Der ewige Göttername von Flordelis ================================================================================ Kapitel 36: Senpais Rat ----------------------- Die Hitze war immer noch unerträglich, aber neben den Waschbecken an denen die Sportclubs normalerweise ihre Schuhe wuschen, ließ es sich aushalten. Nozomu saß auf dem Rand des steinernen Beckens und füllte sich immer wieder die hohlen Hände mit Wasser, um es sich ins Gesicht zu klatschen, in der Hoffnung, dass er sich dann beruhigen würde. Jedes Mal fühlte er sich für einen Moment abgekühlt, aber die innere Unruhe über das eben Gehörte blieb. Jiruol, das war der Name, den Salles ihm mit auf den Weg gegeben hatte, damit er Ruhe gab. Aber es war noch mehr, inzwischen war er sich sicher, dass es einmal sein Name gewesen war. Er war dieser furchtbare Jiruol gewesen, der so viele Leben genommen hatte. Aber warum hatte er das getan? Er erinnerte sich nicht daran, die Beweggründe des anderen blieben ihm verschlossen und er fürchtete sich zu sehr, tiefer nachzubohren. Er zweifelte nicht daran, dass Jiruol erwachen und ihm mit Freuden Auskunft darüber erteilen würde, aber gleichzeitig wusste er auch, dass der andere stärker war als er und dann seine Macht nutzen würde, um diesen Körper zu übernehmen und erneut für Furcht und Schrecken zu sorgen. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was für Katastrophen über die Stadt hereinbrechen würden. Nein, er durfte nicht zulassen, dass das geschah, er musste Jiruol mit aller Macht bekämpfen und am Schlafen halten! Aber war es nicht möglich, dass Rehme etwas wusste? Das Shinjuu musste bereits den Gott begleitet haben, also war die Wahrscheinlichkeit immerhin gegeben. Er müsste sie nur noch fragen. Rehme... Er lauschte in sich hinein, nachdem er ihren Namen gedacht hatte, wartete auf ihre Reaktion, die zu seiner Enttäuschung ausblieb. Sie machte keine Anstalten etwas zu erwidern, im Moment konnte er nicht einmal ihre Anwesenheit spüren. Er fragte sich, ob es möglich war, dass Shinjuu sich so weit von ihrem Meister entfernen konnten, dass die Verbindung zwischen ihnen abbrach. Nicht einmal so etwas wusste er. Wenn er genau darüber nachdachte, wusste er fast gar nichts und Salles war auch nicht sonderlich gesprächig, fast so als würde er wollen, dass sie wenig wussten. Aber warum sollte er das tun, wenn er mit ihnen verbündet war? „Menschen, die wenig wissen, sind leichter zu kontrollieren.“ Er zuckte erschrocken zusammen, als die Stimme so plötzlich direkt neben ihm erklang. Ihm war nicht aufgefallen, dass jemand neben ihn getreten war. Aber als er den Blick hob, wurde ihm bewusst, dass er das gar nicht hätte bemerken können. Dort stand wieder das Mädchen, dem er bereits mehrmals begegnet war. Sie trug eine Schuluniform, ihre gelbe Schleife deutete darauf hin, dass sie in der zweiten Stufe war, aber dennoch hatte er sie noch nie irgendwo an der Schule gesehen, außer wenn sie so plötzlich auftauchte wie an diesem Tag. Sie fuhr sich durch das schwarze Haar, dann blickte sie ihn an. „Das ist doch logisch. Deswegen haben sich Herrscher aller Zeiten schon immer bemüht, ihre Untertanen so dumm und ungebildet wie möglich zu halten.“ Er fragte sich nicht, woher sie wusste, was er dachte oder was ihn beschäftigte, stattdessen stellte er eine andere Frage: „Wer bist du?“ Wenn er zumindest ihren Namen wusste, könnte er einmal jemand der anderen fragen, wer sie war. Aber statt einer Antwort lächelte sie nur vielsagend. Er wollte gerade noch einmal fragen, als er plötzlich jemanden seinen Namen sagen hörte. Als Reaktion wandte er den Kopf und erkannte, dass Satsuki auf ihn zukam. „Guten Morgen, Senpai...“ Sie blieb vor ihm wieder stehen. „Was machst du denn hier draußen?“ Ehe er antwortete, sah er noch einmal auf die Stelle, wo eben das Mädchen gestanden hatte, aber wie er erwartet hatte, war sie nicht mehr da. Also blickte er wieder Satsuki an. „Ich brauchte eine kleine Erfrischung.“ „Und deswegen schwänzt du den Nachhilfeunterricht?“ Sie schnitt eine Grimasse und wartete auf seine Antwort, die nur aus einem „Hm“ bestand. „Ist der Lehrer denn so schlimm?“, fragte sie weiter. „Sein Name ist Nathanael Voss.“ Eigentlich hatte er noch fragen wollen, ob sie ihn möglicherweise kannte, aber ihre Reaktion – ein erschrockenes Zusammenzucken – war ihm bereits Antwort genug. „Wer ist er?“ Die Frage schien sie aus irgendeinem Grund fast schon peinlich zu berühren, es war deutlich, dass sie nicht antworten wollte. Bei Salles hätte er beschlossen, den Rückzug anzutreten, aber bei Satsuki war es etwas anderes, sie war nur ein wenig älter als er und damit befand sie sich auf derselben Ebene wie er, sie war kein verschlossener Gelehrter, der alles Leid der Welt zu schultern schien. Sie wollte sich gerade selbst zurückziehen, um zumindest für eine räumliche Trennung zu sorgen, doch Nozomu griff nach ihrer Hand und zog sie abrupt zu sich herunter. Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus und errötete augenblicklich. „N-Nozomu-kun!“ Er kümmerte sich nicht weiter um ihren Protest. „Du weißt etwas, stimmts? Immerhin bist du schon wesentlich länger in diese ganze Sache verstrickt als ich.“ Sie runzelte die Stirn und öffnete ihren Mund, zögerte aber noch mit einer Erwiderung, vermutlich weil sie ohnehin wusste, dass es sinnlos war, gegen einen entschlossenen Nozomu anzutreten. Sie konnte in seinen Augen sehen, dass er keine Ausrede gelten lassen würde und in seinem festen Händedruck spüren, dass er sie nicht gehen lassen würde. Das bewog sie schließlich dazu, etwas zu antworten, auch wenn es nicht unbedingt das war, was er in diesem Moment hören wollte: „Ich kann dir nur einen Rat geben. Mehr nicht, wirklich.“ Seine Augen forderten sie stumm auf, genau das zu tun, immerhin war es das Mindeste, was ihm jemand für den Kampf gegen Lakaien geben könnte: Antworten. „Wenn du wirklich daran interessiert bist, die Wahrheit zu erfahren, solltest du eine bestimmte Adresse aufsuchen. Dort wird man dir mehr sagen können.“ In seinen Gedanken rang er mit sich selbst. Es war gut möglich, dass es sich um eine Falle handelte, immerhin befanden sie sich in verfeindeten Lagern, aber er glaubte nicht daran, dass sie so etwas tun würde. Sie war immerhin Teil des Errettungskomitees, da würde sie sich doch nicht auf solch ein niedriges Niveau begeben und schon gar nicht gegen ein Mitglied des Erhaltungskomitees. Gegen das Zerstörungskomitee vielleicht, aber nicht das seine. „Welche Adresse?“ Ein Versuch war es wert, für Antworten hätte er sogar sein eigenes Leben eingetauscht – und möglicherweise würde das sogar noch notwendig werden. Sie löste sich mit sanfter Gewalt von seiner Hand und griff in eine Tasche, die sie um ihren Bauch gebunden hatte und die ihm erst in diesem Moment auffiel. Als Schulsprecherin war es wohl nötig, dass sie stets bestimmte Dinge mit sich führte, vor allem im Moment, da er nicht glaubte, dass sie ebenfalls wegen Nachhilfe in der Schule war. Sie zog einen beschriebenen Zettel hervor, den sie ihm reichte. Fast schon schien es ihm als hätte sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, ihm diesen zu geben. „Geh dort morgen Vormittag vorbei, man wird auf dich warten.“ „Wer wird auf mich warten?“, fragte er neugierig. Sie lächelte. „Du wirst schon sehen. Sei auf jeden Fall da.“ Dieses Mal hielt er sie nicht auf, als sie ohne jede Verabschiedung davonging und wieder aus seiner Sicht verschwand. Er sah auf den Zettel hinab und stellte fest, dass er die Adresse nicht kannte und er nicht einmal den Hauch einer Ahnung besaß, wo sich diese befinden könnte. Am besten wäre es, wenn er Nozomi fragen würde... Nein, Moment! Sie wird mir das ausreden oder mit mir mitgehen wollen. Und das empfand er beides nicht als sonderlich gut. Er wollte sich das nicht ausreden lassen und er wollte nicht, dass sie mitkam, denn ihre Begleitung hätte nur dafür gesorgt, dass er auf sie achten müsste, wenn es zu einem Kampf oder einer Flucht käme. Es war besser, wenn er allein dorthin ging, er würde den Weg schon irgendwie finden. Es gibt doch Informationsschalter an Bahnhöfen... vielleicht können die mir helfen. Er erinnerte sich, dass er eigentlich wieder ins Klassenzimmer zurückkehren müsste, aber bei dem Gedanken, dass dieser Nathanael ebenfalls noch dort war, wuchs das Widerstreben in seinem Inneren. Besser also, er suchte sofort einen Informationsschalter auf. Angefüllt mit neuer Energie, die ihn sogar die drückende Hitze ignorieren ließ, sprang er auf und machte sich direkt auf den Weg. Der nächstgelegene Bahnhof war trotz der sommerlichen Temperaturen mit Leben gefüllt, besonders mit Schülern, die glücklich genug gewesen waren, nicht zum Nachhilfeunterricht angemeldet zu werden und sich so mit ihren Freunden zum Besuch des ansässigen Kinos treffen konnten. Soweit Nozomu wusste, wurde ein besonders sehnlich erwarteter Anime an diesem Tag erstmalig gezeigt, so dass die Schüler auch dementsprechend aufgeregt waren. Sein Blick glitt über die einzelnen Personen in der Hoffnung, Zetsu zu entdecken, aber keiner von ihnen hatte silbernes Haar oder diese eiskalten blauen Augen. Doch die Enttäuschung hielt sich in Grenzen. Er hätte sich ja denken können, dass Zetsu mit Sicherheit keinen Sinn für solche Unterhaltung oder auch nur das Geld dafür besaß. Der Informationsschalter war nur eine kleine Zelle, kaum größer als eine Telefonzelle und bot gerade einmal Platz für einen Tisch und einen Stuhl auf dem eine Frau saß, die jedem, der auch nur einen kurzen Blick hineinwarf, ein einstudiertes Lächeln zeigte. Sie wirkte wie eine Frau aus der Werbung, weswegen Nozomu erst einmal nicht nähertreten konnte, weil er befürchtete, dass er mit einem Bildschirm sprechen würde, falls er sie ansprach. Eine Frau, vermutlich eine Touristin, trat ohne jede Scheu an die Zelle, um im gebrochenen Japanisch eine Frage zu stellen und dafür eine routiniert freundliche Antwort zu bekommen. Kaum war sie fort, traute Nozomu sich endlich selbst zu der Frau, die ihn freundlich grüßte. „Äh, ja“, erwiderte er ein wenig verunsichert von ihrem Auftreten. „Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo sich diese Adresse befindet?“ Er reichte ihr den Zettel, sie las diese Adresse – und hob erstaunt die Augenbrauen, ohne dabei zu lächeln aufzuhören, was ein überaus interessanter Anblick war. Aber Nozomu interessierte sich eher dafür, was sie so erstaunte. Schließlich fand sie ihre Fassung wieder und antwortete ihm: „Du musst neu hier in der Gegend sein. Das ist eine Adresse aus dem gut bestellten Norden der Stadt.“ „Wie komme ich dort am besten hin? Also zu dieser Adresse.“ Sie tippte etwas auf den Computer, den er erst bemerkte, als er so nah vor ihr stand, aber der Monitor war ihr zugewandt, so dass er nicht lesen konnte, was darauf erschien. Dafür lauschte er der Erklärung und gab dann mit einem Nicken zu verstehen, dass er begriffen hatte. „Vielen Dank.“ Er verabschiedete sich mit einer Verbeugung und machte sich dann auf den Weg zu dem Gleis, das sie ihm genannt hatte. Zwar hatte Satsuki gesagt, dass er erst morgen gehen sollte, aber er wollte so schnell wie möglich Antworten, deswegen verlangte seine Neugier, dass er sich sofort auf den Weg machte. Das Gleis war genau wie der Bahnhof selbst an diesem Tag gefüllt mit Leben, aber fast jede Person schien ein Schüler zu sein, sonstige Fahrgäste waren wohl im Moment nicht unterwegs. Sie standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich über den neuesten Klatsch und Tratsch, nicht wenige schrieben nebenbei Nachrichten auf ihren Handys. Er beneidete diese Menschen nicht darum, dass sie Freunde hatten, die es kümmerte, was sie schrieben oder sagten, während er vergeblich auf eine Nachricht von Zetsu wartete, er verachtete sie aber auch nicht dafür, dass sie eben waren wie sie waren. Er ignorierte sie, während er an ihnen vorbeilief und sich eine Stelle suchte, die einigermaßen leer war, damit er seine Ruhe fand. Während er lief, hörte er plötzlich ein leises Kichern, das nicht so recht zu den Anwesenden zu passen schien. Es klang amüsiert, fast schon schadenfreudig und er war sich absolut sicher, dass es ihm galt, aber wann immer er den Kopf wandte, konnte er niemanden sehen, der sich um ihn kümmerte. Für die anderen war er wohl auch nur jemand, der einfach vorbeilief und den man nicht weiter beachten musste. Er hörte den herannahenden Zug, darunter wieder dieses Kichern – und im nächsten Moment spürte er einen heftigen Stoß, der ihn vom Bahnsteig direkt auf die Gleise warf. Ein wenig benommen von der Überraschung und dem eingesetzten Schmerz in seinem Bein und seinen aufgeschürften Handflächen, blieb er auf den Gleisen knien. Was ist da gerade geschehen? Sein Blick ging nach oben, suchte den Bahnsteig nach jemandem ab, der nun schadenfreudig auf ihn herabblickte oder eilig flüchtete, sah stattdessen aber nur fragende Gesichter und hörte leises Tuscheln über den nächsten Selbstmörder. Es dauerte einen weiteren Moment, ehe er begriff, dass er damit gemeint war. Der Zug näherte sich rasch, was ihn dazu bewog, aufzustehen und wieder auf den Bahnsteig zu klettern. Doch als er das versuchte schossen scharfe Schmerzen durch sein Bein, ein Blick hinab verriet ihm, dass seine Hose bereits Blut getränkt war, die Verletzung war wohl schlimmer gewesen als gedacht. Wenn ich das Shinken rufen könnte, wäre es mir möglich, die Verletzung zu heilen, aber so? Bei all diesen Zeugen war ihm das nicht möglich und noch dazu war er sich nicht ganz sicher, ob das bei solchen Verletzungen, die nicht Ursprung des Kampfes mit Lakaien waren, überhaupt funktionierte. Er versuchte noch einmal, sich aufzurichten, um auf den Bahnsteig zu klettern, aber es war ihm nach wie vor nicht möglich und dort oben hielt es offenbar auch keiner für nötig, ihm zu helfen, stattdessen zückten einige sogar schon ihre Handys und richteten die Kamera auf ihn. Er wandte den Kopf in Richtung des Tunnels aus dem der Zug kommen würde und konnte bereits die Lichter erkennen. Sein Puls beschleunigte sich rasch, während er versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen und gleichzeitig einen Ausweg aus dieser Misere zu finden. Aber egal, was er tat, ihm kam kein Einfall, auch nicht als er den Zug schließlich richtig erkennen konnte und er sich ihm immer rascher näherte, während er selbst absolut unfähig war, sich zu rühren. „Nozomu!“ Hosted by Animexx e.V. 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