle zuschnürte. Mich an meiner Situation verzweifeln ließ. Und mit der Verzweiflung kamen endlich die längst überfälligen Tränen. Das Seifenwasser spülte sie, die nun so zahlreich über meine Wangen rannen, in den Abfluss und ließ sie im Dunkel verschwinden. Mit ihnen gingen der Kloß und die Kälte. Doch der Schmerz blieb. Irgendwann hatte ich aufgehört, zu weinen. Irgendwann hatte ich die Dusche verlassen. Irgendwann hatte ich aufgehört, nachzudenken. Ich hatte mir eine lange, flauschige Jogginghose und einen weiten Kapuzenpulli angezogen. Meine Füße steckten in dem Paar himmelblauer Kuschelsocken, die Griff mir mal geschenkt hatte, meine Hände in geringelten Strickhandschuhen. Ich wollte meinen Körper nicht sehen. Ich ertrug es nicht mehr, ständig meine eigene, schmutzige Haut vor Augen zu haben. In meiner Musikanlage rotierte das One-X Album von Three Days Grace, mein Gitarrenverstärker war laut aufgedreht und meine Finger griffen wie von allein die richtigen Riffs. Klang zwar beschissen mit den Handschuhen, die ich danach mit Sicherheit wegschmeißen konnte, aber in solchen Momenten lobte man die Erfindung des Plektrums. Mir half das Gitarrenspiel, ich fühlte mich freier, sobald ich in die Saiten greifen konnte. Gitarren waren etwas furchtbar Faszinierendes für mich. Man schlug dagegen, und es kam ein Ton raus. Moderne Verstärker, Spieltechniken und die Lautstärke waren in der Lage, diesen Ton dann genau meiner Stimmung anzupassen. Es war meine Art, meine Gefühle in die Welt hinaus zu brüllen, ohne meine eigene Stimme benutzen zu müssen. Ich war zu schüchtern, um selbst zu schreien. Aber meine Les Paul kannte keine Schüchternheit. Wenn ich es von ihr verlangte, ließ sie ihre wunderschöne, verzerrte Stimme erklingen. Diese Liebe zur Musik war wohl das einzige Erbe meines Vaters, das ich ihm mit gutem Gewissen zuschreiben konnte. In der kurzen Pause zwischen Let it Die und Over and Over klingelte es an der Tür. Zuerst konnte ich den Ton nicht wirklich zuordnen, denn es war in der Tat das erste Mal, dass bei uns jemand klingelte. Besuch hatten wir bisher keinen gehabt, meine Mutter und ich benutzten den Schlüssel, und ein Paketdienst oder Pizzabote oder dergleichen mehr hatte sich auch noch nicht hierher verirrt. So saß ich zwei Sekunden lang regungslos auf meinem sonnengelben Hocker, ehe mir ein Licht aufging. Allerdings verharrte ich danach noch ein paar Sekunden mehr auf meinem Platz, weil ich nicht wusste, ob ich öffnen sollte. Eigentlich hatte ich keine Lust auf Gesellschaft. Ich wollte mir meinen Frust so gut es ging von der Seele spielen, und da konnte ich keine Zuhörer gebrauchen. Außerdem tauchten in meinem Kopf schon wieder sämtliche Horrorvisionen auf. Was, wenn es Kilian war, der da vor der Tür stand? Dass diese Vorstellung restlos dämlich war, weil der Mistkerl keinen Grund hatte, hierher zu kommen, war mir zwar auch klar, aber der Gedanke lähmte mich trotzdem für einen Moment vor Schreck. Vielleicht war es aber auch wichtig. Denn es konnte ja doch der Paketdienst sein, der sich endlich einmal mit dem ersten Schwung übersetzter Bücher von meiner Mutter hierher bequemte. Sie erwartete die Sendung nämlich schon sehnsüchtig, um Korrektur lesen zu können. Oder es war gar meine Mutter selbst, die mal wieder rausgegangen war, und bei der Heimkehr feststellte, dass sie keinen Schlüssel dabei hatte. Wäre nicht das erste Mal. Dieser Gedanke brachte mich dann doch dazu, die geliebte Les Paul in ihren Ständer zu verfrachten und meine schmerzenden Glieder die lange Strecke hinunter zur Haustür zu quälen. Dass meine Finger das Zittern immer noch nicht aufgegeben hatten, musste ich beim Umdrehen des Schlüssels feststellen. Aber vielleicht war es auch nur die Nervosität. Denn irgendwie fürchtete ich doch, gleich meinen Peiniger vor mir zu sehen. Doch es war nicht Kilian. Es war auch nicht meine Mutter. Mit großen Augen starrte ich die Person an, von der ich am allerwenigsten erwartet hätte, sie jetzt hier stehen zu sehen. Schüchtern lächelte er mich unter seinen langen, weißblonden Ponysträhnen hervor an. „Hi“, murmelte mein Chauffeur, „Eigentlich wollte ich nur kurz sehen, wie’s dir geht…“ ~~~ Und cut! XD Ich muss ja sagen, ich persönlich mag das Kapitel sehr gern. Es hat genau die richtige Mischung von Drama und verstecktem Sarkasmus, die mich glücklich macht. Außerdem steigen wir endlich mal tiefer in Lios Psyche und Charakter ein, und so langsam nähern wir uns "des Pudels Kern", wie es in Goethe's Faust so schön heißt. Aber ich laber schon wieder zu viel. Bis demnächst! Man liest sich! Kapitel 8: Kakaobrüderschaft ---------------------------- Dieses Kapitel entstand unter widrigsten Umständen, da ich es mit zwei mehrwöchigen Pausen irgendwo an völlig unpassenden Stellen schrieb, kleine Fehler wie seltsame Übergänge seien mir daher verziehen. Außerdem wurde ich immer wieder durch RPG-süchtige Freunde unterbrochen (wobei ich ja selbst ein solcher Suchtie bin). Das Seltsamste ist allerdings, dass ich es trotz der unpassendsten musikalischen Hintermalung geschafft habe, über zwei niedliche Emoboys zu schreiben UND Drama unterzubringen. Normalerweise höre ich ja beim Schreiben wenigstens Musik von Kerlen mit Make-Up im Gesicht, doch diesmal hatte ich festgestellt, dass ein netter Mensche namens "realdragon23" fast das komplette Samsas-Traum-Konzert vom 4. November auf Youtube hochgeladen hat. Wer also wissen möchte, wie Metaler mit viel Kick-Ass-Rock Geburtstag feiern, sei herzlich eingeladen, diesem Link zu folgen. Meine Hände sind sicherlich auch drauf, ich stand links vorne irgendwo zu Füßen des Gitarristen. http://www.youtube.com/watch?v=7dffniIlxsc&feature=related Nun aber genug geschwafelt, das Kapitel hat auch ohne mein sinnloses Vorgelabere, das wahrscheinlich eh niemand liest, deutlich Überlänge. Viel Spaß! ~~~ Sekundenlang stand ich einfach nur bewegungslos in der kaum einen Spalt breit geöffneten Tür und starrte ihn an, als wäre er eine Erscheinung. Bis er sich räusperte. Ich legte den Kopf leicht schief und konnte spüren, wie meine Augen sich leicht verengten. Nein, ich war keineswegs wütend auf ihn oder dergleichen. Warum auch? Aber ich wusste in diesem Moment wirklich nicht, ob ich ihn eintreten lassen wollte. Er war nett gewesen, indem er mich heimgefahren hatte. Allerdings hatte er selbst gesagt, dass Marcy ihn darum gebeten hatte. Diese Nettigkeit konnte also auch überhaupt nichts mit mir zu tun haben. Wer wusste schon, mit was Marcy ihn erpresste, oder so! Immerhin war er ein sehr zurückhaltender und schweigsamer Kerl gewesen, wenn ich ihm in der Schule begegnet war. Konkreter ausgedrückt hatten wir noch kein Wort miteinander gewechselt, ehe er mich vor diesem verfluchten Club aufgelesen hatte. Und stille Wasser waren ja bekanntlich tief. Es konnte alles Mögliche hinter der netten, etwas distanzierten Fassade lauern! Was wusste ich schon über ihn? Generell über dieses Land und seine Sitten? Vielleicht erwartete er eine Gefälligkeit für seinen Fahrdienst, Deutsche galten doch sonst so als korrekt. Aber ich war im Moment nicht gewillt, irgendetwas zu geben. Letzte Nacht war mir schon zu viel gestohlen worden. Gut, das meiste hatte sich im Endeffekt als Illusion herausgestellt, aber auch zerplatzende Seifenblasen konnten wehtun. Vor allem so jemandem wie mir, der generell zu naiv und gutgläubig war und viel zu sehr dazu neigte, alles durch eine rosarote Brille zu sehen. Wieder so etwas, wofür ich mich hasste. Kurz gesagt, ich wusste nicht, ob ich dem Weißblonden trauen konnte. Ich kannte ja noch nicht einmal seinen Namen. Eigentlich wusste ich nicht mehr über ihn, als ich zu dem Zeitpunkt über Kilian gewusst hatte, an dem ich mich auf ihn eingelassen hatte. Aber ein scheuer, kurzer Blick in blaugrüne Augen, die mich nicht minder scheu unter den hellen Strähnen hervor an lugten – was eine Kunst war, immerhin war er deutlich größer als ich – und in denen ich sogar so etwas wie Besorgnis zu sehen glaubte, revidierte meine Meinung. Ich wusste sehr wohl mehr über ihn, als ich über Kilian gewusst hatte. Mit ihm hatte der Mistkerl genau das gleiche abgezogen wie mit mir. Oder zumindest etwas sehr ähnliches. Das hatte er mir selbst gesagt. Es machte ihn zu einem Leidensgenossen. Vielleicht hatte er genauso gelitten, wie ich es gerade tat? Wie vielen anderen Jungen hatte Kilian noch das Herz gebrochen? Vielleicht konnte er mir diese Fragen beantworten. Und wie heißt es doch so schön, der Feind meines Feindes ist mein Freund. Aber was, wenn das auch bloß gelogen war? Wenn er mit mir spielte, wie unser angeblich gemeinsamer Peiniger? Vielleicht steckten sie auch unter einer Decke, und Kilians brüske Verabschiedung diente lediglich dazu, mich in die Arme seines Komplizen zu treiben, der mir dann unter dem Vorwand des Verständnisses den Rest gab. Der vermeintliche Komplize seufzte leise auf der anderen Seite der Tür und wandte sich wortlos zum gehen. Er wirkte geknickt, wie er da mit hängenden Schultern, die Hände in den Hosentaschen vergraben, den kurzen Weg durch unseren Vorgarten schlurfte. Und ich tat nichts, außer ihm nachzusehen. Verdammt nochmal, vielleicht war das alles hier ein erschreckend gut inszeniertes Schauspiel, aber immerhin bestand auch die Möglichkeit, dass er es ernst meinte und sich wirklich Sorgen machte! Und mein mit ‚Make Love, not War‘ und ähnlichen Weltfrieden-Slogans aufgewachsenes Gemüt ertrug es nicht, ihn einfach so vor den Kopf zu stoßen. Deshalb war meine Zunge auch mal wieder schneller als mein Kopf. „Warte…!“, nuschelte ich leise, aber es reichte, denn er drehte sich zu mir um und sah mich an, einen Hauch Hoffnung auf dem Gesicht. „Ähm…“, gab ich wirklich sehr intelligent und noch viel leiser von mir, „Kakao?“ Erst, als ich die Tür schon weiter aufgezogen hatte und er lächelte, fiel mir auf, was für einen Mist ich da zusammengestammelt hatte. Kakao! Wie alt waren wir denn bitte? Zwar war es Griffs Lieblingsgesöff gewesen, weshalb die Frage nach einem Kakao sich in meinem Unterbewusstsein vielleicht als ultimativer Lockvogel gespeichert hatte, um Leute nochmal mit in die Wohnung – in diesem Fall eben ins Haus – zu kriegen, aber er hatte so etwas Erwachsenes an sich, dass mir die Frage peinlich erschein. Kaffee wäre passender gewesen. Aber er kam trotzdem mit diesem kleinen, zurückhaltenden, aber trotzdem mit einer riesigen Strahlkraft ausgestatteten Lächeln auf mich zu und stieg die Treppen zur nun offenen Tür hoch. Kurz verspürte ich den Drang, sie ihm doch noch vor der Nase zuzuschlagen und mich vor der Welt zu verstecken, aber ich rang ihn nieder. Er trat ein und streifte sich die Sneakers von den Füßen, während er anfing zu reden, ohne dass sein Lächeln verblasste. „Gerne.“ Ich starrte ihn verblüfft an, hatte doch eher erwartet, dass er ablehnen würde, weil Kakao wirklich nicht zu ihm passte. Und er starrte zurück. Jeder musterten wir den anderen, ohne Intention, ohne Hintergedanken, nur um des Betrachtens willen, ehe er mit einem zweite Lächeln und einer entschlossen vorgestreckten Hand das Schweigen brach. „Ich bin Fritz. Denke mal nicht, dass du dir bei dem Crashkurs von Marcy am ersten Tag alles merken konntest.“ Das Lächeln wurde zu einem schüchternen Grinsen, so, als wüsste er nicht, ob es angebracht wäre. Ich erwiderte es zaghaft und hob meine noch immer vom Handschuh versteckte Rechte, um seine zu nehmen, doch auf halbem Weg stockte ich. Ich wollte wirklich nicht unhöflich sein, aber alles in mir sperrte sich gegen die Berührung. Ich wollte seine Hand nehmen, die Nettigkeit erwidern, mit der er mir begegnete, aber es ging einfach nicht! Mein Arm begann zu zittern, als ich ihn dazu zu zwingen versuchte, die Bewegung fortzuführen, und Fritz musste es bemerkt haben, denn er ließ seinen sinken, ohne versucht zu haben, mich zu berühren. Und auch sein Lächeln verblasste nicht. Wenigstens das konnte ich erwidern, und so drehte ich mich rasch um, kehrte ihm den Rücken zu, um der peinlichen Situation zu entfliehen, und machte mich auf Richtung Küche. „Ähm, setz dich doch irgendwo ins Wohnzimmer, ich koch den Kakao…“, versuchte ich mit dem letzten Rest Selbstsicherheit zu sagen, der mir noch geblieben war, aber ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme kratzig und brüchig klang. „Klar, sag’s, falls du Hilfe brauchst!“, meinte er nur, und auch seine Stimme klang nicht viel fester als meine. Offenbar fühlte er sich in dieser Situation genauso unsicher wie ich. Ich konnte hören, wie sich seine Schritte ins Wohnzimmer entfernten, und ich fragte mich, während ich die Milch abmaß und in einen Topf auf dem Herd schüttete, warum er hergekommen war. Er hatte gesagt, er wolle sehen, wie es mir ging. Aber da steckte doch mit Sicherheit mehr dahinter. Nur kam ich nicht drauf, was es sein könnte. Seufzend löffelte ich Kakaopulver und Zucker in den Topf und drehte den Herd auf. Ich würde es schon noch rausfinden… vielleicht. Wenn ich den Mut dazu fand, ihn zu fragen. Und er mir antworten wollte. Warum war das alles nur so schrecklich kompliziert? Ich wollte wieder nach Hause! Da hätte ich jetzt zu Griff gehen und mich bei ihm ausheulen können, er hätte einen seiner berüchtigten ‚Ladies‘ Days‘ anberaumt, die er immer mit mir veranstaltete, wenn es einem von uns in Liebesdingen schlecht ging, inklusive ausgiebiger Schönheitspflege, Frustshoppen und abends ein entspannter Besuch in unserer Stamm-Cocktailbar am Strand. Wenn wir Glück gehabt hatten, dann hatte der Besitzer, den wir gut kannten, ein Auge zugedrückt und uns unter der Hand sogar einen alkoholischen Drink bringen lassen. Ich seufzte müde und zog den Milchtopf von der Herdplatte. Wie oft hatte ich mir in den letzten Wochen gewünscht, wieder nach Hause gehen zu können? Hundert Mal täglich? Könnte hinkommen, dachte ich mir, während ich den fertigen Kakao auf zwei Tassen verteilte. Kurz überlegte ich, ob ich ihm einfach Zucker in seine Tasse hineinlöffeln sollte, aber dann kramte ich doch lieber ein Tablett hervor und stellte sowohl die zwei Tassen als auch die kitschige Zuckerdose in Form einer Tulpe darauf. Beladen mit meiner süßen Last ging ich ins Wohnzimmer, wo Fritz es sich auf den Kissen am Boden bequem gemacht hatte, die bei uns das Sofa ersetzten. Etwas unschlüssig blieb ich vor ihm stehen. „Ähm… sorry, ich wusste nicht, wie viel Zucker du willst, also…“ Ich stammelte hilflos und völlig nervös vor mich hin und lief auf meinen verunglückten Versuch, meinen Gastgeberpflichten nachzukommen, so rot an, dass jede Tomate neidisch geworden wäre. Hastig stellte ich das Tablett ab, wobei ich gleich ein bisschen Kakao verschüttete, und hetzte zurück in die Küche, um einen Lappen zu holen. Dabei stolperte ich über eine Teppichkante. Es schlug mich der Länge nach auf die Fresse. Zwar rappelte ich mich sofort wieder auf – schlimm verletzt hatte ich mich nicht – aber das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Schluchzend barg ich mein Gesicht in den Händen, zog die Knie an und fing hemmungslos an zu weinen, obwohl ich vor wenigen Stunden erst gemeint hatte, keine Tränen mehr vergießen zu können. Das hier war einfach zu viel. Und noch war längst nicht alle Trauer und Verzweiflung verarbeitet. Warum? Warum ausgerechnet ich? Was hatte ich getan, dass mein Leben im Moment alles daran setzte, zu meiner persönlichen Hölle zu werden? Zwischen all den schwarzen Gedanken spürte ich plötzlich ein Paar Hände, die sich sacht um meine Schultern schlossen. Ich erstarrte und schüttelte mich unter den Schauern, die sich gegenseitig meinen Rücken hinunter jagten. Ich wollte schreien, die garstigen Eindringlinge in meine kleine Welt aus Schmerz abschütteln, doch ich war wie gelähmt, und durch meine wie zugeschnürte Kehle drang kein Laut. Stattdessen erreichten die Klänge einer anderen Kehle meine Ohren. „Lio… es ist gut. Dir tut hier niemand etwas. Wein dich aus…“ Diese Worte rannen über meine geschundene Seele wie die zärtliche Tinktur eines Wunderheilers, linderten die größte Pein: Die Mauer, die ich bereits um das Geschehene zu ziehen begonnen hatte, stürzte ein. Erneut war ich all dem Zweifel ausgesetzt, den ich eben erst mühsam niedergerungen hatte, doch jetzt war etwas anders. Jetzt war ich nicht allein. Verzweifelt krallte ich mich in den weichen T-Shirt-Stoff unter meinen abwehrend ausgestreckten Händen, und klammerte mich an den warmen, Trost spendenden Körper vor mir. Wie lange wir so voreinander saßen, konnte ich nicht sagen. Jedes Zeitgefühl war mir abhanden gekommen, ebenso wie jede Gewalt über mich selbst. Er tat nichts weiter, als mich zu halten, aber ohne mich einzuengen. Nicht einmal in den Arm nahm er mich; er wusste wohl so gut wie ich, dass das für mich zu weit gegangen wäre. Aber er war da, und das reichte, um die Tränen und Schluchzer irgendwann endigen zu lassen. Ein letztes Mal fuhr ich mir mit dem Pulloverärmel über die geröteten Augen, ehe ich ihn scheu ansah. Er tat dasselbe, und so sah ich rasch wieder weg. Um meine Verlegenheit zu überspielen (darin hatte ich Erfahrung) griff ich intuitiv zu den Kakaotassen und nahm einen Schluck – nur um ihn sofort wieder in die Tasse zu spucken und angewidert das Gesicht zu verziehen. „Ich… mach die wieder warm…“, nuschelte ich und stand auf, wobei meine wackligen Beine fast unter mir weggeknickt wären. Aber zum Glück hatte ich gute Reflexe. Ansonsten hätte ich mir bestimmt auch bei dem Sturz über die Teppichkante, der mir im Nachhinein schrecklich peinlich war, bestimmt mehr weh getan. Mit dem Tablett stolperte ich zurück in die Küche und kippte den Tasseninhalt zurück in den Milchtopf, der immer noch auf der Herdplatte stand. Fritz war mir gefolgt. So besorgt, wie er mich musterte, hatte er bestimmt Angst, ich würde gleich wieder heulend zusammenbrechen. Aber das war fürs Erste überwunden. Während wir darauf warteten, dass die Milch zu kochen anfing, beschloss ich, etwas mehr über ihn herauszufinden. Und über Kilian. Angestrengt starrte ich unsere wirklich sehr interessanten beigen Bodenfliesen an, während ich mich damit abmühte, meine Zähne auseinander zu kriegen. „Wie… war das eigentlich mit dir… und Kilian?“ Meine Stimme war leise und übertönte kaum das Summen des Kühlschranks, aber Fritz hatte es trotzdem gehört. Er musste gute Ohren haben. Und eine hohe Schmerzgrenze, denn so fest, wie er sich gerade auf die Unterlippe biss, hätte ich schon längst angefangen zu schreien. „Du, ähm, musst nichts erzählen, wenn du nicht willst, also…“, schob ich noch schnell halb gestottert hinterher, doch er schüttelte nur den Kopf. „Nein, es ist schon in Ordnung. Es wird Zeit, dass ich es endlich jemandem erzähle.“ Er atmete tief durch, zog sich einen unserer Küchenstühle heran und legte seine gefalteten Hände auf die Platte unseres Esstisches. „Ich war in ihn verknallt. Vor zwei Jahren. Damals war es mit ihm noch nicht ganz so schlimm wie heute. Sein Erfolg als Aufreißer ist ihm mit der Zeit ganz schön zu Kopf gestiegen. Aber auch da schon hatte er nicht viel für Beziehungen übrig. Ich wusste das, immerhin kenne ich ihn seit der Grundschule. Wir waren sogar mal ziemlich gut befreundet. Aber irgendwann habe ich all meinen Mut zusammengekratzt und ihm gestanden, dass ich mehr für ihn gefühlte habe als Freundschaft.“ Fritz grinste schmerzlich, aber seine Stimme blieb ruhig. „Erst schien alles okay; er sagte, er müsse darüber nachdenken. Wäre sich nicht sicher. Und, Gott, ich hätte alles für ihn getan! Also habe ich gewartet und mich so um ihn bemüht, dass er irgendwann meinte, er wolle es mit mir mal probieren. Also waren wir zusammen, ein Paar, hab ich gedacht. Er sah das wohl ein bisschen anders. Aber ich war blind vor Liebe und so glücklich, dass ich mir für ihn den Arsch aufriss, wo immer ich konnte. Ich machte seine Hausaufgaben, ich erledigte Botengänge, buk ihm Muffins und nahm sie mit in die Schule, lieh ihm Geld, das ich bis heute nicht zurückbekommen habe und gewährte ihm nach der ersten Woche, die bis auf ein paar Küsse und meine Idiotie ziemlich harmlos verlaufen war, sogar Unterschlupf vor dem Zorn seiner Mutter, nachdem die einen halben Joint bei ihm gefunden hatte und fuchsteufelswild geworden war. Und als er dann bei mir war, Freitagabend, ging alles nur noch bergab.“ Fritz seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch die hellen Haare, ehe er mit ein paar kleinen Fingerbewegungen den Pony wieder in Form brachte. So routiniert würde ich das auch gern können. „Er übernachtete bei mir im Bett, weil er darauf bestand, dass ein Paar nebeneinander zu schlafen hatte. Dass meine Eltern darüber nicht begeistert waren und ich mir eine ganze Menge Ärger eingehandelt habe, muss ich nicht extra erwähnen, oder?“ Ich starrte ihn mitleidig an; das Problem intoleranter Familien kannte ich von Griff zur Genüge. „Na ja, jedenfalls fragte er mich, ob er mit mir schlafen dürfe. Ich sagte nein, und er begann zu nörgeln. Also sagte ich irgendwann doch ja, ich konnte es ihm einfach nicht abschlagen. Und, hey, er war wirklich gut im Bett! Bis zum nächsten Morgen war alles in Ordnung. Da hat er dann mit mir Schluss gemacht und ist heimgegangen. Einfach so.“ Fritz verstummte und starrte für ein paar Herzschläge still vor sich hin. Ich hingegen war wie paralysiert: Selbst, wenn ich etwas zu sagen gehabt hätte, hätte ich es nicht gekonnt. Mir fehlten nicht nur die Worte, sondern auch die Befehlsgewalt über meinen in letzter Zeit sehr widerspenstigen Körper. Inzwischen kochte die Milch hoch, und ich füllte den nun warmen Kakao wieder in die Tassen zurück und stellte ihm eine hin. Er ergriff den Henkel, redete aber weiter, anstatt zu trinken, als wäre ihm noch etwas eingefallen, dass er loswerden musste. „Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich denn falsch gemacht hätte. Was ich übersehen hatte, dass er mich verlassen hatte. Aber irgendwann ging mir auf, dass ich gar nicht der springende Punkt war, sondern Kilian selbst. Gefühle liegen ihm nicht, ihm geht es nur darum, andere flachzulegen. Und wenn er dich hatte, geht er zum Nächsten. Ausnahmslos bisher.“ Diesmal war es die Wut, die mir die Sprache verschlug. Ich atmete schwer, um mich von einem Ausraster abzuhalten, und mein Kiefermuskel zuckte angriffslustig. Doch Klein-Lio wütend war ein Anblick, der so entwürdigend peinlich war, dass ich mir dieses Gefühl von vornherein verbot. Ein bisschen Stolz versteckte sich auch in mir grauem Mäuschen. „Warum macht er sowas?“, zischte ich zwischen fest zusammengepressten Zähnen hervor, damit ich nicht schrie. Fritz zuckte mit den Schultern. „Ich hab keine Ahnung.“ Erneut schwiegen wir uns eine Handvoll Herzschläge an, ehe er mich vorsichtig fragend ansah. „Wie… war es eigentlich bei dir?“ Ich zuckte mit den Schultern, nicht wissend, ob ich wirklich schon darüber reden wollte. Doch ehe ich mich versah, sprudelten die Sätze nur so aus wir heraus wie Wasser aus einem Bohrloch, das eine Leitung beschädigt hatte. „Eigentlich genauso… Ich hab ihn angehimmelt, und er hat mich eingeladen, mit ihm auszugehen… Später hab ich rausgefunden, dass der Club seiner Familie gehört.“ Mein weißblonder Gesellschafter nickte wissend. „Das ‚Terminal‘. Es gehört seinem Bruder.“ „Ja, genau so hieß es. An viel kann ich mich aber nicht mehr erinnern, außer, dass er eigentlich ganz nett war… Egal, jedenfalls bin ich am nächsten Morgen in einem großen Doppelbett gänzlich ohne Klamotten aufgewacht und musste feststellen, dass ich wohl letzte Nacht Sex gehabt hatte, und zwar nicht unbedingt auf die sanfte Tour. Und als ich ihn endlich gefunden hatte und mit ihm reden wollte, hat er mich eiskalt vor die Tür gesetzt.“ Ich zog die Nase hoch und biss die Zähne zusammen, um die Tränen zu unterdrücken, die mir in die Augen stiegen. Wild entschlossen, nicht zu weinen, suchte ich Fritz‘ Blick, der mich mit einem wehmütigen Lächeln bedachte. Doch plötzlich trat ein Glimmen in seine Augen, das so lebendig wirkte, dass es fast unheimlich war. „Ich habe eine Idee! Wir schließen einen Pakt, dass wir uns von ihm nicht unterkriegen lassen, und von keinem Kilian dieser Welt! Kein Trübsal, kein Grübeln, wir zeigen ihm, dass wir genauso viel von ihm halten wie er von uns! Was hältst du davon?“ Mit diesem Leuchten im Blick sah er zu mir auf, und irgendwo an ihm war eine Kraft, die es mir unmöglich machte, Nein zu sagen. Außerdem hatte es mir noch nie geschadet, mir selbst Maßstäbe zu setzen. „Einverstanden!“ Fritz lächelte und hob seine Kakaotasse. „Großartig! Sag mal, trinkt ihr Amis eigentlich auch Brüderschaft?“ Verwirrt starrte ich ihn an. „Was?“ „Brüderschaft trinken! Zur Besiegelung eines Versprechens oder wenn man als Erwachsener einem anderen das Du angeboten hat! Warte, ich zeig’s dir.“ Auch ich hob meine Kakaotasse, neugierig, was er meinte. Fritz schlang seinen Arm, der das Getränk hielt, um meinen, hakte sich ein, wie Kinder es gewöhnlich beim Ententanz taten, und setzte seine Tasse an die Lippen. „Trink!“, forderte er mich noch auf, ehe er in großen Schlucken die heiße Milch mit Kakaopulver hinunterkippte. Ich versuchte, es ihm gleich zu tun, aber das Trinken in dieser Position erforderte anscheinend einiges an Übung, denn erst konnte ich kaum meine Lippen an meinem eigenen Tassenrand halten, dann verschluckte ich mich auch noch und kippte mir einen Großteil des Gesöffs über die Handschuhe, die ich noch immer trug. Aber ein paar Tropfen landeten tatsächlich in meinem Magen, und ich hoffte, dass mehr nicht nötig war, um Bruderschaft getrunken zu haben. Auch wenn mir die Funktion und Bedeutung noch nicht so ganz klar war, fühlte ich mich nun, als hätte ich einen Vertrag unterzeichnet – bindend und ohne Rücktrittsrecht. Aber das wollte ich auch gar nicht. Nachdem wir uns wieder entknotet hatten, seufzte ich noch einmal tief und zog mir kurzentschlossen die kakaoverklebten Handschuhe von den Fingern. Auch der für diese Witterung viel zu warme Hoodie folgte. Lächelnd sah ich Fritz an, und er lächelte zurück. „Weißt du was“, sagte ich zu ihm, klar und einer inneren Eingebung absoluter Ehrlichkeit folgend, „Ich will im Moment eigentlich nur nach Hause.“ Kapitel 9: Baustelle Selbstbewusstsein -------------------------------------- So. Nach einem halben Jahr Abstinenz kehre ich nun also zurück zu meinen kleinen Freaks. Aber die Pause hat sich gelohnt, ich hab jetzt nämlich ein verdammt gutes Abi in der Tasche. Und unglaubliche Schreiblust. Wenn nicht Freunde und Organisation des Studiums meine Zeit beanspruchen würden, bekäme man mich im Moment sicherlich nicht vom Laptop weg. Aber für's Erste wünsche ich euch viel Spaß mit dem nächsten Kapitel aus Lios Leben! ~~~ Die neue Woche begann ausgesprochen vielversprechend. Am Montagmorgen sah ich Roka wieder; sie stand – aufgedonnert wie immer und nicht zu übersehen – am Schultor und stürzte sofort auf mich zu, als sie mich erblickte. Stumm nahm sie mich in die Arme. Mir war sofort klar, dass sie irgendwoher wusste, was zwischen mir und Kilian vorgefallen war. Aber sie sagte keinen Ton, sondern drückte ihre Teilnahme, Bestürzung und Wut gänzlich ohne Worte aus. Ich war ihr sehr dankbar dafür. Ich verstand auch so, was sie mir mitteilen wollte. Und wenn irgendjemand heute das Thema aufgerollt und zur Sprache gebracht hätte, wäre ich sicherlich wieder irgendwie peinlich aufgefallen. Mit einem weiteren Heulkrampf oder etwas derartigem. Und das wollte ich wirklich gern vermeiden. Die erste Doppelstunde – Englisch – brachte ich ganz gut hinter mich, wenn man davon absah, dass unser Lehrer es sich in der Zwischenzeit zur Aufgabe gemacht zu haben schien, mich zu triezen. Aber viel mehr als vor ihm graute es mir vor der halben Stunde Pause, die mir im Anschluss drohte und in der ich unweigerlich auf Kilian treffen würde. Wenn er nicht schwänzte. Was ich zugegebenermaßen sehr hoffte. Doch wie es von dem Kerl nun mal nicht anders zu erwarten war, wurde ich enttäuscht. Ich hielt mich im Windschatten von Rokas Ausstrahlung, als wir uns den Bänken unter den Platanen näherten, aber auch das konnte nicht verhindern, dass seine Präsenz an diesem Ort mich wie ein Faustschlag direkt ins Gesicht traf. Ich sah ihn sofort, noch bevor man die einzelnen Gesichter ausmachen konnte. Allein das Blinken der Sonne auf seinem braunen Haarschopf reichte für mich aus, ihn zu erkennen. Mein Magen krampfte plötzlich und zwang mich zum Stehenbleiben. Ich atmete tief durch, und versuchte, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Roka hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte, und wartete ein paar Schritte weiter auf mich. Irgendwo aus dem irrational veranlagten Teil meines Gehirns drängte sich mir die Frage auf, wie Fritz das jeden Tag schaffte, sich zu seinem Ex-Besten-Freund zu setzen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Mir jedenfalls war klar, dass – wenn schon die einfache Annäherung ein solches Problem darstellte – das stille Dabeisitzen eine Übung höchster Schwierigkeitsstufe werden würde. Aber ich riss mich zusammen und setzte meinen Weg in meine persönliche Hölle fort. Fritz bekam es ja auch auf die Reihe, da durfte ich mich von einem dergestalt unschönen Zwischenfall nicht für alle Ewigkeiten aus der Bahn werfen lassen. Außerdem, fiel mir ein, hatten Fritz und ich uns geschworen, Kilian mit Missachtung und neu erstarktem Selbstbewusstsein zu strafen. Und die Einhaltung dieses Schwurs war natürlich unmöglich, wenn ich ihm von heute an aus dem Weg gehen würde. Ich atmete noch einmal tief durch und stapfte dann stoisch vorwärts, wild entschlossen, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich am liebsten sofort wieder umgekehrt wäre und mich irgendwo weit weg vor all den prüfenden Blicken versteckt hätte, die auf mir lagen. Jeder schien zu wissen, was am Freitagabend passiert war; alle sahen mich an, manche hämisch, andere mitleidig, aber keiner sagte ein Wort. Ich lächelte in die Runde und hoffte, dass mein Lächeln nicht zu gepresst aussah, bevor ich mich zwischen Marcy und Roka auf die Bank fallen ließ. Instinktiv suchten meine Augen Fritz, aber er war nicht da. Wahrscheinlich kam er später, immerhin hatte er ja ein Auto zur Verfügung und war nicht wie die meisten hier auf öffentliche Verkehrsmittel und ihre unmenschlichen Fahrpläne angewiesen. Doch statt den blaugrünen, sanften Augen, die ich in den letzten zwei Tagen zu schätzen gelernt hatte, traf mein Blick den von tief smaragdgrünen Iriden, in die ich am vergangenen Wochenende viel zu oft geblickt hatte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Doch es war Kilian, der zuerst wegsah und sich weiter mit seinem grünhaarigen Freund unterhielt. Roka klopfte mir, stummes Verständnis ausdrückend, auf die Schulter. Ich seufzte als Antwort. So fühlte es sich also an, gute Miene zum Bösen Spiel zu machen. Meine Bewunderung für Fritz‘ Gelassenheit stieg ins Unermessliche. Es war ein scheußliches Gefühl. Im Unterricht passte ich ausnahmsweise einmal auf, aber merken konnte ich mir trotzdem nur die Hälfte. In der vertrackten Englischdoppelstunde redeten wir über die Situation der Schwarzen in den USA, und ich redete fleißig mit. Meine Fachkompetenz bezüglich meiner eigenen Heimat konnte mir schließlich niemand absprechen. Und wenn ich schon den Arschlöchern dieser Schule den Krieg erklärt hatte, konnte ich gleich bei meinem überfreundlichen Lehrer weitermachen. Und wundersamer Weise war er plötzlich gar nicht mehr so unfreundlich, nachdem ich mich konstruktiv in sein Unterrichtskonzept einbrachte. Wir diskutierten die Einstellung der Südstaaten gegenüber Schwarzen vor und nach dem Bürgerkrieg, schnitten den Klu Klux Klan und die Segregation an und blieben bei Martin Luther King hängen. Ich quasselte, was das Zeug hielt – wenn ich gefragt wurde. In American History hatte ich zu Hause nicht umsonst immer sehr gute Noten gehabt. Hier war Geschichte sehr viel schwieriger, wie ich in den nächsten zwei Stunden wiederholt feststellen musste. Dass der Unterricht auf Englisch abgehalten wurde, half mir auch nicht weiter, wenn ich vom Nationalsozialismus in Deutschland nicht wirklich ‘ne Ahnung hatte. Sicher, ich kannte die Klischees, die überall in den Staaten unter Jugendlichen kursierten. Doch schon während des ersten Dokumentarfilmchens wurde mir klar, dass diese Klischees ihren Ursprung bestenfalls in unserer Propaganda hatten. Die Wahrheit sah ganz anders aus. Sie war sehr viel schlimmer. Blass im Gesicht und sicher auch etwas grün um die Nase stürzte ich aus dem Raum, sobald die Stunde beendet worden war. „Mir ist schlecht…“, jammerte ich leise vor mich hin und hielt mir den Bauch. Ich war noch nie ein großer Fan von Horrorfilmen gewesen, sie waren erträglich, solange man wegschauen konnte, wenn’s zu gruselig oder zu eklig wurde, aber das, was ich mir eben anzusehen gezwungen gewesen war, hatte meine schlimmsten Erwartungen übertroffen und meine Meinung bezüglich der Grausamkeit des Menschengeschlechts (meine Mutter liebte es, mit solchen hochtrabenden Begriffen um sich zu werfen) gründlich revidiert. Und mein Magen war noch nie der Stabilste gewesen. Roka folgte mir und legte mir einen Arm um die Schultern. „Ich weiß. Wenn sie die KZs und Brennöfen zeigen, bin ich immer froh, dass es beim Film keine Geruchswiedergabe gibt. Das muss gestunken haben wie die Hölle.“ Allein der Gedanke brachte mich zum Würgen. „Ganz großartig, Roka, genau diese Info hat mir noch gefehlt“, presste ich zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor und machte mich etwas zu eilig, um unauffällig zu sein, auf den Weg zur Toilette. Atemlos und mit einem mehr als unangenehmen Druck in der Kehle stürzte ich durch das Männerklo zu einer der Kabinen. An den Pissoirs standen ein paar Schüler aus den oberen Jahrgängen, die mir hinterher sahen, als ich an ihnen vorbeihastete. Ich konnte sie lachen hören, als ich geräuschvoll mein Frühstück von meinem Magen in die Kloschüssel umfüllte. „Der kleinen Emoschwuchtel hat wohl einer ins Maul gefickt“, höhnte einer lautstark, und die anderen johlten zustimmend. Ich zitterte. Warum war eigentlich immer ich das Ziel von Spott und Erniedrigung? Schwer keuchend blieb ich vor dem Klo, in dem die zerkauten Überreste meines Toasts herumschwammen, sitzen und hoffte, dass die Jungs gehen würden, damit ich ohne weitere Zwischenfälle aus dem Klo schleichen konnte, aber sie hatten es offenbar nicht eilig. Und der bittere Geschmack nach Galle in meinem Mund wurde mit jeder Sekunde, die verstrich, unangenehmer. „Hey, was ist ein Emo im Meer?“, tönte es von den Pissoirs herüber. „Eine Heulboje!“, brüllte eine andere Stimme, und die ganze Gruppe kringelte sich vor Lachen. Ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Aber ich war definitiv zu groß, um mich durch das Ablussrohr der Toilette zu quetschen. Immerhin war das hier nicht das Mädchenklo von Hogwarts, und ich nicht Harry Potter. Obwohl, mit Schlangen reden zu können, stellte ich mir ziemlich cool vor. Moment mal… Zauberer. Da klingelte etwas in meinem Hirn. “Ich habe eine Idee! Wir schließen einen Pakt.“ Richtig. Ich hatte es Fritz am Samstag versprochen. Kein Trübsal, kein Grübeln. Entschlossen stand ich auf und ging an den weitere Emowitze reißenden Typen (die ich nicht alle verstand) vorbei zu den Waschbecken. Ich ignorierte die kleinen Beleidigungen, mit denen sie mich bedachten, und drehte den Wasserhahn auf, um mir den Mund auszuspülen. Verschreckt zuckte ich zusammen, als ich eine Hand auf meinem Hintern spürte. Vorsichtig hob ich den Blick und sah in den Spiegel. Hinter mir stand einer der Idioten und grinste mich frech an, während er meine Kehrseite betatschte. Wütend verengte ich die Augen und starrte sein Spiegelbild an. „Pfoten weg!“, fauchte ich, rührte mich aber nicht. „Wieso, von Parck lässt du dich doch auch angrabbeln! Das gefällt dir doch. Du stehst doch bestimmt drauf, wenn du einem echten Kerl den Arsch lecken darfst.“ Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das hier waren Leute aus Kilians Jahrgang. Ich hatte sie Freitag auf der Party gesehen. Sie hatten am Nebentisch gesessen. In mir stieg eine Wut auf, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte. Würden all diese Idioten denn nie aufhören, sich über meinen Fehler lustig zu machen? Würden sie mich damit immer weiter quälen? Ich streckte ihm die Zunge raus. „Diese Zunge hat schon mehr Ärsche geleckt, als du dir vorstellen kannst, jerk. Aber deinen würd ich nicht mal anspucken, wenn ich hundert Dollar dafür bekäme.“ Ich sah ihm fest in die Augen und registrierte, dass es plötzlich still in der Toilette wurde. Mit Widerworten hatten die Dreizehner wohl nicht gerechnet. Ich wischte seine Hand beseite und drehte mich zu ihm um. Der Erfolg beflügelte. „And now take your scum and leave!“ „Hey, Mann, mach dich locker! War ja nicht so gemeint…“, murrte der augenscheinliche Anführer der Truppe und trat den Rückzug an. Seine Kumpane folgten ihm stumm. Verblüfft und von meinem kleinen Triumph überwältigt, lehnte ich mich an das Waschbecken, da meine Beine vor Erleichterung nachzugeben drohten. Was war das denn gewesen? Hatte ich ihnen wirklich mit den paar Widerworten die Lust am Mobben vermiest? Das war ja einfach. Beschwingt und mit deutlich besserer Laune steuerte ich das Bank-U an, auf dem sich die Clique wie immer versammelt hatte. Roka war da und hatte das kleine blonde Mädchen neben sich sitzen, das häufig in ihrer Nähe zu sein schien, und einen Arm um ihre schmalen Schultern gelegt, genau wie sie es vor kurzem bei mir getan hatte. Marcy quasselte dem Jungen mit den bunten Kopfhörern das Ohr ab – fraglich, ob er ihr überhaupt zuhörte. Und zwischen Roka und Marcy fand ich den weißblonden Haarschopf, den ich schon den ganzen Morgen gesucht hatte. Mein Blick fand seinen, und Fritz lächelte mich an und rutschte sofort ein Stückchen auf der Bank zur Seite, um mir Platz zu machen. „Hey“, begrüßte er mich, und ich strahlte ihn als Antwort nur glücklich an und ließ mich neben ihn auf die Bank plumpsen. „Du hast aber gute Laune“, stellte er fest, und ich nickte eifrig. „Und ob! Ich hab grad einer Gruppe Dreizehnern die Haare gewaschen!“ Er runzelte die Stirn und sah mich zweifelnd an. Dann ging wie ein Licht das Verstehen über sein Gesicht, und seine Miene hellte sich auf. „Achso, den Kopf gewaschen, meinst du! Was war denn los?“ „Sorry“, nuschelte ich und wurde leicht rot. Redewendungen waren wirklich eine komplizierte Sache! „Na ja, wir haben in Geschichte einen Dokumentarfilm über dieses berühmte Konzentrationslager gesehen, das mit A -“ „Auschwitz“, unterbrach er mich, und schien aus irgendeinem Grund plötzlich pikiert zu sein. „Ja, genau, und der war furchtbar eklig“, fuhr ich fort und fragte mich, was ich wohl Falsches gesagt hatte. „Jedenfalls war mir danach schlecht, und dann hat Roka noch angefangen, von dem Gestank zu reden, der da geherrscht haben muss, und dann bin ich bloß noch so schnell ich konnte aufs Klo gerannt. Tja, und da waren dann ein paar Jungs aus Kilians Jahrgang, die…“ Ich schluckte. Fritz sah mich fragend an, aber ohne mich zu drängen. Das gab mir Mut, weiterzusprechen. „Die waren am Freitag auch da. Einer hat mich angefasst und mich beleidigt.“ Das pure Entsetzen stand in Fritz‘ Gesicht geschrieben. Wahrscheinlich dachte er, es wäre sonst was passiert. Ich grinste triumphierend. „Aber ich hab mich gewehrt. Und dann sind sie gegangen!“, verkündete ich stolz. Fritz sah mich eine Weile an, als hätte ich ihm erzählt, eine pink gefleckte Kuh wäre an meinem Fenster vorbeigeflogen. Doch dann beugte er sich einfach vor und umarmte mich. Etwas steif saß ich da, wagte nicht, mich zu rühren. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit, unbestimmte Angst kroch mir den Rücken hoch. Irgendetwas an dieser Situation kam mir unglaublich falsch vor, doch ich konnte nicht sagen, was genau mich störte. Seine Umarmung war keinesfalls zu fest oder unangenehm. Aber irgendetwas stimmte nicht. „Ähm… Fritz?“ Vorsichtig stellte ich die Frage, ganz leise, fast geflüstert, so dass nur er sie hören konnte, obwohl Roka direkt neben mir saß. Aber sie war ohnehin beschäftigt. Fritz ließ mich vorsichtig los und rutschte ein minimales Stückchen von mir weg, sodass unsere Körper sich nicht mehr berührten. Sofort entspannte ich mich, und das ungute Gefühl verflüchtigte sich nach und nach. Und trotz dieser indirekten Zurückweisung lächelte Fritz mich breit an. „Ich bin stolz auf dich, Lio.“ Wie auf Knopdruck wurde ich knallrot. Dass er so etwas einfach so sagen konnte, als wäre das nichts Besonderes! Auf jemanden stolz zu sein, das war ein Satz, den Eltern zu ihren Kindern sagten. Aber wenn er von einem Gleichaltrigen kam, war er entweder lächerlich oder ein riesiges Kompliment. Ich beschloss, ihn als Letzteres aufzufassen. Die Freude, die sich bei diesem Gedanken in meinem ganzen Körper, von den (sicherlich ebenfalls krebsroten) Haarwurzeln bis in die pochenden Fingerspitzen, ausbreitete, fühlte sich zu gut an, um sie abzublocken, indem ich lang und breit über ihre Ursache nachdachte. Sie war genau das, was ich jetzt brauchte, um mein angeschlagenes Selbstbewusstsein ein bisschen aufzubauen. Fritz war offenbar unglaublich gut darin, mein Ego aufzupäppeln. Und seinem Lächeln nach zu urteilen freute er sich wirklich darüber, dass unser Pakt erste Früchte trug. Offensichtlich gut gelaunt lehnte er sich zurück und blinzelte in den sonnigen Himmel. „Sag mal, Lio, warst du schon mal Schlittschuhlaufen?“ Verdutzt starrte ich ihn an. „Bitte was?“ Er lächelte. „Schlittschuhlaufen. Wie Rollschuhfahren, nur auf Eis.“ Meine Augen wurden immer größer. „Auf Eis? Ich hab noch nie Eis gesehen!“ Fritz lachte. „Wirklich nicht? Dann müssen wir das unbedingt nachholen. Hast du heute Nachmittag Zeit?“ Verlegen biss ich mir auf die Unterlippe. „Schon, aber erst ein bisschen später. Meine letzte Stunde fällt aus, aber ich hab Griff versprochen, dass ich ihn heute Mittag anrufe.“ „Kein Problem. Was hältst du davon, wenn ich dich um halb Vier zuhause abhole?“ Ich nickte und lächelte zögerlich. Schlittschuhfahren? Wie kam er denn auf den Gedanken? „Das müsste gehen. Griff hat sowieso nur eine halbe Stunde Zeit.“ Er lächelte versonnen zurück. „Wer ist eigentlich dieser Griff?“ „Mein bester Freund. Er wohnt auch in Miami. Ich hab ihm versprochen, dass ich ihn heute anrufe, bevor er zur Schule muss.“ Kurz hatte ich den Eindruck, dass ein dunkler Schatten über Fritz‘ Gesicht huschte. So, als würde ihn irgendetwas furchtbar traurig machen. Aber ich konnte mich auch irren, denn sofort darauf lächelte er mich wieder so unbeschwert an wie eben noch. „Ah, so. Na dann sehen wir uns heute Nachmittag. Und denk daran, dir warme Klamotten mitzunehmen, in der Eissporthalle ist es ziemlich kalt!“, ermahnte er mich und stand auf. Er hob die Hand zum Gruß und schulterte seinen durchgescheuerten Eastpak-Rucksack, bevor er sich auf den Weg zu seiner nächsten Stunde machte. Verwirrt sah ich ihm nach. Wie zum Teufel kam er auf den Gedanken, mit mir Eislaufen gehen zu wollen? Nicht, dass ich mich nicht darüber freute, dass er etwas mit mir unternehmen wollte, aber der Grund unseres Treffens war doch wirklich reichlich seltsam. Seufzend erhob ich mich, als Roka mich auffordernd in die Seite piekste, und ging mit ihr der letzten Schulstunde des heutigen Tages, die natürlich unbedingt Deutsch sein musste, entgegen. Kapitel 10: Rätselraten ----------------------- Nach der mit Hängen und Würgen überlebten Deutschstunde – die Lehrerin, Frau Schröter, war ja wirklich sehr nett, aber erstens zerbrach ich mir an ihrem Namen jedes Mal die Zunge und zweitens hatte sie uns schon in der zweiten Woche eine Lektüre aufgebrummt, was mich dazu zwang, Schillers „Kabale und Liebe“ zu lesen, obwohl ich kein Wort seiner schwülstigen Sprache verstand – verabschiedete ich mich rasch von Roka, denn ich hatte es zugegebenermaßen etwas eilig, nach Hause zu kommen und wollte unbedingt noch den ersten Bus erwischen. Sechs Minuten nach Schulschluss war es in dem Gefährt noch wunderbar leer, und so ließ ich mich auf einem der zahlreichen freien Sitzplätze nieder und steckte mir die Ohrstöpsel meines MP3-Players in die Ohren. Zwei Stationen später stieg ein Typ mit einem Gitarrenkoffer zu und setzte sich neben mich. Etwas befremdet starrte ich ihn an, denn er sah wirklich seltsam aus. Seine schwarzen Haare standen in alle möglichen Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab, als hätte er in die Steckdose gefasst, und rochen nach Haarspray. Die mit Buttons, Aufnähern, Nieten und Ketten bestückte Lederjacke, die er über einem Jack-Daniels-Shirt trug, klimperte mit den unzähligen Gürteln um seine Hüfte um die Wette, und die zerrissene, schwarze Röhrenjeans hätte vermuten lassen können, dass er geradewegs aus der Gosse kam, wenn da nicht die Schlangenlederboots an seinen Füßen gewesen wären, die sicherlich eine ganze Stange Geld wert waren. Seine mit Eyeliner umrandeten, blaugrünen Augen blitzten mich schelmisch an, als er mich mit zwei Reihen gerader, weißer Zähne angrinste. „Hey!“, sagte er zu mir und grinste immer weiter. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen und wusste nicht, was ich tun sollte. Mein Blick klebte an seiner polarisierenden Erscheinung, und ich war mir nicht sicher, ob ich ihn toll finden oder für durchgeknallten Abschaum halten sollte. „Ähm. Hi“, versuchte ich es also vorsichtig mit einer Erwiderung auf seine Begrüßung. Er lachte. „Himmel, bist du niedlich.“ Mir entgleisten meine Gesichtszüge. Bitte WAS?! „Komm doch mal hier vorbei, ich kenn da jemanden, der dich sicher furchtbar gern mal treffen würde“, erzählte er und drückte mir einen bunten Flyer in die Hand. Dann sah er mich zwei Herzschläge lang an, ohne etwas zu sagen, lachte, wuschelte mir durch die Haare und stand auf, um zur Tür zu gehen. An der nächsten Haltestelle stieg er aus, mitsamt seinem Gitarrenkoffer, auf dem neben einigen Aufklebern auch der gekonnt aufgesprayte Schriftzug „Wildcard“ prangte. Mit offenem Mund starrte ich ihm hinterher, bis mir auffiel, dass er gerade meine Frisur ruiniert hatte. Hektisch versuchte ich, mit den Fingern und meinem kaum sichtbaren Spiegelbild im Busfenster zu retten, was noch zu retten war. Trotzdem sah ich jetzt sicher genauso sehr wie ein aufgeplatztes Sofakissen aus wie der komische Typ, der mir das angetan hatte. Waren solche Frisuren nicht vor dreißig Jahren in gewesen? Auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt, mit dessen Hilfe ich diese schräge Begegnung einordnen konnte, warf ich einen Blick auf den Flyer, den er mir gegeben hatte. „Nachwuchs-Bandcontest“, „Special Guest: Mobbingopfer“ und das Datum vom nächsten Freitag stand darauf, zusammen mit einem Ort und einer Uhrzeit. Ich runzelte die Stirn. Hatte er bloß Werbung machen wollen oder steckte hinter dieser Begegnung ein tieferer Sinn? Wahrscheinlich interpretierte ich in die Sache mal wieder viel zu viel hinein, aber sie ging mir nicht aus dem Kopf, bis ich zuhause ankam, obwohl ich nach einer Weile den Flyer in die Jackentasche steckte, um ihn nicht mehr dauernd anzustarren. Immer noch grübelnd stapfte ich die Stufen zu unserem Haus hinauf, als nebenan die Tür mit dem lächerlichen Seidenblumenkranz als Schmuck aufging und unsere Nachbarin den Kopf hinaus in die frische Luft streckte. Wie ein Tier, um zu prüfen, ob es irgendwo eine gefährliche Witterung gibt. Sie hieß Frau Eichhahn, so viel hatte ich schon gelernt. Und sie hatte zwei nervige Kleinkinder und mindestens drei Katzen, die ständig durch die gesamte Nachbarschaft streunten. Und natürlich einen rechtschaffenden Ehemann. „Ach, hallo!“, sagte sie mit einem falschen Lächeln in meine Richtung. Sie war eine Frau der Marke ‚Karrieregeiles Miststück‘, eine arrogante, impertinente und ganz und gar unangenehme Person. Aber sie war unsere Nachbarin, und sie machte den Anschein, als hätte sie in Zaunkriegen mehr Erfahrung als wir. Also war ich vorsichtshalber freundlich. „Hallo, Frau Eichhahn“, flötete ich mit verstärktem amerikanischen Akzent zurück und erwiderte ihr Lächeln mit barer Münze. Heute schien der Tag der Abrechnungen zu sein, halleluja! „Wie geht es denn deinen Eltern?“, fragte sie scheinheilig. „Meiner Mutter geht es sehr gut, danke. Und Ihren Kindern?“ Ich hoffte, die zwei Nervensägen hatten die Masern. „Gut, sie machen sich prächtig“, posaunte sie über den Gartenzaun, sodass man es auch noch drei Häuser weiter problemlos hören konnte. Als ob sie mit ihren zwei Giftzwergen angeben könnte. Die hatten nicht nur keine Manieren, sondern waren auch alle beide viel zu fett. Aber irgendwie schien Frau Eichhahn mit der ihr gegebenen Auskunft noch nicht zufrieden zu sein, denn sie starrte missmutig mit einem verkniffenen Zug um den Mund zu mir herüber. Ich wusste auch genau, weshalb: Schon seit Wochen versuchte sie mit allen Mitteln, etwas über den Verbleib meines Vaters herauszufinden. Aber da konnte sie sich lange anstrengen. Von mir würde sie kein Sterbenswörtchen zu dem Thema zu hören bekommen. „Na, ich muss dann rein. Hausaufgaben, Sie wissen schon“, erzählte ich ihr deshalb und schicke noch ein gekünsteltes Lächeln hinterher. „Jaja, ordentliche Arbeit ist das A und O im Leben“, bekam ich noch zu hören, ehe sich die Tür hinter mir schloss und ihr doppelzüngiges Gesäusel aussperrte. Endlich. Ruhe. Keine nervigen Leute, die ich nicht kannte, aber die mir mit irgendetwas in den Ohren lagen. Jetzt konnte ich ganz entspannt bei Griff anrufen und ihm die neuesten Verstrickungen mitteilen und mein Leid im Leben auf deutschem Boden klagen. Erschöpft seufzend – Nachdenken war wirklich anstrengend – schleppte ich mich die Treppe nach oben in mein Zimmer und riss dort erst einmal alle Fenster auf. Über Mittag wurde es hier drin manchmal ziemlich stickig, weil das Zimmer genau unter dem Dach lag und die Sonne auf die Decke knallte. Außerdem konnte ich mir am offenen Fenster gefahrlos eine Zigarette anstecken, ohne befürchten zu müssen, das Haus voll zu räuchern. Es gab nichts Ekelhafteres als kalten Zigarettenrauch. Ich angelte also meine zerdrückte (und halb leere) Packung Marlboro Silver aus dem Schulranzen und schlug den Packungsboden auf der Fensterbank auf, während ich mit der anderen Hand Griffs Nummer wählte. Das hatte den Vorteil, dass eine Zigarette halb aus der Schachtel heraussprang, sodass man sie ganz einfach festhalten und sich in einer fließenden Bewegung zwischen die Lippen stecken konnte. Jahrelang hatte ich diesen Trick mit Griff geübt, seit wir mit Dreizehn angefangen hatten, seinem Vater die Kippen zu klauen. Wir fanden das damals cool. Heute war ich süchtig. Nicht krass, aber stark genug, um ans Aufhören nicht denken zu können. Shit happens. Das Telefon tutete vor sich hin. In der Zwischenzeit kramte ich nach meinem Zippo mit der aufgeprägten Amerika-Flagge. Das Feuerzeug hatte mir Griff zum sechzehnten Geburtstag geschenkt, und seitdem hatte ich jeden einzelnen Glimmstängel damit angezündet. Das Ding war unverwüstlich. „Hi“, murmelte es da verschlafen aus dem Lautsprecher des Telefons. Ich grinste breit, und mir wurde warm ums Herz. Griff machte jedem Eisbärbaby an Niedlichkeit Konkurrenz, wenn er müde war. „Hi, cutie!“ Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. „I ain’t cute!“, motzte es von der anderen Seite zurück. Dann zwei Sekunden Schweigen. „Lio? Jesus, oh my god, you promised you’d call! I totally forgot. How’s everything going trans-atlantic?” Ich seufzte kurz. Griff war wirklich ein klasse Freund, er fand selbst in den unmöglichsten Situationen Zeit für dich und deine Probleme und konnte sich für jeden Mist begeistern. Aber im Moment war mir nicht nach Spaß. „Horrible, to say the truth.“ „Jesus, why? Did you catch a cold or something? How was your date?“ Mit konzentriertem Schlucken drängte ich die Tränen zurück, die die Erinnerung an das vergangene Wochenende mir schon wieder in die Augen trieb. „I didn’t catch a cold. I caught an asshole.” Ein tiefes Durchatmen signalisierte Griff, dass ich mit meinem Statement noch nicht fertig war. „He took me to a really cool venue, and the party was alright, but… well. I got knocked out. And he… he raped me.” Schweigen am anderen Ende der Leitung. “Holy shit.” Zu mehr war Griff vorübergehend wohl nicht fähig, denn alles, was ich in der nächsten halben Minute von ihm hörte, war schweres Atmen. „Have you informed the police?“ “No, I couldn’t. I still have a total blackout. I just woke up and knew that I had had sex that night, but I couldn’t remember anything concrete.” “My god…”, kam es geschockt von der anderen Seite der Telefonschnur. Mir ging es nicht besser, denn meine Erinnerung präsentierte mir am laufenden Band winzige Flashbacks der Ereignisse des Wochenendes, seit ich das Thema angesprochen hatte. „Have you at least told your mum?“ “Nah, she doesn’t know and that’s a good thing. Otherwise she wouldn’t let me out of the house anymore.” “But then you got nobody to talk to!”, entrüstete sich Griff und schien mich seinem Tonfall nach am liebsten einmal kräftig durchschütteln zu wollen. „I got somebody. You“, stellte ich richtig. „That’s not how it’s supposed to be! I’m not there to help you! Man, you have no idea how much I wanna take a flight over that damn sea and scratch that guy’s eyes outta his face!” “Easy, man!”, versuchte ich, ihn zu beruhigen. Griff redete sich immer viel zu leicht in Rage. Er war eben eine sehr direkte und emotionale Persönlichkeit. Und dafür liebte ich ihn so. „It’s all right, really. There are some guys in school who help me through this and I can talk to you, that’s all I need.“ Das weckte Griffs Interesse. Manchmal konnte er ein echtes Gossip Girl sein. „Some guys in school? Who?“ „You remember that girl I talked about last time? The freaky one?” “The lesbian? Yeah.” “Don’t say that, I’m not sure about that. But she’s really nice. We got almost every class together and she helps me wherever she can. And then there’s Fritz, he’s one year older and a true gentleman.” “Is he all right?”, erscholl sofort die misstrauische Frage herüber. Griff hatte offenbar gerade beschlossen, jeden Europäer verdächtig zu finden. „Totally. He’s another of Kilian’s victims, seems like he pulls that stunt quite often.” “Jesus.” Ein Seufzen am anderen Ende. „Seems like you really got into trouble, huh?“ “Think so. But there’s more trouble coming. Me and Fritz, we made a pact: We won’t look back, we won’t hesitate and we won’t lament about what happened. He invited me for ice skating today.” Griff schwieg schon wieder. “Griffin?”, fragte ich vorsichtig, um mich zu versichern, dass er noch dran war. „Hang on a minute“, antwortete er prompt und fuhr gleich fort. „That Frizz or however has also been dumped by that asshole Kilian?“ “Yes…” “And you promised him not to look back?” “Sort of, yeah.” “And he asked you out for ice skating today?” “Well, he asked me if I’d tried it before and then said that we would try it together today.” “Jesus, man, what’s with those German guys? Don’t they have any hotties up there in Europe?”, fragte Griff und ich konnte hören, wie er sich durch den langen Pony fuhr, der wahrscheinlich schon mit Haarspray fixiert worden war, sonst würden die Strähnen nicht so am Telefonhörer rascheln. Aber ich musste gestehen, dass ich keine Ahnung hatte wovon er gerade sprach. Das sagte ich ihm auch. „Griff, would you kindly share your thoughts with me?“ “Don’t you get it, Lio? That Frizz-boy is gay, right? And he asks you to forget the guy you lately shared the bed with and takes you out for ice skating. That’s a DATE you fucking idiot!” Perplex schwieg ich. Ein Date? “You… you serious? But he’s just… nice…” “Wake up, Lio. You’re a real stunner, admit it. And I think he already craves for taking you into his arms.” Ich lächelte leicht bei der Erinnerung, die diese Worte in mir wach riefen. „He already did that.“ „What?! Jesus, Lio, are you turning into an alley cat?” “No, Griff! Don’t say such things. He just drove me home after that night and… we drank hot chocolate together and… talked. It just happened.” Ein Seufzen erklang von der anderen Seite des Telefons. „You made your famous hot chocolate for him? Then I understand why he’s fallen for you.” “He hasn’t…! Griff!” “Anyway, I gotta get to school now. Have fun with the Frizz-boy and promise me you will not take him to bed immediately!” “Griff!” “Promise.” “I’ll promise.” “That took a load off my mind.” “Jerk.” “I know. But the best jerk you have.” “That’s so true. Bye, Griff.” “Bye, Lio. Have fun.” Seufzend legte ich das schnurlose Telefon auf die Fensterbank. Ein Date also? Ich wusste nicht wirklich, ob ich die Verabredung mit Fritz so einstufen sollte. Eigentlich hatte ich mehr das Gefühl, dass er sich irgendwie für mich verantwortlich fühlte und mich auf andere Gedanken bringen wollte – was er übrigens ganz ausgezeichnet hinbekam. Bei einem nachdenklichen Blick auf meine Hände fiel mir auf, dass ich zwar Zigarette, Zippo und Aschenbecher bereit gelegt hatte, aber noch nichts davon in Benutzung genommen worden war. Seufzend steckte ich mir den Glimmstängel erneut zwischen die Lippen und zündete ihn an. Über das Telefonat hatte ich meine Droge total vergessen. Ein gutes Zeichen, wie ich fand. Dann war ich noch kein totaler Suchtie. Oder schrecklich Griff-abhängig. Über diesen Tatbestand grübelnd schlenderte ich quer durch mein Dachzimmer – etwas, was ich eigentlich nie tat, wenn ich rauchte. Wie gesagt, ich konnte den Geruch von kaltem Zigarettenrauch nicht ausstehen. Um meinen Geisteszustand musste es also denkbar schlecht stehen, was sich auch in meiner nächsten Handlung offenbarte. Ich blieb nämlich vor dem Kleiderschrank stehen und rauchte unbekümmert weiter, bis mir auffiel, dass ich schon seit drei Zügen darüber nachdachte, welche meiner schwarzen Hosen meinen Po am besten betonte, damit ich darüber den neuen schwarzen Fleecepulli mit den bordeauxfarbenen Seitenteilen anziehen konnte, der so schön kurz und eng, aber flauschig warm war. Mit einem resignierten Seufzer wanderte ich zurück zum Fenster, um die aufgerauchte Zigarette auszudrücken, ehe ich mir alle Klamotten vom Leib riss und flink unter die Dusche sprang, ehe ich mir eine zu dem Pullover passende Hose heraussuchte. Irgendwie nahm ich Griffs Gefasel von einem Date viel zu ernst. Warum sonst sollte es mir plötzlich unglaublich wichtig sein, dass Make-Up und Haare saßen und ich vom Scheitel bis zur Zehe nach meinem Lieblingsduschgel mit einem süßlichen Aroma von Kirsche und Vanille duftete? Oder sollte mein weit entfernter bester Freund mit seiner Sicht der Dinge doch Recht haben? Sinngemäße deutsche Übersetzung des Telefonats: Wer die englische Version versteht, sollte die Deutsche nicht unbedingt lesen, weil einige Wendungen sich nicht eins zu eins übertragen lassen. „Hi“, murmelte es da verschlafen aus dem Lautsprecher des Telefons. Ich grinste breit, und mir wurde warm ums Herz. Griff machte jedem Eisbärbaby an Niedlichkeit Konkurrenz, wenn er müde war. „Hi, Süßer!“ Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. „Ich bin nicht süß!“, motzte es von der anderen Seite zurück. Dann zwei Sekunden Schweigen. „Lio? Jesus, oh mein Gott, du hast versprochen, dass du anrufst! Ich hab’s total vergessen. Wie läuft’s trans-atlantisch?” Ich seufzte kurz. Griff war wirklich ein klasse Freund, er fand selbst in den unmöglichsten Situationen Zeit für dich und deine Probleme und konnte sich für jeden Mist begeistern. Aber im Moment war mir nicht nach Spaß. „Schrecklich, um die Wahrheit zu sagen.“ „Jesus, warum? Hast du dir ne Erkältung oder sowas eingefangen? Wie war dein Date?“ Mit konzentriertem Schlucken drängte ich die Tränen zurück, die die Erinnerung an das vergangene Wochenende mir schon wieder in die Augen trieb. „Ich hab mir keine Erkältung eingefangen. Ich hab mir ein Arschloch geangelt.” Ein tiefes Durchatmen signalisierte Griff, dass ich mit meinem Statement noch nicht fertig war. „Er hat mich in einen richttig coolen Club mitgenommen, und die Party war in Ordnung, aber… na ja. Ich wurde bewusstlos. Und er… er hat mich vergewaltigt.” Schweigen am anderen Ende der Leitung. “Heilige Scheiße.” Zu mehr war Griff vorübergehend wohl nicht fähig, denn alles, was ich in der nächsten halben Minute von ihm hörte, war schweres Atmen. „Hast du die Polizei informiert?“ “Nein, konnte ich nicht. Ich hab immer noch ein totals Blackout. Ich bin nur aufgewacht und wusste dass ich in dieser Nacht Sex hatte, aber ich konnte mich an nichts Konkretes erinnern.” “Mein Gott…”, kam es geschockt von der anderen Seite der Telefonschnur. Mir ging es nicht besser, denn meine Erinnerung präsentierte mir am laufenden Band winzige Flashbacks der Ereignisse des Wochenendes, seit ich das Thema angesprochen hatte. „Hast du es wenigstens deiner Mum erzählt?“ “Nee, sie weiß von nichts und das ist gut so. Ansonsten würde sie mich nicht mehr aus dem Haus lassen.” “Aber dann hast du niemanden, mit dem du reden kannst!”, entrüstete sich Griff und schien mich seinem Tonfall nach am liebsten einmal kräftig durchschütteln zu wollen. „Ich habe jemanden. Dich“, stellte ich richtig. „Das ist nicht so, wie es sein sollte! Ich bin nicht da, um dir zu helfen! Mann, du hast keine Ahnung, wie sehr ich gerade zu dir über dieses verdammte Meer fliegen und den Typen die Augen auskratzen will!” “Ruhig, Mann!”, versuchte ich, ihn zu beruhigen. Griff redete sich immer viel zu leicht in Rage. Er war eben eine sehr direkte und emotionale Persönlichkeit. Und dafür liebte ich ihn so. „Es ist okay, wirklich. Es gibt ein paar Leute in der Schule, die mir da durch helfen, und ich kann mit dir reden, mehr brauche ich nicht.“ Das weckte Griffs Interesse. Manchmal konnte er ein echtes Gossip Girl sein. „Ein paar Leute in der Schule? Wer?“ „Erinnerst du dich an das Mädchen, von dem ich letztes Mal erzählt hab? Die Freakige?” “Die Lesbe? Ja.” “Sag das nicht, da bin ich mir nicht sicher. Aber sie ist echt nett. Wir haben fast jeden Kurs zusammen und sie hilft mir, wo sie kann. Und dann ist da Fritz, er ist ein Jahr älter und ein echter Gentleman.” “Ist er in Ordnung?”, erscholl sofort die misstrauische Frage herüber. Griff hatte offenbar gerade beschlossen, jeden Europäer verdächtig zu finden. „Absolut. Er ist auch eines von Kilians Opfern, sieht so aus als würde er diese Masche öfters abziehen.” “Jesus.” Ein Seufzen am anderen Ende. “Sieht so aus als wärst du wirklich in die Scheiße greaten, hm?“ “Denk ich auch. Aber es gibt noch mehr Probleme. Ich und Fritz, wir haben eine Pakt geschlossen: Wir werden nicht zurückblicken, wir werden nicht zögern und wir werden nicht über das klagen, was passiert ist. Er hat mich für heute zum Schlittschuhfahren eingeladen.” Griff schwieg schon wieder. “Griffin?”, fragte ich vorsichtig, um mich zu versichern, dass er noch dran war. „Wart mal ne Minute“, antwortete er prompt und fuhr gleich fort. „Dieser Frizz oder wie auch immer ist auch von diesem Kilian verlassen worden?“ “Ja…” “Und du hast ihm versprochen, nicht zurück zu blicken?” “So in der Art, ja.” “Und er hat dich heute zum Schlittschuhlaufen eingeladen?” “Na ja, er hat mich gefragt, ob ich’s schonmal gemacht hätte und sagte dann, dass wire s heute zusammen ausprobieren würden.” “Jesus, Mann, was ist bloß los mit diesen deutschen Jungs? Haben die keine heißen Typen da oben in Europa?”, fragte Griff und ich konnte hören, wie er sich durch den langen Pony fuhr, der wahrscheinlich schon mit Haarspray fixiert worden war, sonst würden die Strähnen nicht so am Telefonhörer rascheln. Aber ich musste gestehen, dass ich keine Ahnung hatte wovon er gerade sprach. Das sagte ich ihm auch. „Griff, würdest du freundlicherweise deine Gedanken mit mir teilen?“ “Kapierst du’s nicht, Lio? Dieser Frizz-boy ist schwul, richtig? Und er bittet dich den Typen, mit dem du letztens das Bett geteilt hast, zu vergessen und führt dich zum Eislaufen aus. Das ist ein DATE, du verdammter Idiot!” Perplex schwieg ich. Ein Date? “Meinst… meinst du das ernst? Aber er ist nur… nett…” “Wach auf, Lio. Du bist ein heißer Feger, akzeptier’s. Und ich denke, er verzehrt sich schon danach, dich in seine Arme zu schließen.” Ich lächelte leicht bei der Erinnerung, die diese Worte in mir wach riefen. „Das hat er schon getan.“ „Was?! Jesus, Lio, verwandelst du dich in ein Flittchen oder was?” “Nein, Griff! Sag sowas nicht. Er hat mich nach dieser Nacht nur heimgefahren und… wir haben Heiße Schokolade zusammen getrunken und… geredet. Es ist einfach passiert.” Ein Seufzen erklang von der anderen Seite des Telefons. „Du hast ihm deine berühmte Heiße Schokolade gemacht? Dann versteh ich warum er sich in dich verknallt hat.” “Er ist nicht…! Griff!” “Wie auch immer, ich muss jetzt zur Schule. Viel Spaß mit dem Frizz-boy und versprich mir, dass du ihn nicht sofort mit ins Bett nimmst!” “Griff!” “Versprich es.” “Ich verspreche es.” “Das last mir einen Stein vom Herzen fallen.” “Trottel.” “Ich weiß. Aber der beste Trottel, den du hast.” “Das ist sowas von wahr. Tschüss, Griff.” “Tschau, Lio. Viel Spaß.” ~~~ So. So viel dazu. Wie geht's weiter? Ich bin beinahe selbst neugierig, dabei weiß ich's doch ^^ Und die ominöse neue Figur ist aufgetaucht, tadaa! So langsam scheinen meine Wurzeln als Epenautorin doch durch. Mist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)