Waterheart (adult) von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 16: Spielball --------------------- „Ich muss mich manchmal wirklich über sie wundern, Miss Vandom,“ mokierte Irma in gespielter Bewunderung. „Wie sie so hart und entschlossen gegen ihre Freundinnen vorgehen, ist bereits unglaublich genug. Aber ‚Danke für den Fisch’ – das drückt ein neues Höchstmaß an Gewitztheit aus. Eine neue… geschmackliche Note, sozusagen!“ Will lachte unwillkürlich. Ihre Freundin hatte schon seit vier Minuten die Maske einer demütigen Schülerin aufgelegt und benutzte diese Scharade, um ihr zu jeder sich bietenden Gelegenheit Komplimente zu machen. Teilweise waren diese so unverschämt überzogen, dass man gar nicht anders konnte, als haltlos darüber loszulachen – und den eigentlich ernsten Anlass, den sie betrafen, zu vergessen. „Ach, so gewitzt ist das eigentlich gar nicht,“ antwortete sie. „Ich habe vor kurzem eine Zusammenfassung der Serie im Fernsehen geschaut. Du wirst es nicht für möglich halten, aber wenn Dean etwas noch lieber mag als seine Geschichtsdokus, dann ist das Douglas Adams.“ Irma erschauerte und fiel dabei zum ersten Mal aus der Rolle. „Echt unheimlich, zu welchen Auswüchsen ein Geschichtslehrer fähig sein kann. Aber sein Humor war ja schon immer zum Gruseln.“ „Wem sagst du das! Vor kurzem hat er gesagt, mein Musikgeschmack wäre noch schlechter als die Dichtkunst der Vogonen…“ „… welche bekanntermaßen die Drittschlechteste im Universum ist!“ vollendete die Wasserwächterin. „Ich weiß, Hay Lin hat es mir mal versuchsweise ausgeborgt. Nicht, dass ich sie drum gebeten hätte...!“ „Und wie weit bist du gekommen?“ Irma seufzte. „Eben bis zu der Stelle! Danach hab ich es nicht mehr finden können. Hab es wohl zu doll gegen die Wand getreten! Daran kann man mal wieder sehen, dass ‚Humor’ Geschmackssache ist!“ „Wenn wir mit dem Unterricht fertig sind, wirst du auch solche Wälzer schaffen,“ versprach Will freimütig, bevor sie ihre Freundin um die Ecke und ins helle Sonnenlicht zog. Die Strandpromenade lag vor ihnen, auf der – wie jedes Jahr - der Feiertagsmarkt stattfand. Was einen Riesenumsatz für die Stadt und platt getretene Füße für die Besucher bedeutete. Jeder Zentimeter zwischen den Buden war mit Leuten besetzt, die entweder versuchten, im dichten Gedränge halbwegs voran zu kommen, oder sich dem Strom widersetzen mussten, um ihr Bier nicht umzukippen. Dazu kamen noch als Gründerväter verkleidete Schauspieler, die immer wieder Leute anhielten, um sie zur Teilnahme an einem todsicheren Gewinnspiel zu überreden. Noch schlimmer war die Situation am Strand, der vor kinderreichen Familien, Jugendlichen und Touristen nur so überquoll. Auf jeden Fall schien Irma, als sie vom Straßenrand aus den Besucherstrom verfolgte, in ihrer Begeisterung erheblich gedämpft zu werden. „Und da sollen wir rein, richtig?“ fragte sie trocken. Will nickte, ergänzte aber schnell: „Nicht für lange! Wir werden uns fünf Minuten unter die Leute mischen und dann verschwinden. Das sollte eigentlich lang genug sein.“ „Und wie sollen wir dann wieder herauskommen? Das hier ist schlimmer als ein Krokodilfluss in Afrika!“ „Das lass mal meine Sorge sein! Halte dich einfach dicht neben mir! Ich habe mir vorhin extra Deo unter die Achseln gesprüht, damit du mich in der Menge stets wieder findest.“ „Stimmt, das ist mir auch schon aufgefallen.“ Irma blinzelte misstrauisch, ging mit der Nase ein wenig näher an Wills Aura heran und schnüffelte. „Aber das ist nicht etwa das Deo meines Vaters?“ Ihre Freundin grinste verlegen. „Und wenn es das wäre? Es waren nur zwei kleine Spritzer,“ fügte sie schnell hinzu. „Und auch erst, nachdem wir Sex hatten.“ Irma verdrehte die Augen bis zum Himmel und erschauerte. „Super, den Gedanken werd’ ich jetzt ganz bestimmt nicht mehr los. Du gehst gleich nachher unter die Dusche und wäschst das Zeug aus, klar? Ich habe keine Lust, in deinem Haar zu kuscheln und dabei an eine Männerumkleide zu denken.“ „Wieso?“ antwortete Will, gefährlich lächelnd. „Ich dachte, das macht dir den meisten Spaß!“ „Tu es einfach, okay? Es ist eine Frage des Anstands!“ Zu Irmas unendlicher Erleichterung lenkte Will ein. Immerhin wusste sie noch, wo es die Grenze zu ziehen galt, … obwohl auch ihr Humor langsam schwierig zu werden begann. Dann aber nahm sie Irmas Hand und tauchte mit ihr gemeinsam in die Menge ein. Zwei Minuten später fragte sie sich erneut, ob das eine so gute Idee gewesen war. Selbst für einen Menschen wie Irma, der gerne ein Bad in der Menge nahm, war dieser Trip, im weitesten Sinne des Wortes, anstrengend. „Ich weiß nicht, wie’s dir geht,“ bemerkte sie einmal giftig, während sie neben Will herstolperte und dabei ständig fremde Haare und Kleidungsstücke in die Nase bekam, „aber mir blüht gerade so richtig das Herz auf vor Vaterlandsliebe!“ „Ich weiß,“ antwortete die Hüterin, gleichfalls gereizt, „aber wenn uns die Mädchen tatsächlich verfolgen sollten, werden sie es jetzt bestimmt bald aufgeben.“ „Meinst du? Bei Taranee und ihren Gedankenlesekräften, und Hay Lin mit ihrem Fledermausgehör-“ „Das hat nichts zu sagen,“ unterbrach sie Will, „sie sind beide nicht dermaßen vertraut mit ihren Fähigkeiten, dass sie uns aus einer Menge von mehr als eintausend Leuten herauspicken könnten.“ „Außerdem,“ - fügte sie zögernd hinzu - „wenn Taranee wirklich hier wäre, würde sie bestimmt mit uns Kontakt aufnehmen.“ Sie zögerte wieder, diesmal schmerzlich lange. „Zumindest würde das die Taranee tun, die ich kenne.“ Irma schluckte schuldbewusst. Sie hatte so etwas geahnt. „Du brauchst mir nicht zu glauben,“ entgegnete sie vorsichtig. „Ich habe nur gesagt, dass sie gestern Abend vor dem Fenster saß!“ „Das ist ja das Schlimme,“ zischte Will, „ich glaube dir sogar! Das Herz von Kandrakar hat sie ja gespürt, vielleicht noch stärker als Hay Lin, auch wenn ich selbst abgelenkt war. Ich habe keine Ahnung, was sie dort zu suchen hatte, aber… wenn sie tatsächlich etwas gegen unsere Gefühle hat…“ Tief empfundene Reue brodelte Irmas Hals empor. Sie bemerkte das Tränen erstickende Kratzen in Wills Stimme durchaus, und es ließ ihr Herz zu einer Waschtrommel mutieren, die sich zweihundert Mal pro Minute drehte. Seit ihrer ersten Begegnung in der Eingangshalle des Sheffield Instituts hatten Taranee und Will immer eine besondere Beziehung gehabt – eine Beziehung, die sich nicht anders als „Best Friends Forever“ beschreiben ließ, oder als ‚Seelenverwandtschaft’, wenn man es romantisch sehen wollte. Die Möglichkeit, dass ihre beste Freundin mit ihren Gefühlen nicht einverstanden sein würde, war absurd, aber dennoch ein nachvollziehbarer Horror. Sogar für Irma. Nichtsdestotrotz fasste die Wächterin des Wassers ihre Geliebte beim Arm, zog sie ganz nah an sich heran und zwang sie, das Antlitz in ihre Richtung zu drehen. „Sie – hat – nichts – gegen – deine – Gefühle!“ stellte sie ein für alle Mal klar. „Tara ist nicht der Typ für solche kranken Aktionen. Wenn jemand Schuld daran hat, dann doch ganz sicher Cornelia!“ Ein tiefes Grummeln klang aus Wills Oberleib. „Genau das denke ich auch,“ erwiderte sie kummervoll, „ aber es macht die Sache nicht schöner.“ Irma betrachtete ihre Freundin mit neuer Aufmerksamkeit. Sie konnte sich noch erinnern, dass sie vorhin, als sie ihr den Grund für die geheimnisvollen Vorgänge der letzten Stunden erklärt hatte, nicht so zittrig gewesen war. Vielleicht hatte sie den Schmerz damals verdrängt, oder die Informationen hatten erst einmal Wurzeln schlagen müssen, bevor sich ihre emotionale Wirkung in voller Pracht entfalten konnten. Doch egal, wie es gekommen war – der Kampf in ihr fand nun statt und würde so lange andauern, wie die Geheimniskrämerei weiterging. In vielerlei Hinsicht erinnerte die Enttäuschung an letzte Nacht – an Irmas Rückkehr von der Wiese unter dem Wasserturm (dessen vorangegangene Ereignisse sie wohlweislich verschwiegen hatte). Aber jetzt war da nichts außer Schmerz, und selbst, wenn er vielleicht geringer war als üblich, so war er allein und für sich doppelt so schädlich. Irma war sich nicht ganz sicher, was sie damit tun sollte. Einfach zugrundewitzeln wollte sie das Problem diesmal nicht, aber sonst fiel ihr auch keine andere Lösung ein, die dem Debakel gerecht geworden wäre. Unsicher schwankte ihr Blick hin und her und erspähte eine Imbissbude in nicht allzu großer Entfernung, zu der sich gerade eine längerfristige Lücke auftat. Sie machte Will darauf aufmerksam. „Möchtest du vielleicht etwas essen? Wenn mich meine Nase nicht täuscht, verkaufen sie dort drüben Plundertaschen.“ Die Ablenkung funktionierte. Wills verkniffenes Gesicht löste sich zu einer Miene des Erstaunens. „Was zum Teufel sind Plundertaschen?“ Irma lachte, und mit einem Mal schien sich ihre Zunge wieder von ganz allein zu bewegen. „Nichts da mit Teufel,“ verkündete sie stolz, „das sind Geschenke des Himmels, in Blätterteig gefasst. Eine Sünde für die Figur, aber ein Kuss für den Gaumen!“ Es klappte vorzüglich - ein vertrautes Lächeln kehrte auf Wills Antlitz zurück. „Was meinst du - wenn wir Cornelia mit diesen Plundertaschen füttern, wird sie toleranter werden?“ „Vielleicht… “, argwöhnte Irma, „aber da müssten wir schon wirklich viele kaufen.“ „So etwa… zwanzig Stück?“ „Nur für sie? Ich bitte dich!“ --------------------------------------------------------------------- Der Angriff kam so plötzlich, so unerwartet, dass Cornelia für einige Sekunden nicht wusste, wo ihr die Sinne standen. In ihrem Kopf schwindelte es, als hätte sie an einem düsteren Nebelmorgen, nach einer Nacht unruhigen Schlafes, ein Kettenkarussell bestiegen und dabei den Kopf zu lange in den Wind gehalten. Doch die Realität holte sie schnellstmöglich wieder ein – ein neuer Hieb erwischte sie, diesmal in der Bauchregion, und warf sie mit ungezähmter Kraft über die Bettkante, so dass ihr Nacken auf den Teppich schlug und ihre Schirmmütze im Nirgendwo verschwand. Wie ein Blitz fuhr der Schmerz in ihren Rücken und brannte, stärker, als sie es je für möglich gehalten hatte. Zugleich aber – und das machte ihr noch weitaus mehr Sorgen – entsprang von ihrem Bauch und ihrem Unterkiefer aus ein Gefühl, dass sie nur aus lang zurückliegenden Kindertagen kannte: ein Gefühl, das beim Kontakt von warmer Haut mit Eis entstand, besonders, wenn man einen Schneeball ins Gesicht bekam. Ihr Nervensystem meldete an allen Ecken und Enden wilde, stechende Schmerzen und Hitzewallungen ohne Ende, obwohl nichts daran ansetzte außer der von ihren blauen Flecken ausgehenden, schmerzlichen Kälte. Die Welt kreiselte vor ihren Augen … Sie bekam jedoch nicht viel Zeit, dieses Gefühl einzuordnen. Schon sah sie den Schatten ihres Angreifers über sich hinweg springen und hörte ihn wenige Zentimeter neben sich landen. Dann traf sie wieder ein Schlag – ein gut gezielter Tritt in die Seite, der ihrer Kehle einen qualerfüllten Schrei und ihren Augen Tränen entlockten. Zwei weitere Tritte folgten, einer härter als der andere, doch noch immer machte Cornelia keine Anstalten, aufzustehen oder sich zu wehren. Denn das schreiende, kreischende Etwas, das da über ihr stand und sie diesen entsetzlichen Grausamkeiten aussetzte, war niemand anderes als ihre in Tränen aufgelöste Freundin Hay Lin. ---------------------------------------------------------------------- Letztendlich belief sich die Summe der gekauften Plundertaschen doch nur auf zwei. Diese allerdings waren so saftig und lecker, dass Will, sonst kein sonderlicher Fan von Süßspeisen, die Augen übergingen. Während sie gemeinsam nach Herzenslust schlemmten und sich dabei auf die Deichmauer stützten, überflog Will mit ihrem Blick noch einmal den unter ihnen liegenden Strandabschnitt. Sie waren auf ihrem Weg gut vorangekommen und hatten in den vergangenen Minuten fast das Ende der Uferpromenade erreicht. Von hier aus war es nur noch ein kurzer Weg bis zum offiziellen Ende des Badestrandes. Hier, wo der Sand feiner und die Wellen trügerischer wurden, löste sich das undurchdringliche Netz der Strandbesatzer ein wenig auf und schuf Platz für einige sehr stille, romantische Ecken, die nur wegen des strengen Geruchs nach Algen noch unbelegt waren. Diesen Ort hatten sie für ihren gemeinsamen Urlaubstag ausgewählt. Sobald sie aufgegessen hatten, packte Will ihre Strandtasche am Riemen und führte Irma mit festem, vertraulichem Griff über die Treppe zu den Dünen hinunter. Der Flecken, den sie ausgewählt hatten, lag knapp hundert Meter entfernt, zwischen einigen Felsklippen und dem Abhang der dahinter liegenden Wiesen. Von oben war er durch hohe Grashalme abgeschirmt, und an der Seite durch aufgeschwemmte Sandhaufen, in deren Schatten kleine Kuhlen mit Wasser lagen. ‚Bestimmt voller hässlicher Krabben und Wattwürmer,’ dachte Will schmunzelnd, und ihre Laune besserte sich noch weiter. Frohgemut verflocht sie ihre Finger in Irmas Hand und schlenderte mit ihr in gemächlichem Tempo durch die Schirme. Sie sog die vielfältigen Gerüche nach verbrannter Haut, Badeöl und Meerwasser in sich auf und fühlte sich zum ersten Mal, seit sie das Haus verlassen hatte, wirklich sicher. Das Meer war ihre Welt, die sie von kleinauf kannte und zu der sie immer wieder hingezogen wurde, wenn sie ihre Schwimmnachmittage auch hauptsächlich in überfüllten Hallenbädern zubringen musste. Auch Irma schien dies zu verstehen, doch ihre Augen galten anderen Dingen. Wirbelnden Bällen zum Beispiel, und Jungs in kurzen Hosen… „Irma? Irma!“ Eine schlanke Hand fuchtelte der Wächterin des Wassers vor dem Gesicht herum. „Hallo! Erde an Houston, senden Sie noch?“ „Klar und deutlich, Erde“, antwortete Irma grinsend. „Wir beobachten gerade die beherrschende Lebensform dieses Planeten – groß, schlank, sexy Rücken…“ Will verdrehte die Augen. „Kann es sein, dass du doch nicht so i-l-u bist, wie du sagst?“ „Komm schon, Will! Willst du ernsthaft behaupten, dass dich dieser Anblick kalt lässt?“ ‚Das tut es eben nicht,’ dachte Will, ‚zumindest nicht, wie du diesem Kerl dort dauernd auf den Hintern starrst.’ Nichtsdestotrotz wandte sie ihren Blick dem laufenden Volleyballmatch vor sich zu und beobachtete eine Zeitlang, nicht sonderlich interessiert, den Spielverlauf. Irma dagegen war Feuer und Flamme, obwohl sie sonst alles andere als ein Sportass war. „Sieh es dir nur an,“ flüsterte sie begeistert, „sechzig Kilogramm reine Muskelkraft, schlanke Hände, schöne Kurven… da kommt man schon ins Träumen, oder?“ „Sag mal – wovon redest du da eigentlich?“ In Wills Augen traf keiner der männlichen Spieler dieses Idealbild. „Na, von diesem Traum dort drüben,“ antwortete Irma verschmitzt und drehte Wills Kopf dezent in die richtige Richtung: Drei Badenixen in sportlichen Stretch-Bikinis, die während einer Spielpause über einen gemeinsamen Witz lachten. Das ergab deutlich mehr Sinn … Trotzdem konnte Will sich mit diesem Gedanken nicht so recht anfreunden. Für sie war die Sache mit Irma nach wie vor rein persönlicher Natur. Weder wollte sie sich von nun als Lesbe sehen, noch wollte sie ihre bisherige Vorliebe für Jungs aufgeben… zumindest nicht, bis sie sich über ihre Gefühle absolut im Klaren war. Dies sagte sie auch Irma, die ihre Bedenken verständnisvoll aufnahm. „Ich erwarte nicht von dir, dass du von jetzt an jedem Rock nachschaust “, erklärte sie. „Das wäre gar nicht deine Art. Aber mal ehrlich,“ fügte sie nach einer Pause hinzu, „wenn du mich nicht hättest – für was würdest du dich entscheiden?“ Will schwieg. Sie wagte gar nicht, aufzusehen. Wäre sie wirklich ehrlich gewesen – hätte sie sich dann auf diese Affäre mit Irma eingelassen? Auf eine Affäre mit irgendeinem Mädchen? Gar nicht auszudenken, dass sie überhaupt daran dachte … … Aber wenn es in dieser Sache wirklich nur um eine Frage der Möglichkeiten ging… Vorsichtig hob sie den Blick und fasste noch einmal nacheinander die Mädchen der beiden Mannschaften ins Auge. Keine von ihnen sah schlankweg hässlich oder unsympathisch aus. Aber es gab gewisse Züge, die vor allen anderen heraus stachen … Schließlich blieb ihr Blick bei einem Mädchen hängen, das gegenüber den anderen am interessantesten aussah. Sie stand in Aufschlagsposition und prüfte mit dem Blick das gegenüberliegende Spielfeld ab. Zwar wirkten ihre Augen etwas müde angesichts des Gegners, aber ihr knochiger Körper und ihr Gesicht signalisierten trotzdem volle Aufmerksamkeit und Einsatzbereitschaft. Als sie kurz lächelte, wurden unter ihren Lippen große Zähne erkennbar, die ihr ein freches, kumpelhaftes Aussehen verliehen, und die beiläufige, aber beinahe zwanghaft wirkende Geste, sich die rotblonden Haare hinters Ohr zu streichen, erinnerte Will so sehr an ihre eigenen Gewohnheiten, dass sie gar nicht anders konnte, als Übereinstimmung mit dem Mädchen zu empfinden. Übereinstimmung, ja … aber war das schon Liebe? Will zwang sich, genauer hinzusehen, und ihr Blick wanderte den langen Hals des Mädchens herab, über ihren Rücken, kräftig und wohlgeformt, über ihren Po, wunderbar glatt erscheinend, hinunter zu den langen, staksigen Beinen. „Du hast eine Stelle vergessen,“ flüsterte eine Stimme hinter ihr. Irma hatte sich ihrer Freundin von hinten genähert und schaute ihr nun über die Schulter, die Hände auf ihren Rücken gelegt. Will schüttelte abwehrend den Kopf, doch sie konnte nicht verhindern, dass Irma ihren Kopf wieder einmal manuell auf Kurs brachte und auf das Objekt ihrer Begierde drehte. Ganz plötzlich musste Will sich der bitteren Erkenntnis stellen, dass ein weiblicher Brustkorb, war er auch wie in diesem Fall hager und dünn, beim Atmen unvergleichlich aussah; dass weibliche Brüste nicht allzu offen liegen mussten, um die Phantasie in gewisse Bahnen zu lenken; und dass man, wenn man bei ihrem Anblick Hungergefühle bekam, nicht unbedingt ein Kannibale sein musste … „Unglaublich, oder?“, flüsterte wieder Irmas Stimme, und ihr Mund ging ganz nah an die Ohrmuschel ihrer Freundin heran. „Diese Rundungen … diese Schatten … “ „Jaa…,“ hauchte Will, und fühlte, wie sich die Sperre in ihrem Kopf löste und Gedanken freigab, die ganz selbstverständlich dort geruht hatten. Sie beobachtete das rotblonde Mädchen, das jetzt zum Aufschlag in die Luft sprang, und Abbilder von ihren flatternden Haarsträhnen und mitschwingenden Brüsten sammelten sich in ihr, zu einer Reihe erstaunlicher Phantasien. Irma hinter ihr lachte. „Tja, wer hätte gedacht, dass der weibliche Rücken so wahnsinnig biegsam sein kann?“ Will, die eigentlich gar nicht mehr richtig zuhörte, nickte geistesabwesend. Erst zu spät, als Irma sich von ihr entfernte und der Druck ihrer Hände auf dem Rücken sprungartig zunahm, als sie aufs Spielfeld stolperte und sich alle Blicke, inklusive der des Mädchens, auf sie richteten, wurde ihr der Doppelsinn dieser Worte klar. Jetzt ging es um die Ehre… Es schien beinahe eine Ewigkeit zu dauern, bis Cornelia endlich den Mut zeigte, aufzuspringen und ihrer prekären Situation zu entfliehen. Ihr ganzer Körper fühlte sich an wie ein lose verschraubtes Autogestell, von Schluchzern geschüttelt und von Tränen zersetzt. Halb konnte sie noch Hay Lins Hände fühlen, die sie an der Schulter packten und ihren Rücken mit Faustschlägen traktierten, doch letzten Endes hinderte sie nichts mehr daran, zur Türe zu stürzen und sich in ihrer rasenden Todesangst für einen Weg ins Treppenhaus zu entscheiden. Sie rannte, so schnell es ihr die grün und blau getretenen Beine ermöglichten, doch Hay Lin war ihr dicht auf den Fersen und schickte ihr nacheinander drei scharfe Luftwirbel hinterher, die ihren nur mühsam aufrecht gehaltenen Gang straucheln ließen und sie schlussendlich gegen die Wand neben der Treppe warfen. Cornelia hätte sich fast die Nase gebrochen bei diesem Sturz, doch zum Glück konnte sie noch rechtzeitig die Arme nach vorne reißen und den Aufprall mit den Händen abfangen. Nichtsdestoweniger bremste sie das in ihrer Flucht, und als sie das nächste Mal den Kopf umwandte, sah sie, dass ihre Freundin sie schon beinah erreicht hatte. Auf die kurze Distanz wirkten ihre glattschwarzen Augen von dunklem Feuer beschienen, und ihr Gesicht war eine einzige Maske animalischen Zorns, wie ihn Cornelia noch nie gesehen hatte. Jeder ihrer Knochen signalisierte ihr, aufzugeben, aber Cornelia hörte nicht darauf. Sie zwang ihren Körper torkelnd die Treppe hinab, immer drei Stufen auf einmal nehmend, und schlitterte am Ende in Eisläufermanier um das Treppengeländer, um direkt vor der Wohnzimmertür zum Stillstand zu kommen. Dort, so meinte sie in ihrer Verwirrung, würde es ein Mittel geben, Hay Lin ruhig zu stellen. Gerade noch rechtzeitig schlug sie ihrer Freundin die Tür vor der Nase zu. Die versuchte zuerst noch, die Tür durch einen Wirbelsturm aus den Angeln zu heben, doch als das nicht klappte, begnügte sie sich damit, ihre Schulter mit der Kraft eines wild gewordenen Nilpferdes dagegen zu werfen. Die ganze Decke erbebte unter diesem Stoß, aber Hay Lin kümmerte das wenig. Für sie zählte im Moment nicht viel mehr, als ihren rasenden Zorn irgendwo abzulassen. Zu ihrem Glück erwischte sie bei diesem Ansturm auch die Klinke. Die Tür schwang auf und gab den Blick auf das Wohnzimmer und vor allem Cornelia frei. Die bösartig geschundene Wächterin der Erde hockte neben einer Kommode auf dem Boden, das Gesicht von der Tür abgewandt und nur mit einer Hand notdürftig Halt findend. Ihre Aufmerksamkeit aber galt einem merkwürdigen, kleinen Etwas in der anderen Hand. Plötzlich drehte sie den Kopf und erblickte ihre Freundin. Ihr Gesicht lag halb unter der zerzausten blonden Haarflut verborgen, und ihre Lidränder waren vom stetigen Tränenfluss längst zu konturlosen Flecken zerronnen. Aber das Gefühl, das in ihren Augen stand, war nackte, panische Angst. Angst vor einer Freundin, die sich von einer Sekunde zur anderen in ein Monster verwandelt hatte … Allein dieser Gedanke brachte Hay Lin zum Kochen - sie schickte ihrer Gegnerin einen Wind entgegen, der sonst einen Baum entwurzelt hätte, die Wächterin auf dem Boden aber kaum mehr behelligte. Doch in jenem Augenblick, da der Sturm etwas nachließ - das tat er nur für ein oder zwei Sekunden, denn Hay Lin setzte schon wieder zum nächsten an – in jenem Augenblick also stürmte Cornelia vorwärts, riss die Arme nach oben, die sie vorher verborgen gehalten hatte, und hielt der Wächterin der Luft verzweifelt weinend ein Bild aus längst vergangenen Tagen entgegen : Ein Foto von Irma und ihr, eng umschlungen, am zwölften Geburtstag ihrer Freundin gemacht. Hay Lin hielt kurz inne, ohne indes ihre vorbereitete Haltung aufzugeben. Auch der Luftwirbel in ihren Händen wurde keinen Millimeter kleiner. Dennoch verharrte Cornelia so, die Augen fest auf ihre Freundin gerichtet, das Gesicht so bestimmt wie möglich. Sie drängte das Bild noch weiter nach vorne, dicht vor Hay Lins Augen, und wartete geduldig das erhoffte Ergebnis ab. Hay Lin rührte sich nicht, nur ihr Blick blieb auf das zweifelhafte Foto geheftet, auf das Lachen der beiden Mädchen, auf die leuchtenden Augen und die schwesternhafte Liebe, die schon damals zwischen ihnen geherrscht hatte ... Ein kurzer Ruck ging durch ihren Körper, Cornelia atmete auf ... ... und schon schwang ein lang ausgestreckter Unterarm Cornelias Brust entgegen, an der gleichen Stelle, die er schon einmal getroffen hatte. Cornelia flog quer durch das Zimmer und landete schließlich wieder unter der Kommode, wobei ihr Hinterkopf genau gegen eine Schublade stieß, die durch die Erschütterung alle der Kommode auferlegten Gegenstände der Schwerkraft übergab. Eine der Blumenvasen kippte nach vorn auf Cornelias Scheitel, und das darin enthaltene Wasser ergoss sich in breiten Strömen auf ihre Sporthose. Die Wächterin der Erde war jedoch längst nicht mehr in der Lage, sich darüber aufzuregen. Die schmerzhaften Flecken auf ihrer Haut plagten sie ärger als je zuvor, und das stressgeladene Wummern in ihrem Herzkasten ließ sie bereits an ihrer weiteren Zukunft zweifeln. Im trüben Schatten ihrer zerzausten Haare sah sie wie im Traum die Wandbilder schwingen und trockene Blätter durch die Lüfte wirbeln. Ein letztes Mal sammelte sie die Kraft, um aufzusehen und zu beobachten, wie die kleine Asiatin drohend auf sie zuging, ganz im Bewusstsein ihrer zerstörerischen Kraft gefangen. Dann flackerte ihr Blick, ihr Körper erhob sich wie von grauenvollen Schnüren gezogen, und bevor diese irgendetwas dagegen tun konnte, umarmte sie Hay Lin, ähnlich fest, wie sie es auf dem Foto mit Irma gesehen hatte. Tatsächlich schien all die Kraft, die sie vorher zurückgehalten hatte, nun aus ihr heraus zu fließen. Ein grüner Schimmer umschloss die beiden Mädchen, und vor allem Hay Lin schien dieser Schimmer in ihrem Innersten anzurühren. Ihre überbordende Kraft kam mit einem Mal zum Stillstand, und unter das Tiefschwarz ihres Augapfels drängten sich wieder die Konturen ihrer einstigen Regenbogenhaut hervor. Die aggressive, auszehrende Wut wurde von Cornelias Umarmung aus ihr herausgequetscht, und sie hatte keine Möglichkeit mehr, sich dagegen zu wehren. Eine Sekunde später war alles vorbei. Hay Lin, nun wieder ganz die Alte, stolperte nach hinten wie vom Schlag getroffen, und ließ ihre Freundin dabei wie einen Sack zu Boden plumpsen. Einen Augenblick konnte Cornelia noch spüren, was vor sich ging. Dann kippte sie zur Seite und rührte sich nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)