Nothing And Everything von -Moonshine- ================================================================================ T w e l v e ----------- Ich klingelte und verlagerte mein Gewicht vor Nervosität von einem Bein auf das andere. Hoffentlich war Jamie zu Hause. Ich wollte jetzt nicht alleine sein. Tatsächlich öffnete er mir die Tür. Seine kurzen, blonden Haare standen struppig ab und es war unübersehbar, dass ich ihn gerade aus dem Bett geklingelt hatte. "Anna?" Jamie blinzelte überrascht. "Was machst du denn hier?" Sein Blick wanderte weiter runter und blieb an dem Pizzakarton hängen, den ich in den Händen hielt. Man tauchte eben nicht ohne Gastgeschenk frühmorgens irgendwo unerwartet auf... vor allem nicht beim eigenen Bruder, dem Ausschlafen über alles ging. "Was..." Er schüttelte den Kopf vor Staunen. "Ist das etwa Pizza? Wo kriegt man denn um 10 Uhr morgens frische Pizza her?" Er starrte mich misstrauisch an. Ich machte eine unbestimmte Kopfbewegung und verzog den Mund. "Wir sind in New York." Er stierte mich einen Augenblick weiter an, beäugte dann den Karton und anschließend wieder mich. Dann zuckte er mit den Schultern - ein Zeichen von gleichgültiger Zustimmung - und machte einen Schritt zur Seite, um mich hinein zu lassen. "Womit habe ich das Vergnügen?", wollte er amüsiert wissen und fuhr sich durch die Haare. "Musst du nicht eigentlich arbeiten?" "Na ja", murmelte ich leise und ging zerstreut im Zimmer auf und ab, betrachtete es nur nebenbei. Es war ein kleines Zimmer im Studentenwohnheim, kaum größer als unsere ehemaligen Kinderzimmer zu Hause. Ein Bett befand sich darin, sowie ein Schreibstich, ein Schrank und ein Wandregal, das über dem Schreibtisch hing und in dem sich lauter Biologiebücher stapelten. Eine Tür führte in das kleine Badezimmer samt Dusche. Ich wusste, dass es nur eine Gemeinschaftsküche gab, die über den Flur für alle zu erreichen war. So, wie ich Jamie kannte, benutzte er höchstens hin und wieder mal den Backofen, um tiefgefrorene Pizzen aufzubacken. "Jamie, ich stecke in Schwierigkeiten", seufzte ich dann und ließ mich auf sein Bett fallen. Er hatte sich inzwischen an der Pizza zu schaffen gemacht und biss herzhaft hinein. "Was denn?" witzelte er. "Hast du etwa mit deinem Chef geschlafen?" Ich fuhr auf und starrte ihn entgeistert an. Er grinste, doch als er merkte, dass ich seine Freude nicht erwiderte, ließ er die Pizza sinken. Nervös stieß er ein kurzes Lachen aus. "Du machst Witze", stellte er wenig hoffnungsvoll fest. Ich starrte ihn weiterhin an, ohne den Mut zu haben, seine Vermutung zu bestätigen - oder zu dementieren. "Nein", sagte er dann nach einer Schweigepause. "Nein, nein. Annie. Nein." "Es ist einfach so passiert!", platzte es verzweifelt aus mir heraus. "Ich wollte das gar nicht, ich... na ja. Als es dann soweit war, wollte ich natürlich doch. Aber vorher... ich meine, da war nichts zwischen uns. Vorher." "Du redest Quatsch", stellte Jamie geistesabwesend fest und stand immer noch in der Mitte des Raumes, ließ die Arme kraftlos links und rechts an seinem Körper herabhängen. "Aber Mr. Cooper ist gar nicht so furchtbar", redete ich unbeirrt weiter, unfähig, meine Gedanken zu sammeln. "Ich meine, klar... er ist furchteinflößend... aber seine Frau hat ihn verlassen und ihm das Kind untergemogelt, die Kleine, und er behauptet, sie wäre seine Tochter. Nicht nur WIE seine Tochter, sondern SEINE Tochter, verstehst du? Und er liest ihr abends vor und macht ihr Erdnussbuttersandwiches mit Gelee." Jamie sah wenig überzeugt aus. "Und deshalb bist du mit ihm... ins Bett gegangen?" "Nein... Ja... nein. Gestern, er... er ist nach Hause gekommen, obwohl er erst heute früh kommen sollte. Und ich wollte gehen, aber er ließ mich nicht. Und wir haben geredet. Und getrunken. Und dann... na ja, es ist passiert, weißt du? Er war so charmant und so..." Ich schluckte. Bei dem Gedanken an die letzte Nacht und Mr. Coopers Art hatte ich wieder Schmetterlinge im Bauch. "...so sexy irgendwie." "Das möchte ich gar nicht wissen, Annie", beschwerte sich Jamie mit einem panischen Unterton. "Du bist meine Schwester! Kannst du das nicht... Julie erzählen oder Kelly oder deinem Therapeuten oder so?" Er wand sich, aber dafür hatte ich kein Verständnis. Nicht hier und nicht heute. Tatsächlich war Jamie mein erster rettender Gedanke gewesen. Er war immerhin meine Familie, ich war mein Leben lang mit ihm aufgewachsen. Wir wussten vielleicht nicht alles voneinander, aber er war mir die nächste Person. Und um ehrlich zu sein, konnte ich momentan weder Julies Sensationsgier ertragen, mit der sie sich sicher auf diese Neuigkeit stürzen würde, noch Kellys verantwortungsvollen, depressiven Ernst, der mir meine schwierige Lage erst recht vor Augen führen würde. "Nein", antwortete ich düster. "Vielleicht überlege ich mir das mit dem Therapeuten, aber nur, wenn mir den jemand bezahlt..." Jamie schien sich endlich aus seiner Starre zu lösen und kam zu mir herüber. Er kaute auf seinem Stück Pizza herum, aber längst nicht mehr so genussvoll wie noch zuvor. "Vielleicht bezahlt Mr. Cooper dir ja einen", schlug er vor. "Geht nicht", erwiderte ich und war froh, mich dieser Sache zumindest unter dem Deckmantel des schwarzen Humors annehmen zu können, "der muss schon die Therapien seiner Kinder bezahlen, nachdem er seine Clementia endgültig in deren Gesellschaft eingeführt hat." Obwohl nur leichthin gesagt, erschrak ich. An seine Freundin, Clementia Ashworth, die "Park Avenue-Tussi", wie Nicky sie nannte, hatte ich noch gar keinen Gedanken verschwendet. Meine Güte, Anna, sagte ich mir geschockt. Was hast du nur gemacht. Was ist nur aus dir geworden? Ich schluckte. Jamie musste dasselbe denken, denn er schwieg unheilvoll. "Das ist alles ein großer, großer Fehler gewesen...", murmelte ich niedergeschlagen. "Mein Leben war fast in Ordnung, noch gestern, und heute..." "Und", wollte Jamie wissen und unterbrach mich, "was ist jetzt? Habt ihr euch nochmal gesehen, oder hast du dich auf die gute alte Art und Weise rausgeschlichen?" "Er hat mich in Urlaub geschickt", sagte ich tonlos. "Nachdem er sich entschuldigt und zugegeben hat, dass alles ein Fehler war." Jamie nickte. "Na, das ist doch gut, oder? Ihr seid beide der gleichen Meinung, und ein bisschen Urlaub tut dir bestimmt gut. Also eigentlich kein Problem, oder?" Ich dachte darüber nach. Ein Fehler war es gewesen... aber warum behagte mir der Gedanke nicht, dass wir uns einig waren, Mr. Cooper und ich? Ich war zutiefst verletzt gewesen, als er sich entschuldigt hatte. So enttäuscht. Dachte ich so, weil Mr. Cooper dachte, es wäre ein Fehler gewesen? Würde es sich weniger falsch anfühlen, wenn auch er der Meinung wäre, das wäre nicht so? Schuldbewusst sah ich Jamie an. Seine Augen weiteten sich. "Aber Annie", stammelte er verwirrt, und dann sagte er sehr, sehr streng: "Nein. Annie: Nein! Du kannst Cooper nicht leiden! Er ist ein herrischer Boss und gar nicht freundlich. Das sagst du jedes Mal!" Ich wollte weinen. "Ich weiß doch..." Jamie wollte noch etwas sagen, ließ es aber bleiben. Kraftlos saßen wir nebeneinander und hingen jeweils unseren eigenen Gedanken nach. Hin und wieder schüttelte Jamie fassungslos den Kopf und seufzte dann. Ich sagte gar nichts. Ich fühlte mich leer und ausgelaugt. "Ich dusche jetzt..." sagte Jamie schließlich und stand auf, beäugte mich mit einem mitleidigen Blick. "Dann bestellen wir uns mehr Pizza und schauen uns Actionfilme auf dem Laptop an. Okay?" Ich nickte, dankbar um einen so tollen Bruder und um die Ablenkung. "Okay." "Gut." Er räusperte sich. "Du wirst sehen", fügte er nochmal hinzu, als er schon fast im Badezimmer war. Aber dann brach er ab, als wüsste er nicht, was ich sehen würde, und schloss die Tür hinter sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)