Waterheart (adult) von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Ein Traum von einem Mädchen -------------------------------------- Warnungen: Die Geschichte ist nicht umsonst adult: es kommt pro Kapitel meistens eine sexuell orientierte Handlung, zumindest aber sexuelle Gedanken vor; explizit (ausführlich) wird es erst in den Kapiteln 8-10. Trotzdem ist es kein versteckter PWP und niemand sollte so etwas erwarten. Pairings: verschiedene (was für eine Antwort!) ;) Timeline: Die Geschichte setzt etwa gegen Ende der Ludmoore-Saga ein d.h. Matt wurde von Karmilla als Aushilfsgitarrist mit auf Tournee genommen, Eric ist in eine weit entfernte Stadt gezogen und Cornelia beginnt, für Peter zu schwärmen. Meiner Zählung nach müssten die Mädchen inzwischen 16 (in Wills und Cornelias Fall 17) Jahre alt sein. Anzahl der Kapitel: noch keine genauere Festlegung, aber die Story an sich ist zu ca. 50% fertig Disclaimer: Ich habe keine Rechte an WITCH, die Rechte liegen bei Disney und SIP Animations, und ich bin sicher, keiner von beiden wäre mit dieser Art Story einverstanden. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Waterheart Irma hasste die Schule, und das war die Wahrheit. Hätte sie wählen können zwischen der Schule und einer Mission für Kandrakar, bei der sie gegen riesige Speikobras mit Zähnen, so lang wie Hackmesser, kämpfen musste… na gut, sie hätte sich für die Schule entschieden, schließlich war sie nicht lebensmüde. Wäre ihr aber stattdessen ein romantisches Essen bei Kerzenschein mit Martin Tubbs, ihrer persönlichen Lieblingsnervensäge in Aussicht gestellt worden, dass zehn Schuljahre über andauerte… sie hätte sich mit Freuden hinein gestürzt und Martin mit Dutzenden von Küssen überhäuft, nur um auf diese Tortur verzichten zu können. Was hatte sie den Lehrern denn getan, dass sie sie so dermaßen unter Druck setzten? Jeder andere Lehrer hätte vermutlich ein Gespräch mit ihren Eltern geführt und lang und breit nach den Ursachen ihrer Dummheit gesucht. Aber nicht die Lehrer im Sheffield… die riefen einfach zu Hause an, beschwerten sich und überließen die Sache dann ihren Eltern, die sich bei der ganzen Sache auch keinen Rat wussten. Das nannte man ‚Erziehung zur Selbstständigkeit’! Irma hätte am liebsten mitten hier auf den Korridor gekotzt… wenn Hausmeister Gideon sie nicht danach ganz bestimmt zum Aufwischen verdonnert hätte! Aber so schlurfte sie nur lustlos zu ihrem Schließfach, öffnete es und holte ihr Lesebuch heraus. In der nächsten Stunde stand Literatur bei Miss Clarksstone an... und zwar Literatur im klassischen Sinne. Irma hatte nichts gegen das Lesen an sich: wenn sie mal wirklich nichts anderes zu tun hatte, las sie sogar ausgesprochen gerne... wenn das Thema eines Buches sie ansprach oder es ein schönes Cover und Illustrationen hatte. Leider hatte sie oft nicht genug Zeit. Und unglücklicherweise hatte Miss Clarkstone (wer heiratete eigentlich so ein Fossil?) eher ein Faible für Bücher mit grauem, verstaubten Einband, die über Sachen sprachen, die ihr rechts entlang am Allerwertesten vorbeigingen. Sie behandelte nicht "Die Welle" oder "Der Herr der Fliegen" wie jeder einigermaßen normale Lehrer, sondern zumeist Milton, Lessing oder Tennyson - eben Zeug, das im wirklichen Leben bestimmt keiner brauchte! Bücher, die Irma wirklich interessierten, würden erst im nächsten Jahrgang drankommen... den sie selbst garantiert nicht mehr erleben würde, denn die Abschlussarbeit für dieses Jahr stand demnächst an. Bis jetzt hatte Irma immer eine schwankende Drei in Literatur gehabt. Wenn sie diese eine Arbeit versaute, konnte sie nichts mehr vor einer Fünf retten. Wenn sie es aber einigermaßen annehmbar hinbekam, würde sie vielleicht noch eine feste Drei oder sogar eine gute Zwei schaffen. Aber das zu entscheiden, lag nicht im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Das lag es nie! Nachdem sie das Lesebuch mit angewidertem Blick in ihren Rucksack hatte rutschen lassen, streckte sie noch einmal die Hand in ihren Spint, um einen neuen Block Linearpapier einzupacken (ihr anderer war nach 11 Monaten voller langweiliger Schulstunden nun endlich vollgekritzelt). Dabei ertasteten ihre Finger ein kleines, in Leder gebundenes Buch in der hintersten Ecke des Schließfachs. Irma musste grinsen: das war eines der wenigen Bücher, die sie gerne aufschlug. Der unbestreitbare Vorteil war, dass es keinen Text darin gab, sondern nur Bilder, so weit das Auge reichte - lustige Bilder, sentimentale Bilder... ...heiße Bilder... Oh ja, sehr heiße Bilder... Was machte es da schon aus, dass es nur ein Fotoalbum war? Irma selbst hatte es letzte Woche in den Spind gelegt, für den Fall der Fälle, dass sie einmal echte Aufmunterung nötig hatte. Nun, dieser Moment war zweifellos gekommen. Voller Ungeduld blätterte sie durch die Seiten, bis sie endlich auf das Foto stieß, dass sie brauchte. Manche hätten es lustig gefunden, andere eher nichtssagend, und wieder andere überflüssig. Irma hingegen fand es unbeschreiblich… anziehend. Dabei war es eigentlich nur ein Foto von Will neben einem Marmeladentopf. Irma konnte sich noch gut daran erinnern, wie dieses Bild entstanden war. Vor kurzem hatte ihre Mutter ihr beigebracht, wie man Marmelade kochte, und um dieses Ereignis gebührend zu feiern, hatte sie ihre Freundinnen eingeladen und ihnen das erste eigene Glas Brombeermarmelade gleich zu kosten gegeben. Jede von ihnen hatte eine Scheibe gegessen und sich die Zunge dabei geleckt, vielleicht nur aus Höflichkeit, aber laut Hay Lin (die inzwischen erahnen konnte, wann jemand log) auch nicht unbegründet. Danach hatten sich die Mädchen zum gemeinsamen Fernsehschauen und Relaxen ins Wohnzimmer verzogen. Kurz vor der ersten Werbepause hatte irgendjemand festgestellt, dass Will fehlte. Unbemerkt von den Anderen war sie in der Küche zurück geblieben, um weiter zu naschen. Die Mädchen ertappten sie dabei, wie sie gerade ihren Finger in das Glas getaucht und mit Marmelade vollgekleistert hatte, um ihn dann genüsslich abzulecken. Taranee hatte diesen Moment mit ihrem Fotoapparat, den sie immer bei sich trug, quasi aus dem Hinterhalt aufgenommen. Will war entgegen all ihrer Erwartungen nicht erschrocken, überrascht oder verlegen gewesen, im Gegenteil, sie hatte einfach nur um Verzeihung bittend gelächelt, den Kopf leicht gesenkt und von unten die Augen auf sie gerichtet. Irmas Atem stockte noch immer, wenn sie daran zurückdachte... das hatte so niedlich ausgesehen! Doch gleichzeitig war dieser Blick von einer Art, die man unmöglich beschreiben konnte und die in Irma Gedanken auslösten, auf die sie ohne niemals gekommen wäre. Es war, als würden Wills braune Augen direkt durch sie hindurch brennen, die weichen Rundungen unter ihren Kleidern abtasten und dort nach ihren intimsten Geheimnissen suchen, um sie dann voller Stolz hervorzuziehen und für ihre eigenen Wünsche einzusetzen; Wünsche, die Irma aus irgendeinem Grund nur zu gerne befriedigen wollte. Allein bei der Vorstellung, was diese Wünsche betrafen, hatte das Blut in ihren Adern bis zur Wallung gekocht und ihren Herzschlag fast aussetzen lassen. Was hätte sie da schon tun sollen, außer Will lächelnd die Hand auf die (ungewöhnlich kräftige) Schulter zu legen und zu sagen, es sei eine Ehre, dass sie ausgerechnet ihre Marmelade hatte stehlen wollen! Zur Antwort hatte Will nur liebevoll gegrinst und gleich vier ihrer schlanken Fingerspitzen in die blauschwarze Masse getaucht, die sie nun vor aller Augen verspeiste. Den Rest des Nachmittags hatten sie damit zugebracht, Will zu immer neuen Posen anzuregen, und diese hatte sie bereitwillig geliefert. Irma war es zum Teil zu verdanken, dass einige dieser Posen mehr als zweideutig ausfielen. Einmal strich sie sich die Marmelade an den Lippen ab, dann wieder schlürfte sie sie von jedem Finger einzeln herunter oder ließ einfach einen Tropfen absichtlich auf ihr Sweatshirt tropfen. All das tat sie mit der Professionalität eines Berufsmodells, aber nie ohne ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Taranee hatte sich beim Knipsen beinahe weggeschmissen vor Lachen, und auch Cornelia und Hay Lin waren auf ihre Kosten gekommen, nur Irma hatte sich für ihre Verhältnisse sehr zurückgehalten. Sie hatte gekichert, zeitweise aufgelacht, ja... aber niemals hatte sie sich getraut, Will übermäßig lange anzublicken. Wahrscheinlich hätte sie sich sonst überhaupt nicht mehr zusammenreißen können... Selbst dieses starre Foto, das Wills anmutige Bewegungen nicht einmal annähernd wiedergab, nahm bereits ihre volle Aufmerksamkeit gefangen und ließ ihr Denken in unbekannte Sphären schweben. Letztendlich hatte Wills Fotoshooting für eine ganze Bilderserie gereicht, und weil Irma die Marmelade für diese Serie gestiftet hatte, fand es Taranee nur gut und richtig, ihr die ersten Originale zu schenken. Ein Foto dieser Serie nahm Irmas schmutzige Fantasie ganz besonders in Anspruch. Es hob sich eigentlich nicht sonderlich von den anderen ab, es war sogar langweilig im Vergleich zu ihnen. Will hatte einfach nur die Hand an ihre Lippen gehalten, die Augen starr auf den Betrachter fixiert und die Marmelade langsam in ihren Mund fließen lassen. Ein sehr dünner Tropfen des Saftes hatte ihren Mund verfehlt und lief ihren Hals hinunter. Das war weder sonderlich lustig noch in sonst einer Weise bemerkenswert, zumindest für die anderen. Aber Irma.... Irma hatte es erregt bis in die Haarspitzen, wie Wills Lippen dabei glänzten… wie klar und hell ihre Augen leuchteten, fast auffordernd… wie der Tropfen immer weiter rann, vom Hals über das Schlüsselbein hinunter zum Ausschnitt ihres Sweatshirts, wo er dann unter dem Stoff verschwand und trotzdem weiterlief, immer weiter in die verbotenen Regionen, hinunter ins Allerheiligste unter Wills wollenen Schlüpfer… Gott, Irma hätte sich in jenem Augenblick am liebsten auf sie geworfen wie ein wildes Tier! Tragischerweise war der kleine Tropfen in der Realität nie so weit gekommen war; Will hatte ihn weggewischt, nachdem Taranees Apparat das Foto ausgespuckt hatte. Und dennoch… allein die Vorstellung war so faszinierend, dass Irmas Herz um ein Dutzend Takte schneller pulste. „Irma… hallo… bist du noch da?“ Völlig aus ihren Träumen gerissen drehte Irma sich um und erblickte Hay Lin, die schnurstracks auf sie zukam. „Hast du vergessen, dass wir gleich Literatur haben? Die letzte Übungsstunde vor dem großen Aufsatz übermorgen!“ „O Gott, stimmt!“ murmelte Irma schockiert. „Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht!“ „Na, dann komm jetzt! Miss Clarkstone wartet nicht ewig, und schon gar nicht auf ihre 'fleißigsten Schüler'!“ sagte Hay Lin und zog sie mit sich. „Ach komm schon, Hay Lin!“ fragte Irma wehleidig. „Muss das sein?“ „Wenn du dieses Jahr in Literatur eine Zwei schaffen willst … ja!“ „Ich will's ja, aber ich bring’s nicht! Du weißt doch, was ich für Probleme beim Schreiben hab! Ich schreib wie’s mir gerade durch den Kopf geht, dass hat die Clarkstone selbst gesagt!“ „Deshalb gibt sie uns ja noch einen Übungsaufsatz, damit wir uns vorbereiten können! Das ist doch fair, oder?“ Irma blieb vehement stehen und weigerte sich, weiter zu laufen. “’Fair’ ist das Letzte, was ich das nennen würde!” “Nun stell dich nicht so an!” drängte Hay Lin und zog verweifelt weiterhin an ihrem Unterarm. Sie waren jetzt kurz vor ihrem Klassenzimmer, dessen Tür noch immer offenstand. Die letzte Pausenglocke hatte noch nicht geklingelt, trotzdem war der Korridor bereits menschenleer. Erst jetzt fiel Hay Lin auf, dass Irma das Fotoalbum mitgeschleppt hatte. Sie blinzelte erstaunt. „Welches Foto hast du dir denn angeschaut?“ Irma errötete und senkte den Blick. Sie zog schnell den Finger aus den zugeklappten Seiten. „Komm schon, mir kannst du es ruhig zeigen!“ ermunterte Hay Lin sie. „Okay, okay,“ sagte Irma unverkrampft lächelnd und blätterte schnell eine bestimmte Seite auf, die ihr relativ unverfänglich erschien. Auf ihr war ein Bild, wie Hay Lin im Bikini bäuchlings auf einem Strandtuch lag und dabei an einer kühlen Limo mit Strohhalm schlürfte, und zugegebener Maßen fand Irma dieses Bild irgendwie 'sexy'. Es betonte Hay Lins Figur, die seit ihrem fünfzehnten Geburtstag immer ausgeprägter wurde. (Nicht, dass sie urplötzlich Modellmaße erreicht hätte, aber was Recht ist, muss Recht bleiben, und wer sagte, dass Hay Lin geschmeidig wie eine Raubkatze geworden war, hatte zweifelsohne Recht.) Hay Lin wurde rot und grinste verlegen. „Oh, ich… also, das ist echt.... süß von dir... ich hatte nicht erwartet, dass du mich derart attraktiv findest.“ Irma lächelte flüchtig und gab ihrer Freundin einen kurzen Kuß auf die Lippen (nicht ohne sich zu vergewissern, dass niemand zusah), den Hay Lin mit einer innigen Umarmung als Zugabe erwiderte. Dann gingen sie beide in die Klasse, gerade noch rechtzeitig, bevor die Pause zuende war. Die Literaturstunde zog sich in die Länge wie ein zwei Meter langes Gummiband zwischen zwei einen Meter voneinander entfernten Stuhllehnen. Nicht nur, dass es die letzte Stunde vor Schulende war oder dass Irma in ihrem Übungsaufsatz beinahe nichts zustande brachte, nein, sie wurde auch noch pausenlos von Hay Lin angestarrt, und dann auch noch mit diesen sehnsüchtigen, begehrlichen Blicken, die sie in letzter Zeit irgendwie nicht mehr ertragen konnte. Ja, es stimmte, dass sie schon mehrere Monate lang eine Art Pärchen bildeten. Ja, natürlich hatten sie in ungestörten Momenten zärtliche Küsse ausgetauscht, und natürlich waren sie manchmal noch etwas weiter gegangen. Aber was hieß schon manchmal: sehr oft, öfter, als sie eigentlich gedurft hätten, verbrachten sie ihre gemeinsamen Nachmittage damit, sich halbnackt in den Armen zu liegen, zu küssen und zu streicheln. Bis vor kurzem war Irma ja auch damit zufrieden gewesen und hatte geglaubt, besser könne es gar nicht kommen. Tja, doch dann war es zu diesem Marmeladenessen gekommen, und seitdem gehörten ihre Augen und Gedanken nur noch Will. Immer öfter dachte sie an ihre gemeinsamen Abenteuern, an ihre vielen Problemen von früher zurück. Sie erinnerte sich, wie sehr sie schon damals zu Will gehalten hatte und wie oft sie ihre Anführerin verteidigt hatte, wenn Cornelia oder jemand anderes sie in Frage stellte. Will war auch die Einzige gewesen, die sie ungestraft hatte zurechtweisen können, wenn sie mal wieder zu derben Unsinn angestellt hatte. Egal, wie allein sie war, Will war immer für sie da gewesen und hatte ihr Mut gemacht oder das Leid mit ihr geteilt. Im Nachhinein erschien ihr alles wie innige Liebe. So war Irmas Zuneigung zu Will immer weiter gewachsen, mit jedem Moment war ihr Herz weiter angeschwollen, bis sie schließlich nicht mehr atmen konnte. Und dann waren die Träume gekommen, diese fieberhaften, unsagbar erotischen Phantasien, die Irma immer kurz vor dem Schlafengehen heimsuchten und sie selten ohne eine kleine Erektion wieder ruhen ließen. Sie hatte schon bald keine Taschentücher mehr, um das milchigweiße Sekret aufzufangen, das dabei zwischen ihren Beinen hervortrat. Also hatte sie beschlossen, etwas zu unternehmen! Über die letzten Wochen hinweg hatte sie sich einen Plan zurecht gelegt (außergewöhnlich sorgfältig und durchgefeilt, anders, als es sonst ihre Art war) wie sie Wills Liebe gewinnen konnte. Treffenderweise spielte gerade der Deutschaufsatz darin eine wichtige Rolle. Allerdings hatte sie damit gerechnet, dass ihre Leistungen sich bis zu diesem Zeitpunkt verbessert hätten. Und nun war das dabei herausgekommen - ein bis auf eine kurze Einleitung fast leeres Blatt! „Na ja, umso besser! Dann weiß sie wenigstens, dass es dringend ist!“ murmelte sie nach der Stunde auf dem Gang. Eine riesige Schülermenge zog an ihr vorüber und riss sie mit sich. Während sie mit dem Strom Richtung Ausgang schwamm, suchte sie unter diesen vielen Köpfen nach ihrem heißgeliebten Rotschopf. Da! Dort drüben war sie, nicht weit von Cornelia entfernt. Irma wollte schon untertauchen, um sich einen Weg zu ihr hin zu bahnen, als sie jemand am Arm packte und wegzog. Unglücklicherweise war es Hay Lin, deren Wangen knallrot strahlten, und deren nervöses Augenzucken an Irmas Körper herumjagte wie eine lästige Fliege. „Hey, Irma! Also, weißt du… unser Restaurant ist morgen bis 18:00 Uhr geschlossen. Wollen wir da nicht mal-“ „Tut-mir-leid-geht-nicht-hab-da-leider-schon-was-vor!“ unterbrach Irma sie hastig, riss sich los und quetschte sich durch die dahinrasende Menge, während Hay Lin ihr verwirrt und enttäuscht hinterher schaute. „Literaturnachhilfe? Morgen?“ fragte Will überrascht. „Ja!“ gab Irma zerknirscht zu. „Tut mir leid, dass ich erst so spät damit komme, aber ich habe heute beim Übungsaufsatz gemerkt, dass ich mich nicht gut genug vorbereitet habe! Ich muss wissen, wie ich das am Donnerstag überlebe, und weil ja morgen dieser Feiertag ist… meine Familie ist den ganzen Tag über nicht da… und wenn ihr wirklich keine Hausaufgaben aufgekriegt habt…“ „Naja, ein paar schon… aber nichts, was ich nicht heute nachmittag noch erledigen könnte!“ „Heißt das also, du kommst?“ fragte Irma hoffnungsvoll. „Nein, ich tanze Arm in Arm mit einem Kraken! Klar komme ich,“ sagte Will grinsend. „Meine Mutter wird ein paar Schwierigkeiten machen, aber ich bin sicher, Collins wird sie schon rumkriegen! Das ist wenigstens ein Vorteil, einen Lehrer als Stiefvater zu haben!“ Irma lachte. „Gut, dann hab ich mir ja gerade die richtige Meisterin ausgesucht!“ Sie schaute noch einmal prüfend in die Runde, doch niemand in der Menschenmenge schien ihr Gespräch wahrzunehmen, außer Hay Lin, die aber zu weit entfernt war, als dass sie irgendetwas hätte hören können. „Sag mal… könntest du heute nicht gleich bei uns übernachten?“ Will überlegte: „Damit wir uns morgen sofort ans Lernen machen können, nicht wahr? Keine schlechte Idee! Aber ich muss das erstmal mit meiner Mutter absprechen, ich ruf dich an, wenn es geklappt hat.“ Irma nickte und lächelte fahrig, dann hauchte sie ihr ein schüchternes „Bis dann“ zu und verschwand wieder in der Menge. Wenige Augenblicke später ergoß sich der Schülerstrom durch das Eingangsportal des Sheffield Institut und löste sich in zahllose kleine Grüppchen auf. Eine davon bestand aus Hay Lin und Taranee, die langsam in Richtung ‘Goldens’ zuckelten. „Sie will den Feiertag nicht mit dir verbringen?“ fragte die Wächterin des Feuers gerade. „Ja, ist das zu fassen? Ich meine… okay, sie muss sich auf den Aufsatz in Literatur vorbereiten, aber soviel Zeit nimmt das ja nun auch nicht in Anspruch, oder? Das ist nichts, wofür man den ganzen Tag braucht!“ „Dann geht doch heute noch einmal zusammen weg, wenn es morgen nicht geht!“ „Die Idee hatte ich auch schon! Ich hab sie eben nochmal darauf angesprochen, aber es klappt nicht!“ Hay Lin schnaubte. „Dieser elende Faulpelz! Ich hab ihr schon vor einer Woche gesagt, sie muss sich vorbereiten, damit wir dann am Tag vorher etwas freie Zeit haben, aber nein, bei ihr geschieht alles auf den letzten Drücker!“ Taranee stupste sie mit dem Ellenbogen an. „Nun reg dich mal nicht so auf, dann kommst du eben mit uns mit! Cornelia und ich wollten morgen schwimmen gehen. Wir treffen uns um eins bei mir!“ Hay Lin nickte, aber sie sah nicht sonderlich glücklich aus. Das wurde auch nicht besser, als Cornelia neben sie trat. Die blonde, hoch gewachsene Wächterin der Erde hatte ein noch ernsteres Gesicht als sonst. „Können wir kurz reden?“ fragte sie knapp. Die Zwei anderen sahen sich fragend an und nickten. Zehn Minuten später saßen sie zusammen wie geplant im ‚Golden’s’ an ihrem Stammtisch und bestellten Milchshakes. Doch die sonstige gute Laune, die sie Freitagnachmittags immer zu großen Plänen beflügelte, wollte bei keiner von ihnen einkehren. „Also, was gibt es so Dringendes?“ brach Taranee das eiserne Schweigen. Cornelia seufzte, rang mit den Händen und seufzte wieder, dann sagte sie stockend: „Ist euch schon mal aufgefallen, dass Irma in letzter Zeit ziemlich komisch ist? Und ich meine nicht ‚komisch’ im üblichen Sinne!“ „Meinst du, dass sie so ernst und schweigsam ist… ja, das hab ich auch schon mitbekommen!“ sagte Taranee stirnrunzelnd. “Aber sowas kommt bei ihr und ihren Launen doch schon mal vor. Sie ist eben wetterfühlig.” „Taranee, es herrscht seit vier Wochen bestes Sommerwetter, mit ein paar Regenschauern nachts! Und diese spezielle Laune von ihr,“ fuhr Cornelia bitter fort, „dauert schon ebenso lange an. Erzähl mir also bitte keine Märchen! Sonst lässt Irma keine Gelegenheit aus, sich mit mir zu streiten, doch in letzter Zeit beachtet sie mich fast gar nicht mehr, sondern starrt andauernd auf eine bestimmte Stelle, die ich hier nicht nennen will. Es ist, als könnte sie sich nur mühsam beherrschen…“ „Wegen was?“ fragte Hay Lin, doch die Wächterin der Erde schwieg. Stattdessen redete Taranee weiter. „Mal sieht sie so aus, als könne sie der ganzen Welt um den Hals fallen, ein anderes Mal scheint sie fast zu weinen… aber sie reißt sich immer zusammen und macht keins von beidem. Das ist bei ihr irgendwie nicht normal!“ „Und warum fragen wir sie nicht einfach, was das bedeuten soll?“ wollte Hay Lin wissen. „Weil es wahrscheinlich mit Will zu tun hat,“ stieß Cornelia hervor. „Es ist ihre Stelle, auf die Irma ständig starrt. Ich fürchte… Irma könnte sich in sie… verliebt haben…“ Ihre zwei Freundinnen schauten sie schockiert an. „Das ist doch Quatsch!“ meinte Hay Lin. „Das wäre eine Erklärung!“ widersprach Taranee, wenn auch nicht restlos überzeugt. „Überhaupt nicht!“ rief die Wächterin der Luft wütend und sprang auf. „Wieso sollte sie denn so was tun? Das ist doch albern! Irma macht manchmal wirklich blöde Sachen, aber so etwas doch nicht! Nie im Leben!" „Hast du denn überhaupt gar nicht bemerkt, wie sie sich in Wills Gegenwart verändert?“ erklärte Cornelia, „Die seltsamen Blicke, die sie ihr bei der Verwandlung zuwirft, und die Schüchternheit, mit der sie sie neuerdings anspricht? Und denk einmal an unser Fotoshooting vor drei Wochen. Irma hat sie fast dazu genötigt, sich auf dem Tisch zu räkeln. Ist es da so unwahrscheinlich, dass sie sie liebt?“ Hay Lin sank zurück auf ihren Platz. Natürlich hatte sie das gesehen… wenn es ihr auch gerade eben erst auffiel. Aber das würde sie nicht zugeben, bis sie sich nicht selbst davon überzeugen konnte. Sie knallte ein paar Münzen auf den Tisch und erhob sich. Taranee fasste sie am Unterarm. „Bitte sei nicht eingeschnappt! Wir möchten es beide nicht glauben, aber… wenn es nun wirklich so ist?“ Hay Lin schaute sie finster an, sagte aber relativ sanft: „Das werden wir noch sehen!“ Unruhig zitternd saß Irma neben ihrem Handy auf dem Bett. Ihr Herz klopfte nicht wenig. Selbst der neuee Karmilla-Song, der gerade im Radio lief, konnte sie aus ihrer Anspannung nicht herausreißen. Will hatte zwar versichert, sie würde schon Ausgang bekommen, aber bei ihrer Mutter konnte man ja nie genau wissen, wie der Hase lief. Um sich abzulenken, ging sie zu ihrer Schildkröte Lattich hinüber und streichelte ihm den Kopf. „Ich hoffe so sehr, dass Will Ausgang bekommt,“ sagte sie zu ihm, „sonst erlebst du mich zum ersten Mal richtig depressiv, Lattich, hautnah und in Farbe! Das wird kein schöner Anblick.“ Sie lächelte. „Du hast Will zwar noch nicht kennengelernt, aber glaub mir, du wirst sie mögen. Sie ist ähnlich wie du: große Augen, sanftes Gesicht, immer etwas rote Wangen…“ Da klingelte endlich das Handy. Irmas Herz setzte kurz aus… und machte dann einen Hüpfer, genau wie sie. Sie sprang zum Bett zurück und nahm den Anruf an. „Ha-ha-hallo, hier Lair!“ meldete sie sich. „Irma, alles in Ordnung? Du klingst, als hättest du ein Ei verschluckt!“ Es war Wills Stimme. „Hab ich auch!“ erwiderte Irma, schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und kicherte erleichtert. „Alles klar bei dir?“ „Ja, ja, alles klar! Wir sehen uns dann um viertel drei bei dir! Ich bringe alles Nötige mit! Bis dann!“ „Tschau, mein Liebling!“ flüsterte Irma, nachdem die Verbindung wieder getrennt war. Ein leicht wahnsinniges Lächeln glitt über ihre Züge. „Hast du gehört, Lattich? Sie kommt! Sie kommt tatsächlich! Für über dreißig Stunden sind wir beide allein!“ Sie lachte glucksend und ließ sich rückwärts in die Decke fallen. „Dreißig Stunden! Und fast die Hälfte davon ohne Aufsicht!“ Erwartungsvoll strichen ihre Finger über ihre Oberschenkel. „Und danach sind wir vereint, für immer und ewig…“ ----Fortsetzung folgt---- Kapitel 2: Ein Sturm zieht auf ------------------------------ Irmas Herz hüpfte noch immer auf und nieder, wenn sie an Wills Anruf dachte, und wenn es bis jetzt nicht vor Aufregung gestorben war, dann nur, weil sie es noch brauchte. Neben ihr auf der Matratze lag das Foto, dass sie vorhin in der Schule so erregt hatte; das Bild, auf dem ein Marmeladentropfen an Wills Hals hinunter floss. Was sie vorhin in der Schule nicht hatte machen können, geschah nun: sie griff danach und betrachtete es aus allen Winkeln, mit wachsender Begeisterung und stetig steigender Leidenschaft. Gierig leckte sie sich über die Lippen und ließ das Bild noch tiefer auf sich einwirken. Sie stellte sich vor, wie weitere Tropfen an Wills Hals herabfielen, wie sie sich allesamt einen anderen Weg ihren Körper hinab suchten; und dass Will, um sie wegzuwischen, notwendigerweise ihren Pullover lüften musste. Mit ihren berauschend schlanken Fingern fuhr sie in unnatürlicher Langsamkeit über ihren Bauch und lenkte die Rinnsale in eine andere Richtung… genau hinab zum Zentrum ihres Slips. In ihrer Phantasie schluckte Irma beeindruckt. Obwohl sich das Ganze in der Küche und in aller Öffentlichkeit abspielte, schien es, als gäbe es diesen intimen Moment nur für Will und sie. Niemand sonst sah, wie Will verführerisch auf sie zu schlenderte, ihre Hände auf Irmas Hüften platzierte und sich ganz eng an sie schmiegte. Irma bekam fast keine Luft mehr, obwohl ihr Herz so schnell hämmerte wie noch nie. Wie von selbst krabbelte ihre rechte Hand unter ihr Oberteil, schob sich über ihre rechte Brustwarze und begann sie sanft zu massieren. Noch kribbelte es nur ein wenig, aber der Rest würde sich schon ergeben, sobald die lästigen Stofffetzen um ihren Schoß weg waren. Denn sie fühlte, wie Will den Knopf ihrer Jeans öffnete und sie zu Boden gleiten ließ und gleich darauf dasselbe bei ihrer eigenen Hose tat. Nun waren ihrer beider Unterkörper nur noch von Slips bedeckt, und Will begann, ihre Hüften mit kreisenden Bewegungen aneinander zu schmiegen, Haut an Haut… zuerst langsam, mit der Zeit aber immer energischer… ihre warmen Schenkel, ihren glatten Bauch... und dabei lächelte sie, lächelte, als gäbe es auf der Welt nichts Schöneres, es sah liebevoll und sehnsüchtig zugleich aus… genauso wie ihre Augen, die beide näher kamen und sich erwartungsvoll schlossen. Irmas Gesicht glühte vor Freude, und sie schloss gleichfalls die Augen, öffnete die Lippen einen Spaltbreit und wartete, wartete auf den langersehnten Augenblick… … der niemals kam, denn in genau der Sekunde, als sie schon Wills warmen Atem auf ihrem Gesicht spürte, klingelte das Handy, und Irma erwachte aus ihrem Halbtraum. Sie hatte, ohne es wirklich zu merken, ihre Jeans geöffnet und ihren Finger unter den Slip geschoben. Irmas Wangen wurden wieder rot, diesmal allerdings vor Zorn. Wer auch immer es gewagt hatte, sie zu unterbrechen, konnte sich auf etwas gefasst machen… Sie nahm den Anruf an und fragte möglichst trocken: „Ja, Lair hier?“ „Irma?“ Klasse! Von all den sechs Milliarden möglichen Stimmen auf der Welt musste es ausgerechnet Hay Lins sein... und auf deren Klang legte sie momentan keinen Wert. „Ist Will schon bei dir?“ 'Um Himmels Willen, was geht sie das an?' dachte Irma wütend. 'Sehr viel', antwortete ihr schlechtes Gewissen, , immerhin hast du bis vor kurzem noch von ihr geträumt.' Guter Einwand, das musste Irma zugeben. „Nein, sie kommt erst viertel drei!" sagte sie laut. "Wieso?“ „Weil ich fragen wollte, ob ich… nicht vielleicht… auch mit euch lernen könnte?! Weißt du, ich könnte auch noch ein paar Übungen für diesen Aufsatz gebrauchen, und wenn ihr schon mal dabei seid-“ Irma seufzte. Mit dieser Antwort hatte sie gerechnet. „Hay Hay, du weißt, dass das nicht geht! Wenn du in der Nähe bist, dann habe ich irgendwie immer den Wunsch, Quatsch zu machen, und dann kann ich mich nicht konzentrieren. Tut mir leid, das wird nichts! Üb doch mit Taranee, die ist doch in Allem die Beste!“ „Und wieso hast du dann ausgerechnet Will um Nachhilfe gefragt und nicht sie?“ fragte Hay Lin, auf einmal ungewöhnlich kalt. Irma schauderte. Hay Lin ahnte etwas… mehr als sie jetzt zugab, wenn sie nicht sogar schon alles wusste. Und selbst, wenn das nicht so war, konnte sie trotzdem spüren, wenn jemand log, oder zumindest, wenn man von einer Aussage nicht zutiefst überzeugt war. Jetzt galt es, vorsichtig zu sein. „Weil für Will komplizierte Schlußfolgerungen nicht so selbstverständlich sind wie für Taranee!“ antwortete sie, als wäre es das Normalste der Welt. „Sie und ich sind auf einem ähnlichen geistigen Level, deshalb wird sie mir vieles einfacher erklären können. Außerdem kann sie ihre Gefühle besser ausdrücken, und darauf kommt es doch beim Interpretieren an, oder?“ Hay Lin schnappte deutlich hörbar nach Luft. Die Erklärung schien sie nicht zufrieden zu stellen, aber sie fühlte wohl, dass sie nicht gelogen war, denn einen Teil dieser Argumente hatte Irma wirklich bei der Ausarbeitung ihres Plans in Betracht gezogen. Alles stimmte, wenn auch nur formal betrachtet. „Ist das alles?“ fragte sie gefasst. 'Scheiße!' fluchte Irma in Gedanken, 'Wie soll ich denn darauf antworten?' „Nein, natürlich nicht, ich will sie dazu bringen, dass sie mir Christopher abkauft! Was denn sonst?“ Sarkasmus: eine Lüge, die offensichtlich eine Lüge war und dennoch ein Stück Wahrheit enthielt. Hay Lin lachte nicht. Aber ihre Stimme klang ein bisschen entspannter. „Entschuldigung, ich wollte nur wieder ein bisschen mehr Zeit mit dir verbringen. In den letzten Wochen waren wir nur selten zusammen allein!“ „Wie hätten wir das denn sein sollen, wo die Lehrer uns doch ständig mit Kontrollen, Abfragen und Hausaufgaben zugemüllt haben? Wir hatten beide einfach keine Zeit dazu!“ „Aber… meinst du,… nach dem Aufsatz am Donnerstag… könnte es wieder besser laufen?“ 'Verdammt, wieso stellt sie immer solche zweideutigen Fragen, wenn sie sowieso Angst vor einer ehrlichen Antwort hat?' dachte Irma und bedauerte ihr falsches Spiel schon fast. 'Ich würde ihr wirklich gerne die ganze Wahrheit sagen… aber würde sie das verkraften?' „Ich weiß es nicht,“ sagte sie schlicht. Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Nur ein leises Schluchzen ertönte. „Du lügst!“ Es knackte in der Leitung und der Anruf brach ab. Nun fühlte sich Irma alles andere als zornig... eher das Gegenteil. Hay Lin hatte ja Recht, sie wusste nur zu gut, dass ihre wachsende Entfremdung nichts mit dem Aufsatz zu tun hatte. Sie probierte, Hay Lin zurück zu rufen, aber diese ging nicht mehr ans Handy. Nach drei Versuchen seufzte Irma resigniert und nahm wieder Wills Foto zur Hand. Im Prinzip hatte Hay Lin dieser ganzen Angelegenheit viel zu viel Bedeutung beigemessen. Was sie beide getan hatten, war doch im Prinzip nicht mehr als ein Spiel gewesen, ein kleines Experiment unter besten Freundinnen… nichts, dem man hätte nachtrauern müssen. Doch für Hay Lin hatte das Ganze eine Wichtigkeit angenommen, die Irma verängstigte. Ihr Verhalten war an sich gut verständlich - schließlich war Eric, ihr bisheriger Freund nun schon seit vielen Monaten nicht mehr in Heatherfield, und ihre Besuche bei ihm in Open Hill verliefen nicht besonders zufriedenstellend. War es da nicht logisch, dass Hay Lin all die unterdrückte Zärtlichkeit, all die Liebe, die sie Eric gegenüber nicht ausdrücken konnte, auf Irma übertrug, die ihre beste Freundin war? Was war überhaupt der Anlaß dafür gewesen, dass sie und Irma letztendlich ein Paar geworden waren? Irma konnte sich fast gar nicht mehr erinnern; sie wusste nur noch, dass Hay Lin ihr vor drei Monaten eine Art Antrag gemacht hatte, und sie hatte ihn ohne lange nachzudenken angenommen… teilweise um Hay Lin eine Freude zu machen, aber auch, weil sie sich nicht länger mit der Frage beschäftigen wollte, in welchen Jungen sie nun wirklich verliebt war und in welchen nicht. Sie hatte nur einmal eine Entscheidung treffen wollen, die von Dauer war, und Irma hatte geglaubt, dass diese ein guter Anfang war. „Typischer Fall von ‚Falsch gedacht’!“ murmelte sie. Wie der Sturm angefangen hatte, vermochte Will Vandom im Nachhinein nicht zu sagen. Er war einfach aufgetaucht, hatte sich durch nichts angekündigt, aber nun war er da und hatte nicht vor, so schnell wieder zu verschwinden. Wie aus dem Nichts hatte der Wind plötzlich mit Orkanstärke geblasen, dunkle Wolken waren aufgezogen, und Blitze zuckten mit beunruhigender Häufigkeit über den Himmel, gefolgt von einem Donner, der im wütenden Rauschen der Meeresbrandung unterging. Die dünne Felsklippe inmitten des Ozeans, auf der Will stand, wirkte fast wie eine Messlatte, so hoch waren die Wellenbrecher, die über sie hinweg und an ihr vorbei peitschten. Mehr als einmal hatte einer der Blitze genau dorthin gezielt, um sie zu treffen, und war doch im letzten Moment von einer Welle abgeleitet worden, so knapp, dass Will glaubte, den nächsten bestimmt nicht zu überleben. Angst beherrschte ihr ganzes Denken und Sein. Dazu kamen noch die schneidende Kälte und der tobende Wind, denen sie in ihrem dünnen, luftigen weißen Kleid nahezu hilflos ausgesetzt war. Will fragte sich allmählich, wie lange das noch so weitergehen würde, als plötzlich eine Flut Wasser an den unteren Rändern der Klippe hoch gekrochen kam. Es war nur eine kleine Flut (sie hätte gerade so einen Eimer gefüllt), doch es war keine gewöhnliche Flut - sie kam, von den Wellen ungebrochen, von keiner Kraft der Welt angetrieben, die Seitenwände der Felsklippe hinauf, floß über den Rand hinein in das Gras, das auf dem Sockel der Klippe wuchs, und bäumte sich vor Will auf wie eine flachgedrückte Schlange. Die Wächterin, die eben noch um ihr Leben gefürchtet hatte, betrachtete die Wasserflut mit sonderbarer Ruhe. Sie hatte gelinde Angst vor diesem körperlosen Wesen, ja, aber das hinderte sie nicht daran, es näher kommen zu lassen. Zunehmend verschwammen auch die schlangenhaften Züge des Wesens, und aus seinem formlosen Kopf wurde das runde Gesicht eines Mädchens mit langen, glatten Haaren. Auf einmal kümmerten der Wind und das Wetter Will nicht mehr, selbst die Gänsehaut auf ihren Armen ging zurück, denn nun kam das sonderbare Mädchen auf sie zugefloßen, formte einen Arm aus und strich ihr mit einer menschenähnlichen Hand über die Wange. Eine Welle warmer Behaglichkeit durchflutete Wills ganzen Kopf und Hals bis zu den Schultern. Sie seufzte leise. Nach dieser Eiseskälte war das wirklich eine Wohltat! Ein zweiter Arm erwuchs aus dem Wasserwesen. Diesmal legte es seine Hand an ihren Rücken und strich damit an ihrer Wirbelsäule entlang. Und wieder überkam Will ein Gefühl wohliger Wärme, noch stärker als vorher. Wie von fremden Fäden geleitet umarmte sie die ungeformte Wasserflut, stürzte sich mitten hinein in die warme Flüssigkeit, die sie dermaßen anzog. Sie fühlte, wie unsichtbare Hände sie berührten, das weiße Kleid an ihren Schenkeln hochschoben und über ihre Beine bis zu ihren Pobacken glitten. Ein angenehmes, reizvolles Kribbeln fuhr über ihre Unterarme, als würde auch dort eine Hand über die sensiblen Handgelenke und die darunter liegenden Nervenstränge streichen. Es nötigte sie geradezu, selber mit ausgestreckten Fingern in der warmen Wassermasse zu wühlen. Das sanfte Streicheln ging noch lange weiter, und während um sie herum das Meer seine Wellen schlug und der Sturm stärker tobte als jemals zuvor, schwebte Will mit einem Ausdruck absoluter Zufriedenheit auf dem Gesicht inmitten des Wassers, in dem, nur von außen sichtbar, die Gestalt eines rundlichen Mädchens verborgen war, das all das tat, was Will so sehr genoß. Ohne, dass sie etwas davon ahnte, küsste Will es sogar auf den Mund, wovon diese allerdings nicht mehr als ein sachtes Prickeln mitbekam. Doch das störte Will nicht sonderlich: sie fühlte sich ohnehin so gut wie noch niemals zuvor. Wellen absoluten Glücks überschwemmten sie, zwar nur gedämpft, wie durch einen warmen, dunstigen Schleier, aber gerade deshalb so behaglich. Überall um sie herum war diese Wärme, eine glühende Wärme, die sie an ihre Zeit in der Gebärmutter ihrer Mum erinnerte und ihr das Gefühl von Sicherheit gab. Ja, diese Wasserflut würde sie garantiert vor dem Sturm beschützen, sie würde sie umgeben wie ein Schutzmantel, der sich zwar verformte, aber niemals brach. Das glaubte sie selbst noch, als eine riesige Welle die gesamte Wassermasse von der Klippe spülte und sie in den strudelnden Wogen unterging. Wills Geist war so umnebelt, dass sie kaum wahrnahm, wie ihr die Luft zum Atmen weg blieb. Ihre Lunge zog sich zusammen, ihr Herz blieb stehen und ein letzter Schrei brach aus ihr heraus, als sie starb… Oder zu sterben glaubte. In Wirklichkeit erwachte Will mürrisch. Sie lag mit dem Gesicht auf einem aufgeschlagenen Matheheft, dessen Seiten kreuz und quer mit Wurzelgleichungen bedeckt waren. Hinter ihr stand ihre Mutter, die das Ganze mit einem belustigten Grinsen begutachtete. „Das ist also deine neue Art, Hausaufgaben zu machen. Versteh mich nicht falsch, aber die alte Art und Weise gefällt mir besser!“ „Mach dich nicht lustig,“ murrte Will. „Ich hab eben in zweieinhalb Stunden die Hausaufgaben für eine ganze Woche gemacht. Da wird man doch wohl ein bisschen müde sein dürfen!“ „Und ich bin darüber auch unheimlich stolz, meine Kleine! Aber meinst du nicht, dass eine Sieben eher wie eine durchgestrichene Eins aussehen sollte und nicht wie eine Neun?“ Will blinzelte erstaunt und hob das Heft ganz dicht vor ihre schmalen Augenschlitze. „Das soll wie eine Neun aussehen? Quatsch, das ist doch mindestens ’ne waschechte Drei!“ Sie gähnte und klappte das Matheheft nachlässig zu. „Dann schreib ich das eben heute Abend nochmal sauber ab!“ „Gute Idee, du solltest nämlich schon vor zwanzig Minuten bei deiner Freundin Irma sein!“ „Stimmt, wir hatten ja viertel drei ausgemacht,“ rief Will und wurde schlagartig wach. „Ich bin sowas von spät dran… Verdammt, ich muss ja auch noch meinen Rucksack packen!“ „Das haben ich und Dean schon mal freundlicherweise übernommen!“ antwortete Mrs. Vandom verschmitzt, doch auch etwas unsicher. „Wolltest du bis zum Donnerstag Morgen bei ihr bleiben?“ fragte sie vorsichtshalber. „Äh… Ja, glaub schon!“ „Und mit ihr baden gehen?“ „Vermutlich…“ „Und deinen eigenen Zahnputzbecher nehmen?“ „Eigentlich ja!“ „Gut, das hab ich mir gedacht! Ich lass schon mal das Auto an!“ sagte Mrs. Vandom beruhigt und drehte sich zur Tür. „Nein, warte, Mum!“ rief Will, schnappte sich ihren Riesenreiserucksack und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich fahr mit dem Fahrrad hin, das wird schon, ich komm zurecht, bis übermorgen!“ sprudelte sie hervor und verließ das Haus. Sie hatte kaum Zeit, sich über ihren Traum Sorgen zu machen. Nochmal zwanzig Minuten später bog sie in die Garageneinfahrt der Lairs ein, bremste und betätigte ihre Fahrradglocke. Sie sah, wie Irma, die bis eben noch von ihrem Zimmerfenster auf die Straße gestarrt hatte, sich abwandte, um sie an der Haustür zu begrüßen. Ihrer finsteren Miene nach zu urteilen war sie nicht sehr erfreut über Wills Verspätung. Garantiert würde sie ihr eine sarkastische Standpauke halten, die sich gewaschen hatte. Doch Will hatte schon eine Idee, wie sie die umgehen konnte. Als Irma, nun deutlich entspannter, aus der Haustür trat, war niemand zu sehen. Wills Fahrrad stand verlassen in der Einfahrt, und die ganze restliche Straße war menschenleer. Das konnte doch eigentlich nur eines bedeuten… Geistesgegenwärtig trat Irma einen Schritt beiseite, zog das linke Bein schwungvoll nach und ließ sich dann auf das unsichtbare Etwas fallen, das durch sie zu Boden gestürzt war. Sie versuchte, es an den Handgelenken zu packen… merkte dann aber, dass es gar keine Hände hatte. Dafür merkte sie allerdings, wie sie etwas herumwälzte, an den Schultern packte und zu Boden presste, sich dann mit seinem ganzen Gewicht auf sie setzte und über sie lehnte. Zuerst dachte Irma wirklich daran, sich zu freizuboxen. Es wäre kein Problem gewesen: sie war relativ stark gebaut, und das unsichtbare Etwas, das da auf ihrem Bauch saß, schien im Vergleich zu ihr ein Fliegengewicht zu sein! Doch dann checkte sie die Lage und wog ab: ein warmer, offensichtlich weiblicher Unterkörper saß mit gespreizten Beinen auf ihrem Bauch, und geschmeidige Hände, deren Fingerkuppen auf ihrer Haut wie Feuer brannten, berührten sie in der Halsbeuge, wobei die Fingerspitzen auf der nackten Haut ihres Ausschnitts und die Daumen auf ihrem Schlüsselbein lagen. 'Wieso sollte ich daran was ändern!' dachte Irma zufrieden. Die Luft vor ihren Augen flimmerte magisch, und gleich darauf erschien vor Irma das unverblümt grinsende Gesicht von Will. Sie hatte ihr rotes Haar zu einem hübschen Pferdeschwanz zusammengesteckt und trug ein spitz ausgeschnittenes hellgrünes T-Shirt. Seltsamerweise hatte sie ihre übliche Jeans gegen kurze, knalleng anliegende Radlerhosen getauscht… ein Grund mehr für Irma, allein bei ihrem Anblick und noch mehr bei ihrer Berührung inniges Herzflattern zu bekommen. Will grinste entschuldigend. „Ich weiß, der Trick ist so uralt wie die Schöpfung selbst… aber es ist doch komisch, wie viele Leute immer noch darauf reinfallen, nicht wahr?“ „Ich bin nicht darauf hereingefallen!“ verteidigte sich Irma. „Ich habe fest damit gerechnet, dass du das machen würdest.“ Was hieß schon gerechnet - sie hatte es geplant! Wenn ihr Gesamtplan funktionieren sollte, musste irgendwann innerhalb ihrer freien Tage so etwas passieren. „Ich wollte dir nur den Spaß nicht verderben!“ fuhr sie fort „Papperlapapp!“ meinte Will. „Du wusstest doch nicht mal, dass du meinem Rucksack und nicht mir ein Bein gestellt hast!“ Irma sah an Will vorbei auf den umgestürzten Rucksack und dann wieder zu ihr. Wills körperliche Präsenz verwirrte sie über alle Maßen. Sie konnte praktisch ohne Schwierigkeiten in den Ausschnitt ihrer Freundin schauen und die darunter verborgenen Formen erahnen, ohne dabei die Augen von Wills Gesicht nehmen zu müssen und sich zu verraten... wobei sie selbst nicht recht wusste, was von Beidem sie mehr faszinierte. Es war, als würde sie die Frucht ihres Begehrens auf dem Silbertablett serviert bekommen, dafür aber drei Wochen lang fasten müssen. ‘I-i-immer schön an den Pla-a-n halten, keine Angst, du hast für alles v-vorgesorgt!’ „Zugegeben…“ antwortete sie kleinlaut. „Na dann, steh auf!“ sagte Will überraschend heftig, und ihr schnell nachgereichtes „Wir können ja nicht den ganzen Tag hier liegen bleiben“ konnte nicht darüber hinwegtäuschen, was für ein seltsames Gefühl sie bei der Berührung von Irmas Schoß überkommen haben musste. Die beiden Mädchen standen rasch auf und schoben Wills Fahrrad in eine Seitengasse neben der Garage. Dann packte Irma Wills Rucksack beim Henkel und trug ihn mit beiden Händen ins Haus hinein. „Na dann, Mademoiselle Lair, wären sie so freundlich, meinen Koffer auf mein Zimmer zu tragen?“ fragte Will ironisch. Irma lachte. „Aber gerne, wenn das Fräulein so gnädig ist, ihr Zimmer mit ihrer unwürdigen Kammerdienerin und deren Haustier und einzigem Gefährten zu teilen…“ „Mit wem?“ stutzte Will. „Mit mir und meiner Schildkröte!“ „Aber… das ist ein Einfamilienhaus! Da müsste doch theoretisch auch ein Gästezimmer mit inbegriffen sein!“ sagte Will verblüfft. Irma wurde rot. „Ist es ja auch, es hat nur eben kein Bett! Christopher hat vor kurzem ein paar seiner Freunde mitgebracht, es war ein Regentag und sie hatten Langeweile. Muss ich noch mehr sagen?“ „Sie haben das Bett zerlegt?! Aus lauter Langeweile???“ „Nein, eher aus Versehen. Solche hölzernen Bettleisten halten auch nicht alles aus, und immerhin haben acht Drittklässler daran herumgerüttelt. Da kann schon mal was zu Bruch gehen! Jedenfalls hat meine Mutter das Zimmer abgeschlossen, bis Vater die Zeit hat, es zu reparieren.“ Will schmunzelte. „Na, da kann ich mich ja schon mal auf was gefasst machen!“ „Wie meinst du das?“ fragte Irma, die die Antwort halb schon ahnte. „Deine Mutter… und Mr. Collins haben doch nicht… jetzt schon…“ „O doch! In sieben Monaten bekomme ich einen Stiefbruder oder -schwester. Ich wollte es eigentlich nicht an die große Glocke hängen… aber du kannst das doch für dich behalten, oder?“ Will zog eine Augenbraue hoch. „Donnerwetter!“ flüsterte Irma wie vom Schlag getroffen. „Dann sind wir ja in Zukunft Leidensgenossinnen! So was hab ich mir schon immer gewünscht. Das macht uns zu Verbündeten… Busenfreundinnen… Schwestern… eineiigen Zwillingen…“ „Eine schöne Klimax“, warf Will anerkennend ein. „… auf immer und e… eine was?“ fragte Irma verdutzt. Mit gewichtiger Miene schloß Will die Augen, verschränkte die Arme, wiegte sich auf den Fussspitzen vor und zurück und verkündete altklug:„Die stufenweise Steigerung eines normalen Wortes zu einer Wendung absoluter Bedeutsamkeit! In diesem Fall die Steigerung der Intimität und Vertrautheit zweier seelenverwandter Mädchen in vier Stufen!“ setzte sie hinzu. Als sie die Augen wieder aufmachte, erblickte sie zu ihrem Erstaunen Irma, die ihr wörtlich genommen an den verschränkten Armen und bildlich gesprochen an den Lippen hing. Ihr bittendes Gesicht war nur wenige Millimeter von dem ihren entfernt. Ihre Nasen waren so nah beieinander, dass sie jeden Atemzug ihres Gegenübers abbekamen und bei ihrem eigenen mit einsogen. „Das hast du wirklich schön gesagt,“ hauchte Irma. Will zitterte ein bisschen. Genauso wie vorhin auf der Wiese war ihr Irmas Nähe gleichzeitig unangenehm wie wohltuend. Sie atmete so viel von dieser Wärme aus, die Will vorhin im Traum so intensiv gespürt hatte… und die sie dann in den Tod geführt hatte. Seit sie wusste, dass sie eine Wächterin Kandrakars war, hatte Will vor Träumen gehörigen Respekt und wusste, dass sie zwar chaotisch und sinnlos erschienen, aber durchaus einen wahren Kern und manchmal sogar einen prophetischen Charakter hatten. Und dieser Traum war viel zu geordnet abgelaufen, viel zu konzentriert, als dass er keinen tieferen Sinn gehabt hätte. Hatte dieses Mädchen in ihrem Traum nicht sogar ein wenig wie Irma ausgesehen?! Irgendwie schon... Aber hatte Irma denn jemals solche glatten Haare gehabt? Sie war so konsequent lockenhaarig wie kein anderes Mädchen an der Schule! Nie im Leben hätte sie zugelassen, dass ihr Haar glatt wie ein Stück Otterpelz auf ihren Rücken fiel. Das hätte viel zu sehr nach Cornelia ausgesehen. Natürlich war das nur ein Detail, aber es machte keinen Unterschied: Welche Gefahr sollte denn von Irma ausgehen? Dies bedenkend löste Will langsam die verschränkten Arme, ließ Irmas aufliegende Hände in ihre eigenen fallen und drückte sie lächelnd. „Immerhin bin ich ja hier, um dir Deutschnachhilfe zu geben!“ „Das stimmt. Und ich erwarte viel von dir. Vielen Dank, dass du gekommen bist, Will!“ sagte Irma vertrauensvoll zurück lächelnd. „Also, mit was willst du mich als erstes quälen?“ Will ließ Irma’s Hände los, öffnete ihren Ranzen und zog nach einigem Suchen eine Mappe mit Aufsatzblättern hervor. „Das sind alle meine Aufsätze der letzten Jahre, angefangen bei meinem letzten Jahr in Faddens Hill. An der Schule dort haben sie großen Wert auf Literaturnoten gelegt, deshalb sind wir sehr umfassend an die Sachen herangegangen. Wenn wir dann noch mal die verschiedenen Epochen und Schriftsteller durchgehen, dürfte deine Arbeit eigentlich ganz gut ausfallen.“ „Schön… sehr schön,“ sagte Irma leise, unbewusst, ob sie die Methode meinte oder nicht etwas anderes. Sie ließ sich mit einem zögernden Schnaufen auf die Treppe plumpsen. Will setzte sich neben sie. Sie starrten verträumt in das Licht, das durch das Oberlicht der Tür auf die Treppe fiel. Irma seufzte. Will seufzte ebenfalls und klapperte mit den Fußsohlen auf dem Boden. „Hättest du etwas gegen eine kleine Galgenfrist?“ fragte sie nebenher. „Ich dachte schon, du fragst nie!“ antwortete Irma erleichtert. Kapitel 3: Die Welt ist eine Bühne ---------------------------------- „Bist du dir denn wirklich sicher, Corny?“ fragte Taranee zum vielleicht hundersten Mal. „Nein, eben nicht… und nenn’ mich nicht Corny! Es ist schon schlimm genug, dass Irma mich dauernd so nennt!“ antwortete Cornelia genervt. Seit sie vor einer Stunde die Bombe hatte platzen lassen, dass Irma in Will verliebt sein könnte, hatte sie keinen Seelenfrieden mehr. Hay Lin, die diese Behauptung zunächst verleugnet hatte und fuchsteufelswild aus dem Restaurant gestürmt war, kam eine halbe Stunde später mit roten Augen und trotzig geschürten Lippen zurück, um ihr zu versichern, dass sie ihr nun ohne Widerrede glaubte, und hatte seitdem kein Wort mehr gesagt. Genau das aber schien Taranee zu verunsichern, die nun verbissen versuchte, ihre Freundinnen wieder auf den Teppich zu bringen. „Na gut, vielleicht ist Irma momentan etwas angespannt, aber das muss doch nicht zwangsläufig mit Will zu tun haben, oder? Ich meine, ihr ist in letzter Zeit ja so einiges passiert…“ „Stimmt, Taranee! Sie hat ein paar wirklich süße Jungs kennengelernt, die allesamt hinter ihr her sind, und versucht nicht mal, mit ihnen zu flirten!“ sagte Cornelia die Augen verdrehend. „Und dafür scherzt sie andauernd mit Will herum. Hälst du das für normal?“ „Nein… das heißt ja, sie kommen ja immer ganz gut miteinander zurecht… aber eigentlich nicht… es ist halt nur… weil dieser Verdacht von dir kommt…“ „Meinst du etwa, ich würde mir sowas aus den Fingern saugen, nur um Irma zu demütigen?“ Cornelias Stimme wurde lauter. „Glaubst du wirklich, ich würde aus reiner Gehässigkeit solche Gerüchte in die Welt setzen, wenn ich keine handfesten Gründe dazu hätte? Ich bin keine Grumper, verflucht nochmal!“ „Ich deute nur an, dass du dein Urteil über sie ziemlich schnell gefällt hast!“ „Aha, also ist jetzt etwas schon falsch, nur weil es von mir kommt!“ schrie Cornelia. „Das habe ich nicht gesagt, und das weißt du genau!“ sagte Taranee, die nun ebenfalls langsam wütend wurde. „Wieso zweifelst du dann daran? Irma ist kein Mensch, der jemanden unterwürfig oder hingebungsvoll ansieht, selbst wenn sie ihn noch so sehr respektiert. Was soll es also anderes sein als Liebe?“ „Wir haben aber keine handfesten Beweise!“ erklärte Taranee mit Feuer in den Augen. „Verstehst du das nicht? Deine Anschuldigungen erschienen vielleicht auf den ersten Blick ganz logisch, aber je länger ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher kommen sie mir vor, und im Prinzip ist es doch alles nichts weiter als ein Verdacht!“ „Zum Teufel nochmal, ich werde doch wohl einen verliebten Blick erkennen, wenn ich ihn sehe!“ schrie Cornelia und donnerte mit geballten Fäusten auf den Tisch. Es war ein Wunder, dass sich nicht alle Blicke auf sie richteten, doch ungehört blieb ihr Streit keineswegs: einige Gäste kramten in ihren Portmonees nach Kleingeld zum Bezahlen, andere tranken ihre Glas schnell aus, um dann zu verschwinden, und wieder andere unterhielten sich lautstark mit ihren Tischnachbarn, um nur ja nichts mitzuhören. Doch davon bekamen Cornelia und Taranee fast gar nichts mit. Sie saßen sich gegenüber, die gespreizten Finger auf den Tisch gepresst, die hochroten Köpfe nach vorne gereckt, beide enttäuscht über die Uneinsichtigkeit ihres Gegenübers. Hay Lin hingegen, die normalerweise zwischen sie gesprungen wäre, um den Frieden zu wahren, saß von ihnen abgewandt in einer Ecke und starrte durch die gemusterte Glasscheibe des Fensters hinaus auf die Straße zu den anderen Teenagern, die allesamt andere Probleme als sie im Kopf hatten. Aber dann passierte etwas... etwas, dass sie förmlich aus ihrer Lethargie heraus riß und auf den Boden der Wirklichkeit schmiß. „Sind das nicht die Zwei? Dort drüben auf dem Fahrradweg?“ sagte sie argwöhnisch und zeigte auf den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite, wo eine kleine Allee schattiger Bäume stand. Cornelia und Taranee vergaßen ihren Streit sofort und rutschten zum Fenster hin. „Das sind sie wirklich!“ meinte Taranee verwundert. „Will wäre gerade beinahe in das Auto geschrammt, das dort aus der Einfahrt kam, nur weil der Typ dort drüben unbedingt auf dem Fahrradweg gehen musste. Deshalb ist sie hingeknallt,“ erzählte Hay Lin. „Und Irma hilft ihr natürlich auf!" stellte Cornelia nüchtern fest. "Siehst du es jetzt, Taranee? Siehst du, wie sie miteinander umgehen, wie sie sich ansehen?“ Taranee schwieg, doch man konnte ihr ansehen, dass ihr dieser Anblick, unter Berücksichtigung aller neuen Argumente, sehr vertraut vorkam. Auch sie hatte ja mitbekommen, wie sich Irmas Beziehung zu Will und zu den anderen in den letzten Wochen verändert hatte, und hätte nicht Hay Lin urplötzlich die Fassung verloren, wären ihr auch nie Zweifel an Cornelias Schlussfolgerungen gekommen. Aber auch Angst konnte den gesunden Menschenverstand ausschalten, und Taranee hatte Angst, wie immer, wenn sie sich einer Sache nicht gewachsen fühlte. Nun sahen sie beide, wie Irma vor Will niederkniete, mit den Fingern ihr Gesicht untersuchte, ihr unter die Arme griff, um ihr aufzuhelfen, und sie dann ausgiebig abputzte… das alles ganz natürlich, wie es ihre Art war… und doch wieder nicht, denn ihr liebevoller Blick verschleierte nicht, wie sehr sie sich über Wills Sturz freute. Sie half ihrer Freundin sogar, sich wieder auf ihren Fahrradsattel zu setzen… und streifte dabei mit ihrer Hand wie zufällig Wills untere Hüfte! Doch Zufall konnte es nicht sein - schon gar nicht bei diesem gierigen Gesichtsausdruck, den sie eine Sekunde lang hatte. Taranee ließ sich auf die Sitzbank zurückfallen und sah zu ihren anderen beiden Freundinnen: Cornelia, in deren Blick sich Ekel und Traurigkeit vermischte, und Hay Lin, die der Verzweiflung nahe zu sein schien. Am liebsten hätte Taranee ihre Sorge ebenso hemmungslos zum Ausdruck gebracht wie sie… doch irgendjemand musste jetzt die Fassung wahren, und sie wusste, dass sie jetzt damit an der Reihe war. „Es stimmt, Cornelia,“ sagte sie leise, aber entschlossen, „ich hatte es nur vergessen…“ „Entschuldigung angenommen!“ sagte Cornelia knapp nickend, bevor ihre Miene wieder ernst wurde. „Also, was schlägst du vor, was wir tun sollen?“ Taranee stutzte. „Ich soll das entscheiden? Ich dachte, du hast uns das alles gesagt, damit wir uns dann deinen Plan anhören können! Weil du doch sicher schon über eine Lösung nachgedacht hast,“ fügte sie entschuldigend hinzu. „Um ehrlich zu sein, das habe ich nicht!“ sagte Cornelia und ließ den Kopf sinken. „Mein Kopf war die ganze Zeit voller widersprüchlicher Gefühle. Einerseits finde ich es schlichtweg abartig… aber andererseits… Will und Irma sind unsere Freunde, und als Wächterinnen sind wir auf sie angewiesen. Außerdem geht die Gefahr vorerst nur von Irma aus, deshalb müssen wir uns, denke ich, erstmal nur um sie kümmern, und alles tun, damit Will nichts davon spitz kriegt!“ „Stimmt,“ sagte Hay Lin bitter. „Wir müssen sie von Will fernhalten, bevor ihre Gefühle für sie zu groß werden! Sie muss ihre… Begierde… loswerden, bevor sie ihr ganz verfällt!“ Taranee nickte, doch ihr sechster Sinn warnte sie. Taranees neuestes Talent war nicht nur Telepathie, sondern auch die Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen zu hören, wenn diese sehr nervös oder angespannt waren. Das war meistens nicht sehr schön, denn sie konnte es im Gegensatz zur Telepathie kaum kontrollieren und nur zeitweise abstellen. Noch dazu kamen diese Gedanken dermaßen ungeordnet und bruchstückhaft, überlagerten und wiederholten sich, dass sie selbst bei genauestem Hinhören nicht viel Nutzen daraus ziehen konnte. Auch Hay Lins Gedanken waren nicht anders, und doch stieß sie in diesem Wirrwar auf einen einigermaßen klaren Satzbrocken: „…nicht Will… ihre Macht…zu groß...was soll ich...“ Nur diese paar spontanen Eindrücke pickte sie heraus, dann verschloß sie ihren Geist mit aller Härte vor dem Geist der Anderen. Sie hatte absolut keine Lust, in die Privatssphäre ihrer Freundinnen einzudringen. „Dann lasst uns jetzt gehen!“ beschloss sie kurzerhand und stand auf. „Suchen wir uns einen Ort, wo uns niemand belauscht, und schmieden wir dort einen Plan! Hier haben schon genug Leute mitgehört!“ „Mal sehen… hey, laufen diese Woche keine Komödien?“ fragte Irma die Frau am Kinoschalter. „Nein, bis auf weiteres nicht,“ antwortete diese gelangweilt. „Liebesfilme?“ „Nur ein paar ohne Altersfreigabe!“ „Gruselfilme?“ „Neeeiiin!!!“ „Also, was haben sie dann?“ "Schauen sie doch einfach auf die Plakate!" "Aber hier stehen so viele herum! Was läuft denn nun wirklich?" „Ein paar Trickfilme mit pädagogisch wertvollem Inhalt, wenn sie's unbedingt wissen wollen!“ „Scherzen sie?“ „Seh ich so aus?“ „Na klasse, dann vielen Dank für überhaupt nichts.“ „Bitte, gern geschehen.“ Irmas Wangen färbten sich rosa vor Wut, sie drehte auf dem Absatz um und kehrte zu Will zurück. „Eins ist sicher: dieses Kino hat seine besten Zeiten bereits hinter sich, wenn sie schon solches Personal einstellen! So was von frech! Und da beschweren sich alle über die Jugend von heute!“ Will, die währenddessen im Lokalteil der Zeitung gelesen hatte, legte ihr die Hand auf die Schulter. „Sei nicht so voreilig, bei den anderen Kinos ist es auch nicht besser! Die richtig guten Filme kommen erst morgen, wenn alle Schüler frei haben.“ Sie seufzte. „Da wird wohl nichts aus unserem entspannten Nachmittag!“ „Komm schon, in dieser Stadt wird es doch wohl irgendetwas geben, das wichtig genug ist, um der Nachhilfe zu entgehen!“ klagte Irma lauthals. „Irgendetwas Kleines, dass einen von den Schuldgefühlen ablenkt, dass man noch nicht mit Lernen angefangen hat!“ „Na ja,… eine Idee hätte ich da ja!“ murmelte Will zögernd. „Es wäre unterhaltsam, entspannend und wir müssten uns keine Sorgen machen, dass wir wertvolle Übungszeit verplempern…“ „Ich würde dich küssen, wenn du so etwas fändest!“ Will errötete kurz und schluckte ihre Nervosität herunter, dann schlug sie wortlos die Zeitung auf… und präsentierte Irma die Kulturseite, wo ein großer Artikel über die Shakespeare-Woche im Carpenterhaus stand. „ …‚Shakespeare von der anderen Seite erleben’… “, las Irma stirnrunzelnd und sah dann an dem Zeitungsblatt vorbei ins Wills ausdrucksloses Gesicht. „Meinen die von der staubigen oder von der überzogenen Seite?“ fragte sie gemein grinsend. Will errötete noch mehr. „Um drei zeigen sie eine modernisierte Version des ‚Sommernachtstraums’!“ erklärte sie. „Das würde doch eigentlich ganz gut in deinen Stoff passen!“ „Es ist ja echt nett, Will, dass du mir helfen willst, aber solche ‚modernisierten Versionen’ kenn ich zur Genüge! Mrs. Clarkstone hat uns in drei davon geschleppt, eine blöder als die andere. Auf der Bühne sieht das ja alles ganz nett aus, aber schlauer wird man daraus auch nicht!“ „Bitte, vertrau mir!“ sagte Will, nun wieder mutiger. „Oder muss ich dich erst mit Eiskrem bestechen?!“ „Damit würdest du glatt durchkommen… aber mir würde es schon reichen, wenn deine Idee hält, was sie verspricht.“ „Das wird sie! Du magst doch gute Musik, oder?“ „Na ja, schon, aber was hat das denn damit zu tun?" - „Hab ich das nicht gesagt? Es ist eine Art Musical mit Sing- und Tanzeinlagen! Es wird dir gefallen, glaub mir!“ versprach Will und stieg wieder auf ihr Fahrrad. „Wenn nicht, soll mich sofort der Blitz erschlagen!“ Irma zögerte noch einen Moment, aber als sie sah, dass wohl keine Blitze kommen würden, stieg auch sie aufs Fahrrad und radelte los. Das Carpenterhaus war ein kleines, gemütlich eingerichtetes Theater nahe beim Terence Park, der ganz in der Nähe von Will’s Wohnung lag. Das Foyer war gerammelt voll, deshalb warteten die Beiden vor der Eingangstür auf Einlaß. „Siehst du!“ sagte Will und zeigte mit dem Finger auf das buntgemischte Publikum. „Wenn so viele Leute hierherkommen, um zuzuschauen, kann es nicht schlecht sein!“ „Oh ja…" bemerkte Irma bissig, "aber es schauen auch viele Leute bei ’ner Hinrichtung zu! Oder bei Reality TV!“ Will seufzte und ließ den Kopf hängen. Irma bemerkte es. „Hab ich dich damit gekränkt?“ fragte sie vorsichtig. Will schüttelte betrübt den Kopf. „Ich wollte dir ja nur helfen… ich dachte, es würde ganz lustig werden, wenn wir beide was zusammen unternehmen… mal ganz ohne die Anderen…“ Sie ließ den Kopf noch weiter sinken, und ihr roter Pony fiel ihr über die Nase. Irma schluckte. Das sah so schön aus… und traurig... Nichtsdestotrotz schob sie den Pony wieder beiseite und hob Wills Kinn an. „Entschuldigung,“ flüsterte sie. „Das war gemein von mir. Pass auf, ich laß das hier ohne zu nörgeln über mich ergehen, und wenn es gut wird, kriegst du eine Belohnung, die ganz auf meine Kosten geht!“ Will nickte lächelnd, fasste Irma bei der Hand und zog sie ins Foyer. „Du weißt natürlich, dass ich dir nur was vorgespielt habe?“ sagte sie grinsend, als sie sich nebeneinander in die Sitzreihen zwängten. Irma nickte schmunzelnd und winkte müde ab, doch in Wirklichkeit war sie hellwach und aufmerksam. Sie selber behauptete meistens das Gleiche, wenn sie einen Gefühlsausbruch gehabt hatte, der ihr irgendwie peinlich war. Und auch, wenn es keine Lüge war, so bedeutete es zumindest, dass Will mit diesem Gekränktsein irgendetwas bezweckt hatte. Und Irma glaubte zu wissen, was das war... auch, wenn Will selbst es nicht wusste. Die zwei Stunden, die das Stück andauerte, vergingen schneller, als Irma gedacht hatte, und als sich der Vorhang zum Ende hin senkte, war sie eine der Ersten, die Standing Ovations machten. Breit grinsend und mit wippenden Fußsohlen verließ sie, gefolgt von Will, das Theater, um draußen auf dem Vorplatz ein wenig frische Luft zu schnappen. Als sie die von Sonnenlicht erleuchtete Mitte des Platzes erreicht hatte, stieß sie erst mal einen anerkennenden Pfiff aus. „Wow! Will, verarbeite mich zu Pastete, wenn ich jemals wieder an deinem Geschmack zweifle! Zu Kirschpasteste! Mit ganzen Kirschen, ohne Kerne!“ „Kann ich das so interpretieren, dass es dir ein bisschen gefallen hat?“ fragte Will schmunzelnd. „Kannst du! Meinetwegen kannst du es auch interprenieren und runterlädieren und weiß der Kuckuck was noch!“ Sie ließ sich erschöpft auf den Rand eines Steinrondells fallen, in dessen Mitte ein junger Baum wuchs. Sie lachte verwirrt. „Meine Güte, ich rede da ’nen ganz schönen Schwachsinn zusammen, was?“ „Nein, nein,“ bekräftigte Will gutgelaunt und ließ sich neben sie fallen. „Na gut, schön, es ist Schwachsinn…" gab sie dann zu, "aber von dem Schwachsinn, den du normalerweise zusammen redest, ist das garantiert der Schönste!“ Irma kicherte, und ihr Lächeln, das bis dahin so glücklich und unbeschwert war, wurde bald nachdenklich, geradezu unergründlich. „Kannst du dich noch erinnern, was ich dir versprochen habe?“ Will nickte lebhaft. „Du sagtest, du würdest mir eine Belohnung geben.“ „Nun, so kann man es auch nennen, aber ich meine davor!“ widersprach Irma. Will überlegte, doch es fiel ihr nicht ein. „Was hast du denn bitte schön gesagt? Zitiere den genauen Wortlaut !“ befahl sie gespielt oberlehrerhaft. „Komm schon! Du wirst das doch nicht schon vergessen haben!“ Will machte die Augen zu und überlegte. „Ich weiß nicht… aber… war das nicht-“ Ihre Augenbrauen hoben sich überrascht, als es ihr wiedereinfiel. Es traf sie praktisch wie ein Blitz, der auf ihre Schläfe stieß und dort sein elektrisierendes Prickeln losließ. Sie konnte es praktisch am eigenen Leibe spüren... überdeutlich... Will hob leicht die Augenlider… und sah Irmas Gesicht hautnah an ihrer Seite, die runde Nase stieß in ihre zusammengebundenen Haare, ihre Augen waren leicht geöffnet und ihre Lippen schwebten nur Millimeter über ihrer glatten Wangenhaut, als Irma sich im nächsten Moment vorbeugte, Wills Kinn in ihre Richtung drehte und ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen drückte. Es war nicht mehr als ein kurzer Schmatzer, sanft und doch intensiv, nicht gierig, aber auch nicht hingehaucht. Es hätte ein ganz normaler Wangenkuss sein können, wie er derzeit bei den Mädchen in Europa in Mode war. Aber er kam direkt auf die Lippen, und das war es, was Will ein bisschen aus der Fassung brachte. Irma, die inzwischen wieder auf Abstand gegangen war, lächelte so jovial wie früher, als wäre das alles ganz normal. „Hast du nicht vorhin noch etwas von Eis gesagt?“ fragte sie jetzt schelmenhaft. „Eis?! Was für... Eis denn?“ fragte Will, die noch nicht ganz wieder auf dem Dampfer war. „Eiskrem! Du wolltest mich mit Eiskrem bestechen!“ „Jaaaa…,“ sagte Will gedehnt. „Na, dann komm! Hier in der Nähe muss es doch irgendwo eine Eisdiele geben! Ich bezahle auch für dich!“ sagte Irma und öffnete gut gelaunt ihr Fahrradschloss. Will blinzelte, immer noch ein wenig verwirrt, ins nachmittägliche Sonnenlicht, dann gab sie sich einen Ruck und ging ebenfalls zu ihrem Fahrrad. Kapitel 4: Ein Stück von Wolke 7 -------------------------------- „Jaaa, Mum… jaaa… ja, ich bin zum Abendessen da… gut. Vielen Dank! Tschüüüß!“ Hay Lin drückte die Abbruchtaste auf ihrem Handy. „Okay, ich darf!“ sagte sie zu ihren Freundinnen. „Gut, wir haben also Zeit bis um acht, um etwas zu entdecken!“ stellte Taranee fest. „Bis um sieben!“ korrigierte Cornelia. „Meine Großmutter kommt heute Abend wieder mal auf einen ihrer Anstandsbesuche vorbei!“ Sie stöhnte genervt. „Dabei hätten wir sowieso erst nach acht reele Chancen, etwas zu entdecken!“ „Was hoffst du denn zu entdecken?“ fragte Taranee trocken. „Wie die Zwei sich im Fernsehen einen Liebesfilm anschauen?“ „Bete dafür, dass es nur so etwas Harmloses ist!“ flüsterte Cornelia kaum hörbar in ihr rechtes Ohr, denn sie wollte verhindern, dass Hay Lin das hörte und schon wieder zu schluchzen anfing. Allerdings hatte sie vergessen, was für gute Ohren die Wächterin der Luft hatte. „Ich glaube nicht, dass sie heute abend schon so weit sind,“ bemerkte diese, und ihre beiden Freundinnen wunderten sich, wie sachlich es aus ihrem Munde klang. Sie drehte sich zu ihnen um und verschränkte die Arme. „Will ist viel zu misstrauisch, um gleich am ersten Abend darauf hereinzufallen. Außerdem wird Irma kein Risiko eingehen, solange Christopher oder ihre Eltern noch da sind,“ fügte sie hinzu. „Und wann werden sie nicht da sein?“ fragte Cornelia etwas verwirrt. „Christopher nimmt morgen an einem Junior-Baseballspiel in Coppervalley teil. Seine Eltern fahren ihn hin und verbringen dann den restlichen Tag gemeinsam. So zumindest hat es Irma noch vor ein paar Tagen erzählt... deshalb kann es genauso gut auch gelogen sein!“ „Also können wir mit der Überwachung praktisch erst morgen anfangen,“ schloß Taranee daraus, „denn wir wissen ja gar nicht, wo sie sich heute noch aufhalten!“ „Morgen könnte es aber zu spät sein,“ meinte Cornelia. „Wir müssen heute schon anfangen, und uns dann überlegen, wie wir das Ganze noch rechtzeitig aufhalten können!“ Hay Lin nickte. „Wir sollten im Stadtzentrum beginnen. Eine von uns hält Irmas Haus unter Bewachung, und die anderen Zwei suchen die Umgebung vom ‚Golden’s’ ab. Mit etwas Glück sind sie noch irgendwo dort in der Nähe... wenn nicht, müssen wir uns halt was anderes überlegen! Ist soweit alles klar?“ Cornelia und Taranee nickten, erschrocken über Hay Lins plötzliche Entschlossenheit. „Ich schätze, ich werde mich mal bei Irmas Haus umsehen,“ meldete sich Taranee. „Gut! Und zieh ja die Uniform dazu an!“ meinte Cornelia lächelnd und zeigte auf eines der Bündel, dass neben ihnen lag: eine Sportjacke und eine Schirmmütze, mit Ferngläsern und Essenspaket. „Zu Befehl, Ma’am!“ lachte Taranee, klemmte sich eines der Bündel unter den Arm und ging. Hay Lin hatte über ihre Scherze weder gelächelt noch sonst irgendwie die Miene verzogen. Tatsächlich machte sie Cornelia gewaltige Angst, wie sie so kühl und nüchtern dasaß und keine Gefühlsregung mehr zeigte. „Es wird alles gut gehen, Hay Lin, du wirst sehen! Irma wird schon irgendwann einsehen, dass ihr Verhalten schädlich für uns alle ist,“ sagte sie einfühlsam und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie wollte sie mit diesen Worten eigentlich nur ein bisschen aufheitern. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Hay Lin sich in ihre Arme stürzen und hemmungslos zu heulen anfangen würde. Unsicher streichelte sie Hay Lins bebenden Rücken. Sie bekam auf einmal eine riesige Wut auf Irma. Was immer sie Hay Lin angetan hatte, sie würde es bitter bereuen. „Alles in Ordnung, Will?“ fragte Irma besorgt. „Mhm,“ brummte Will, die verträumt in ihrem Pistazien- und Walnusseis herumstocherte, immer wieder mal einen Happen in den Mund schob und dann weiter stocherte. „Schmeckt dir der Eisbecher nicht, oder-?“ „Es liegt nicht am Eisbecher! Mich hat nur… dieses Stück nachdenklich gemacht!“ Das stimmte wirklich: wahre Liebe; Treue; Eifersucht; verliebt zu sein, ohne zu wissen, warum… das alles ging ihr gerade irgendwie im Kopf herum. "Es war... doch irgendwie... aufschlussreich..." murmelte sie schließlich „Stimmt, es war einmalig,“ bestätigte Irma respektvoll. „Vor allem dieser Puck… der war einfach cool… komisch nur, dass ‚er’ von einer Frau gespielt wurde!“ Will nickte versonnen und hob mit ihrem Löffel ein besonders großes Stück Eis aus, doch dann hielt ihre Hand auf dem Weg zum Mund plötzlich inne. Ihre Augen wanderten zu Irma, deren Hocker gleich neben dem Fenster stand, durch dass gerade ein dicker Strahl Sommersonnenlicht hereinfiel. Ihre Lippen, feucht von geschmolzenem Erdbeereis, glänzten einladend… In Wills Verstand geschah urplötzlich ein Kurzschluss: sie zuckte zusammen wie vom Schlag getrffen und ließ dabei den Löffel fallen. Das Eis schlitterte an ihrem T-Shirt entlang und landete in ihrem Schoß. „Uups, entschuldige mich mal kurz!“ sagte Will hastig und stand auf, um rasch die Toilette aufzusuchen. Dort angekommen atmete sie erleichtert auf, stellte sich ans Waschbecken und schaute in den Spiegel. Ihr eigenes bleiches Antlitz schaute zu ihr zurück. Obwohl sie sich den Kopf darüber zermartert hatte, was mit ihr los war, war sie bis jetzt zu keinem brauchbaren Ergebnis gekommen. Sie fühlte sich einfach nur… merkwürdig. Irgendwie… hohl. Es war wegen des Kusses, soviel stand schon mal fest. Er hatte sie aus heiterem Himmel getroffen, auf vollkommen falschem Fuß erwischt. Sie wusste weder, was sie darüber denken sollte, noch warum er so ein flaues Gefühl im Magen hinterlassen hatte. Seltsamerweise sah sie keinen Grund, sich darüber aufzuregen. Und doch wusste sie, dass sie sich eigentlich hätte aufregen müssen! Jedes andere Mädchen wäre dabei wenigstens errötet, hätte ängstlich gestottert oder gleich Zeter und Mordio geschrieen. Im schlimmsten Fall wäre sie weggerannt und hätte nie wieder mit Irma gesprochen. Aber Will hatte nicht den Drang, irgendetwas davon zu tun. Sie fühlte sich nicht mal in der Lage, überhaupt je wieder irgendetwas zu tun! Was war das nur für ein Gefühl? Hinter Will öffnete sich die Toilettentür, und Irma trat herein. Sie lehnte sich mit verschränkten Armen an die Klotür und sagte: „Okay, Will, wir sind allein! Jetzt sag endlich, was mit dir nicht stimmt!“ Will antwortete nicht, stand einfach weiterhin vor dem Spiegel und blickte hinein in ihre leeren, furchtsamen Augen. „Wenn du nicht darüber reden willst, ist das deine Sache,“ sagte Irma sanft, „aber du könntest dir zumindest das Eis vom Kragen wischen!“ Als Will keine Anstalten machte, dies zu tun, ging sie selber hinüber und rubbelte mit zwei Fingern und ein wenig Spucke an dem Fleck herum, der zufälligerweise genau an Wills Brustansatz lag. Sie hatte diesmal -im Gegensatz zu sonst- nicht einmal einen Hintergedanken dabei. Sie wollte wirklich nur Will’s T-Shirt sauber machen. Doch der Schock traf Will völlig unvermittelt, und ohne, dass sie irgendwelche Aggression gegenüber Irma empfand, gab sie ihr eine klatschende Ohrfeige. Sie wichen beide voreinander zurück, eine überraschter als die andere. Lange Zeit sprachen sie kein Wort. Erst, als die rötliche Spur auf Irma’s Wange langsam verblasste, flüsterte Irma trocken: „Nun, in gewisser Weise hab ich das verdient!“ Nun fand auch Will ihre Sprache zurück. „Irma… ich wollte… ich… oh Gott, wieso hab ich das nur getan?“ „Schutzreflex!“ sagte Irma lächelnd. „Der angeborene Instinkt einer Frau, um sich ungewollte Liebhaber vom Hals zu halten… oder jeden, der sie aus Versehen betatscht!“ fügte sie schuldbewusst grinsend hinzu. „Das ist mir jetzt wirklich furchtbar peinlich, weißt du…“ sagte Will, verlegen von einem Fuß auf den anderen tretend. „Das muss es nicht, mir sollte es peinlich sein: ich hab dich einfach so in aller Öffentlichkeit geküsst, ohne an die Folgen zu denken oder dir eine Erklärung abzugeben. Schließlich weiß ja niemand, dass das nur eine Art Wette unter Freundinnen war!“ „Wieso hast du eigentlich gerade diesen Wetteinsatz gefordert?“ fragte Will auf einmal. Es wäre gelogen, zu sagen, sie hätte dabei bereits einen gewissen Verdacht gehabt. Sie fragte nur aus reiner Neugier. „Na ja, bei einer Wette muss doch jeder Beteiligte etwas setzen, was ein großes Opfer von ihm erfordert!“ erklärte Irma mit gekonnt gespielter Unsicherheit. „Und ich glaubte, das Opfer wäre für mich groß genug, wenn ich dich küsste. Aber ich hab nicht daran gedacht, das es dir eigentlich noch viel mehr abverlangt… du weißt schon, wegen deiner Schüchternheit, und wegen Matt und so… . Also hab ich dir im Prinzip damit geschadet, dass ich einen solchen Wetteinsatz überhaupt in Erwägung gezogen habe.“ Will nickte langsam. Das ergab durchaus Sinn… wenn man den Maßstab dafür sehr großzügig anlegte. Es fehlte zwar ein Glied in der Kette der Argumentation, aber im Großen und Ganzen war es folgerichtig. Das galt auch für das, was sie selber nun tat: sie nahm Irma in die Arme, drückte sie fest an sich und setzte ihre Lippen sanft auf Irmas Mund. Zuerst war Irma völlig schockiert darüber, doch nur ganz kurz, dann legte sie selber die Arme um Wills Hüfte und erwiderte den Kuss zaghaft. Ihre Münder, die sie zunächst nur schüchtern aneinandergerieben hatten, saugten sich nun leidenschaftlich aneinander fest, umschlangen und bekämpften einander in einem Wettbewerb, wer wieviel vom anderen erwischen konnte. Aus der Kombination von Erdbeer- und Pistazieneisresten auf ihren kämpfenden Lippen entstand ein bittersüßer, leicht nussiger Geschmack mit einem Aroma von Sahne. Irma würde ihn in Zukunft „Ein Stück von Wolke 7“ nennen. Leider dauerte der Kuss nicht allzu lange, obwohl er sehr viel intensiver war als ihr flüchtiger Kuss von vorhin. Schon bald gingen sie wieder auseinander, mit niedergeschlagenen Augen und rotglühenden Wangen. Irma lächelte schüchtern. „Okay, ich schätze, das habe ich jetzt nicht verdient!“ Will lächelte ebenso schüchtern. „Hast du auch nicht! Ich hab es auch nur getan, damit es diesmal gerecht zugeht.“ „Wie… gerecht?“ „Nun ja, diesmal hat es mir nicht viel abverlangt… dir hingegen schon! Ich weiß auch nicht, wie ich es erklären soll, aber es ist nun mal so.“ Irma kratzte sich verlegen an der Nase. „Ich würde es wahrscheinlich sowieso nicht verstehen!“ Sie kicherten leise und kehrten dann zusammen an ihren Tisch zurück. Ihr Eis war bereits in der Hitze der Sonne zusammengeschmolzen. Sie hatten nicht viel mehr zu tun, als die kühle Sahnebrühe auszulöffeln. „Sag mal, Irma,“ murmelte Will verträumt, nachdem sie etwa die Hälfte ihres Bechers geleert hatte, „was hast du eigentlich vorhin mit Matt gemeint?“ Irma errötete. „Nun ja, er ist doch dein Freund, oder? Ich dachte nur, es würde dir vielleicht schwer fallen, jemand anderes zu küssen, solange du mit ihm zusammen bist, und wenn es auch nur ein anderes Mädchen ist… Ich befürchtete, dass dieser Kuss dir wie Verrat vorkommen würde!“ Will nickte und schaute betrübt in die träge herumwirbelnde Sahne in ihrem Becher. „Stimmt, so ähnlich hat es sich angefühlt… ich war mir darüber nur nicht bewusst. Er ist jetzt schon seit ein paar Monaten mit ‚Carmilla’ auf Tour. Und in seinen E-Mails steht, es könnte durchaus noch ein halbes Jahr dauern. Gerade jetzt, wo wir keine Mission für Kandrakar durchstehen müssen und so viel Zeit zur Verfügung hätten... und da hat er sich entschlossen, mich wieder alleine zurück zu lassen.“ Sie schluckte traurig. „Die Wahrheit ist, ich vermisse ihn... und das jede Minute, die wir getrennt sind!“ Irma biss sich auf die Lippe. Das hatte sie doch gar nicht wissen wollen! Wieso hatte sie Matt erwähnen müssen? Doch Will sprach weiter, ohne aufzusehen. „Selbst, wenn ich mit anderen Jungs zusammen bin, kann ich nicht aufhören, an ihn zu denken und wann er endlich wieder da ist…“ Irma horchte auf. „Du triffst dich mit anderen Jungen? Davon hast du ja noch gar nichts erzählt!“ Will seufzte. „Es ist auch erst seit kurzem! Manchmal gehe ich mit den Jungs aus meinem Schwimmteam auf Partys, um ein wenig abzuschalten und Gesellschaft um mich zu haben. Ich weiß, das sieht so aus, als würde ich ihn hintergehen, aber… ich möchte endlich mal wieder Spaß haben… einfach wieder frei sein... und nicht mehr diese dumme Leere spüren müssen…“ Irma nickte langsam, ließ die Worte und Gefühle auf sich einwirken. In diesem Augenblick sah sie Will - die wirkliche Will - wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. „Ich versteh schon!" sagte sie schließlich. "Du willst das Leben nicht verpassen… willst nicht ständig auf die Gesellschaft anderer Jungs verzichten, nur damit du allen beweisen kannst, dass du auch ganz bestimmt treu bist!“ Sie seufzte und legte ihre Hand auf den Tisch. „Mich würde das auch belasten… ich kann echt verstehen, was du fühlst. Aber du solltest dich nicht selbst fertig machen! Es ist vollkommen egal, was die Anderen von dir denken. Wichtig ist nur, das du selbst dir noch in die Augen schauen kannst. Wenn du mit diesen Jungs zusammen sein musst, um glücklich zu bleiben und Matt trotzdem die Treue zu halten, dann tu es ruhig! Ich werde dich deswegen nicht anklagen!“ „Es ist schön, dass du das verstehst,“ hauchte Will lächelnd, und wie von Geisterhand wanderte ihre Hand über den Tisch und schloss sich um die von Irma. Irma errötete wieder, zog ihre Hand jedoch nicht weg. „Ich bin so froh, dass wir Freundinnen sind. Du kannst so lieb sein, wenn du willst…,“ flüsterte Will weiter und streichelte mit ihrem Daumen Irmas Handrücken. Diese bekam vor lauter Nervosität Herzflattern. Sie hatte schon lange von einem solchen Augenblick geträumt, doch jetzt, wo er da war, war er ihr direkt unheimlich. Es war vor allen Dingen wegen dieser Sache mit Matt und ihrem ganzen Gespräch über Treue und Spaß… Sie fühlte sich unsagbar schäbig, wenn sie nun so darüber nachdachte. Sie schaute stur gerade aus in Wills kastanienbraune Augen und sah darin etwas schrecklich Vertrautes… die gleiche Dankbarkeit, die einst auch in Hay Lins Augen war, als diese ihr ihre Liebe gestanden hatte. Will beugte sich vor, und Irma machte sich schon auf das Schlimmste gefasst, als diese ihre Lippen öffnete und lächelnd sagte: „Das Eis bezahlst du aber trotzdem!“ Irmas Wangen verblassten augenblicklich wieder. Eine Sekunde lang war sie wütend, weil Will sie so hatte schwitzen lassen. Doch dann sah sie das Gesicht, dass Will dabei machte: diesen herrlich neunmalklugen Blick, garniert mit einem frechen, liebevollen Grinsen. Irma konnte gar nicht anders, sie musste von Herzen lachen. „Du müsstest dich mal im Spiegel sehen! Du guckst, als hättest du den Nobelpreis für die schlaueste Antwort bekommen!“ „Ich finde, den hätte ich auch verdient!“ sagte Will und markierte jetzt die eingeschnappte Leberwurst. „Keine Chance, mit dem alten Witz würdest du gerade mal den Altertumsrekord aufstellen!“ Will lachte herausfordernd und stand auf. „Und du denkst, deine Witze wären besser?“ „Ich denke nicht nur, ich weiß es!“ sagte Irma selbstsicher und stand ebenfalls auf. „Okay, was ist diesmal der Einsatz?“ „Wer gewinnt, darf bestimmen, was wir heute Abend zusammen machen!“ „Das weiß ich auch so: lernen!“ „Nicht, wenn es nach mir geht!“ „Oho, da hab ich aber Angst!“ „Die solltest du auch haben! Pass auf: was ist der Unterschied zwischen dir und einem Wischmop?“ „Es gibt keinen! Wir sind beide dünn wie ein Besenstiel und haben wuschelige rote Haare!“ „Das stimmt zwar so nicht… aber der Witz kommt ja erst noch: Was ist der Unterschied zwischen Cornelia und einem Wischmop?“ „Also, ich sehe da jetzt einige!“ „Komisch, ich sehe nur einen: Cornelia würde bestimmt niemals den Kopf in einen Wassereimer stecken! Das könnte ja ihre neue Frisur kaputtmachen!“ Als die Zwei lachend das Eiscafé verließen, platzte einem anderen Kunden drei Tische weiter, einer schlanken Gestalt in Sportjacke und Schirmmütze, gerade der Kragen. „Diese kleine, verräterische Ziege! Manchmal würde ich ihr am liebsten die Lippen zunähen!“ stieß Cornelia zornig hinter ihrer vorgehaltenen Speisekarte hervor. „Wegen ihrer kleinen verlogenen Lobrede auf das Fremdgehen oder wegen des Witzes?“ flüsterte Hay Lin, deren schwarze Perlaugen vor Wut funkelten. „Oh nein, diesmal nur, weil sie so eine egoistische, falsche, durch und durch treulose Tomate ist!“ zischte Cornelia, nur mühsam ihr Temperament unter Kontrolle haltend. „Sie scherzt hier so unbefangen mit Will herum und denkt gar nicht daran, dass du wegen ihr in Tränen zerfließt!“ Sie legte ihre Arme um Hay Lins angezogene Schultern und drückte sie mitfühlend. „Aber das zahlen wir ihr heim, das versprech ich dir! Diesmal nehmen wir keine Rücksicht!“ „Ist schon gut, Cornelia, danke,“ flüsterte Hay Lin, und das Funkeln verschwand. Obwohl sie immer noch extrem wütend war, musste sie doch über Cornelias teilnahmsvolle Art lächeln. Das hatte sie sich nicht zu träumen gewagt, als sie der Wächterin der Erde unter ständigen Heulkrämpfen von ihrer Zeit mit Irma, ihrer großen Liebe und ihrer Enttäuschung erzählt hatte. Es hatte jedoch nicht nur Cornelias Vorurteile über Lesben abgeschwächt, es hatte auch ihr selbst geholfen, darüber zu sprechen. Mehr als alles andere hatte sie befürchtet, Cornelia und Taranee würden sie verabscheuen, wenn sie von ihrer homosexuellen Veranlagung wüssten (außerdem hatte sie Angst gehabt, Irma könnte sie in irgendeiner Form damit erpressen - momentan war ihr einfach alles zuzutrauen). Zum Glück brauchte sie sich darum jetzt keine Sorgen mehr zu machen. Zu fühlen, dass Cornelia auf ihrer Seite stand, gab ihr Kraft... und Zuversicht... und... Um ganz ehrlich zu sein fühlte sich Cornelias Umarmung gar nicht mal so schlecht an… sehr zart und angenehm… und ihr Haar duftete so wundervoll… 'Mein Gott, lass das!' tadelte Hay Lin sich selbst. 'Irgendwo gibt es Grenzen! Sie wird Lesben jetzt vielleicht tolerieren, aber das macht sie noch lange nicht selber zur Lesbe!' Wie als hätte Cornelia diese Gedanken gehört, löste sie ihren Arm wieder von Hay Lins Schulter und legte ihn auf den Tisch. „Was hast du nun eigentlich durch das Oberlicht mitbekommen, als sie vorhin zusammen auf dem Klo waren?“ Hay Lin senkte den Kopf und legte nachdenklich den Finger an die Unterlippe. „Zuerst habe ich eine Art ‚Klatschen’ gehört… wie von einer Ohrfeige… ja, das muss es gewesen sein! Dann haben sie ein bisschen hin- und herdiskutiert, wie peinlich Will das wäre, und Irma sagt natürlich tausendmal: ‚Macht doch nichts!’ und 'Ist schon gut!', wie sie es immer tut. Viel hab ich nicht verstanden, weil gerade ein Lastwagen vorbeikam, und der überschallt sogar mein magisches Gehör! Naja, als er dann vorbeigefahren war, habe ich noch etwas von Matt gehört… und dann…“ sie schluckte, „… es herrschte Stille, aber ich konnte sie leise seufzen hören… ich glaube, sie haben sich geküsst!“ Cornelia zog eine Augenbraue hoch. „Geküsst? Einfach so?“ „Jaa... beziehungsweise nein... ich weiß auch nicht. Ich bin aus den Worten, die sie hinterher gesagt haben, auch nicht schlau geworden… aber sie haben etwas von ‚diesmal’ gesagt!“ Cornelia seufzte. „Dann haben sie sich vorher schon mal geküsst. Etwas ähnliches haben sie ja auch bei ihrem Gespräch gerade eben angedeutet!“ Beiläufig strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Nun, ich weiß, dass du darüber nicht erfreut bist, aber wenigstens haben wir jetzt den unwiderlegbaren Beweis, den wir gesucht haben.“ Hay Lin nickte schwach. „Sollen wir ihnen weiter folgen?“ Cornelia lächelte sanft. „Würdest du das ertragen?“ „Nein!“ „Dann reden wir jetzt besser mit Taranee und überlegen uns eine Strategie!“ Sie standen auf und gingen zusammen in eine Seitengasse, wo sie ihre Fahrräder abgestellt hatten. Bevor sie aufstiegen, hielt Cornelia Hay Lin nochmal zurück. „Mach dir bitte keine falschen Hoffnungen!“ Hay Lins Augen weiteten sich. „Wegen Irma?“ Cornelia schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein… wegen mir.“ Kapitel 5: Die Katze lässt das Mausen nicht ------------------------------------------- Taranee hatte, Cornelias Vorschlägen entsprechend, ihren Posten in dem verwilderten Vorgarten einer verlassenen Vorstadtvilla aufgeschlagen, die zwar schon seit Jahren zum Verkauf stand, um die sich aber inzwischen niemand mehr kümmerte. Niemand konnte verhindern, dass hin und wieder Autofahrer nach langer Fahrt hier eine kurze Rast einlegten, oder dass Familien aus der Umgebung mit ihren Kindern auf dem Rasen ein kleines Picknick veranstalteten. Taranee hatte darum keine Gewissensbisse, eine Decke auf dem hohen Gras auszubreiten und es sich hinter einem hochgewachsenen Rhododendron bequem zu machen. Sie hatte ja nicht viel zu tun, solange Will und Irma noch in der Stadt waren. Zwar spähte sie gelegentlich zu Irmas Wohnung hinüber, die nur zwei Häuser von ihrem Versteck entfernt auf der anderen Straßenseite lag, aber da ihr nichts Verdächtiges auffiel, begnügte sie sich damit, weiter in ihrem Buch zu lesen und dabei die Ohren offen zu halten. Sie hatte sich gerade ein paar Brote für einen kleinen Imbiss geschmiert, als sie das Rasseln von Fahrradketten hörte. In Windeseile krabbelte sie hinter den Rhododendronbusch und spähte vorsichtig durch das dichte Geäst. Zum Glück waren es nur Cornelia und Hay Lin, die da geradelt kamen. Erleichtert sprang sie aus ihrem Versteck hervor und winkte die Beiden heran, sich mit ihr auf die Decke zu setzen. „Greift nur zu,“ sagte sie auf die Brötchen zeigend. „Aber erzählt mir vor allem erst mal, was ihr in der Zwischenzeit so herausgefunden habt.“ Eine äußerst knifflige Angelegenheit. Hay Lin griff schnell nach einem Salamisandwich und überließ es Cornelia, die Geschichte von dem geheimnisvollen Kuss zu erzählen. Sie waren sich schnell einig, dass das einwandfrei ihren Verdacht bestätigte, und dass sie nun schleunigst etwas tun mussten, um Irmas Vorhaben aufzuhalten, solange das überhaupt noch möglich war. Taranee wollte schon einen ersten Vorschlag machen, als sie hörte, wie Hay Lin sich räusperte. „Wolltest du noch etwas sagen?“ fragte sie argwöhnisch. Hay Lin schluckte leicht, dann senkte sie den Kopf, zog die Schultern an und klärte nun auch Taranee über die ganze vertrackte Sache auf, wie sie mit Irma eine heimliche Beziehung aufgebaut hatte, wie gut diese bis vor wenigen Tagen gelaufen war, und dass sie nun ein Problem damit hatte, die brennende Eifersucht im Griff zu behalten, derentwegen sie überhaupt erst ihrem Plan zugestimmt hatte. Taranee ließ sie ohne Unterbrechung weiterreden, doch ihre zerfurchte Stirn zeigte ganz klar ihren Unmut. „Du hast doch hoffentlich kein Problem damit, oder?“ fragte Hay Lin zögernd. Taranees Stirnrunzeln wurden noch tiefer. „Doch, ich habe ein Problem damit, stell dir vor!“ sagte sie mit einem Anflug von Zynismus in der Stimme. „Erstens ist es total egoistisch und bösartig, was du da vorhattest. Zweitens wird das nicht gerade ein gutes Licht auf unsere Sache werfen. Und drittens haben wir jetzt zwei plötzlich lesbisch gewordene Freundinnen statt nur einer… noch dazu zwei, die es schon seit längerer Zeit sind, und womöglich eine Dritte, die auf dem besten Wege ist, es zu werden, ohne es zu ahnen. Und dann haben wir da noch zwei Jungen, die beide untröstlich sein werden, wenn sie erfahren, dass ihre Freundinnen sie für ein- und dasselbe Mädchen sitzen gelassen haben. Entschuldige, wenn ich da allmählich glaube, in einer Klapsmühle gelandet zu sein!“ Sie ließ sich nach hinten fallen und streckte die Arme von sich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Warum musste das ausgerechnet ihnen passieren? Bis gestern war doch alles noch so normal gewesen: jedes der Mädchen hatte seine ganz eigenen Probleme mit der Liebe gehabt, aber sie hatten sich gegenseitig dabei geholfen, sie durchzustehen. Und jetzt hintergingen sie einander im Sekundentakt, verloren ihre Herzen an genau die Falschen und woben ein Netz aus Geheimnissen und Lügen, das dick genug für eine Seifenoper war. Das war doch alles verdammt noch mal nur noch zum Heulen! Wer hatte das Leben nur so verflucht unfair gestaltet? Am liebsten wäre Taranee für immer im Gras liegen geblieben und hätte sich die Seele aus dem Leib geseufzt. Doch Hay Lin, von ihrem Ausraster merklich eingeschüchtert, rutschte zu ihr herüber und berührte sie gedankenverloren an der Schulter. „Es tut mir leid, ehrlich! Ich habe einfach nicht weiter darüber nachgedacht. Ich hatte die ganze Zeit nur meine Gefühle im Kopf… wie einsam ich mich fühlte… und wie gut Irma immer zu mir gewesen war … ich schätze, das hat mich irgendwie auf den falschen Weg geführt!“ Taranee schniefte, versuchte aber nun, Hay Lin eine Spur freundlicher anzuschauen. „Deine Gefühle sind ja in Ordnung, du hättest nur mit irgendjemanden von uns darüber reden können, bevor du dich in solche Abenteuer stürzt… vor allem, wenn du dich in jemanden aus unserer Gruppe verliebst! Ich meine, das ist eine Sache, die uns alle angeht! Nach all dem, was wir zusammen durchgestanden haben, müssten wir uns doch endlich gegenseitig vertrauen können, oder?“ Hay Lin nickte schuldbewusst, aber Cornelia hielt wie üblich dagegen. „Du verstehst das nicht," sagte sie grob. "Eine gute Freundschaft ist noch lange kein Garant dafür, dass man den anderen wirklich versteht - also sollte man nicht so tun, als wäre das überhaupt möglich!" „Und wieso sollte das nicht möglich sein?" fragte Taranee verdrossen. "Wir kennen uns jetzt schon drei Jahre. Wir haben zusammen Dinge getan, die über die üblichen Wochenend-Beziehungskisten anderer Leute weit hinaus gehen. Können wir nicht damit aufhören, uns zu bespitzeln und einfach wieder... ein Team sein?" „Aber natürlich, was hindert uns denn daran?“ fragte Hay Lin entsetzt. „Das Übliche,“ stieß Cornelia hervor. „Angst, Ratlosigkeit, Scham, Stolz… es wird auf alle Fälle nichts mehr so sein wie früher, egal, was ihr behauptet! Bis jetzt ist Will die Einzige, für die Alles noch wie früher ist. Könnt ihr voraussagen, was passiert, wenn sie die Wahrheit erfährt?“ Taranee und Hay Lin schüttelten gleichermaßen den Kopf. Nein, sie konnten es nicht. Sie vermochten nicht zu sagen, was noch in Will vorging. Insgeheim war Taranee sauer auf Cornelia und ihre schlechte Planung. Wäre sie nur auf die Idee gekommen, sie anstatt Hay Lin mitzunehmen. Sie hätte Wills Gedanken vielleicht empfangen und deuten können, um daraus ihre künftige Strategie entwickeln zu können. Aber daran war jetzt natürlich kaum mehr zu denken... Sie schaute betrübt auf das kleine Picknick, das sie vorbereitet hatte, und schnaubte. Ihr war inzwischen gründlich der Appetit vergangen. Seltsamerweise war es Cornelia, die sonst immer am wenigsten aß, die jetzt das Schweigen brach, indem sie nach einem der Brötchen griff. Taranee schaute verwundert auf. „Du isst doch sonst gar keine Leberwurst!“ Cornelia nickte. „Bei meinem Hunger würde ich einfach alles essen… solange es mein Magen verträgt und ich mich dadurch besser fühle.“ Sie reichte das Brötchen Hay Lin. „Ist das nicht meistens so?“ Hay Lin, die diese Anspielung durchaus verstand, nickte erleichtert und nahm es ihr ab. „Ja, so ist es bei mir auch, denke ich!“ Taranee schaute zwischen ihnen hin und her… und plötzlich keimte in ihr ein Plan. Er würde noch ein bisschen zur Reife brauchen, aber es war eine Möglichkeit, diesem ganzen Irrsinn ein für alle Parteien gutes Ende zu bescheren. Befreit von der Last des Pessimismus griff sie nun ebenfalls nach einem Brötchen und aß voller Enthusiasmus, während sie weiter nachdachte. Lange Zeit war nichts weiter zu hören außer den Kaugeräuschen der drei Mädchen. Deshalb drang das erneute Rasseln von Fahrradketten umso deutlicher an ihre Ohren, als es die stille Vorstadtstraße herauf wanderte. Nur Hay Lin drehte sich danach um, denn sie hörte hinter dem Rasseln auch ein anderes Geräusch... ein Geräusch, dass in ihren Gedanken ungeahnte, verborgene Sehnsüchte wachrief. Ein Geräusch, dass sie nur zu gerne mit ihren eigenen Händen hatte erzeugen wollen. Es kam von Irma. Die Heimfahrt der beiden Mädchen war viel ruhiger verlaufen als es Irmas Absicht gewesen war. Am Anfang hatten die Beiden fast ununterbrochen geschnattert, versucht, sich mit Witzen und Wortspielen zu übertrumpfen, aber irgendwann war ihrem Gespräch irgendwie die Luft ausgegangen. Irma hatte den Faden verloren und nur noch auf die kleinen Spalten im Bordstein gestarrt, die in hohem Tempo an ihnen vorbeizogen. Obwohl Will diese Ruhe nicht unangenehm fand (sie war einer dieser Menschen, die nicht andauernd Lärm und Krach brauchten, um das Leben um sich herum zu spüren), war sie ihr dennoch etwas unheimlich. Das war sonst gar nicht Irmas Art. Allerdings… wie gut kannte sie Irma eigentlich? Nicht sonderlich gut, wie sie feststellte! Jedes andere der Mädchen war ihr tausendmal besser bekannt... vielleicht, weil man bei Irma nicht glauben mochte, dass hinter ihrem offenherzigen Verhalten etwas Unerwartetes verborgen war. Sie war zwar keineswegs verschlossen oder introvertiert, aber sie gab fast immer nur vordergründige Witze oder sarkastische Sprüche von sich, so dass man kaum wusste, was in ihrem Innersten wirklich vor sich ging. Vielleicht war das der Grund, warum ihr Gespräch so schnell und unnachhaltig dahin geplätschert war - Irma verheimlichte irgendetwas; und Will war sich ziemlich sicher, dass es mit dem Kuss zusammenhing. Außerdem sagte ihr ihr Instinkt, dass auch das Gespräch vorhin im Eiscafé etwas damit zu tun hatte. Das war eine Sache, die man definitiv weiter austesten musste... In dem Vorhaben, ein neues Gespräch anzufangen, sah Will über ihre Schulter zurück zu ihrer Freundin, die einige Meter hinter ihr herfuhr… und traute zuerst ihren Augen nicht. Irmas Blick schien so starr und... glasig. "Alles in Ordnung, Irma?" fragte sie besorgt. Diese blinzelte verwirrt, hob den hochroten Kopf und stotternd rief: "Wa-was... n-nein, alles bestens, wirklich..." Dann senkte sie den Blick wieder und trat weiter in die Pedale. Eine Zeitlang beobachtete Will sie dabei. Ihr fiel auf, dass ihre Freundin ziemlich langsam und ruckartig strampelte und ziemlich weit vorn auf dem Sattel saß. Außerdem schien ihre Atmung sehr schnell und stoßweise von statten zu gehen. Das an sich wäre vielleicht nicht merkwürdig gewesen, da Irma kein ausgesprochener Sportfreak war... aber da war ja auch noch dieses seltsame Lächeln... so zufrieden und selig... Manchmal ließ sie das Fahrrad ein wenig schlingern und schwankte dabei auf dem Sattel mit. Und jedes Mal, wenn sie die Spalte einer Bordsteinplatte überfuhr, stöhnte sie kaum vernehmbar auf. Als sie merkte, dass Will ihr zusah, lächelte sie noch breiter und rutschte auf dem Fahrradsattel nach hinten - das war aber auch schon alles. Mehr als verwirrt wandte Will sich wieder ihrer eigenen Fahrtrichtung zu. Sie probierte eigenhändig, Irmas Bewegungen nachzuvollziehen. Es fühlte sich - auf merkwürdige Art und Weise - nun, vertraut an. Und... aufregend. Sie sah noch einmal über die Schulter und beobachtete Irma noch ein bisschen genauer... wobei sie sich merkwürdig schamlos vorkam. Aber erst, als Irma schließlich den Kopf in den Nacken legte und beim Ausatmen leise stöhnte, erkannte Will errötend, was gerade mit ihr passierte. Und ihr wurde verdächtig heiß zumute, wenn sie daran dachte. Was nun? Sollte sie Irma darauf ansprechen, um sie auf die beunruhigende Öffentlichkeit ihres Handelns aufmerksam zu machen, oder sollte sie ihr einfach die Genugtuung lassen, es ohne Störung durchzuziehen? Was war die vernünftigere Entscheidung? Was? Will entschloß sich, abzuwarten. Egal was sie tat, es würde Irma bestimmt am Ende wahnsinnig peinlich sein, also konnte sie auch genausogut so tun, als hätte sie nichts gesehen, und Irma dieses ganz besondere Ereignis genießen lassen. Ja, das war sicher das Beste! So tun, als wenn nichts passiert wäre... Nicht daran denken, aus welchem Grund oder wieso gerade jetzt... Und wieso in Wills Anwesenheit... Verdammt, es war ganz schön schwierig, nicht weiter zuzusehen. Andererseits heizte allein Irmas Stöhnen die Phantasie schon genug an... Will ertappte sich dabei, wie sie ihre Freundin vor sich sitzen sah, stöhnend und keuchend und lächelnd, posierend auf etwas, dass wie ein, nein, zwei sehr pralle Sofakissen aussah... Und sie stellte sich vor, wie Irma sich zu ihr vorneigte, sie küsste und lockte, sich ebenfalls ein paar Kissen zwischen die Beine zu schieben... 'Nein, nein, nein,' dachte Will und schüttelte vehement den Kopf. 'Sie ist deine Freundin... beinahe schon eine Schwester. Du kannst doch nicht... sicher, du kannst, aber du solltest nicht, und das ist doch der Punkt...' Plötzlich hörte Will hinter sich ein letztes Aufstöhnen, und sie bremste. Sie sah gerade noch, wie Irma den Lenker losließ und mitsamt dem Fahrrad mitten in eine Gartenmauer kippte. Das Fahrrad selbst hatte genug Distanz zu der Mauer, um sie nicht einmal zu streifen, doch Irma, die immer noch draufsaß, schlug mit voller Wucht gegen die Mauerkante und schabte heftig daran entlang, während das Vehikel leicht weiterrollte und ihren gesamten Unterkörper mit sich zog. Dergestalt krachte Irma ziemlich unelegant auf den harten Steinweg. Für Will war es mit der Ruhe nun endgültig vorbei. Sie sprang wütend vom Rad und lief zu Irma hinüber, die halbgelähmt da lag und stöhnte, diesmal allerdings vor Schmerzen. Nachdem Will das Fahrrad schnell von ihrer Freundin weggeschoben hatte, kniete sie nieder und begutachtete Irmas Körper, vor allem ihren Kopf und ihre Gelenke. Sie hatte ein paar deftige Schrammen abgekriegt, doch immerhin hatte sie sich nicht den Kopf aufgeschlagen, was immerhin auch etwas war. Nur ihre Augen - durch die schweren Lider fast vollständig verdeckt, aber scheinbar nach innen verdreht - machten auf sie einen besorgniserregenden Eindruck. Wills schreckliche Befürchtung hatte sich bestätigt. Irma hatte sich ganz offensichtlich beim Fahrradfahren selbst befriedigt. Es klang total verrückt, aber es war tatsächlich passiert! Gedankenverloren hob Will Irmas bebenden Hinterkopf auf ihr Knie und streichelte ihr hellbraunes Haar. Es dauerte eine Weile, bis das Mädchen wieder richtig zur Besinnung kam. Zunächst glitt ihr Blick ein bisschen ziellos in der Weltgeschichte herum, doch dann blieb er an Will hängen. Die lächelte. „Na, gut geschlafen?“ fragte sie betont unverkrampft. „Wieso denn geschlafen?“ fragte Irma verwirrt. „Ich war doch die ganze Zeit-“ Sie hielt inne und schaute genauer in Wills Gesicht. Ein Hauch von Schamesröte schien ihr über die Nase zu kriechen. "Du... du hast es wirklich mitbekommen, stimmt's?" "Es ließ sich kaum überhören!" Irmas Wangen erglühten auf einmal in einem tiefen Rosa, wurden heißer und heißer und überfluteten bald das ganze Gesicht mit ihrer Hitze. Sie wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken, so unangenehm war ihr dieser Auftritt. Wieso musste sie vor Wills Augen immer nur in Fettnäpfchen treten? Will bemerkte ihre Scham. "Ist schon gut," sagte sie. "Vergiss es!" "Vergessen?" antwortete Irma mit einem Anflug von Panik in der Stimme. "Ich soll das hier vergessen?" "Na schön, das ist zuviel verlangt! Aber..." Will suchte eine Weile nach den richtigen Worten. Sie hatte durchaus ein Argument vorzuweisen, aber es fiel ihr schwer, es tatsächlich über die Lippen zu bringen. Irmas blaue Augen zitterten ein wenig in ihren Höhlen. Wills Knie schien ihr ein denkbar ungeeigneter Ort, um über dieses Thema zu sprechen. Flehentlich schaute sie Will hinauf... die sich nun endlich zu reden entschloß. "...du bist nicht die einzige, der das passiert ist." Irma horchte auf, und ihre Röte verblasste leicht. „Nicht... die Einzige?“ Will nickte traurig grinsend. „Ich hab das Stöhnen nicht so lange unter Kontrolle halten können! Du hättest die Leute sehen sollen, was für Grimassen die gezogen haben! Wenn ich nicht vor dem… Ende… zuhause angekommen wäre, wäre ich vermutlich auch auf dem Bürgersteig zusammengesunken!“ Irma blinzelte verblüfft. "Die... Leute?" Will nickte. "Zum Glück nur alte Menschen und kinderlose Frauen in dem Alter meiner Mutter... trotzdem hab ich mich lieber in den Hauseingang geflüchtet und es dort irgendwie zuende gebracht!" Irma nickte langsam. Sie war erstaunt. Will hielt sie für würdig genug, ihr so ein Geheimnis anzuvertrauen? Nicht zu fassen! Völlig überwältigt rappelte sie sich auf und umklammerte mit Inbrunst Wills Hals, um sie an die Brust zu drücken. „Danke, Will!“ DÜÜÜT! Was war das? Das klang doch wie... eine Autohupe! Und danach... Jungslachen! Zwei! Aber das... „Hallo, Will. Irma! Was macht ihr denn da unten?“ O Gott... Genau das, was Irma im Moment überhaupt nicht gebrauchen konnte: Peter Lancelot Cook, Taranees Bruder, in seinem Auto, zusammen mit ... Irma fuhr es durch Mark und Bein, als sie seine Stimme hörte. „Hi, Mädchen! Was hat euch der Bordstein denn so zu erzählen?“ Na klasse, er war es: Joel Wright. Von allen Jungen der Stadt derjenige, vor dem sich Irma am Allerwenigsten blamieren wollte. Ob die Zwei es mitbekommen hatten? Um Gottes Willen - hoffentlich nicht, denn wenn es so war, würde sie Joel nie wieder in die Augen blicken können. Ein Glück, dass wenigstens Will nicht auf den Mund gefallen war. „Hallo, ihr Beiden," sagte sie munter, nachdem der erste Schrecken über das Hupen abgeklungen war. "Irma hatte nur einen kleinen Hitzeschlag!" bemerkte sie beiläufig. "Dabei hat sie wohl versehentlich den Lenker losgelassen.“ „Ehrlich?“ fragte Joel besorgt und öffnete vorsichtshalber die Beifahrertür, um auszusteigen. „Ist noch alles dran? Irgendwas gebrochen?“ Will nickte mit leuchtenden Augen. „Sie hat sich wohl den linken Fußknöchel verstaucht! Nicht sehr schlimm, aber ich werde sie kaum alleine nach Hause schaffen können!“ „Will, was- aaauu!“ Irmas Gesicht war schmerzverzerrt. Will hatte sie ungesehen mit der rechten Hand in den Hintern gekniffen, während sie mit der linken Hand an ihrem Fuß herumdrückte. „Hörst du, wie groß ihre Schmerzen sind? Sie muss sich jetzt unbedingt auf dem Sofa ausstrecken,“ sagte Will, das triumphierende Grinsen nur mühsam verbergend. Joel kam mit großen Schritten zu ihnen herübergeeilt. Auch ihm konnte man die Begeisterung am Gesicht ablesen. „Kein Problem, es wäre mir eine Ehre, einer edlen Dame in Not helfen zu können! Darf ich euch meinen schwachen, gebrechlichen Unterarm anbieten, Gnädigste?“ sagte er, indem er seinen Ellenbogen unter Irmas Achseln schob. Irmas Gesicht hätte derweil locker mit Wills Haaren konkurrieren können, so krebsrot glühte es. „Ger-gerne, da-danke,“ stotterte sie. Peter erkannte die Brisanz der Lage und reagierte postwendend. „Ähhm okay, ich warte dann mal hier, bis du zurückkommst, Kumpel! Ist doch ein schöner Tag, um einfach so im Auto sitzen zu bleiben, findet ihr nicht auch?“ Cornelia seufzte herzhaft, als sie ihr Gesicht aus dem Rhododendrongebüsch zog und es wieder ihrer Picknickgesellschaft zuwandte. „Na klasse! Irma dabei zu beobachten, wie sie auf dem Fahrrad einen Orgasmus bekommt, gehört zu den Top Ten der hundertzwanzig widerwärtigsten Dinge, die ich jemals mit ansehen musste… und ich habe immerhin Satellitenfernsehen!“ „Ich weiß gar nicht, was du hast,“ murmelte Hay Lin. „Ich fand es schön!“ Sie schaute versonnen auf ihre Hände. „Ich wünschte nur, sie hätte...!“ Ein Schauer blanken Entsetzens huschte über Cornelias schmales Gesicht. „Sprich es nicht aus, bitte! Ich will es gar nicht wissen! Oh Mann, wär’ ich doch heute morgen nur im Bett geblieben…“ Ihre Augen blitzten verärgert weiter durch die Runde. „ Und sei mir bitte nicht böse, Taranee, aber es macht es nicht besser, wenn du von einem Ohr zum anderen grinst! Was ist los?“ Taranees Wangen leuchteten rot auf, aber das war nichts im Vergleich zu ihren Augen. „Ist dir denn das nicht klar?“ „Nun, ich freue mich ja auch, Peter zu sehen, aber das ist doch-“ „Himmel, ich meine Joel! Hast du vergessen, was Irma für eine Schwäche für ihn hat? Wir brauchen einfach nur dafür zu sorgen, dass sie sich in nächster Zeit noch häufiger treffen als bisher. Dann wird Irma anfangen, mit ihm zu flirten, er tut den Rest dazu, und im Handumdrehen sind die Beiden ein Paar! Dann hat sie überhaupt keinen Grund, sich für Will zu interessieren. Meinst du nicht, das das die bei weitem beste Lösung ist?“ Sie schaute Cornelia erwartungsvoll an. Die seufzte einmal mehr und versteckte das Gesicht in den Händen. „Bist du dir sicher, dass das nicht einfach nur die naheliegendste Lösung ist? Die erstbeste Idee, die dir einfällt?“ „Warum?“ „Denkst du ernsthaft, dass Irma, sobald sie einen Jungen sieht, eine Hunderachtzig-Grad-Wende macht?“ „Aber es ist doch sicher einen Versuch wert!“ meinte Taranee. „Und außerdem hast du vorhin selbst gesagt, dass du einfach alles essen würdest, was dir unter die Nase kommt, solange es verdaulich ist und du dich dadurch besser fühlst. Das ist doch der Schlüssel zu allem, da können wir anpacken." "Taranee, wir haben uns schon mal als Partnervermittlung versucht, und das ist voll nach hinten losgegangen!" "Ja, aber damals war es ein Schuss ins Blaue und mit Augenbinde! Diesmal wissen wir, dass Irma unsere Auswahl gefallen wird! Du kennst sie doch!" Cornelia nickte unwirsch. „Ja… und deshalb weiß ich auch, dass sie manchmal unvorhersehbar sein kann! Es nützt nichts, wenn wir einfach nur hoffen, dass alles nach unseren Wünschen geschieht!“ Sie stand auf und schaute am Rhododendronbusch vorbei, auf Irmas Haus, wo die drei Jugendlichen gerade das Gartentor passierten. „Wenn wir schon diesen Plan ausprobieren, dann müssen wir ihn auch einwandfrei durchführen... und das können wir nicht, solange die Beiden am Lernen sind. Wir müssen sie rund um die Uhr überwachen, solange sie zusammen in diesem Haus wohnen! Sie dürfen keinen Moment unbeobachtet bleiben, nicht einmal unter der Dusche! Und wenn sich etwas zwischen ihnen anbahnt, dann müssen wir das augenblicklich verhindern! Es darf zu keinem intimeren Kontakt zwischen den beiden kommen. Irgendwelche Einwände?“ Sie sah ihre zwei Freundinnen so überzeugt an, dass diese sofort zustimmten. Auch sich selbst nickte sie noch einmal zu, als wollte sie sichergehen, dass auch wirklich jeder in ihrer Gruppe von diesem Vorschlag überzeugt war. Selbstzweifel konnten sie sich jetzt nicht erlauben. Das erinnerte Cornelia daran, dass noch ein anderes Problem aus der Welt zu schaffen war, das unentwirrbar mit ihrem Plan verbunden war. Sie beugte sich noch einmal zu Hay Lin vor, die trotz ihres eifrigen Einverständnisses noch immer mit sich selbst zu ringen schien. Sie ergriff sanft eine ihrer im Schoß geballten Fäuste und streichelte sie. „Hay Lin, darf ich dich noch um eine Kleinigkeit bitten?“ Hay Lin mied ihren Blick und presste mit belegter Stimme hervor: „Und was?“ Cornelia holte tief Luft, dann sagte sie: „Vergiss sie! Sie ist es nicht wert, dass du ständig wegen ihr in Tränen ausbrichst! Du hast genügend andere Freunde, um die du dich kümmern kannst!“ Taranee sprang ihr lächelnd bei. „Denk nur einmal daran, wie viele Fehler sie hat! Ihr würdet euch ständig nur streiten.“ Sie hielt ihr ein neues Sandwich unter die Nase. „Gurke?“ Hay Lin schniefte geräuschvoll, nahm ihr aber dennoch das Sandwich ab und biss hinein. Sie kaute eine Weile bedächtig darauf herum, bevor sie antwortete. „Ihr habt ja Recht! Ich werde mit Irma Schluss machen, sobald als möglich.“ Währenddessen hatten Joel und Will Irma schon bis zur Haustür geführt und den Schlüssel im Schloß gedreht. Als sie eintraten, schallte ihnen von der Küche her die beschäftigt wirkende Stimme von Anna Lair entgegen. „Entschuldige, dass ich heute mittag nicht da war, ich musste Chris vom Training abholen und noch tausend Einkäufe ma-“ Das Gesicht von Irmas Mutter erschien im Türrahmen, der von der Küche in den Vorsaal führte. „Um Gottes Willen, was ist denn mit dir passiert, Irma?“ „Ja, ich freu mich auch, dich zu sehen, Mum! Danke der Nachfrage,“ murmelte das Mädchen. „Ich hatte nur einen kleinen Fahrradunfall, das ist alles!“ Sie ließ sich von ihren zwei improvisierten Arzthelfern ins Wohnzimmer schleppen und auf dem Sofa ablegen. „Und was heißt eigentlich ‚Chris abholen’? Kann die kleine Kröte nicht mehr selbstständig laufen?“ Miss Lair folgte ihnen, nahm ein paar Kissen vom Sofa und platzierte sie unter Irmas Fuß, den sie ihn auf einem der Couchpolster abgelegt hatte. „So, wie er nach diesem Training aussah, nicht! Er war völlig zerschunden! Und du weißt genau, dass ich es nicht mag, wenn du ihn so nennst!“ fügte Miss Lair mit kritisch gehobener Augenbraue hinzu. „Stimmt, ‚Kröte’ passt nicht so gut, damit muss ich warten, bis er seine erste Akne hat!“ „Jetzt zeig erst mal, ob dein Knöchel noch weh tut!“ warf Will fürsorglich ein. „Kannst du ihn wieder schmerzfrei bewegen?“ Sie zwinkerte Irma unmerklich zu. Diese verstand sofort. „Öhm… na, ja, vielleicht… hab’s noch nicht versucht…“ sie wackelte ein bisschen mit dem Fuß, nur um gleich darauf schmerzhaft zusammenzuzucken. „AAAAAH!“ Sie verzog das Gesicht zu einer gekonnten Leidensmiene. „Nein, es schmerzt immer noch. Es ist schlimmer, als ich dachte!“ „Dann hol ich dir sofort etwas zu trinken und einen Beutel Eis!“ sagte Will und zog Anna Lair mit sich. „Miss Lair, können sie mir zeigen, wo das liegt? Ich würde sonst eine Ewigkeit brauchen, um es zu finden!“ Irmas Mutter lächelte wissend, als sie Joel sah. „Da muss ich selber überlegen! Es ist so lange her, dass ich aufgeräumt habe…“ Mit diesen nachdenklich wirkenden Worten verschwanden sie in der Küche und ließen Irma und Joel auf dem Wohnzimmersofa zurück. Die Zwei grinsten sich an. Irma seufzte theatralisch. „Ist es nicht süß, wie unheimlich schlau sie sich damit vorkommen? Als würden wir zwei nicht kapieren, was sie mit diesem ganzen Brimborium bezwecken!“ „Stimmt!“ bestätigte Joel schmunzelnd. „In dieser Hinsicht gleichen sich Eltern und beste Freunde wie ein Ei dem anderen.“ Er legte die Hände hinter dem Kopf zusammen und schob seine Brille an der Nase hoch. „Was glaubst du, was wir ihrer Meinung nach jetzt machen sollen?“ Diese Frage überraschte Irma nun doch ein wenig. Dachte Joel da an etwas Bestimmtes? „Keine Ahnung,“ antwortete sie zögernd. „Ich meine, glauben sie etwa, wir kommen ganz langsam, Schritt für Schritt, aufeinander zu,“ er rückte näher an sie heran, „und fassen uns bei den Händen?“ Er schloss langsam, mit unübersehbarer Scheu, seine Hand um Irmas leicht zitternde Finger, die links neben ihr auf der Couch lagen. ‚Da kommt sich aber noch jemand unheimlich schlau vor,’ dachte Irma kichernd. ‚Aber na gut, wenn er es so will…’ „Klar,“ antwortete sie schwungvoll, „vielleicht glauben sie sogar, wir lehnen uns aneinander… ganz nah…“ sie legte ihren Kopf auf Joels Schulter, „…um den Körper des Anderen zu spüren…“ sie hob ihre freie rechte Hand und ließ die Finger über Joels nackten Unterarm kreisen, „…um seinen Pulsschlag zu fühlen…“, ihre Stimme wurde leiser und sanfter und bebte geradezu vor unterdrückter Erregung, „… und dann umarmen wir uns… küssen uns…“ Vielleicht hätte Irma den letzten Satz gar nicht mit erwähnen sollen. Doch dann schloss Joel tatsächlich seine Arme um sie und sah sie mit seinen tiefblauen Augen eindringlich an. Irma schluckte. Sie musste zugeben, dass sie diesem Blick nicht gewachsen war. Tausend Gedanken schoßen ihr durch den Kopf, jeder mit der gleichen, alles übertönenden Lautstärke. Sie alle brüllten unterschiedliche Befehle, tausende Ratschläge und unzählige Entschuldigungen. Und irgendwo, unter diesen Massen an plötzlich aufkeimenden Gefühlen, hörte sie ihr Herz schlagen… Niemand brauchte etwas davon zu erfahren... niemand außer Will. Immerhin hatten die zwei Mädchen schon ihren ersten gemeinsamen Kuss getauscht. Da würde es auf diesen hier nicht so sehr ankommen... Vorsichtig streckte sie sich dem langem Gesicht ihres Freundes entgegen, setzte ihre Hände auf seinen Schultern ab... und küsste ihn. Es war ihr absolut erster Lippenkuss mit einem Jungen, und allein durch dieses Wissen unterschied er sich deutlich von allen ihren bisherigen. Joels Körper war stärker und massiger, als es Will oder Hay Lin jemals sein konnten, und deshalb lag auch hinter seinem Kuss eine bisher nie gekannte Energie. Ohne sich lange mit Zärtlichkeiten aufzuhalten, schossen ihrer beider Zungen hervor und umklammerten sich in einem wilden, lasziven Tanz, der nach und nach auch auf ihre Körper überging. Ehe sie sich versah, waren Irmas Hände unter Joels T-Shirt verschwunden, um über die Formen und Muster seiner Brust zu streichen, kurze Zeit später an seinen Pobacken wieder aufzutauchen und sie intensiv zu kneten. Währenddessen ließ Joel seine Hände über ihren Rücken wandern, fuhr damit über ihre Schulterblätter und umklammerte sie in wilder Erregung. Irmas Erinnerung an ihre Träume auf dem Fahrradsitz war erst ein paar Minuten alt und kehrte unaufhaltsam in ihre Gefühlswelt zurück. Ehe sie sich versah, hatten sich die Beiden schon, immer noch wild ineinander verbissen, auf dem Sofa ausgestreckt. Joel lag unten, und sie saß mit gespreizten Beinen auf seinem Schoß. Schon längst hatte sie aufgehört, nur seinen Mund zu küssen - jetzt nahm sie sich seinen Adamsapfel vor, beleckte und küsste ihn so zärtlich es nur möglich war. Währenddessen presste sich ihr Schritt in seinen Bauch. Joel hielt derweil vor allem ihre Hüfte umklammert. Je energischer sie ihn ritt, desto drängender fassten seine Hände nach ihrem runden Hintern. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus - er befreite sich aus Irmas Dominanz und reckte nun seinerseits seinen Mund ihrem Hals entgegen. Unterdessen tasteten seine Hände nach ihrem Torso, fühlten unter ihren Kuppen ihren zuckenden, ihren warmen Leib... Ein gewaltiges Zittern lief durch Joels Körper. Diese Erfahrung war auch für ihn völlig neu, einzigartig, aber zugleich auch erschreckend. Irmas Brüste fühlten sich unter seinen Händen so weich an… so formbar… „Joel?“ fragte Irma leise, als sie spürte, dass ihr Freund seine intensiven Kussattacken abgebrochen hatte. Sie bekam keine Antwort außer einem heiseren, warmen Keuchen. „Joel?“ fragte sie wieder, nun deutlich panischer. Die Hand auf ihrer Brust verkrampfte und verkrallte sich beinahe in ihr Fleisch. „Joel!“ entfuhr es Irma ein drittes Mal, diesmal, als sich Joels andere Hand unter ihr Oberteil schob. Irmas Kehle trocknete in Sekundenschnelle aus. Sie bekam es mit der Angst zu tun, denn allein der Gedanke daran, wohin das alles noch führen konnte, versetzte ihr einen Schock. Doch dann begannen sich Joels Hände wieder zu bewegen. Sie glitten über Irmas Burstwarzen und verschlossen sich darüber. Ein heißes, angenehmes Prickeln breitete sich über ihren ganzen Brustkorb aus und erreichte sogar ihr Gehirn. ‚Weiter,’ dachte sie. ‚Mach doch weiter!’ Als die Welle jedoch vorüber war, meldeten sich andere Regionen ihres Hirns zu Wort. ‚Das kannst du doch noch nicht machen, du bist noch zu jung’ - ‚Denk doch an Will!’ - ‚Nicht so kurz nach dem Kuss!’ - ‚Jetzt noch nicht!’ - ‚Noch nicht!’ Gleich darauf brauste jedoch die nächste Welle über sie hinweg. Auch sie hinterließ ein Gefühl tiefer Befriedigung - und einen Haufen Gewissensbisse. Eine dritte Welle flutete über sie hinweg, … da spürte Irma mehr denn je Joels erregtes Glied unter seiner Hose. Dieser Schreck genügte, um sie hochfahren und aufspringen zu lassen. Keuchend stand sie vor dem Sofa, auf dem immer noch Joel lag. Seine Augen, einen Moment zuvor noch halb verschleiert, wurden größer und größer, als ihm klar wurde, was er eben fast getan hätte. Er fasste sich an die Stirn. Sie glühte, und Schweißperlen liefen daran herab. „Mach dir keine Vorwürfe!“ sagte Irma, die ahnte, worauf das hinauslaufen würde. „Es… es ist schon okay.“ Joels Stimme zitterte, wie immer, wenn er ein Geständnis machen musste. „Ich… ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle… ich… es war wie ein Zwang… es…“ „Es... war ein bisschen unheimlich!“ gab Irma zu. Sie schämte sich dafür, dass es so wie von oben herab klang, aber sie ihr fiel nichts ein, was sie sonst hätte sagen sollten „Aber... ich kenne das auch!“ Joel wurde noch röter als zuvor. Er schluckte. „Tut mir leid!“ „Das muss es nicht,“ flüsterte Irma und schob sich vorsichtig zum Wohnzimmer hinaus. Es sollte nicht so aussehen, als würde sie vor ihm flüchten… aber natürlich sah es genau so aus, was auch von Joel nicht unbemerkt blieb. Sie zeigte ihm ein breites Lächeln, was den Gesamteindruck nur noch verschlimmerte, dann verzog sie sich in die Küche. Sie brauchte jetzt erst einmal etwas zu trinken. Und vielleicht einen kleinen Gang auf die Toilette. Als sie Küche betrat, sah sie ihre Mutter und Will gerade an einem der Vorratsschränke stehen und leise miteinander flüstern. Irma schlich behutsam an sie heran und lauschte. „Hier hinten ist sie,“ flüsterte Anna Lair und streckte sich tiefer in den Schrank hinein. „Vielen Dank, Miss Lair! Irma werden bestimmt die Augen ausfallen!“ sagte Will. „Hauptsache, uns passiert nicht das Gleiche, wenn wir ihre Literaturnote zu sehen kriegen!“ meinte Anna Lair schmunzelnd. „Doch, das wird es, aber im positiven Sinne!“ erwiderte Will und zog nun gemeinsam mit ihr einen großen, tönernen Topf aus dem Schrank. Irma grinste. „Die Katze lässt das Mausen nicht!“ Anna Lair und Will drehten sich zu ihr um und erschraken gleichzeitig. Vor lauter Schreck ließen sie den Krug mit der Brombeermarmelade fallen, sodass er auf dem Fliesenboden zerschellte und sein Inhalt sich über ihre Füße ergoß. „Uhuh…“ machte Will verlegen. „Irma,“ seufzte Anna Lair, „hättest du nicht warten können, bis wir den Topf abgestellt hatten - und wie siehst du überhaupt aus?“ Irma errötete. Sie hatte nicht gemerkt, dass ihr Haar ihr wild ins Gesicht hing und dass ihr Oberteil noch halb über dem Bauchnabel hing. Hastig strich sie das alles glatt. „Was wolltet ihr denn mit der Marmelade?“ fragte sie, um davon abzulenken. „Eis-bech-cher,“ stammelte Will nur mit hochrotem Kopf. Sie starrte verwirrt dorthin, wo eben noch Irmas Bauchnabel gewesen war. Anna Lair antwortete an ihrer Statt. „Sie wollte euch beiden einen Vanilleeisbecher mit heißer Brombeersauce machen. Daran ist jetzt natürlich nicht mehr zu denken,“ sagte sie mit einem leisen Vorwurf in der Stimme. „Wieso?" fragte Irma. "Die Marmelade ist doch noch gut, einen Teil können wir immer noch verwenden!“ Sie packte die größte der Tonscherben auf dem Boden, die in dem schwarzen Teich wie ein Fels in der Brandung stand, und hielt es ihrer Mutter unter die Nase. Es war das Bodenteil, und es schwamm noch ein gutes Stück Marmelade darin herum. „Na gut,“ sagte ihre Mutter schließlich. „Aber es reicht nicht mehr ganz für die Eisbecher!“ „Nicht so schlimm, wirklich, alles halb so wild!“ trompetete Irma grinsend und legte den Arm um die immer noch fassungslose Will. „Wir hatten heute eh schon genug Eis,“ flüsterte sie in ihr Ohr. Will blinzelte und hob langsam ihren Blick von Irmas Bauch zurück in ihr Gesicht. „Nein,“ sagte sie merkwürdig emotionlos. „Noch lange nicht genug…“ Kapitel 6: Ein Nachmittag mit Will(iam) --------------------------------------- Was im letzten Kapitel geschah: Auch Taranee weiß nun über Hay Lins und Irmas heimliche Beziehung Bescheid, aber im Gegensatz zu Cornelia ahnt sie, dass dieses noch schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Während sie und ihre Freundinnen verzweifelt einen Ausweg aus der Krise suchen, kommen Irma und Will auf ihren Fahrrädern die angrenzende Straße entlang. Will bedenkt gerade ihre bisherige Beziehung zu Irma und bekommt so nur teilweise mit, wie diese in einem -mehr oder weniger intimen- Anfall vom Sattel fällt. Zufällig fährt gerade auch noch Joel Wright vorbei, der Junge, den man ehesten als Irmas Schwarm bezeichnen könnte. Will bringt ihn dazu, der durch den Sturz leicht verletzten Irma nach Hause zu helfen, und lässt die Zwei dann allein auf dem Wohnzimmersofa zurück. Ein kleiner, unschuldiger Flirt zwischen den Beiden wächst sich zu einem wilden Kuss aus und droht beinahe zu eskalieren... bis Irma im letzten Moment doch noch einen Rückzieher macht... ----------------------------------------------- „Also dann, auf Wiedersehen, Joel! Danke, dass du diese kleine Simulantin nach Hause geschleppt hast!“ sagte Mrs. Lair und schüttelte dem jungen Mann dankend die Hand. „Keine Ursache! Sie war auch nicht schwerer als mein kleiner Bruder… und wesentlich handzahmer!“ „Schönen Tag noch, Jay!“ sagte Irma sanft, aber endgültig, als hätte es seinen letzten Kommentar gar nicht gegeben. Sie konnte nicht vergessen, was vorhin im Wohnzimmer geschehen war, aber sie konnte vor Joel - und vor sich selber - auch nicht so tun, als wäre das ganz in Ordnung gewesen. Immerhin hatte sie sich Prioritäten gesetzt, und die lagen, so sehr sie es auch bedauerte, nicht bei ihm. Dennoch küsste sie ihren Freund leicht auf die Wange, einfach um ihm zu zeigen, dass er hier immer noch willkommen war. Was er sich sonst dabei denken mochte - darüber konnte sie auch später noch nachgrübeln. Will hielt sich während dieser ganzen Verabschiedung etwas im Hintergrund. Nicht, dass sie Joel nicht leiden konnte - ganz und gar nicht - sie kannte ihn nur nicht so besonders genau, deshalb wurde von ihr auch nicht erwartet, dass sie ihm überschwänglich ‚Lebwohl’ sagte. Darüber hinaus hatte sie weiß Gott andere Sorgen - obwohl sie im Moment auch nicht sicher war, von welcher Art diese Sorgen waren. Für den Kuss konnte sie Irma keinen Vorwurf machen - sie hatte es ja selbst darauf angelegt, dass die Zwei einen intimen Augenblick nur für sich bekamen. Irmas Aussehen dagegen, als sie danach in die Küche gekommen war - halb ausgezogen und mit hochrotem Gesicht - hatte sie absolut nicht erwartet. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber in ihrem Magen regte sich ein winziger Anflug von Eifersucht… und Sehnsucht… Wahrscheinlich schmerzte sie nur der Anblick eines verliebten Paares, denn Joel und Irma waren definitiv eines: sie behandelten sich mit der gleichen schüchternen Rücksichtnahme und versteckten Sympathie füreinander, wie Will es früher auch bei Matt gekannt hatte. Matt, den sie nun schon so lange nicht mehr in die Arme geschlossen hatte... ...seit so langer Zeit... „Will?“ Dieselbige fuhr aus ihren Gedanken auf. Joel hatte die Frage an sie gerichtet. „Entschuldigung, war ich gerade weggetreten?“ entgegnete sie verwirrt. „Das wollte ich nicht-“ „Ist schon okay, ich sollte dir nur noch etwas ausrichten. Es hat mit Matt zu tun!“ Während Irma vor Schreck über diese Nachricht die Augenbrauen runzelte, breitete sich auf Wills Gesicht ungläubiges Staunen aus, dass leider allzu eindeutig ihre Freude verriet. Geistesgegenwärtig wandte sie sich an Irma. „Könntest du bitte schon mal hochgehen und die Bücher heraussuchen? Das hier könnte etwas länger dauern.“ Irma wollte protestieren, doch Wills bittender Blick ließ ihr das Wort im Munde stecken bleiben. „Oh,… klar, sicher, kein Problem!“ versicherte sie, streckte Selbstbewusstsein vortäuschend den Rücken durch und trampelte mit möglichst lauten Schritten die Treppe hinauf, um das nachfolgende Gespräch auch ja nicht hören zu müssen. Ironischerweise hörte sie es doch, sie spitzte geradezu die Ohren deswegen. „Also… Matt hat heute schon mehrere Male versucht, dich anzurufen, aber du bist anscheinend niemals ran gegangen!“ „Kann sein! Ich hab’ das Handy heute nicht mitgenommen. Es müsste immer noch in meinem Rucksack liegen. Wieso? Was wollte er mir sagen?“ „Nun, hauptsächlich – und das sollte die große Überraschung werden - wollte er dir sagen, dass er mit Karmilla’s Tournee gerade in Midgale ist. Sie geben dort heute abend ein Konzert, reisen aber erst am Donnerstag Morgen wieder ab. Er meinte, er könnte es vielleicht so arrangieren, dass er morgen mit dem Zug hierher kommen und dich treffen könnte.“ „Er... will… morgen... aber...“ Die Aufregung in Wills Stimme war unüberhörbar und stach Irma ins Herz wie eine Lanze aus Stahl. Sie ahnte jetzt schon, worauf das hinauslief. Als Will wenige Minuten später in Irmas Zimmer hochging, war sie bester Laune, wie Irma mit heißer Wut im Bauch feststellte. Sie hatte sich bereits mit dem Literaturbuch in den Drehstuhl vor ihrem Schreibtisch gesetzt, um die Einführungskapitel zu Milton, Shakespeare und den Werken der Aufklärung noch einmal durchzulesen... Eine sterbenslangweilige Angelegenheit – wären da nicht diese hübschen Gedanken über Matt und seinen völlig unerwarteten Tod zwischen die Zeilen gekrochen. „Gut, du hast schon angefangen,“ stellte Will fest und blickte über Irmas Schulter auf die Stelle des Textes, wo gerade ihr Zeigefinger lag. ‚Na klar, je schneller wir anfangen, desto schneller sind wir am Ende!’ dachte Irma zynisch. „Kommst du bis jetzt damit zurecht?“ ‚Oh ja, prima! So gut, wie du immer mit Matt zurechtkamst... bevor du ihm unser Geheimnis verraten hast!’ „Du hast noch nicht einmal angefangen zu lesen, ist es nicht so?“ „Doch, hab ich, ob du's glaubst oder nicht…,“ entgegnete Irma scharf und rückte von ihrer Freundin weg. "Ist zwar nicht so, dass ich auch nur irgendein Wort verstehen würde, aber es ist auf jeden Fall noch übersichtlich! Warte nur, bis der Teil über die Aufklärung kommt! Da werd' ich dann erst so richtig Luftsprünge machen!“ „Sieh nicht so schwarz,“ sagte Will gelassen und ließ sich auf Irmas Bett fallen. „Die Clarkstone kann unmöglich erwarten, dass ihr alle diese Autorennamen mitsamt ihrer Werke von A bis Z runterbetet!“ „Doch, genau das erwartet sie!“ schrie Irma und schmetterte das Buch frustiert auf den Tisch. „Das und noch viel mehr! Fragt mich also bitte nicht, wie ich den morgigen Tag zu überleben gedenke!“ „Nun, es reicht eigentlich, wenn du dir ein paar Eckdaten merkst, die bei der Interpretation der literarischen Werke nützlich sein können!“ antwortete Will vorsichtig und zählte auf. „Besondere Lebensdaten des Autors, seinen Charakter, die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe seiner Zeit, geschichtliche Ereignisse, die Einfluss auf ihn genommen haben…“ ‚Wow, toll… das ist ja wirklich ein Katzendreck! Warum hab ich mir nur darüber Sorgen gemacht?’ kommentierte Irma in Gedanken. „…Und das ist im Prinzip bei jedem dieser Autoren dasselbe! Wenn man die einzelnen Fakten übersichtlich zusammenstellt und miteinander verbindet, ist alles ganz einfach!“ erläuterte Will. „Schau dir zum Beispiel mal Shakespeare an. Über sein Leben ist so wenig bekannt, dass du dich im Grunde auf die Geschi-“ „Bravo – du hörst dich wirklich schon wie dein Stiefvater an!“ rief Irma aufbrausend und drehte zu ihr hin. „Es wäre schön, wenn die Clarkstone uns nur mit Shakespeare gequält hätte, aber das hat sie nun mal leider nicht! Schau dir doch einmal an, wie viel Text das sonst noch ist! Gib's doch zu, Will... ich hab’ nicht die geringste Chance!“ „Sag sowas nicht!“ rief Will entsetzt. „Die Anderen-“ „Die Anderen schaffen das auch, klar! Aber ich bin nicht die Anderen!“ Irma warf verzweifelt den Kopf in die Hände. „Ich bin die Einzige in der Klasse, die steif und fest behauptet hat, Lord Tennyson wäre der Erfinder des Tennisspiels!“ Trotz Irmas düsterem Blick musste Will lachen. „Aber das hast du doch sicher… nicht… ernst… ge…“ Sie verstummte, als Irma bitter den Kopf schüttelte. „Du… hast das…?!“ „Nein... aber ich habe es während einer Leistungskontrolle gesagt, und die Clarkstone hat das natürlich sofort für voll genommen! Sie hat mir keine zweite Chance gegeben und gesagt, ich wäre ein hoffnungsloser Fall!“ Sie ließ den Kopf hängen. „Und das denkt sie auch jetzt noch!“ „Das ist absoluter Schwachsinn!“ sagte Will aufgebracht. „Du hast genauso große Chancen wie alle anderen auch! Wenn du dich nur anstrengst-“ „Was denkst du, wie oft ich mich schon angestrengt habe?!“ knurrte die Wächterin des Wassers erzürnt. „Ich habe schon vor so vielen Klassenarbeiten bis zum Erbrechen gelernt, nur damit ich dann am Ende eine Drei oder Vier auf dem Zeugnis vorweisen konnte! Manchmal habe ich es sogar hingekriegt. Aber dann mache ich im Unterricht irgendwelchen Unsinn, die Lehrer nehmen mich zur Strafe dran und ich weiß mal wieder überhaupt nichts! Meine Eltern sind enttäuscht von mir, die ganze Schule lacht über mich, und am Ende kriege ich sogar noch eine schlechte Note im Betragen - das ist doch alles zuviel für einen einzelnen Menschen.“ Sie sah zu Will auf, die sie entgeistert anstarrte. „Du bist völlig umsonst hergekommen,“ flüsterte sie hoffnungslos. „Ich pack das nicht!“ Wills Gesicht war in der Zwischenzeit rot angelaufen. „Bist du jetzt fertig mit diesem Unsinn?“ sagte sie mit heiserer Stimme. „Hör zu, ich bin nicht hergekommen, damit du hier zusammenbrichst, noch bevor du überhaupt angefangen hast! Da wüsste ich viele Sachen, die mir besser gefallen würden!“ Da!! Irma hatte es geahnt. Irgendwann!!! Es war nur eine Frage der Zeit. „Ach, du meinst also, dass du mit mir deine Zeit verschwendest?“ zischte sie gefährlich leise. „Schön! Geh nur und tu, was immer du lieber machen würdest! Wen interessiert's schon, dass heute mein letzter Tag ist, wenn männliches Fleisch auf ihn wartet!“ Will hielt den Atem an. Daher wehte also der Wind! „Nur zu deiner Information - das Treffen mit Matt habe ich abgesagt!“ erwiderte sie kühl. „Ja, notgedrungen!“ murrte Irma. „Schon heute Abend wirst du dir wünschen, du hättest es angenommen, denn dann müsstest du nicht mit mir hier drin versauern!“ „Sag mal, was bildest du dir eigentlich ein?!“ schrie Will wutentbrannt und stampfte so zornig mit dem Fuß auf, dass der ganze Boden bebte. „Ich dachte eigentlich, du würdest mich besser kennen! Schön, ich hab einen kleinen Moment darüber nachgedacht, ob ich es annehmen soll, aber dann dachte ich an dich und hab mich gleich anders entschieden." Will hielt inne und keuchte heftig, so unbeherrscht hatte sie gestikuliert. Sie machte eine kurze Pause, um zu schlucken und die heißen Lippen mit neuem Speichel anzufeuchten. Dann redete sie weiter: "Und weißt du auch, warum? Nicht, weil das Lernen mit dir endlos lang dauern wird,... sondern weil ich in dem Glauben war, es würde die Zeit wert sein! Weil ich geglaubt habe, du hättest etwas mehr von dem Kampfgeist in dir, den du immer bei unseren Missionen zeigst! Weil ich geglaubt habe, bei dir zu sein und dir zu helfen würde mich mehr befriedigen als jeder Augenblick zusammen mit Matt!“ Wills Stimme war mit jedem Moment leiser und brüchiger geworden, und mit diesen letzten Worten kam sie fast vollständig zum Erlöschen. Nur einen einzigen Satz konnte sie noch hervorpressen, unter Aufbietung all ihrer Enttäuschung und Wut. Sie sagte: "Und egal, was du sonst denkst: ich glaube es immer noch!“ Damit ließ sie sich wieder aufs Bett sinken und schwieg. Irma hatte in der Zwischenzeit vollkommen aufgehört zu atmen. Wenn man wollte, konnte man ihr Herz jetzt mit einem Napf voller Quark vergleichen, oder mit einem Tropfen Wasser, der auf eine heiße Herdplatte gefallen war und nun zischend verdampfte. Die Zeit mit dir ist mehr wert als jeder Augenblick mit Matt - war das wirklich so gemeint? Hielt Will sie für dermaßen wichtig, für so wertvoll, dass sie diesen Satz zu sagen bereit war? Sie mochte es kaum glauben: das konnte doch wirklich nicht von einem einzigen, unschuldigen Kuss herrühren. Wie viel davon war echt, wie viel davon authentisch? Was kam aus ihrem eigenen persönlichen Empfinden, und was war einfach nur ein Motivationstrick? Diese Fragen stellte sich Irma, viele eher unbewusst. Und dabei kam ihr, ohne dass sie es wollte, auch der Gedanke, ob es beim Interpretieren eines Textes nicht genauso war: es blieben im Grunde dieselben Fragen… Es fühlte sich an wie Gedankenlesen auf höherem Niveau! Und konnte diese ganze Arbeit denn so schrecklich werden, wenn Will bei ihr war? Sie verließ den Drehstuhl und setzte sich neben Will aufs Bett. „Was genau muss ich tun?“ fragte sie mit etwas, das hoffentlich wie neue Entschlossenheit klang. Wills schniefte laut, so als hätte ihre Nase zu laufen begonnen, und blickte Irma tief in die meergrünen Augen. Ein merkwürdiges gelbes Schimmern lag auf ihren Pupillen. Waren es Tränen… oder etwas anderes? Ihre Hand zuckte merkwürdig nach vorn und blieb nur wenige Zentimeter neben der von Irma liegen. „Schau dir die Geschichte von Shakespeares Zeit an,“ sagte sie monoton, „und vergleiche sie mit seinen Werken! Dann schreib auf, was dir dazu einfällt! Das ist alles…“ Irma nickte, nahm den Blick von Wills Augen und wandte sich wieder ihrem Buch zu, das noch immer auf dem Schreibtisch lag. Einen Ansatzpunkt… irgendeinen Ansatzpunkt brauchte sie… Mal sehen… Shakespeare hatte eine Reihe von Dramen über englische Könige geschrieben, bis hin zu Heinrich VIII. , dazu einige über berühmte Feldherren und Schlachten… seine Königin, Elisabeth I., war die Tochter Heinrich VIII.’s gewesen, sie hatte eine Reihe von Günstlingen wie Sir Francis Drake gehabt, die ebenfalls große Feldherren waren, und sie baute mit Hilfe von Kriegen und Intrigen England zu einer Weltmacht auf… Verdammt, eigentlich gab es wahnsinnig viele Parallelen! Mal sehen, was es sonst noch zu finden gab! Irma schaute sich die Aufgaben unter dem Text genau an. Ein Lächeln flog über ihre Lippen. Sie setzte den Stift an und schrieb, immer den oberen Textblock im Auge behaltend. Das emsige Kratzen ihrer Feder ließ sogar Will aus ihrer Depression hochfahren. Der Anblick von Irma, die angestrengt mit dem Finger auf vielversprechende Textstellen tippte und dann in zittrigen Buchstaben mehrere Zeilen dazu schrieb, rührte sie. So suchte sie schleunigst einen Textmarker, drückte ihn Irma in die Hand und erklärte ihr dann, wie sie damit die wichtigsten Informationen farblich passend kennzeichnen konnte. Nach einigen Minuten überzogen zeilenlange Neonstreifen das Papier. Mit der Zeit wurden sie immer kürzer. Und irgendwann, nach mehreren Stunden angenehmer Arbeit, erschien in der Randspalte des Lesebuchs ein rosanes Herz – mit einem ‚W + I’ in der Mitte. Immer wieder erklärte Will, zeigte mit dem Stift auf Textstellen, die Irma übersehen hatte und lobte Passagen, in denen Irma eine Beziehung besonders gut nachvollzogen hatte. Bis schließlich… KRACKS… Will, die gerade mit den Augen über dem Buch hing, schreckte auf. „Was war das? Ist dein Stift auseinandergebrochen?“ „So wie’s sich angefühlt hat, war’s eher mein Handgelenk,“ antwortete Irma japsend. Sie lag schon halb über dem Tisch, ihre Stirn glänzte rot und ihre Augenlider hingen schlaff herab. „Ich kann nicht mehr!“ Will grinste. „Dann machen wir mal lieber für heute Schluss. Es ist ja auch schon fünf vor Sieben!“ Sie stand auf, ebenfalls ziemlich müde dreinblickend, und dehnte sich nach Leibeskräften. „Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert!“ Irma schmunzelte schal. „Das war ja jetzt wohl als Scherz gemeint!“ „Nö! Ich wette, wenn Dean jetzt hier wäre, hätte er noch gut zwei Stunden weitergemacht!“ Irma lachte, erhob sich ebenfalls und ging zu ihrem Bett hinüber, um sich hinein plumpsen zu lassen. „Ich hab’s ja gesagt: du wirst ihm immer ähnlicher. Da kann sich deine kleine Schwester wirklich auf einige Überraschungen vorbereiten!“ „Wieso bist du dir so sicher, dass es ein Mädchen wird?“ fragte Will schmunzelnd und lehnte sich an die Schreibtischkante. „Ich hoffe es - für deinen Seelenfrieden! Ein kleiner Bruder würde dich deinen so wunderbar arbeitenden Verstand kosten, und deinen Lebensmut…“ Mit diesen Worten drehte sie sich bäuchlings, stützte ihr Gesicht in die Hände und lächelte sanft. Ihre Stimme wurde weicher, ihre Augen glänzten feucht. „Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn täte…“ Will betrachtete ihre Freundin reichlich verwirrt. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck von früher. Doch damals hatte Irma ihn einem Jungen gezeigt, mit dem sie hatte flirten wollen, und sie war in ihrer etwas erwachsener wirkenden Wächterinnengestalt gewesen. ‚…Dabei ist sie in ihrer echten Gestalt eigentlich viel hübscher…’ Hoppla, woher war der Gedanke denn auf einmal gekommen? Als hätte er nur darauf gewartet, hervor zu springen und sie zu überraschen… ‚Nein, Augenblick mal!’ dachte Will. ‚Das ist eine rein objektive Feststellung! Ich meine… sind ihre Augen denn in ihrer natürlichen Gestalt weniger groß und klar? Sind ihre Lippen nicht ähnlich rot? Sind ihre Kurven nicht genauso rund? Verdammt noch mal, es gibt doch zwischen den Erscheinungen keinen wesentlichen Unterschied, außer der Größe, oder?’ Will bejahte all dies im Stillen und fragte sich, warum die meisten Jungs trotzdem diese große, supermodellhafte Wächterin des Wassers so viel attraktiver fanden. Nicht einmal Andrew Hornby, Irmas erste große ‚Liebe’, hatte je über diese Fassade hinweg sehen wollen. Er hatte sich erst an sie herangemacht, als sie damals, kurz nach der Offenbarung ihrer Kräfte in ihrer damals neuen, reiferen Form in der ZOT-Disco am Marktplatz aufgetaucht war und dort allen Jungs der Oberstufe den Kopf verdreht hatte. Sie hatte mit ihm getanzt, mit ihm geredet… und sich sogar dazu überreden lassen, in seinem Auto mitzufahren! Dann hatte er an irgendeiner einsamen Stelle angehalten und versucht, sie zu einem Kuss zu zwingen. Zu einem Kuss!!! Möglicherweise sogar zu mehr! Er hatte es mehr als verdient, dafür in eine Kröte verwandelt zu werden! Wäre Irma wenigstens daraus schlau geworden… aber nein, sie versuchte es noch einmal mit ihm - mit dem gleichen Trick und mit ähnlich katastrophalen Folgen! Will war damals mächtig sauer auf sie gewesen, nicht nur, weil sie so egoistisch gehandelt hatte… sondern vor allem deswegen (und das hatte sie gegenüber Irma niemals erwähnt), weil sie sich ihrer Meinung nach unter Wert verkaufte. Sie hatte solche verzweifelten Tricks nicht nötig. Aber sei’s drum - das war damals eine ganz andere Irma gewesen, und die Jetzige gefiel ihr viel besser! Joel kennenzulernen, der über Äußerlichkeiten hinweg auf ihre anderen Qualitäten sehen konnte, war wirklich das Beste, was ihr jemals passieren konnte… Und deshalb gab es auch keinen Grund, eifersüchtig zu sein… absolut keinen… … Ob sie ihn auch so angesehen hatte…? „Setz dich ruhig, Will!“ flüsterte Irma nachdrücklich und unterbrach damit Wills Gedankenfluss. „Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Abendessen! Bis dahin sind wir… ungestört.“ Sie legte den Kopf ein wenig schief und ließ gekonnt eine ihrer Locken über ihr Gesicht fallen. Will empfand tatsächlich ein gewisses Unbehagen, als sie das sah, doch es konnte wohl nicht wegen Irma sein. Mit einem Mal befiel sie ein tierischer Schlaganfall! Alles vor ihren Augen wurde abwechselnd schwarz und rot, und als sie noch tiefer einzuatmen versuchte, verkrampfte sich ihre Herzklappe und schnitt ihr die Luft ab. Sie hustete, bis ihr das Blut in den Kopf stieg, doch als sie es endlich zum Stoppen gebracht hatte, strömte das Blut nicht gleichmäßig in ihre Adern zurück, sondern begann in ihren Lungenflügeln zu gluckern und zu brennen - gerade so, als würde es dort Blasen schlagen. Irma erschrak nicht gering über dieses Verhalten. „Oh Gott, Will… was ist mit dir? Bist du krank? Oder ist das… du-weißt-schon-was?“ Will schüttelte den Kopf und legte die Hände über die Brust, um durch sanftes Reiben den Schmerz etwas zu lindern, doch sie hatte es noch gar nicht lange getan, als es schon wieder nachließ. Dafür fingen nun eine Reihe von Nerven hinter ihrer Schädeldecke an zu pochen, und eine dumpfe, schwere Mattigkeit legte sich über ihr Hirn, die sie fast zu Boden fallen ließ. „Um Gottes Willen, was ist denn los mit dir?“ dröhnte Irma erneut. Will zuckte zusammen. „Nicht… so… laut!“ flehte sie quengelig und betastete sich die Stirn. Sie schwankte nicht, aber ihre Kopfschmerzen waren für Irma dennoch nicht zu übersehen. Leise und rücksichtsvoll rappelte sich Irma auf, schob sich vom Bett und eilte auf ihre Freundin zu. All das aufreizende Getue war von ihr abgefallen, und sie wirkte nur noch besorgt. Sie bedeutete Will, sich hinzulegen, doch diese grummelte nur abweisend. „Bestimmt bin ich bloß überarbeitet. Zuerst die ganzen Hausaufgaben, dazu noch diese Texte hier und das Stück… das ist ziemlich viel an Eindrücken für einen Tag!“ Irma schüttelte den Kopf. „Will, ich weiß was ich gesehen hab’, und das ist nicht nur ’ne einfache Reizüberflutung! Du brauchst unbedingt Ruhe!“ Sie langte nach ihrer Kommode und zog einen Walkman aus der Schublade hervor. „Du bleibst erst mal hier liegen… ruhst dich aus… hörst ein bisschen Musik… lässt dich fallen… dann bist du bis zum Abendessen vielleicht wieder fit. Irgendwelche Musikwünsche?“ „Einfach etwas ohne Text,“ stöhnte Will. „Wenn möglich Soul oder Ethno!“ „Da hast du Glück! Ich müsste noch die CD mit peruanischer Musik haben, die mir Taranee letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat.“ Während Irma die CD suchte, machte es sich Will auf der Decke bequem, streckte die Arme und Beine von sich und machte ihren Kopf frei. Das unbehagliche Gefühl blieb und kehrte in unregelmäßigen Abständen wieder, aber sie ließ es links liegen und drückte ihren Schädel noch tiefer in die weichen Daunen. Irmas Gesicht schob sich, wie auf dem Kopf stehend, in ihr Blickfeld und starrte sie fürsorglich an. Wahrscheinlich bot Wills Antlitz ein genaues Spiegelbild ihres Leidens. Sie spürte, wie Irma ihr sanft die Haare von den Ohren strich und ihre Stirn in Wills dichten Pony drückte. Eine von Irmas Locken baumelte über ihrer Nasenspitze und kitzelte sie sachte. Leise, langsam ansteigende Klänge von Panflöten umfingen sie und begannen mit Geigen, Hackbrettern und Synthesizern eine leichte, fließend dahingleitende Melodie. Wills Herz beruhigte sich und schlug nun wieder kräftiger. Das Schwindelgefühl verschwand zwar nicht vollständig, aber es stagnierte und ging ein bisschen zurück. Sie seufzte innig. „Will?“ fragte Irma tonlos, fast unhörbar gegen die Musik. „Hhhm?“ brummte diese im Halbschlaf. „Fandest du meinen Kuss… vorhin vor dem Theater… nun, irgendwie… abstoßend?“ Will schüttelte leicht den Kopf. Wie nur Irma jetzt auf dieses Thema kam… „Nein, warum fragst du?“ „Rein wissenschaftliche Neugier!“ beeilte sie sich zu erklären. „Wie hat er sich angefühlt? ...Gut?“ Will grinste ein bisschen und nickte. „Heiß,“ flüsterte sie. „Feucht. Weich. Und Sanft.“ Sie zögerte. „Aber… ja, es fühlte sich gut an… das kannst mir glauben… und auch irgendwie… stark!“ Verwunderung blitzte in Irmas Augen auf. „Stark? Inwiefern?“ „Es lag… Kraft hinter diesem Kuss. Er war nur kurz, aber… trotzdem hatte er dieses gewisse… Etwas, diese eigenartige Leidenschaft!“ sagte Will, ein argwöhnisches Funkeln in ihren halb niedergeschlagenen Augen. „Meinst du?“ fragte Irma zurückhaltend. „Hhhm…“ Will nickte wieder, unendlich langsam, und ihr Lächeln wurde geradezu frech, doch ihre Stimme blieb leise und andachtsvoll. „Es hat dir mehr Spaß gemacht, als du zugeben willst… hab ich Recht?“ Irma zuckte alarmiert zurück und wollte schon ihr Gesicht von Will wegdrehen, um ihre Schamesröte zu verbergen, hielt aber noch mitten in der Bewegung inne. Deuteten dieses kecke Grinsen und diese nachgemacht-vorwurfsvolle Beschuldigung nicht in eine ganz andere Richtung? Und dieses Lächeln… es kam ihr… vertraut vor… Sie ließ sich wieder zu Wills Nase herabsinken und schob ihre eigene zärtlich daran vorbei, bis ihr Mund in der Nähe von Wills Ohr war. „Dir etwa nicht?“ Kapitel 7: Sturmwind -------------------- Wie lange ihre halb geöffneten Lippen übereinander schwebten, wie lange es dauerte, bis sie endlich zu einer Einheit verschmolzen, wusste Irma im Nachhinein nicht mehr zu sagen – bestimmt eine kleine Ewigkeit. Am Ende taten sie es fast gleichzeitig… Mit einem Mal schien die Musik langsamer und schwermütiger zu werden, die Konturen der Welt dafür umso heller und freundlicher. Die Haut auf ihren Lippen schmeckte wärmer und einladender denn je, und ein merkwürdiges Hochgefühl erfüllte ihren Bauch und durchströmte ihre Adern abwechselnd in jeder einzelnen Faser. Zuerst strichen ihre Münder nur sachte aneinander vorbei. Dann zuckten Wills Lippen unerwartet vor, schlossen sich um Irmas Mund und saugten sich in einer Drehbewegung an ihm fest, jedoch so sachte, dass ihre Partnerin den Mund immer noch drehen und öffnen konnte, immer wieder drehen und öffnen, saugen und liebkosen... Langsam, fordernd, zwang die Hüterin des Herzens ihre Freundin nach unten. Ihr Oberkörper wiegte sich in einem willkürlichen, ekstatischen Rhythmus, schaffte es sogar stellenweise an ihrem Gegenüber zu reiben, als wolle sie sie zu einem gemeinsamen Tanz auffordern. Und dann, nach einiger Zeit, löste sich auch ihre Zunge vom Gaumen weg und stieg zögernd nach oben, bis sie auf einen recht nachgiebigen Widerstand stieß. Irmas Herzschlag kulminierte. Sie war völlig außer sich über diese ungewohnte Courage ihrer Freundin… und ahnte dabei nicht mal, dass in Wills Schädeldecke gerade ein kleines Schlagzeugkonzert stattfand. Mit einem kurzen, nicht einmal willkürlichen Augenaufschlag registrierte sie, dass dies wahrscheinlich kein Traum war… … und dass über Wills Brust das Herz von Kandrakar schwebte. Es war kein Irrtum möglich; die Form war unverwechselbar. Trotzdem riß Irma ungläubig die Augen auf, während sie sich parallel dazu bemühte, den Kuss am Laufen zu halten, was an sich schon schwieriger war, als es sich anhörte. Warum passierte das ausgerechnet jetzt? Warum konnte das Orakel sich nicht zu einem anderen Zeitpunkt melden? Irma hatte nicht die geringste Lust, diesen Kuss abzubrechen und nach Kandrakar zu reisen. Die Wächterin betrachtete das Objekt eine Zeitlang feindselig und überlegte schon, wie sie es unauffällig beseite schieben sollte, als es plötzlich anfing, matt zu glühen und zu strahlen. Rosenfarbe Funken schwebten über seine Oberfläche und bildeten seltsame Figuren, die sich schwach im Glas spiegelten und beinahe wie Symbole aussahen … aber welche es waren, konnte Irma nicht erkennen. Leider meldete sich nun Wills Begehren wieder zu Wort: ihre Zunge glitt einladend an der Unterseite von Irmas Lippen entlang, was bei der Wächterin des Wassers (trotz ihrer Ablenkung) ungeahnte Lustgefühle erzeugte, weshalb sie sich nun vorübergehend wieder dem Kuss zuwandte und das Kristallamulett vergaß. Einige Sekunden später, nachdem sie Wills Gaumen mit der Zungenspitze zum Zittern gebracht hatte und die Augen eine Spaltbreit öffnete, hatte sich die Funken auf der Oberfläche in Gesichter verwandelt und das Innere das Amuletts in einen deutlich sichtbaren Hintergrund. Beides erkannte Irma grimmig. War das da etwa die Straße vor ihrem Fenster? Und das das Sonnendach, das gleich darunter lag? Und war das nur eine Spiegelung, oder drückte sich da tatsächlich jemand die Nase an der Fensterscheibe platt? Irma blinzelte, drehte den Blick so weit wie möglich dem Fenster zu und schaute noch einmal genauer hin. Die Nase – oder was auch immer es gewesen war - war verschwunden und hatte lediglich einen feuchten Umriss auf der Scheibe hinterlassen. Und dennoch… irgendetwas war da draußen, etwas, dass sie beide mit einem zutiefst bösen Blick bedachte und Irma schreckliche Wellen der Angst über den Rücken jagte. Fast meinte sie, das Schnauben eines grässlichen Untiers zu hören, das dort draußen lauerte und nur noch nach einer Möglichkeit suchte, hinein zu gelangen. Das Schnauben ging über in das Heulen des Windes, der das Haus umrundete, und das Heulen wurde wiederum ein einziges großes Schnauben. Schließlich verwandelte sich der Glauben in Gewissheit, und der Wind verwandelte sich in ein tierisches Zischen und Brausen, das sich auf einmal gegen Irmas Schiebefenster warf und es lautstark ächzen ließ. ‚Verfluchte Scheiße!’ dachte Irma. Sie sah, wie der Putz um den Rahmen leicht bröselte und die Scheibe erzitterte. Genauso vorsichtig, wie sie Will bei Laune gehalten hatte, brachte sie sie nun zum Anhalten, richtete ihren Oberkörper auf und schaute mit kaum verhohlener Furcht in Richtung Fenster. Will, erschrocken über die doch etwas unerwartete Unterbrechung, wollte sich ebenfalls erheben, doch da überfielen sie die Kopfschmerzen wieder mit voller Stärke, und sie sank zurück. Gleichzeitig erhob sich auch der Wind zu neuer Kraft und riss mehr denn je an den Fensterscheiben, so dass Wills Worte sich mit dem Ächzen und Knarren des Holzes vermischten. „Irma… was zum Geier ist -aah!“ fragte sie gequält, bevor sie sich, von einem unerwartet stechenden Schmerz direkt ins Hirn getroffen, auf dem Bett zusammenkrümmte. „Bleib, wo du bist!“ rief Irma, bemüht, ihre Stimme zuversichtlich klingen zu lassen, und stand auf. Weil sie nicht riskieren konnte, dass das ganze Zimmer unter dem Ansturm des Windes zusammenbrach, und weil sie glaubte, direkter Feindkontakt wäre einfacher zu bewältigen, stürmte sie auf das Fenster zu und riss es auf. Entgegen ihrer Erwartungen wurde es draußen mit einem Mal still. Ungläubig steckte Irma ihren Kopf durch das Fensterloch… … und bekam einen Strahl brühend heißen Wüstenwindes ins Gesicht, der sie gegen die Bettkante schleuderte und sich dann gewaltsam Zutritt verschaffte! Als Irma sich von dem Schock erholt hatte, erkannte sie, dass es nichts anderes als eine Schlange aus Luft war, die dort unter der Zimmerdecke herumtänzelte - ein sich hin und her windendes Drachenmonster in Form eines Tornados, der Lattichs Wasserbecken umstieß, Irmas Merkblätter durch die Luft wirbelte und sich dann dem Bett zuwandte. „Halt dich ja von ihr fern, du Mistvieh!“ schrie Irma wutentbrannt aufspringend und setzte ihre Kräfte des Wassers frei, um das Wasser aus Lattichs Gehege anzuheben. Sie ließ es durch die Luft tänzeln und setzte es dann wie eine Peitsche ein, um das Monster von Will fernzuhalten. Der Versuch brachte erwartungsgemäß nicht viel (wer konnte schon gegen den Wind ankämpfen), aber es lenkte das Wesen mehr in die Mitte des Zimmers, wo Irma es besser mit ihm aufnehmen konnte. Mit eisernem Willen und blitzschnellen Peitschenhieben hielt sie die Schlange im Zaum, während sie gleichzeitig auszumachen versuchte, wer der Verursacher dieses Sturmes war: hinter dem Leib der Schlange konnte sie ein Paar perlschwarzer, abgrundtiefer Augen erkennen, die vor Wut, Zorn und Eifersucht schwarzes Licht ausstrahlten. Nur die Andeutungen von Augenlidern bezeugten, dass es einen Körper dazu geben musste, und welcher Natur dieser Körper war, konnte Irma sich bereits denken: schmal und zierlich, geschmeidig und graziös, mit langen schwarzen Haaren und anmutigen, schlanken Fingern. Wütend schlug Irma noch ein paar Mal gegen die gewaltige, tosende Schlange aus, dann duckte sie sich an ihr vorbei und zielte auf den Bereich, der unter den Augen lag. Doch die Schlange hatte das Ablenkungsmanöver durchschaut, sauste herunter und presste sie nun zu Boden. Eine Kraft wie von zehn ausgewachsenen Delphinen lastete auf Irma und ließ sie keine Fingerbreit nach oben kommen. Die unsichtbare Gestalt mit den schwarzfunkelnden Augen kam bedrohlich auf sie zu und stellte sich breitbeinig über sie hin. Trotz ihrer theoretischen Abwesenheit strahlte sie eine Aura heißen, unstillbaren Zorns aus und warf Irma stechende Blicke zu, die alle die gleiche unheilvolle Botschaft hatten: 'Dafür bringe ich dich um!' ,Oh je… Hay Lin,’ dachte Irma niedergeschlagen. Da ertönte hinter den beiden auf einmal die klare, kalte Stimme von Will, die aufrecht und in voller Stärke vor Irmas Bett stand. Ihr Schwächeanfall war anscheinend vorüber, denn ihre Augen leuchteten hell, ihr Haar flatterte und ihre gestraffte Gestalt war voller Energie. „Verschwindet!“ befahl sie der Schlange aus Luft und ihrer Herrin und erhob das gleißende Amulett in ihrer Hand. „Verschwindet beide oder es wird euch noch Leid tun!“ Die Herrin der Luft wich wachsam ein paar Schritte zurück, dachte aber nicht daran, ihre Beute einfach liegen zu lassen. Noch während sie rückwärts schritt, ließ sie die Schlange ihren gewaltigen Körper um Irmas Hüfte schlingen. „Ich warne dich nicht noch einmal!“ drohte Will. „Lass sie los!“ Die schmalen, schwarzen Augenschlitze verengten sich noch weiter. Sie schienen nachzudenken wie eine Natter, die eine neue Jagdstrategie ersann. Doch ihr Zögern dauerte zu lange. Das Herz von Kandrakar erglühte in seinem hellsten Lichte und ließ beides, die unsichtbare Gestalt und die Schlange, auf einen Schlag verschwinden. Das rasende Drachenmonster, die tödliche Luftströmung zerfaserte sich in viele einzelne Windstöße und wurde zu dem, was es vorher gewesen war: eine linde Abendbrise über dem Stadtrand von Heatherfield. Und auch die düster lodernden Augen erloschen augenblicklich und fügten sich wieder nahtlos in den Rest des magischen Schleiers ein, der Hay Lin, die Wächterin der Luft, bedeckte. Gleich darauf verging das Licht, das Herz senkte sich, und Will fiel müde und ausgepowert auf das Bett zurück. Sie bekam nicht mehr mit, wie Hay Lin ihre Unsichtbarkeit aufhob und trotz ihrer grünen Sportjacke zitternd und keuchend vor Irma stand. Die hatte sich inzwischen gebückt, um Lattich aus einem Trümmerhaufen aus Sand, Plastik und Kieselsteinen zu befreien, der vorher sein Becken gewesen war. Schließlich zog sie ihn heraus und legte ihn sanft auf ihren Unterarm. Hay Lin tat diese Zerstörung ernsthaft leid; immerhin hatte sie Irma einst beim Bau des Beckens geholfen. Sie streckte die Hand aus, um sich bei der kleinen Schildkröte zu entschuldigen, doch Irma presste ihn erbost an ihre Brust. „Raus hier!“ flüsterte sie scharf. „Irma…“ flehte Hay Lin. „Raus hier, oder ich garantiere dir für nichts, du Miststück!“ Scheu, aber auch gleichzeitig empört über Irmas Behandlung, stolperte Hay Lin in Richtung Fenster und kletterte hinaus aufs Vordach, von wo sie hastig in den Garten hinunter sprang. Nur ein paar Sekunden später stapfte Irmas Vater, Inspektor Lair, durch die Zimmertür, der inzwischen auch von der Arbeit nach Hause gekommen war. „Kannst du mir eigentlich mal erklären, was dieser Lärm zu bedeuten hat?“ brüllte er. Aber Irma ließ sich von so etwas schon lange nicht mehr einschüchtern, deshalb antwortete sie, schuldbewusst Lattichs Köpfchen streichelnd: „Tschuldigung, Papa, das war meine Schuld! Will hatte einen Schwindelanfall, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, also hab ich im Zimmer herumgesucht, und dabei bin ich wohl gegen Lattichs Becken gestoßen!“ „Der Himmel steh mir bei,“ seufzte Mister Lair. „Erst dieser ganze Stress auf Arbeit, und dann muss mir auch noch mein chaotisches Fräulein Tochter den Feierabend verderben… Womit hab’ ich das verdient!“ Aufgeschreckt durch das Geschrei erwachte Will in diesem Moment aus ihrer Ohnmacht. Sie setzte sich schwankend auf und rieb sich verwundert den Hinterkopf. Der Anblick von Mister Lair überraschte sie ebenso wie Irma, die lässig inmitten der Verwüstung stand und ihre Schildkröte liebkoste, doch am meisten erstaunte sie in Wirklichkeit etwas ganz anderes. „Wo zum Teufel ist mein Haargummi hin?“ Seit sie mit dem ersten Fuß auf den federnden Grasteppich vor Irmas Haus aufgekommen war, hatte Hay Lin nicht mehr aufgehört zu laufen. Sie konnte gar nicht anders. Wäre sie auch nur eine Sekunde stehen geblieben, hätten sie die Erinnerungen eingeholt, und die schrecklichen Emotionen, die sie heimgesucht hatten, wären zurückgekehrt. Nur im vollen Lauf konnten ihre Tränen in Nichts verlaufen und die Wut ihre ganze Kraft in den Beinen verbrauchen. Alles war besser, als noch einmal diesen grenzenlosen Hass zu spüren, der beim Anblick von Will und Irma entstanden war. „Hay Lin! Verdammt noch mal, bleib doch endlich stehen!“ rief Taranee hinter ihrer Freundin her. Sie hörte es nicht, sondern lief einfach weiter. „Du musst dich nicht schuldig fühlen. Es ist nur natürlich, dass du da ausrasten musstest!“ Hay Lin schwieg erneut. „Himmel, ich verstehe doch, was du fühlst-“ „Gar nichts verstehst du!“ schrie Hay Lin plötzlich über die Schulter. „Du weißt nicht wie es ist, wenn man jemand töten möchte… noch dazu jemand, den man mal die beste Freundin nannte… und wenn man sich dabei auch noch im Recht fühlt!“ Sie rannte zurück in den Garten mit dem Rhododendronbusch, wo sie sich an diesem Nachmittag schon einmal versteckt hatten. Wütend packte sie ihr Fahrrad, schwang sich hinauf und wollte losfahren, wurde aber von Taranee, die ihr in die Bahn sprang, gestoppt. „Vielleicht habe ich das, was du beschrieben hast, noch nie gefühlt, mag sein!“ sagte sie. „Aber ich weiß, wie es ist, wenn man von jemandem, den man voll und ganz vertraut hat, furchtbar enttäuscht wurde. Und ich weiß, wie schrecklich es sein kann, wenn sich bei einem Wutausbruch die Kräfte aktivieren und danach verlangen, eingesetzt zu werden. Glaub mir, niemand weiß das besser von uns als ich!“ Hay Lin ächzte und weinte noch lauter, nun, da sie stillstehen musste. „Dann sag mir verflucht noch mal, wie du damit klar kommst! Ich will das nicht mehr fühlen… ich will es nicht!“ Taranee zögerte. „Das wünscht sich jeder von uns… aber es lässt sich nun einmal nicht ändern. Du wärst nur ein halber Mensch ohne deine Gefühle… und der Hass gehört einfach dazu, so leid es mir tut! Aber falls es dich beruhigt – ich wäre sofort bereit gewesen, dich zu trösten…," sie rieb sich den schmerzenden Rücken, "wenn du mich nicht gleich vom Dach gestoßen hättest!“ Sie ahnte schon während des Sprechens, dass diese Bemerkung zu nichts führte: Hay Lin blickte weiterhin hemmungslos schluchzend ins Leere. „Hör mal, ich kann nur wiederholen, was Cornelia und ich schon heute Nachmittag gesagt haben: Hör auf, sie zu lieben! Ich weiß, dass das schwer fällt, aber du musst eben mit aller Macht daran glauben. Behandle sie wie Luft, dann wird sie begreifen, was sie da so leichtfertig verspielt hat!“ Diesmal nickte Hay Lin… doch sie weinte gleichwohl weiter. Taranee begriff, dass sie ihre Freundin jetzt nicht alleine lassen konnte. „Komm!“ sagte sie und ging seitlich an der jungen Chinesin vorbei. „Ich begleite dich nach Hause, und dann erzählst du mir noch mal in aller Ruhe, wie das mit euch beiden gelaufen ist.“ „Musst du denn nicht um acht zuhause sein?“ brachte Hay Lin hinter zwei Schluchzern leise hervor. „Das hier ist wichtiger, und das werde ich meiner Mutter auch sagen!“ Einen schrecklichen Moment lang herrschte zwischen den beiden eine unerklärliche, knisternde Spannung. Dabei brannten und leuchteten Hay Lins Augen mit heller Flamme, und ihre langen Finger zuckten ungeduldig. Eine Hand löste sich von ihrem Fahrradgriff und näherte sich Taranees Taille. Noch bevor Taranee ein Wort sagen oder zurückspringen konnte, hatte sie sie an sich herangezogen und ihr einen Kuss auf den Mund gepflanzt. Als sie die Lage realisierte, war es schon fast zu spät: Hay Lins Zunge drang in sie ein, leckte und rieb ihre eigene mit brutaler Leidenschaft. Ehe sie sich versahen, fielen sie zur Seite mitten in das Gebüsch hinein. Voller Verzweiflung bemühte sich Taranee, von ihrer Freundin loszukommen, doch sie schaffte es nicht. Hay Lins Griff hielt sie umklammert wie einen Schraubstock. Nun strich sie auch noch mit der anderen Hand in Taranees kurze schwarze Haare und wanderte zu ihrem Hals und all dem, was darunter lag, hinab. Die Hitze, die darauf folgte, konnte auch die Wächterin des Feuers nicht ertragen. Ihr Kopf glühte vor Scham, und ihr ganzes Sein sträubte sich gegen das, was gleich kommen würde. Da hielt Hay Lins Zunge und alles andere an ihr plötzlich still. Sie sackte zusammen. Ihr Griff um Taranees Hüfte löste sich, sie sank ins Gras, und ihre Hand fuhr erlöst keuchend zwischen die Beine. Diese Gelegenheit ausnutzend, krabbelte Taranee von ihr weg. „Hay Lin,“ flüsterte sie erschrocken. Ihre kleine chinesische Freundin schaute sie mit Tränen in den Augen an und lächelte voller Glückseligkeit. „Warum hast du das getan?“ fragte Taranee erneut. Hay Lin antwortete nicht, darum fragte Taranee ein drittes Mal, wieder ohne Erfolg. Das Einzige, was als Erwiderung kam, war ein sanfter Fingerdruck auf Taranees Handrücken… den diese gleich darauf wegzog. „Tara…“ sagte Hay Lin leicht flehend, als sie sah, wie sie zu ihrem Fahrrad hinüber stolperte. „Wir müssen los!“ flüsterte Taranee und schob ihr Rad auf den Bürgersteig. „Bevor es dunkel wird.“ Kapitel 8: Ein Weg ohne Ziel ---------------------------- Für die Probleme, die Hay Lins Ausraster mit sich gebracht hatte, wurden zum Glück schnell Lösungen gefunden: Lattich zog vorübergehend in die Schale eines alten Vogelbades, das Irma mit Hilfe ihrer Mutter ausdekorierte; und Will verbrachte den Rest der Zeit bis zum Abendessen, in Irmas Zimmer herumzukriechen und die verschwundenen Blätter zusammenzuklauben. Ihr Haargummi fand sich schließlich unter der rollbaren Kommode neben dem Bett. Die kleinen Schäden am Fensterrahmen und am Putz versprach Irmas Vater noch vor dem Zubettgehen auszubessern. Nichtsdestotrotz verlief das gemeinsame Abendessen dann doch noch in Ruhe und Frieden. Will, die derlei Ereignisse nicht mehr gewohnt war, passte sich hervorragend in den Familienkreis ein und langte bei den Putensteaks mit Rahmsoße und Preiselbeersahne, die Irmas Mutter auftischte, herzhaft zu. Verglichen mit der Kochkunst zuhause, die ihre Mutter auch zwei Monate nach ihrer Heirat mit Dean Collins nicht sonderlich hatte ändern können, ging es hier echt paradiesisch zu. Zum Nachtisch gab es die geplanten Vanilleeisbecher, freilich mit Erdbeerstücken statt mit Brombeersoße, und weil Miss Lair nicht allzu viele davon zur Hand hatte, musste Will sich mit Irma häufig um die schönsten und größten Stücke raufen. Ihr ständiges Gekicher und Geschnatter ging Christopher irgendwann so auf die Nerven, dass er den Appetit verlor und seinen Becher stehenließ, um an seinen Computer zurückzukehren. „Das nennt man die ‚Abendliche Schlachtplatte’!“ erklärte Irma ihrer Freundin, nachdem sie auch diesen Becher radikal ausgeleert hatten. „Ich will ja nicht angeben, aber ich bin eine wahre Meisterin darin.“ „Glaub ich dir auf’s Wort,“ grinste Will und kratzte mit dem Löffel die letzten Eisreste vom Becherrand ab. Von ihren gewaltigen Kopfschmerzen war nicht mehr das Geringste zu spüren. Es ging ihr besser als jemals zuvor. „Aber da wir nun fertig sind… was wollen wir mit dem Rest des Abends anfangen?“ Sie beschloßen, noch eine Weile raus in den Garten zu gehen, um den warmen Sommerabend zu genießen. Keine Frage, dass das Irmas Plänen hervorragend entgegen kam! Der Himmel war von einem dämmrigen Blau, in dem dünne, golden scheinende Federwolken schwebten, und der Sonnenuntergang präsentierte sich selbst für sommerliche Maßstäbe atemberaubend. Alles hätte so schön sein können… hätte nicht Will plötzlich angefangen zu reden. „Was meinst du, was das Ding von vorhin war?“ Irma, die sich innerlich bereits auf das Händchenhalten eingestellt hatte, schreckte hoch. „Wie? Welches Ding?“ Will verdrehte die Augen. „Spiel nicht die Ahnungslose! Ich war fast blind vor Kopfweh, aber sogar ich hab diese seltsame Luftschlange gesehen.“ „Cool, Luftschlangen,“ sagte Irma zwinkernd. „Ist denn jetzt schon wieder Partysaison?“ „IRMAAA!“ „Ach so, du meinst diesen netten, kleinen Tornado, der mein halbes Zimmer in Schutt und Asche gelegt hat! Ja, an den hab ich überhaupt nicht mehr gedacht!“ „Bitte, Irma, das ist nicht komisch! Dieser Wind hatte keine natürliche Ursache, das musst sogar du zugeben! Noch dazu hat das Herz von Kandrakar aufgeleuchtet! Ich schätze mal, das ist ein kleiner Vorgeschmack auf unsere nächste Mission!“ „Und die muss natürlich mit einem Knalleffekt beginnen, und wie immer ohne Vorwarnung!“ Irma seufzte. „Manchmal würde ich dem Orakel echt gerne den Hals umdrehen.“ „Ich glaube nicht, dass er etwas damit zu tun hat. Vielleicht ist das auch einfach ein magisches Problem unserer Welt, so wie mit dem Ragorlang!“ „Muss es wohl sein!“ murrte Irma. Sie konnte ja nicht herausposaunen, dass Hay Lin dahinter steckte. „Aber bitte, Will, können wir damit bis nach dem Aufsatz warten? Das macht mir jetzt bei weitem mehr Sorgen!“ Will nickte verständnisvoll. „Gu, wir besprechen das dann am Donnerstagnachmittag im Hauptquartier! Allein können wir beide sowieso nichts ausrichten. Und solange bis dahin nichts passiert…“ „Danke,“ flüsterte Irma, während sie gleichzeitig versuchte, ihre Finger möglichst unauffällig in Wills herabhängende Hand zu schieben. Seltsamerweise schien Will aber im gleichen Moment beschlossen zu haben, die Arme hinter dem Kopf zu verschränken und sich in einen Gartenstuhl sinken zu lassen. Widerstrebend setzte Irma sich neben sie, im Gegensatz zu ihr jedoch ziemlich lustlos. Eine Weile sagte keiner von ihnen irgendetwas. Dann sagte Will, die bisher ruhig atmend in den Himmel hinauf gestarrt hatte: „Hast du eigentlich schon darüber nachgedacht, was du später einmal machen willst – als Beruf?“ Ihre Freundin stöhnte auf. „Momentan denke ich nur darüber nach, ob es überhaupt ein Leben nach dem Donnerstag gibt - schwer zu glauben, aber wahr!“ Diese Antwort genügte Will ganz und gar nicht. „Du hast dir doch bestimmt schon einmal Gedanken darüber gemacht!“ beharrte sie neugierig. „Es ist nur… meine Mutter spricht mich ständig darauf an, wenn es mit meinen Noten nicht zum Besten steht! Das muss bei deinen doch auch so gewesen sein, oder?“ Irma nickte langsam und unwillig. „Sogar regelmäßig! … Und ich habe nicht einmal den Hauch eines Schimmers, was ich ihnen sagen soll!“ „Aber… hattest du nicht irgendwann einen Traumberuf?“ fragte Will weiter. „Irgendetwas, was du dir gerne erfüllen würdest, selbst wenn es noch so unwahrscheinlich ist?“ „Das ist gar nicht so einfach zu beschreiben!“ „Versuch es trotzdem!“ „Nun ja… ganz früher mal, als es in der Schule noch nicht so daneben ging… da wollte ich Sängerin werden!“ „Sängerin… warum denn nicht?“ Irma seufzte. „Es gab keinen Schulchor, in dem ich kostenlos hätte singen können, und Gesangsunterricht konnten sich meine Eltern nicht leisten! Das bisschen Gekrächze, was ich heute noch kann, reicht gerade so, um Karmilla-Songs mitzusingen, zu mehr aber auch nicht!“ „Ich wette, du kannst noch mehr!“ entgegnete Will. „Ich habe dich heute auf dem Weg zur Eisdiele ein paar Lieder aus dem Musical summen hören. Das klang richtig gut!“ Sie rückte näher heran, und legte die Hände auf Irmas Unterarm, der halb auf eine Stuhllehne gebettet vor ihrer Brust baumelte. „Du solltest es mal laut probieren!“ Irma wurde rot und stotterte unter ihrer Berührung: „I-ich? Bist du dir da absolut sicher?“ „Ja! Ich könnte mir vorstellen, der Song, den Lysander als Gute-Nacht-Lied für Hermia benutzt hat, könnte gut zu deiner Stimme passen, wenn du ihn ein bisschen tiefer singst!“ ‚Oh Gott, warum ausgerechnet ein Liebeslied?’ dachte Irma bestürzt. ‚So weit bin ich doch noch gar nicht.’ Aber dann sah sie in Wills riesige, erwartungsvolle, braune Augen… und wusste auf einmal, dass, wenn sie schon ein Liebeslied vortragen musste, sie es ganz alleine für Will tun wollte. ‚Nimm’s leicht!’ sagte sie sich. ‚Vogelmännchen müssen schließlich auch für ihre Weibchen singen, bevor sie mit ihnen vö… schniebeln dürfen.“ „Ich würde es wirklich gerne hören,“ beharrte Will weiterhin. „Okay… aber versprich mir, dass du nicht lachst!“ „Dazu werde ich gar keinen Grund haben,“ sagte Will lächelnd und lauschte gespannt. Die selbstsichere Art, mit der ihre Freundin das sagte, beeindruckte Irma. Entweder war sie sehr vertrauensselig… oder sie wusste tatsächlich, worauf sie sich da einließ. Nun gut, dann musste sie aber auch alle Konsequenzen tragen. Irma räusperte sich noch ein-, zweimal, schluckte die Nervösität herunter und fing dann leise an, die erste Strophe zu singen: „Sind der Schrecken auch so viel an der Zahl, Lässt die Nacht auch keinen Frieden dir, Du musst schlafen jetzt, als gäbe es kein anderes Mal! Nimm den letzten Kuss darum alleine von mir! Schlafe eeein! Lass die Liebe wachsen wie ein Baum! Nimm zum Partner dir den Traum, Doch lass mich bei dir seeein! Schlafe eeein! Ich bin da, wenn du erwachst! Bleib mir treu nur diese Nacht, Dann wird’ ich bei dir seeein! Bei dir seeein… Leise verklang die letzte Oktave ihres Gesangs in der Abendluft, und ihre Augen, vorher in Konzentration zusammengezogen, öffneten sich und blickten zu Will hinüber. "Und?" fragte sie nach einer Weile. Will, deren Gesicht auf einmal sehr viel blasser wirkte als zuvor, schluckte. „Das war aber nicht der zweite Vers, wie er im Stück vorkam!“ Ein leichter Rotschimmer glitt über Irmas Wangen, doch sie hatte sich einigermaßen unter Kontrolle, so dass nicht mehr daraus wurde. „Ja... aber diesen Vers könntest du benutzen, wenn du das Lied Matt vorsingen möchtest!“ „Entschuldige, aber ist das nicht ein bisschen zweideutig?“ fragte Will skeptisch. „Das ist ja grade so, als würde ich ihm vorwerfen, er würde mich noch nicht genug lieben.“ „Ich bin sicher, den Teil wird er gar nicht richtig mitbekommen,“ sagte Irma verträumt und wickelte eine ihrer Locken um ihren Finger – eine Bewegung, die Will gerade auch durchführt hatte, jetzt aber abbrach, als sie die Übereinstimmung bemerkte. Gedankenvoll schaute sie Irma an, doch ihr Bemühen, allein aus diesem Anblick schlau zu werden, scheiterte kläglich. Stattdessen musste sie sich die Frage stellen, ob Irma wirklich ehrlich zu ihr wahr… zu ihr und zu sich selbst… Sie berührte Irma noch einmal am Unterarm, nahe der Falten in ihrem Ellbogen, und nur kurz, vielleicht einen winzigen Augenblick lang, fühlte sie einen leichten Schauer, der Irmas Haut mit einer flüchtigen Gänsehaut überzog. „Und du, Will?“ fragte die Wächterin des Wassers schüchtern, als ob sie etwas von Wills Befürchtungen ahnte. „Was willst du später einmal machen?“ „Ich schätze, irgendetwas mit Computern, so wie Mum,“ antwortete Will ruhig, ohne Irmas Unterarm aus den Augen zu lassen, „Wahrscheinlich mache ich einen Computerfachhandel auf, dann kann ich die kaputten Rechner immer gleich fragen, was mit ihnen nicht stimmt, wenn mir jemand einen in den Laden bringt.“ Sie schob ihren Daumen prüfend über Irmas Haut, die leicht gebräunt und nur mit wenigen, einzeln stehenden Leberflecken verziert war. Dann griff sie nach Irmas Hand, hob sie empor und strich mit den Fingern nachdenklich über ihre Handlinien. „Oder ich übernehme Mr. Olsens Zooladen,“ fuhr sie dabei fort. „Er hat angeboten, mir vor seinem Tod die Eigentumsrechte zu überschreiben, dann könnte ich ihn zusammen mit Matt weiter betreiben. Natürlich sollte das nur eine Notlösung sein,“ fügte sie hinzu. „Er hat über die Jahre einiges an Schulden gemacht, und wenn ich den Laden genauso selbstlos führen wollte wie er, könnte ich die nie und nimmer abbezahlen.“ „Tschuldigung, aber ich kann mir dich sowieso nicht hinter einer Ladentheke vorstellen,“ kicherte Irma. „Eine Anführerin wie du sollte Präsidentin werden, oder Managerin! Damit könntest du das richtig große Geld machen!“ Doch Will lehnte diese Idee mit einem Kopfschütteln ab. „Da kann ich meine Seele auch gleich dem Teufel verschreiben!“ lachte sie. „Nein… als Verkäuferin in dem Laden habe ich mich eigentlich sehr wohl gefühlt. Mein Beruf sollte schon meinen Interessen entsprechen!“ „Und zur Not kannst du ja immer noch Schriftstellerin werden, eine Romanreihe herausbringen und Milliarden verdienen,“ flachste Irma. Sie spielte damit auf eine Zukunftsvision an, die das Orakel den Wächterinnen vor einiger Zeit vorgestellt hatte, und Will hatte darin genau dieses seltsame Schicksal verpasst bekommen. Die Hüterin des Herzens lächelte verlegen, als sie daran dachte, doch es war nur ein halbherziges Grinsen. Die Schriftstellerkarriere war der einzige Lichtblick gewesen, den ihr diese Prophezeiung offenbart hatte. „Du hast das Orakel gehört: es gibt keine Garantie, dass es tatsächlich so eintritt!“ sagte sie schließlich nüchtern. Irma nickte anerkennend. „Welche Voraussage hast du denn parat, meine kleine Handleserin?“ fragte sie dann verschmitzt. „Maaaal sehnnn!“ verkündete Will und tippte gut gelaunt auf Irmas Handbergen herum wie sonst auf einem Taschenrechner. Schließlich gab sie kund: „Wie ich mir dachte: ein stattlicher Ehemann mit blondem Igelschnitt, Heerscharen von Kindern und ein trautes Heim im Grünen.“ „Na prächtig! Und ich sehe auf deiner Handfläche…,“ sie studierte kurz Wills schlanke Greifinstrumente, „…dass du mächtig hungrig bist und auf die größte Mahlzeit noch einen Nachschlag brauchst!“ Will lachte auf. „Das hört sich aber eher nach dir an!“ „Bei dir bezieht es sich auf einen… ganz speziellen Fall,“ sagte Irma geheimnisvoll. Ihre großen, türkisblauen Augen zwinkerten Will zu und zeigten ihr an, dass es etwas von umheimlich privater Natur sei. Ihre Freundin erblasste. Die Fragen in ihrem Kopf machten auf einmal eine unvorhergesehene Kehrtwendung und drehten sich nun um ihre eigene Befindlichkeit. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann… … ja, dann wollte sie es. Sie folgte Irmas Blick, zwängte sich bedächtig von ihrem Stuhl herunter unter die Platte des Gartentisches und zog ihre Freundin mit sich. Dort angekommen legte sie die Arme an ihre Hüften und küsste sie, wie zur Probe, leicht auf die Lippen. Es schmeckte immer noch so gut wie beim letzten Mal, nicht einmal ihre Bedenken hatten etwas daran ändern können. Widerstandslos ließ sie sich von Irma die kurzen Hosen abstreifen und in das kühle Gras drücken. Es war ein gefährliches Spiel… aber es machte Spaß. Als sie eine Stunde später ins Bett mussten, war bereits ein fahler Halbmond am Himmel erschienen, und das dämmrige Licht begann, seltsame Schatten auf ihre Gesichter zu malen. Will war schon kurze Zeit später eingeschlafen, doch Irma blieb noch lange wach liegen und starrte in den schwarzen Nachthimmel hinauf, wie sie es in letzter Zeit öfter tat. Sie musste noch immer an die vergangene Stunde denken, die sie zusammen mit Will unter dem Gartentisch verbracht hatte. Es war traumhaft gewesen. Diese Küsse… diese Bewegungen... diese Berührungen… Nur in Slip und T-Shirt gekleidet hatten sie sich umarmt, geküsst und den Körper des Anderen quälend langsam abgetastet. Mehr als einmal waren Irmas Hände zu den Ansätzen von Wills Brüsten gewandert, hatten aber immer kurz vorher kehrt gemacht, weil sie allein der Gedanke, Wills Brüste anzufassen und mit ihren Brustwarzen zu spielen, überwältigte. Verdammt, der bloße Anblick hätte sie vermutlich ins Koma fallen lassen! Aber Will… mehr als einmal hatte es sich so angefühlt, als kenne sie solcherlei Bedenken nicht. Sie hatte ihre Finger immer wieder über Irmas Hintern gleiten lassen, ihre nackten Schenkel und ihren Bauch gestreichelt, und sogar ihre Halswurzel geküsst, in jenem schmalen Bereich, wo der Übergang zu den Brüsten fließend war. Zum ersten Mal war Irma sich selbst bewusst gewesen, wie gleichmäßig die Fettschicht auf ihrem Körper verteilt war: es gab praktisch keine Rettungsringe an ihr, alles war straff über die Muskeln gelegt und gab ihren Rundungen eine wunderbar geschwungene Note. Zum ersten Mal glaubte sie, wirklich begehrenswert zu sein. Halb wünschte sich Irma, sie beide hätten auch den letzten Schritt getan, sich sämtliche Hüllen vom Leib gestreift und sich geliebt, wie noch nie zuvor ein Mädchen ein anderes geliebt hatte. Aber die Stimme von Miss Lair hatte sie jäh in die Wirklichkeit zurückgerufen. Es würde langsam kalt und sie sollten nur ja reinkommen, bevor sie sich noch erkälteten. Ein bisschen gab Irma ihr ja Recht. Nach der ganzen Hitze, die sich die beiden gegenseitig erzeugt hatten, wäre eine allzu schnelle Abkühlung reines Gift gewesen. Das Schlimme an dieser Sache war nur, dass sich bis jetzt noch keine Gelegenheit ergeben, das Geschehene fortzusetzen. Die zwei Mädchen hatten sich gewaschen, die Zähne geputzt und dann gemeinsam in Irmas Bett gelegt… …um noch eine Weile zu lesen. ‚Shakespeare in Prosa’ war nicht unbedingt Irmas Vorstellung von erotischer Bettlektüre! Vor ein paar Minuten hatte dann Will ihr Buch weggelegt, ihrer Freundin einen Kuss auf die Stirn gehaucht und war eingeschlummert, ohne die Geschehnisse der letzten Stunden noch ein einziges Mal erwähnt zu haben. Für Irma war das schlicht und einfach unbegreiflich: sie beide hätten vielleicht den besten Sex ihres Lebens haben können (in Wills Fall sogar den Allerersten ihres Lebens, wenn sich Irmas Vermutungen über sie als wahr herausstellten), aber stattdessen hatten sie an der besten Stelle aufgehört! Das half natürlich überhaupt nicht, ihre innere Sehnsucht zu befriedigen. Auch jetzt, mitten in der Nacht, konnte sie ihre Augen nicht von Wills kleinen, runden Brüsten losreißen… von ihrem weißen Hals… ihrer Apfelsinenhaut… ihren perfekt abgerundeten Schultern…ihrem weichem, roten Haarvorhang, in dessen Tiefen allein man schon für Stunden eintauchen konnte... Aber sie durfte es nicht. Will aus dem Schlaf zu reißen und derart zu verführen, war das Schlechteste, was sie momentan tun konnte! Doch das änderte nichts an ihrem Begehren, das sie wie so oft in letzter Zeit, nicht einschlafen ließ. Halb dachte sie schon daran, nun doch ein wenig zu masturbieren, um diese Unruhe zu beenden, als Will sich im Schlaf herumdrehte und ihr friedlich schlummerndes Gesicht Irma zuwandte. Ihr Blick flog beinahe sofort zu ihrem schlanken Hals, zu der leicht pochenden Vene der Halsschlagader und dem unbewegt daliegenden Schlüsselbein. Wie in Trance schwebten Irmas Finger zu Wills Ausschnitt hin und knöpften ihn der Reihe nach auf. Er ging fast bis übers Brustbein und gab, sobald er geöffnet war, einen wunderbaren Anblick preis, der nicht mehr allzu viel versteckte. Mit mühsamer Zurückhaltung näherte sich Irmas Mund der breiten Einbuchtung zwischen Wills Brüsten und setzte einen leichten Kuss darin ab, der ihre Lippen noch Minuten später wie Feuer brennen ließ. Will seufzte leise. Ihre Miene, die vorher noch Unbehagen über die große Hitze unter der Decke ausgedrückt hatte, entspannte sich und wurde fast genießerisch, und so fühlte sich Irma praktisch genötigt, noch weitere zarte Küsse auf Wills Oberkörper zu verteilen und jedes mal die süße Haut zu schmecken, den hinreißenden Duft zu riechen und den klangvollen Herzschlag zu hören, alles, was diesem einen Augenblick seine prickelnde Erotik gab. Doch urplötzlich wurde die nächtliche Stille im Haus von einem lauten Knarren zerrissen. Irma erschrak und drehte sich schnell wieder zum Fenster hin. Ihre Befürchtung, Will könnte aufwachen, blieb zum Glück grundlos. Dennoch fuhr Irma ein kalter Schauer über den Rücken, als ein zweites Geräusch, diesmal ein krachendes Pochen, erklang. Seltsamerweise schien niemand darauf zu achten. Es folgten keine weiteren Geräusche, keine schnellen Schritte oder Fragen wie „Wer ist da?“ Eigentlich eine Schande, wenn man bedenkt, dass ihr Vater behauptete, immer mit einem offenen Ohr zu schlafen! Es brachte nichts: Irma musste selbst aufstehen und nach dem Rechten sehen. Leise schlüpfte sie in ihre Pantoffeln und ging auf den Flur hinaus. Vorsichtig ließ sie ihren Blick den Korridor entlang schweifen. Es gab schon mal keine offenen Türen und auch keine Schatten, die sich die Treppe hinaufbewegten. Das beruhigte Irma: das Letzte, was sie jetzt wollte, war ein Einbrecher. Die Geräusche kamen anscheinend aus dieser Etage. Irma schob sich bedächtig weiter, vorbei an Christophers Zimmer, aus dem ein leichtes Schnarchen ertönte, bis zu einer weiteren verschlossenen Türe. Da erschallte ein drittes Geräusch, und es schien direkt hinter dieser Tür hervorzukommen. Es war die Tür des angeblich unbenutzbaren Gästezimmers. Mit fiebriger Anspannung in der Magengegend schlich Irma in ihr Zimmer zurück und holte aus den Seiten ihres Tagebuchs einen Schlüssel hervor, den sie dort versteckt hatte. Diesen steckte sie in das Schüsselloch des Gästezimmers und drehte ihn herum. Lautlos schwang sie die Tür auf und trat ein. Das Zimmer war beinahe so groß wie ihr eigenes, hatte ein eigenes Waschbecken und ein größeres Fenster mit richtigen Fensterladen. Warum dem Architekten des Hauses etwas Derartiges nicht auch bei den anderen Zimmern eingefallen war, blieb Irma rätselhaft, aber im Moment scherte sie sich auch nicht drum. Vor ihr auf dem vollkommen intakten Bett lagen eine grüne Sportjacke und eine kahl gerupfte Margerite, deren Blütenblätter überall im Zimmer verstreut waren. Jetzt waren nur noch drei Blütenblätter übrig… ganz so wie bei diesem alten Abzählvers, den sie wie jeder andere Mensch irgendwann mal aufgesagt hatte. Eine kalte, einschneidend leise Stimme ertönte in ihrem Rücken. „Interessant, wie leer es hier ist, meinst du nicht auch?“ Kapitel 9: Lippenbekenntnisse (Teil 1) -------------------------------------- Es war eindeutig nicht Irmas Art, in einem solchen Moment vernünftig oder cool zu bleiben. Wenn sie Aufregung empfand, beruhigte sie sich selbst mit frechen Antworten oder witzigen Bemerkungen, und wenn sie Ärger spürte, machte sie ihm am liebsten durch lautes Schreien oder Sarkasmus Luft. Kalter Zorn dagegen gehörte nicht zu ihrem Metier, darum schaffte sie es nur schwer, die Lautstärke ihrer Worte auf ein dem Schlaf zuträgliches Maß zu reduzieren. Aber sie schaffte es… immerhin. „Theoretisch gesehen,“ verkündete sie langsam, „kann man einen Raum doch nur dann leer nennen, wenn nichts oder niemand da ist, um ihn als voll zu bezeichnen… oder täusche ich mich da, Hay Hay?“ Die junge Asiatin gab keine Antwort, nur eine Folge von Schritten und das Schwingen eines Scharniers deuteten an, dass sie hinter Irma die Tür schloß und auf das Bett zuging. Aus dem Augenwinkel erkannte Irma, wie sie die Margerite aufhob und in einer beinahe unschuldigen Art und Weise zwischen ihren Fingern drehte. Schließlich sprach sie, mehr zu sich selbst als zu ihrer Freundin: „Kannst du dir vorstellen, dass ich gute Lust habe, dich in tausend Stücke zu reißen? Dich in den Bauch zu treten und zu würgen, bis du nicht mehr atmen kannst? Nach dem, was du mir mit diesem Seitensprung angetan hast, wäre das die mindeste Bestrafung!“ „Ach nein, wirklich?“ fragte Irma, die nun, da sie einen Angriffspunkt hatte, wieder zu ihrem alten Tonfall zurückfand. „Sieh mal, wie ich zittere! Oh, sieh nur, wie ich mir ins Nachthemd scheiße aus lauter Angst vor deinen Mega-Mini-Maxi-Fäustchen! Mal ehrlich, du bist nicht gerade in der Lage, hier den eifersüchtigen Othello herauszukehren!“ Diesmal konnte man deutlich sehen, wie Hay Lins Finger innehielten und zitterten, wie sie tief ein- und wieder ausatmen musste, um ihrer Wut Herr zu werden. „Hör zu,“ erwiderte sie schließlich mit weicherer Stimme. „Ich gebe zu, dass ich auch Fehler gemacht habe. Ich hätte heute Nachmittag nicht so aus der Haut fahren dürfen. Aber das wäre nie und nimmer geschehen-“ „- wenn ich dich nicht betrogen hätte,“ unterbrach sie Irma leise, aber energisch. Ihre Laune, eben noch auf einer Stufe mit dem Paradies, kam inzwischen dem Fegefeuer gleich – in jedweder Hinsicht. Angriffslustig verschränkte sie die Arme vor der gar nicht mal so kleinen Brust und heftete ihren finsteren Blick auf die Gardinenstange links über ihr. „Schön, dann sind wir jetzt also bei den Vorwürfen angelangt! Nur zu, gib’s mir, darauf bin ich vorbereitet!“ Sprach’s und wartete. Und wartete. Und wartete… Von Hay Lin kam keine direkte Reaktion. Sie betrachtete nur weiter die abgeknickte Blume in ihrer Hand – eine Pflanze, die weder sonderlich hübsch noch gesund aussah und dennoch beschlossen hatte, am Leben zu bleiben. Der sattgelbe Blütenkelch stand auch im Mondschein aufrecht wie eh und je, und die zierlichen kleinen Blätter, die nun schlaff herabhingen, reckten sich tagsüber bestimmt immer noch der Sonne entgegen. Nun jedoch hob sich der gelbe Kranz einer kleinen, runden Nase entgegen, die intensiv daran schnupperte. „Man kann sie immer noch riechen, weißt du,“ sagte die kleine Chinesin mit verträumtem Blick. „Obwohl sie eigentlich schon über zwei Monate alt ist.“ Sie ließ eine kurze Pause, strich zärtlich über die letzten übrig gebliebenen Blütenblätter und redete dann weiter: „Du hast sie mir bei unserem ersten Petting geschenkt, damals, weißt du noch? Ich habe sie aufgehoben und jedes Mal, wenn wir uns geliebt hatten, ein Blättchen abgezupft. Und ich sagte jedes Mal: ‚Sie liebt mich.’“ Damit war sie am Ende. Zunächst war Irma noch danach zumute, die Augen zu verdrehen und den Kopf zu schütteln, doch dann, als sie näher an ihre Freundin herantrat und über ihre Schulter hinweg die Blume ansah, machte sich auf einmal eine sehr seltsame Anwandlung in ihr breit. Sie bemerkte Hay Lins Finger, schlank und kräftig, mit abgerundeten Fingernägeln und voller kleiner Haarrisse, die im Mondlicht deutlich hervortraten… Sie spürte, wie Hay Lins Worte in ihrem Kopf und in ihrem Herzen nachwirkten, wie der sanfte Klang ihrer Stimme widerhallte in ihren Ohren, wie sich eine tiefe Melancholie in ihre Seele einschlich und dort umhergeisterte… Wer war sie eigentlich, dass sie Hay Lin Vorwürfe machen konnte? Die kleine Asiatin sehnte sich doch nur nach einer festen Beziehung, genau wie Irma selbst… die darüber hinaus aber auch immer und immer wieder mit allen möglichen Jungs flirtete, ohne sich über die Konsequenzen Sorgen zu machen. Während Irmas Herz jede Minute jemand anderem zufliegen konnte, hatte ihre Freundin den Partner fürs Leben längst gefunden. Und sie würde ihm unter allen Umständen die Treue halten, anders als ihre Freundin, die gerne schon einmal in die Umkleidekabinen der Football-Mannschaft spähte oder für irgendeinen dahergelaufenen Jungen schwärmte, den sie ein einziges Mal in ihrem Leben gesehen hatte. Wenn es gut kam, tauchte er sogar in ihren Träumen auf… Und bei diesen Voraussetzungen wollte sie tatsächlich auch noch eine richtige Beziehung aufbauen… womöglich auch noch eine homosexuelle? Ihr kamen die Tränen. Sie hätte sie wirklich gerne vermieden; in einem Moment wie diesem flossen immer viel zu viele Tränen, und sie fand es kitschig, diese Tradition fortzusetzen, aber sie traten ihr einfach in die Augen, ohne vorher bei der Schaltzentrale ihres Gehirns anzuklopfen. Obwohl sie weder schluchzte noch heulte, erregte sie doch Hay Lins Aufmerksamkeit: sie drehte sich um und sah ihre Freundin zum ersten Mal an diesem Abend direkt an. Sie waren beide ähnlich freizügig gekleidet: Irma in ihrem ärmellosen, hellblauen Nachtrock, der ihr nur bis über die Knie reichte, und Hay Lin in einen sattrotem Faltenrock, über dem ein knappes, perlweißes Top hing, das nicht allzu viel von ihrer Figur versteckte. Emotional aufgewühlt, geradezu nackt in ihren Gefühlen füreinander standen sie da und sahen – wie sie wohl glaubten – einander direkt in die Seele. Irmas Augen verschwammen unter Tränen, hervorgerufen von Unsicherheit, Heimlichtuerei und Schuldgefühlen. Hay Lins Augen dagegen waren tränenleer, was jedoch nicht übersehen ließ, dass auch sie zweifellos geweint haben musste, schon öfter an diesem langen Tag. Dennoch strahlte ihre Miene eine merkwürdige Selbstsicherheit aus, eine Schönheit, Würde und Eleganz, die vollkommen neu an ihr war. Ihre Pupillen glichen glatten, schwarzen Perlen, nicht mehr endlosen Tunneln wie noch vor ein paar Stunden, und ihre vollen Asiatinnenlippen glänzten feucht. Sie schritt auf Irma zu, die Blume vor sich haltend wie eine Opfergabe, und legte sie, kaum, dass ihre beiden Körper wieder vereint waren, auf deren Busen. Irmas Herz brannte nun beinahe, so warm wurde ihr darum. Hay Lins Hand verharrte auf dieser Stelle, die Blume mit zwei Fingern in ihr Fleisch pressend, und ihre Lippen öffneten sich einen Spaltbreit. Halb im Traum erblickte Irma dahinter die sich windende Zunge… sie sah lustvoll verdunkelte Augen… einen anmutig schwingenden Gang… sich aufbäumende Hüften… triumphierendes Lachen… das laszive Räkeln im Bett… Irmas Fäuste stießen schneller vor, als Hay Lin ahnen konnte, und trafen sie voll in den Magen. Die Wächterin der Luft knickte ein und hielt sich keuchend den Bauch. Währenddessen rieb Irma ihre tränenfeuchten Augen, entfernte die Margerite aus ihrem Oberteil und warf sie, ohne noch einmal hinzusehen, zum Fenster hinaus. Dann wandte sie sich Hay Lin zu und sagte in Erwiderung auf ihre letzte Bemerkung: „Nun, ich kann nicht behaupten, etwas Ähnliches getan zu haben. ICH sammle für gewöhnlich keine Erinnerungen an wilde Sexspielchen!“ Hay Lin, immer noch von den Schmerzen gebeugt, riss empört die Augen auf. „Wilde… wilde was? Das wagst du, mir so ins Gesicht zu sagen?“ „Oh, ich könnte dir noch ganz andere Sachen sagen, du Schlampe!“ knurrte Irma. „Jetzt hör mal genau zu! Was wir… was wir da gemacht haben, ist keine Schande, ich jedenfalls bedauere es nicht. Ich erinnere mich gern daran.“ „Schön für dich! Schade nur, dass ich mich an überhaupt nichts mehr erinnere!“ Die Wächterin des Wassers strich sich in gespielter Nachdenklichkeit über das Kinn. „Warum könnte das wohl so sein?“ Hay Lins Kopf wurde hochrot, als sie auffuhr und ihre Freundin mit in die Hüften gestützten Händen anzischte: „Spiel mir hier nicht die eingeschnappte Leberwurst!“ „Ich spiele hier überhaupt nichts vor!“ erwiderte Irma in ruhigem Ton. „Das ist momentan dein Job!“ „Fein, mach dich ruhig lustig! Ich sehe schon, dass dir unsere gemeinsame Zeit nicht viel bedeutet haben kann! Du bereust ja nicht einmal dein Verhalten mir gegenüber!“ „Mal sehen, …vielleicht hab ich’s ja nur verdrängt!“ fuhr Irma fort, als hätte sie ihre Freundin gar nicht gehört (während ihr kalter Blick verriet, dass sie es sehr wohl getan hatte). Ihre Stimme wurde gefährlich weich und samtig, ähnlich der eines Raubtieres. „Ja, das könnte sein… verdrängt, wie ich alle paar Tage mit dir zusammen im Bett oder auf einer Wiese oder weiß der Kuckuck wo liegen musste, um dich zu streicheln und dich zu küssen; um dir einen Orgasmus nach dem anderen zu bescheren. Du glaubst vielleicht, ich hätte auch etwas davon gehabt, aber da täuschst du dich: mir ist nichts weiter geblieben als ein schaler Beigeschmack im Mund und die Erkenntnis, dass meine beste Freundin Gefühle für mich empfindet, die sie gar nicht haben kann. Und jetzt muss ich mir auch noch von dir anhören, dass dir diese ganze Sache wirklich ernst zu sein scheint und dass es für mich kein anderes Leben mehr geben wird.“ Während der letzten Worte hatte sie wieder angefangen zu weinen. „Ja, wenn ich da mein Verhalten bereuen soll, dann tue ich’s hiermit!“ endete sie schließlich und pflanzte sich zitternd vor Wut auf die Bettdecke. Hay Lin hingegen blieb stehen, starr wie ein toter Baum, und sah fasziniert zu, wie ihre Freundin das Gesicht in den Händen vergrub, hin und wieder ein paar Schluchzer entkommen lassend. Das war schon etwas Anderes als ihre eigene vorgespielte Feinfühligkeit. Sie kam sich auf einmal ziemlich verlogen vor im Angesicht von Irmas überwältigender Ehrlichkeit, die genauso stark und ungebremst war wie der Rest ihres Wesens. Noch dazu trug ihre Anklage Spuren bitterer Wahrheit in sich… Wenn Hay Lin an die Margerite mit ihren ursprünglich mehr als dreißig Blütenblättern zurückdachte, kam tatsächlich eine gewisse Anzahl an Liebesspielen zusammen. Im Übrigen roch die Blume tatsächlich noch – allerdings längst nicht so süß, wie Hay Lin es dargestellt hatte. „Also…“ begann sie zögernd, „… du meinst wirklich, dass du dabei… ein wenig zu…“ Sie beendete den Satz nicht, denn es gab keine Möglichkeit, es zu leugnen: nach einer gewissen Eingewöhnungszeit von zwei oder drei Wochen hatten die Beiden fast jeden zweiten Tag Liebe gemacht, und natürlich hatte zuletzt Hay Lin immer den Ton angegeben – ganz gleich, ob es um Zeit, Ort oder Spielart ging! Im Nachhinein betrachtet war sie geradezu süchtig nach Irmas Fingern gewesen, und sie hatte keine Gelegenheit ausgelassen, sie eigenhändig und so schnell wie möglich zu ihrer Scheide zu führen und auf den Kitzler zu legen, ohne sich lange mit dem Vorspiel aufzuhalten. Das hatte Hay Lin dann für Sex gehalten… „Ich… ich hab es noch nie aus dieser Perspektive gesehen,“ murmelte sie und ließ sich neben Irma aufs Bett fallen. „Wie denn auch?“ lachte diese trocken. „Du lagst ja immer unten!“ „So meine ich das nicht! Es ist nur… ein wenig erschreckend, dass du mich als so verdorben betrachtest. Ich dachte einfach, wenn ich glücklich bin, müsstest du es auch sein! Ich hab es nie anders kennen gelernt!“ Die junge Asiatin schluckte und strich sich über die Stirn, auf der plötzlich Schweißperlen standen. „Vielleicht hätte ich dir-“ „Nein, nein, nein…“ Irma schüttelte den Kopf, noch bevor sie fertig geantwortet hatte. „Du verstehst es immer noch nicht! Es ist nicht so, dass ich einfach nur eine Rubbelmassage von dir bräuchte, um wieder glücklich zu sein. Dieses Gefühl kenne ich teilweise schon… na ja, zumindest durch Selbstbefriedigung…“ „Und das ist kein gleichwertiger Ersatz dafür, oder?“ fragte Hay Lin, und Irma nickte. „Ja! Es beschert einem für einen kurzen Moment ein Glücksgefühl, ein Prickeln im ganzen Körper oder eine gewisse Erleichterung im Beckenbereich… aber das ändert nichts daran, dass es nur die eigenen Hände sind, die dazu beitragen. Es steckt nicht die Liebe eines anderen Menschen dahinter… nur irgendein stinklangweiliger natürlicher Trieb, der manchmal mehr, manchmal weniger stark ist. Es lässt einen Traum greifbar erscheinen, aber in der Realität ist man genauso weit davon entfernt wie vorher. Es würde auch nicht wirklich etwas bringen, wenn du es jetzt versuchst, denn alles, was zwischen uns war, ist Vergangenheit, und die kümmert mich nicht mehr. Der Traum, den ich nun schon seit langem habe, handelt eben nicht von dir. Oder von Joel. Oder von sonst irgendeinem anderen Jungen.“ Irma seufzte, und ihre Stimme bekam einen zittrigen, schwärmerischen Unterton. „Will war der erste Mensch, bei dem ich eine erotische Phantasie hatte, die mir auch wirklich wie eine vorkam! Ich… ich verspürte Lust bei dem Gedanken, sie zu küssen… sie in den Armen zu halten… ihren Körper an den verbotenen Stellen zu berühren…“ Sie schüttelte sich, und für einige Zeit versank sie wohl in einem kleinen, sehr fieberhaften Wachtraum. Nicht einmal Hay Lins Hand, die ihre nackte Schulter streichelte, konnte sie da jetzt noch herausreißen. Eine Weile schwiegen die Beiden, jede von ihnen den eigenen schwermütigen Gedanken nachhängend. „Du meinst also,“ fragte Hay Lin schließlich in die Stille hinein, „dass ich… niemals solche Gefühle in dir wachgerufen habe?“ Einen Moment lang klärte sich Irmas verträumter Blick und sie schaute ihre Freundin eindringlich an, eindringlich und traurig… dann raufte sie sich weinend die Haare und trommelte mit den Füßen auf den Boden. „Verdammt, ich weiß es doch nicht mehr! Geht das nicht in deinen Dickschädel? Ich hab solange in Frustration ‚gebadet’, bis ich mich an rein gar nichts mehr erinnert habe. Was genau ich bei unserem ersten Date gefühlt und getan habe… wie zum Teufel soll ich das jetzt noch wissen? Das war vor über drei Monaten!“ „Vor zwei!“ erwiderte Hay Lin schwach. “DAS IST DOCH VERDAMMICHNOCHMAL JACKE WIE HOSE!“ Irmas Stimme (auch sonst ein gewaltiges Instrument) war nun endlich schrill genug geworden, dass ihr Klang über das dämpfende Holz der Tür in den Flur hinaus drang und das gesamte Obergeschoss an ihren Lauten teilhaben ließ. Während Hay Lin noch versuchte, Irma zu beschwichtigen, hörte sie gleichzeitig das Quietschen einer Matratze von irgendwo am anderen Ende des Korridors. „Irma!!! Da ist jemand!“ Ihre Freundin, plötzlich kalkweiß im Gesicht, hob den Kopf, schluchzte geräuschvoll und lauschte mit erschrockener Miene. „Scheiße!“ flüsterte sie heiser. „Weißt du, wer es ist?“ „Woher soll ich das wissen?“ „Na, du bist doch unser Fräulein Fledermausohr, oder?“ „Passt dir was an meinen Ohren nicht?“ erwiderte Hay Lin gereizt. „Was hat denn das damit zu tun?“ „Ich hab keine Fledermausohren, damit das klar ist!“ „Spielt das denn jetzt wirklich eine Rolle?“ „Vor einer Woche hast du dich noch danach verzehrt!“ „Na schön, dann nenn’ sie meinetwegen Kohlblätter! Kann mir doch egal sein!“ „Danke sehr!“ „Bitte schön… und jetzt benutz die Dinger gefälligst auch mal!“ Widerwillig seufzend kam Hay Lin Irmas Wunsch nach und spitzte die Ohren, um ihr magisches Gehör zu aktivieren. Der Wirkungsgrad war, wie zu erwarten, eher klein, und ihre Erfahrung in der Identifikation von Personen hielt sich in Grenzen, aber das charakteristische Aufatmen und die Lautstärke der Schritte ließ eigentlich keinen Zweifel zu… „… das ist deine Mutter!“ Irmas Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wenn sie hierher kommt, musst du auf der Stelle verschwinden, hörst du!?“ „Oh, sie wird ganz bestimmt nicht hierher kommen, du Schlaumeier,“ antwortete Hay Lin pampig, „…weil sie nämlich gar nicht weiß, dass du hier bist. Sie denkt, du wärest immer noch-“ Zwei erstickte Schreie, die von Irmas Zimmer zu kommen schienen, unterbrachen ihre Ausführungen. In einem Anfall heilloser Angst umklammerte Irma Hay Lins Unterarm und zischte schreckhaft: „Bring mich weg von hier! Schnell!“ „Wie bitte? Was hast du nun schon wieder angestellt?“ „Kann dir doch egal sein! Aber wenn Will sieht, was ich mit ihr gemacht habe, wird sie mich dermaßen verfluchen… das von heute Nachmittag ist Katzendreck dagegen!“ „Okay, okay, okay,“ zischte Hay Lin zurück und wimmelte ihre Freundin ab. „Wenn du nur mal einen Moment ruhig sein könntest…“ Mit diesen Worten legte sie die Spitzen ihrer Zeigefinger über einander, konzentrierte sich und zeigte mit ihnen dann zum Fenster hinaus auf die weiten grünen Hügel am Stadtrand von Heatherfield. A/N: Dieses Kapitel ist dreigeteilt, da der erste Teil noch ziemlich dialoglastig ist, der zweite und der dritte aber dafür (diesmal unmissverständliche) Lemon-Szenen enthält, die eine Altersbeschränkung erfordern. Viele Grüße, Fermin_Tenava Kapitel 10: Lippenbekenntnisse (Teil 2) --------------------------------------- …nur um eine Sekunde danach in einem Wiesenstück an der Spitze der Hügelkuppe wieder aufzutauchen. Dort fielen sie erst einmal ganz gesittet auf ihre Hinterteile, denn leider machte die Dislokation bei ihrer Aktivierung keinen Unterschied zwischen Sitzen und Stehen, und die beiden hatten nun einmal auf einem Bettgestell gesessen, das einen halben Meter über dem Boden hing. Die Mädchen brauchten einen Moment, um sich von dem Schock zu erholen. Als sich Irma nach einigen Atemzügen umblickte, bemerkte sie, dass in ihrem Rücken die weiß gestrichene Außenwand eines Wasserreservoirs lag, deren metallenen Stützträger sie bestimmt zwischen die Beine bekommen hätte, wäre sie nur ein paar Zoll weiter hinten gelandet. Keine sehr reizvolle Vorstellung – zumindest, wenn man aus fünzig Zentimeter Höhe herabfiel. „Kommt mir irgendwie bekannt vor, das Ding!“ murmelte sie. „Mir auch,“ bestätigte Hay Lin eifrig und sah sich mit suchendem Blick um. Es stimmte, sie kannte diesen Ort irgendwoher, und zwar nicht nur flüchtig… die Erinnerung lag vor ihr, wie mit einem Meißel in die Erde geschrieben. Irgendwann im Frühling hatte sie hier einen wunderschönen Nachmittag verbracht, soviel wusste sie noch, und als ihr Blick an einer Stelle im Gras hängen blieb, an der lauter Margeriten wuchsen, gab es eigentlich überhaupt keine Zweifel mehr. „Hier hatten wir unser erstes Petting,“ flüsterte sie, heiser vor Aufregung, und kroch sofort mehrere Meter weit in das Wiesenstück hinein. Sie spürte, wie ihr auf diesem Weg kleine Steine in das Knie spießten… wie die Grashalme ihren Körper streichelten… wie der nackte Wind über ihre Haut strich und sie liebkoste… So nah am Boden roch sie auch den vertrauten Duft von Spitzwegerich und Erde, und hörte das Singen der Grashüpfer und Grillen. All das weckte Dutzende von Erinnerungen in ihr, und jedes weitere Detail war noch einmal so schön wie das Vorherige. Hay Lin musste unwillkürlich lächeln. Das zumindest war nicht gelogen gewesen – sie hatte die Stunden damals genossen, mehr als irgendetwas, was sie jemals zuvor gemacht hatte. Es war quasi wie Fliegen, ohne die Erde zu verlassen. Vielleicht war es das erste und einzige Mal gewesen, dass Irma jemals Gefallen daran gefunden hatte… Doch wenn Hay Lin jetzt zu ihrer Freundin zurück schaute, sah sie nur noch ein müdes, desillusioniertes Mädchen sitzen, das die Welt um sich herum kaum noch zur Kenntnis nahm. Stattdessen lag ihre Aufmerksamkeit jetzt scheinbar auf einem dicken, dunklen Stoffballen, der über ihre Knie ausgebreitet war: Hay Lins grüne Jacke, die sie bei der Dislokation hatte mitgehen lassen. Sie sprach kein Wort, seufzte nur hin und wieder, als könne sie über ihre Dummheit nur den Kopf schütteln, und blickte, ohne richtig hinzusehen, in das dunkle Gras zu ihren Füßen, das für sie überhaupt keine Bedeutung mehr hatte… obwohl es die doch hätte haben müssen. Träge streckte sie den Arm aus und ließ ihre Hand kraftlos über die spitzen Grashalme hinweg fegen, ähnlich wie ein Elefantenrüssel, der nutzlos über die Gitterstäbe seines Käfigs streicht. Doch mitten im Schwung schlossen sich plötzlich lange, dünne Finger um ihr Handgelenk und führten es zurück an ihren Körper, um es an ihren nackten Hals zu pressen. Irma erschauderte unterschwellig. Von diesen Fingern ging eine wohlige Wärme aus, eine schreckliche, einladende Wärme… und nun spürte sie die Wärme auch von der anderen Seite, manifestiert in schlanken Knöcheln und einem glühenden Handrücken, der an ihrem Kinn entlang strich… und Lippen, feuchte, warme Lippen, die sich ihr auf die Haut drückten und sanft an ihr saugten, nur einen kurzen Augenblick lang, bevor sie wieder verschwanden, um irgendwo anders von Neuem anzusetzen… Es war unglaublich, so berauschend, so… erhebend… Wenn Irma dieses Gefühl einmal gekannt hatte, dann war es ihr schon lange aus dem Gedächtnis geglitten. Doch es fühlte sich gut an… ja, überraschend gut… Eigentlich hatte Irma ja den insgeheimen Schwur abgelegt, ihre kleine Freundin nie mehr an sich heran zu lassen; dennoch hatte sie das Gefühl, dass Hay Lin etwas tun würde, was es wert war, den Schwur zu brechen. Sie widersetzte sich nicht, als Hay Lins Mund weiter wanderte, hin zu ihrer nackten Schulter kroch und sich darauf niederließ, während ihre Hände noch immer Irmas Hals- und Rückenpartie hielten und ihre Haut bearbeiteten. Mehrere Male fühlte Irma, wie ihre Freundin die eigenen roten Wangen in ihr Fleisch drückte, als gäbe es keinen bequemeren Ort auf der Welt, und dann sah sie plötzlich vor ihrem inneren Auge ein verängstigtes kleines Mädchen, das in ihrem Schoß lag und sich von ihr durchs Haar streichen ließ, während es weinte. ‚Nein, nein, jetzt bloß nicht an so etwas denken!’ schalt sich Irma. ‚Mach weiter! Weiter…’ Wie auf ein Stichwort spürte sie jetzt den Druck einer Nasenspitze am Rand ihrer Achselhöhle entlangfahren, und daneben wiederum Lippen, die in einem Anfall von Hunger den Träger ihres Nachthemds beiseite schoben, während geschickte Finger die Spur nachzeichneten… Und dann wurde die Nasen- durch eine Zungenspitze ersetzt, die tief in den Bereich unter ihrem Kragen eindrang, um die seitliche Wölbung ihres Busens zu umstreichen. Diese Berührung kitzelte so stark, dass Irma kichernd zusammenzuckte und Hay Lin daraufhin erschrocken zurückwich. Reichlich verzagt suchte sie nach Worten der Entschuldigung, die ihr jedoch sofort im Hals stecken blieben, als Irma sie lächelnd ansah und dann mit einem kessen Augenaufschlag selbst nach den Trägern fasste. Langsam, aufs Äußerste gespannt auf das, was gleich passieren würde, ließ sie den oberen Teil ihres Nachthemds heruntersinken und setzte sich ihrer Freundin mit aufreizend gespreizten Beinen gegenüber. Hay Lin, nichtsdestotrotz ein wenig verblüfft über Irmas neue Offenheit, kam vorsichtig näher, schob ihre Handflächen aber sogleich instinktiv an Irmas nunmehr frei liegende Taille, wo sie sie sanft auf und nieder gleiten ließ… Zunächst nur über Irmas Bauch, mit den Fingern dünne Kreise ziehend… dann auch über die Rippen… kurz wieder zurück… das Gleich noch einmal… höher und wieder tiefer … den Berg hinauf und wieder hinauf … über die Kuppe und einmal leicht kreisen… noch einmal, etwas enger… und dann endlich über die seidenzarte Haut der Brustwarze… Zufrieden legte Irma den Kopf zur Seite und seufzte. Das hier war etwas anders als das unheimliche Kribbeln, das sie vorhin unter Joels Händen erfahren hatte: keine rohe Kraft, sondern Feingefühl! Feingefühl… und runde Fingernägel, die hauchdünne Striche über Irmas Brüste zogen! Ihre raschen Seufzer wuchsen allmählich sich zu einem handfesten Stöhnen aus, und trotz ihrer offenkundigen Scheu reckte sie sich inzwischen zunehmend Hay Lins Händen entgegen, die sie geduldig und mit dem ihr eigenen Kunstgeschick formten. Dann plötzlich, in einem Moment schwerer Trance, senkte Hay Lin ihren leicht geöffneten Mund endlich über Irmas Brust herab und drückte ihre Lippen in das weiche Fleisch ihrer Freundin. Langsam schob sie ihren Mund weiter über die Kuppe, eine feuchte Spur hinterlassend, bis sie über der Brustwarze zum Stehen kam. Ihre Zunge war so heiß und feucht, dass Irma beim ersten Kontakt damit zunächst an ein Brandeisen denken musste, eines das sich verbiegen und wenden konnte, dass in ihre Haut eintauchte wie in einen Block heiße Butter. Viele Male fuhr Hay Lins Zunge über Irmas Brustwarze, viele Male küsste und saugte sie abwechselnd beide Hügel, als könne sie niemals genug von ihnen bekommen. Der Warzenhof, der kleine rosane Bereich rund um ihren Nippel, schwoll an und wurde langsam aber sicher immer fester, immer empfindlicher, ebenso die Warze selbst bis schließlich jedes Lecken einem kleinen, angenehmen Nadelstich glich, einem Regentropfen auf ausgedörrten Grund, den sie allein ihr spendete… allein ihr… Es wurde allmählich wie einer dieser so schrecklich realistischen Alpträume über das Hinabstürzen von einer Klippe, bei denen man den Schmerz des Aufpralls fühlt und den Fahrtwind an sich vorbeizischen hört, aber keine Kontrolle über seine Handlungen hat. Man kann nichts unternehmen, hat keine andere Wahl als die Dinge geschehen zu lassen… doch letztendlich ist man doch froh darüber, weil man sich im richtigen Leben nie so weit wagen würde. Für Irma war es inzwischen so weit: egal, was zwischen Hay Lin und ihr vorgefallen war, sie war bereit zu vergessen - nein, zu vergeben und zu verzeihen. Vergessen wollte sie es auf keinen Fall mehr! Sie spürte, wie ihre Scham zunehmend feuchter wurde, so angenehm und prickelnd war die Liebkosung durch die Lippen ihrer Freundin. Gleichzeitig erfasste sie eine sonderbare Zuneigung zu Hay Lins geschmeidigen Körper, wie sie sie vorher nur selten gespürt hatte. Ihre Hände, die bisher mehr oder weniger passiv an den Kunststoffmantel des Reservoirs gepresst waren, fuhren gierig in Hay Lins Zöpfe und lösten die Haarbänder, mit denen sie gefesselt waren. Dann ließ sie ihre Finger genießerisch durch das dünne, schwarze Haar gleiten, kraulte die Kopfhaut ihrer Freundin wie bei einer Katze, und setzte sie auf ihren nackten schmalen Schultern ab. Es war ihr schleierhaft, wie Hay Lin jetzt noch bekleidet sein konnte. Von Lust verschleiert schaute sie in den Ausschnitt ihrer Freundin, auf eine Brust, die eigentlich auch Cornelia hätte gehören können… und wieder kamen ihr Gedanken über das kleine Mädchen, das sich so Hilfe suchend und ratlos in ihr Oberteil krallte, es von ihrem Körper reißen wollte vor Zorn, während sie sich mit einem Mal ganz blümerant vorkam, vielleicht geschmeichelt, vielleicht erregt, möglicherweise sogar… erotisiert… Langsam rutschten ihre Finger nach unten, unter den Stoff… und zogen ihn herab… tauchten ein in die weichen Rundungen, die sie ein wenig an die von Will erinnerten, berührten sie, trösteten sie durch bloße Berührung… Alte, längst von Bitterkeit und Frust überschwemmte Gefühle stiegen in ihr auf und traten zurück an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Eine Sekunde lang zwang sie Hay Lin, mit den Liebkosungen aufzuhören und ihr nur ins Gesicht zu schauen. Dann fasste sie ihre asiatische Freundin mit beiden Händen am Kinn und küsste sie leidenschaftlich. Wie am ersten Tag… Je länger sie so aufeinander lagen, die Körper nackt und warm unter dem gelben Mondlicht, desto wilder und ungezügelter wurde ihr Spiel. Der eine Kuss, den Irma Hay Lin vorhin geschenkt hatte, artete in eine wahre Kussorgie aus, einem wiegenden Engtanz, ohne dass einer von ihnen dazu stehen musste. Mit Armen und Beinen ineinander verschlungen, die Münder auf den Lippenrändern verschmolzen, die Zungen vereint im beständigen Kampf, lagen sie da und rieben Pore an Pore, Brustwarze an Brustwarze, als könnten sie jeweils nur kurze Zeit die Berührung des anderen ertragen. Ganze zwanzig Minuten vergingen, in denen sie nichts anderes taten, als sich derart aneinander zu schmiegen, immer wieder kurz von der prickelnden Präsenz des anderen zu kosten. Doch dann, Stirn an Stirn, öffneten sie schließlich die Augen. Beide waren sie müde und krebsrot im Gesicht, doch beide erkannten sie auch, dass es noch lange nicht zu Ende war. Irmas Augen waren immer noch leicht zusammengepresst von der hypnotischen Ekstase, die sie gerade durchlebt hatte. Dennoch verfolgten sie gespannt, wie Hay Lins Hand stetig weiter nach unten wanderte, ganz dicht über der Haut schwebend, immer mal mit dem Zeigefinger über einer Körperpartie kreisend… Und dann fanden sich ihre Finger plötzlich in Irmas flaumiger Schambehaarung wieder. Es ging so schnell… Obwohl ihr Irma diesen Vorgang schon so oft anhand ihres eigenen Körpers vorgeführt hatte, war Hay Lin sehr unsicher, ob es ihr gefallen würde. Um sich zu beruhigen, küsste sie Irma noch einmal zärtlich auf die Wange, bevor sie ihre Hand behutsam um ihre Scham schloss und sie zärtlich massierte. Sie behielt den Blick auf Irmas Gesicht, die in Verzückung die Augen schloss und genüsslich stöhnte, hoch und unverwechselbar melodisch. Es war kein müßiges Schnauben und auch kein lautstarkes Schreien nach mehr. Die Tonart wechselte ständig, von glücklichen Seufzern über ein tiefes, genießerisches Brummen bis hin zu einem scharfen, aber sehr befriedigten Zischen, wenn Hay Lin bei ihren Streicheleinheiten über Irmas Perle strich und gelegentlich in den Spalt eindrang. „Ahhh… hhhmm… aaah… ja… gut so, gut so… aahhhh…“ flüsterte Irma, gefolgt von einer Reihe sehr hoher Quieker, als Hay Lin auf einmal ihren Zeigefinger in die feuchte Stelle zwischen Irmas Schamlippen einführte und ihn vorsichtig rein und wieder raus schob. Ab und an hielt sie inne und ließ ihn kreisen, so dass er die empfindlichen Innenwände von Irmas Scheide streifte. Nun endlich hob Hay Lin ihren Kopf von Irmas Stirn weg, um sie im Ganzen zu betrachten, wie sie zuckend und stöhnend vor ihr lag, das Gesicht ein offenes Buch ihrer Erregung. Um diesen Genuss noch zu verstärken, senkte Hay Lin ihren Mund erneut über Irmas Busen herab, saugte und küsste ihn leidenschaftlich, während sie gleichzeitig mit der freien Hand Irmas Hals streichelte. Irmas ganzer Körper zitterte, und langsam aber sicher passte er sich in seinen Bewegungen dem Rhythmus von Hay Lins Finger an, dem sie inzwischen noch Mittel- und Ringfinger hinzugefügt hatte. Unfähig, dieses Feuer, dieses ständige ‚Rein und Raus’ zu ertragen, wand sie sich im kühlen Gras hin und her und weinte - weinte sanfte Tränen. Lustvolle Seufzer, laut wie ein Freudenschrei, entfuhren ihren Lippen, während sich ihr Busen Hay Lins Mund entgegen reckte und ihre Beckenmuskeln sich spannten, sich verengten um Hay Lins pumpende Finger. Eine unsägliche Hitze erfasste ihren ganzen Körper. So groß war ihre Angespanntheit, dass sie nicht mehr nur wehrlos daliegen konnte, sondern ihre eigene Hand auf die Hay Lins legte und sie noch härter noch tiefer in sich hinein stieß. Und Hay Lin, entschlossen, für ihre Freundin nur das Beste zu geben, antwortete darauf, indem sie noch schneller rieb und noch stärker pumpte… schneller… stärker… tiefer… tiefer… tiefer… ja… ja… Mit einem Mal entzündeten sich die Funken, die sich in ihr aufgebaut hatten, und jagten einem Stromschlag gleich durch alle Glieder ihres Körpers. Eine Welle der Lust, der Erregung, der Hitze, aber auch der Ermüdung brach über sie herein, ihr Körper bäumte sich noch ein letztes Mal zu Rekordhöhe auf… bevor sie seufzend und atmend wieder zu Boden sank. Das Kribbeln blieb noch eine Weile in ihrem Körper und prickelte weiter, huschte wie ein Schauer über ihre Haut hinweg und wurde in die kühle Abendluft abgesondert. Urplötzlich war die Nacht wieder kalt und schwarz, die Wärme vergangen wie ein Windhauch in den Bäumen. Und der Ärger, der aufkeimende Hass und Argwohn verflogen mit ihr und ließen Irma nackt und schutzlos zurück. Umso wichtiger war es ihr jetzt, dass Hay Lin neben ihr lag, ebenfalls müde und ausgepowert, doch ebenso glücklich darüber, sich so innig mit ihr vereint zu haben. Sie war noch immer warm, noch immer anschmiegsam, und trotz ihrer offenkundigen Erschöpfung lächelte sie, als sie die Arme um Irmas Körper legte und sie ein letztes Mal küsste. Dann schlossen sie beide die Augen und ruhten in Frieden. ----Fortsetzung folgt---- Kapitel 11: Lippenbekenntnisse (Teil 3) --------------------------------------- A/N: Hallo! Zu ersteinmal vielen Dank an alle, die diese Story bisher gelesen und kommentiert haben. Als ich sie das erste Mal veröffentlicht habe, hat es Jahre gedauert, bis überhaupt acht Kommis zustande kamen. Ich hoffe, die Story gefällt euch auch weiterhin, auch wenn jetzt wieder ein sehr dialoglastiger und vor allem langer Teil kommt - aber er ist dennoch wichtig, ich konnte ihn nur nicht einfach aufsplitten. Zusätzlich wird in den nächsten Tagen in der Charaktertabelle ein Glossar erscheinen, der Anspielungen auf die früheren Abenteuer der Mädchen erklärt. Also dann, gute Unterhaltung beim Lesen :) --------------------------------------------------------------------------- Glockenläuten. Wind im Haar. Falken, die hoch oben am Himmel rüttelten, bereit, auf ihr Opfer herab zu stoßen. Und ein Seufzen, schwer von Trauer, trost- und hoffnungslos wie die Schwärze der Nacht ohne Mondschein… wenn auch nur eine schwache Ahnung von der wahren Finsternis dahinter. Mit anderen Worten: ein ganz normaler Frühlingsnachmittag in Heatherfield - so normal, wie er für eine W.I.T.C.H. überhaupt sein konnte. Irma und Hay Lin lagen gemeinsam auf einer bunt karierten Picknick-Decke knapp unterhalb des Wasserturms und sonnten sich. Das Blau über ihnen war fast unbewölkt, nur vereinzelte Federwolken zogen über sie hinweg, kaum einen Schatten bietend. Aus diesem Grund hatte auch Hay Lin zum Schutz eine ihrer riesigen Sonnenbrillen übergezogen, während Irma ihre Stirn und ihr Gesicht unverhüllt der Sonne preisgab. Die Wächterin des Wassers sah so entspannt aus wie nur selten in ihrem Alltag, anders als ihre Freundin, deren leicht gehobene Brauen eine gewisse Unruhe verrieten. „Okay, Hay Hay!“ sagte Irma, ohne die Augen zu öffnen. „Ich hab jetzt lange genug so getan, als wärst du immer noch müde! Was ist los?“ „Was soll schon los sein?“ antwortete die junge Asiatin gleichmütig. „Das fragst du noch?“ Irma lachte. „Du warst gestern endlich wieder mit Eric zusammen, dem Traum deiner schlaflosen Nächte! Gibt es nichts, was du mir armem Single mitteilen möchtest?“ Hay Lin nickte knapp. „Ja. Halt die Klappe, oder ich halt’ sie dir!“ „Hey hey, warum gleich so zynisch?“ Die Wächterin des Wassers schob eine ihrer Hände spielerisch über das Gras und hantierte damit an Hay Lins Zöpfen herum. „Hast du etwa schlechte Laune gefrühstückt, oder ist irgendetwas Bedeutsames passiert?“ „Ich will nicht darüber sprechen!“ erwiderte das Mädchen und drehte sich schnaubend weg. „Aha!“ Irma hieb triumphierend mit der flachen Hand auf Hay Lins Haar, was dieser zumindest einen lauten Schmerzensschrei entlockte. „Also gibt es immerhin etwas, worüber man sprechen könnte, nicht wahr?“ „Welchen Teil von ‚Ich will nicht’ hast du nicht verstanden?“ gab Hay Lin genervt zurück und zog ihr wütend die Zöpfe aus den Händen, bevor sie sich wieder hinlegte. Doch Irma stocherte weiter, als hätte sie dies überhaupt nicht erschüttert. Sie beugte sich dicht über ihre Freundin und zog ihr langsam die Sonnenbrille von den Augen. Hay Lin, lethargisch wie sie war, leistete keinen Widerstand. „Aaalso… Hast du dich vielleicht wieder einmal vor Erics Eltern blamiert? Oder haben ihn seine komischen Freunde besucht, als ihr gerade den Kuss des Jahrhunderts hinlegen wolltet, woraufhin ihr euch den gesamten restlichen Tag nicht getraut habt, es noch einmal zu versuchen? Oder ist irgendeine eine dieser aufgedonnerten Provinztussis an euch vorbeigekommen, und er hat ihr aus Versehen auf den A-?“ Eine zur Faust geballte Hand schnellte hoch und verfehlte nur knapp Irmas Nase. Das warf sie zwar emotional nicht aus der Bahn, riss ihr aber die Sonnenbrille aus den Fingern, die einen Meter durch die Luft flog und irgendwo in den Margeriten landete. Zu Irmas Glück blieb es bei diesem einen Schlag, obwohl sie ahnte, dass ihre Freundin nicht davor zurückscheuen würde, wie eine Katze um sich zu treten. Sicherheitshalber blieb sie etwas auf Abstand, bevor sie sich erneut über die Asiatin beugte. „Komm schon, Hay Hay!“ flüsterte sie. „Das ist nichts, was man einfach tot schweigen kann.“ „Wieso sollte ich mit dir darüber reden?“ zischte diese. „Du nimmst mich ja doch nicht ernst!“ „Ich nehme dich ernst, auch wenn es nicht immer so aussieht. Das weißt du doch!“ Vorsichtig rückte Irma wieder näher an ihre Freundin heran und kuschelte ihren Kopf katzengleich an deren Schulter. „Also, was war jetzt los?“ Ein nervöses Kribbeln lief über Hay Lins Rücken, als sie Irma so nah bei ihrem Ohr vorfand, aber sie ließ sich nichts anmerken und begann nun doch zu erzählen: „Du hast ja Recht: ich war gestern bei ihm, das erste Mal seit über zwei Monaten, aber er hat mich behandelt, als wäre ich eine Fremde. Als er mich am Bahnhof abholte, war er vollkommen weiß im Gesicht, und während des Mittagessens bei ihm zuhause hat er immer nur auf seinen Teller gestarrt. Und danach, als wir gemeinsam durch die Stadt spaziert sind, hat er von sich aus keine zwei Worte gesagt. Ich glaube, mein Besuch war nicht mehr als eine unangenehme Störung für ihn… als würde ich ihn von etwas wirklich Wichtigem abhalten!“ „Wobei solltest du ihn stören?“ Irmas Stimme war bar jeden Verständnisses. „Gibt es in Open Hill denn solche weltbewegenden Sachen zu erleben, dass er keine Zeit mehr für dich hat?“ „Ich weiß es nicht,“ antwortete Hay Lin unsicher, „aber es schien… ihm einfach nur unangenehm zu sein, mich in der Nähe zu haben. A-als ich einmal versucht habe, seine Hand zu halten… da spürte ich, dass er… zitterte.“ „So wie deine Stimme jetzt?“ „J-ja,“ nickte Hay Lin. „Er hat krampfhaft versucht, meinem Blick auszuweichen, und- und als ich ihn fragte, ob ihm etwas fehlt, hat er… hat er ‚Nein’ gesagt…“ Ihre Augen blieben mitten in der Bewegung stehen und begannen beunruhigend zu glänzen, „…doch es war gelogen.“ Diesem letzten Satz folgte ein seltsames dunkles Schluchzen, ein den ganzen Körper durchfahrendes, rasselndes Luftholen. In den schmalen Schlitzen, die von ihren Augen unter den gefalteten Lidern noch zu sehen waren, funkelte nur noch ein winziger Rest Weiß; der Rest war von einem glänzendem, glatten Schwarz. Was es auch war – Irma befürchtete das Schlimmste. „Das hatte bestimmt nicht zu bedeuten, was du dir darunter vorstellst!“ warf sie hastig ein. „Vielleicht wollte er dir nur nicht unter die Nase reiben, wie sehr du ihm fehlst!“ „Schwachsinn!“ stieß Hay Lin hervor. „Unter die Nase reiben! Er weiß doch, dass es mir genauso geht!“ Sie hieb mit der Faust ins Gras. „Ich würde es ihm Dutzende von Malen sagen, wenn ich könnte, wieso sollte es mich da stören, wenn er es sagt? Warum hat er jetzt auf einmal Angst vor mir?“ „Tja, da gäbe es tatsächlich ein paar Theorien,“ sagte Irma grinsend und zählte auf. „Erstens, seine Eltern sind irgendeiner abartigen Sekte beigetreten und haben ihn ein verrücktes Keuschheitsgelübde ablegen lassen-“ „Irmaaa…“ „Unterbrich mich nicht! Zweitens, er hat für einen kurzen Moment - ja, wirklich nur eine Millisekunde lang – an ein anderes Mädchen gedacht-“ Wieder stieß die Faust nach oben, doch Irma hatte keine Probleme damit, ihr auszuweichen. „- was wir allem Anschein nach ausschließen können,“ schloß sie den Satz. „Damit bleibt also nach einstimmigem Beschluss nur noch eine einzige Möglichkeit zu bedenken!“ Sie tippte sich mit einem viel sagenden Zwinkern gegen die Nasenspitze. „Er ist jetzt vom anderen Ufer!“ „IRMA!!!“. „Ziemlich unwahrscheinlich, oder?“ „Du bist so was von widerwärtig!“ Wutentbrannt sprang die Wächterin der Luft auf und stiefelte schon den Hügel hinunter, bevor Irma sie doch noch am Arm zu fassen bekam. „Warte… Hay Hay, das hab ich doch gar nicht so gemeint!“ „Bei dir weiß man nie, wie du etwas meinst,“ klagte Hay Lin und ließ sich zurück auf die Decke fallen, wobei ihr Kopf gegen Irmas Knie stieß. „Das ist ja grade das Problem!“ Eine Weile saß sie so da, mit miesepetriger Miene und verbissen zusammengepressten Lippen, während sich ihr Körper gelegentlich schüttelte. Irma beobachtete sie dabei und überlegte, wie man diese kleine Zeitbombe wohl entschärfen konnte. Schließlich fasste sie Hay Lin wieder an den Schläfen, lotste sie mit dem leichten Streicheln ihres Daumens vom Knie fort. Dann bettete sie den Kopf fürsorglich in ihren Schoß und strich die einzelnen Tränen ab, die sich bereits aus Hay Lins Augen gelöst hatten. „Also, pass mal auf,“ fing sie schließlich von Neuem an, nachdem sie Hays Kopf eine Zeit lang gestreichelt hatte, „wenn These 2 allem Anschein nach nicht wahr ist und These 1 und These 3 von sich aus unmöglich sind, dann folgt daraus, dass die Wahrheit nichts ist, worüber du dir Sorgen machen solltest!“ „Nur weil du-“ „Was bedeutet,“ verkündete Irma geduldig, „dass du dieser Sache viel zu viel Bedeutung beimisst! Oder glaubst du echt, eine von diesen aufgetakelten Provinztussis in Open Hill ist süß genug, um dir den Wind aus den Segeln zu nehmen?“ „Du hast sie nicht gesehen-“ „- und das brauche ich auch nicht. Weil’s hier nämlich nicht nach dem Aussehen geht: du bist das süßeste und liebste Mädchen, dass es gibt, egal ob in Heatherfield oder auf der ganzen Welt. Eric müsste schon literweise den Verstand verloren haben, wenn er das nicht kapiert.“ Langsam setzte sich Hay Lin auf. Ihre Einwände waren zuletzt immer schwächer geworden und hatten nun endgültig an Schwung verloren, denn sie konnte einfach nicht glauben, was sie da gerade aus Irmas Mund gehört hatte. „M-meinst du das ernst?“ flüsterte sie fast ehrerbietig, ohne ihre Freundin selbst anzusehen. Irma lachte hell auf und tauchte ihre Finger tief in Hay Lins Haar, um den darunter liegenden Hals zu berühren. In diesem Moment veränderte sich etwas in Hay Lin. Ihr Atem ging immer schneller, klang am Ende wie bei einer Fieberkranken, während die Finger über ihre Wangenknochen und an ihren Ohren entlang wanderten. Ihre Augen, nun weit geöffnet, glitten mit flatternden Lidern über Irmas nackte Arme. Dann betrachtete sie abwechselnd die warme Kuhle in Irmas Rock und ihren ausladenden Brustkorb. Ihr Sehnen nach Sicherheit und Behütung übernahm die Oberhand, und ihre große Angst vor dem Unbekannten trieb sie auf genau diesen Platz zu. Ohne Vorwarnung schmiegte sie sich auf einmal ganz eng an den Körper ihrer Freundin, drückte ihre nassen Augen in Irmas Halsbeuge aus und klammerte sich an ihr bauchfreies Top wie eine Ertrinkende, nicht eher nachlassend, bis ihre Freundin endlich die Arme um sie legte und sie wärmte. An einem anderen Tag hätte Irma sie höchstwahrscheinlich weggestoßen und sie lachend ermahnt, es mit den Dankbarkeitsbekundungen nicht zu übertreiben, aber gerade heute schien sie es vorzuziehen, nicht darüber nachzudenken und die Vertraulichkeit, die sie mit ihrer Freundin teilte, in vollen Zügen zu genießen. Sie wehrte sich nicht einmal dagegen, dass Hay Lin mit dem Gesicht immer tiefer in ihren Ausschnitt hineinrutschte und ihre tränenfeuchten Lippen so fest auf Irmas Brust legte, als könne dies allein ihr Schluchzen ersticken. Die nackten Schenkel der Asiatin schlangen sich in verzweifelter Leidenschaft um Irmas Becken und umklammerten es mit aller Kraft. Spätestens jetzt hätte Irma den Braten wittern müssen, aber sie zeigte auch weiterhin keine Abneigung gegen diese Behandlung. Im Gegenteil, sie kniff Hay Lin ganz offen in den Hintern. Ihre Hände machten sich selbstständig, glitten unter Hays Mini-Rock und hielten lüstern ihre Pobacken. In diesem Moment geschah es, das Hay Lin nach vielfältigen Umwegen endlich den Weg zu ihrem Mund fand und ihn küsste. Es war dieser Augenblick, der alles auf den Kopf stellte und sogar die bisher so aufgekratzte Wächterin des Wassers in ihrem Freudenrausch bremste. Beide ernteten sie ihren ersten Kuss von jeweils dem Menschen, von dem sie es am Allerwenigsten erwartet hatten. Und beide setzten sie dieses gefährlichste Spiel des Lebens nach anfänglichem Zögern einmütig fort… mehr als zwei Monate lang. Die Nacht war noch nicht vorüber, und möglicherweise waren gerade zwanzig Minuten seit ihrem Petting mit Hay Lin vergangen, als Irma aus dem Schlaf erwachte. Müde blinzelte sie, die Augen noch leicht verklebt von den Freudentränen, die sie vorhin geweint hatte. Sie schaute zur Seite und erblickte ihre Partnerin, die sie noch immer umklammert hielt wie ein besonders lieb gewonnenes Kissen. Lächelnd schob sie sich aus Hay Lins Umklammerung heraus und krabbelte zum Abhang hinüber. Ihr Körper fühlte sich… seltsam fremd an, als sie ihn nach den Anspannungen der letzten Stunde das erste Mal wieder bewegte. Innerlich fühlte sie sich leicht, rein und ungetrübt, doch äußerlich… fühlte sie die Schwerkraft auf sich einwirken, wie sie es seit Jahren nicht getan hatte. Endlich, als sie sich am Rand des Abhangs ins Gras sinken ließ und den Blick auf ihr Haus richtete, das irgendwo inmitten der ganzen anderen Vorstadtreihenhäuser lag, strömten gleichsam die Erinnerungen wieder in sie zurück. Erinnerungen und Gefühle und… Schuld. Vielleicht war es nur eine komische Art von Selbstmitleid, aber Irma hatte plötzlich das sehr starke Gefühl, dass sie ihre wahre Liebe wieder einmal verraten hatte. Einmal mehr hatte sie dem Trieb nachgegeben, wo sie auf den Verstand hätte hören sollen. Hay Lin hatte ihr niemals bisher eine solche sexuelle Zuwendung geschenkt. Folglich war Irma in derlei Dingen relativ unberührt geblieben: sie hatte gegeben und nie etwas Handfestes dafür bekommen. So war es ihrer Meinung nach in Ordnung. Nun aber hatte Hay Lin das mit ihr gemacht, was man unter ihresgleichen am Ehesten Geschlechtsverkehr nennen konnte; sie hatte sich freiwillig in ihre Gewalt begeben, ohne die Folgen zu bedenken. Und nun war der große Moment der Vereinigung verschwendet, und ihre Probleme blieben dennoch die Gleichen. Ihr Körper hatte Hay Lin gehört, wenigstens für eine gewisse Zeit, doch ihr Geist… ihr Geist war noch immer zwiegespalten. Wenn sie sich nur einen Augenblick konzentrierte und vernünftig nachdachte, sah sie die drei Gesichter vor ihrem geistigen Auge schweben: Das von Joel, der ihr lächelnd ein ruhiges und gewiss nicht langweiliges Leben in Normalität in Aussicht stellte. Das von Will, rehäugig und schüchtern, die ihrem Leben möglicherweise den inneren Frieden geben konnte, den sie sich so sehr wünschte. Und schlussendlich das von Hay Lin, jahrelang ihre beste Freundin, die nun von ihr und ihren Zuwendungen abhängig war. Ihre Zuneigung gehörte jedem der Drei … und für keinen von ihnen konnte sie sich entscheiden, ohne dabei eine Sünde zu begehen. Eine Sünde gegen die Anderen… oder eine Sünde gegen sich selbst. Mitten in der nächtlichen Stille raschelte es neben ihr. Irma drehte sich halbherzig der Quelle des Geräusches zu und sah, dass ein Fuchs in der Nähe den Hügel hinuntertrottete. Sie schaute ihm eine Weile nach (wobei sie sein Fell in Gedanken mit Wills rotem Haar verglich), bevor sie sich wieder nach vorne drehte… und dort Hay Lin sitzen sah, mit einem viel zu befriedigten Lächeln auf dem Gesicht. „Keine Sorge,“ sagte sie fröhlich, „ich weiß, was du gerade denkst.“ „Toll,“ antwortete Irma. „Bist du jetzt auch noch unter die Gedankenleser gegangen?“ Ungeachtet der patzigen Antwort legte Hay Lin ihre überkreuzten Hände auf Irmas hoch gezogene Knie und schlug die Augen nieder, als wolle sie beten. Irma wartete still. Dann, nachdem sie ihre Worte genau bedacht zu haben schien, sprach Hay Lin: „Ich gestehe mir ein, dass ich deine Gefühle und deinen Körper missbraucht und herabgewürdigt habe… Ich gestehe mir ein, dass ich dich vereinnahmt habe, obwohl du es nie so gewollt hast… und ich gebe zu, dass ich dich nur aus Eifersucht bei der Wahl deiner Liebe behindern wollte… Das war ein gewaltiger Fehler von mir, und ich werde das niemals vergessen. Darum… und in der Hoffnung, dass ich dir wenigstens einen Teil meiner Schuld zurückgezahlt habe… gebe ich dich hiermit frei. Wir sind jetzt ab jetzt nur noch Freunde, und nichts weiter als Freunde… bis in alle Ewigkeit.“ „Amen,“ setzte Irma hinzu. Ihre sonst so ausdrucksstarke Miene war wie versteinert. „Und du glaubst, damit ist es jetzt getan?“ fragte sie nach einiger Zeit. „Nein,“ antwortete ihre Freundin schlicht. „Aber das heißt immerhin, dass es jetzt eine Geliebte weniger gibt, um die du dir Sorgen machen musst.“ Irma nickte nüchtern, während sie sich mit einer fahrigen Handbewegung eine Haarsträhne hinter das Ohr kämmte. „Dann beantworte mir doch bitte diese eine Frage,“ verkündete sie ruhig, worauf Hay Lin offenherzig neben sie krabbelte. … „WARUM ZUM TEUFEL FÜHRST DU DANN DIESEN GANZEN AFFENZIRKUS HIER AUF? DAS HÄTTEST DU MIR VERDAMMT NOCH MAL GLEICH SAGEN KÖNNEN!“ Erschrocken sprang Hay Lin zurück, doch sie brauchte keine Angst zu haben, dass Irma sie mit Fäusten traktierte. Solche Wutausbrüche waren noch vor ein paar Jahren der Normalzustand in ihrer Freundschaft gewesen. Sie bedeuteten nichts und waren meist schnell wieder zu Ende. So auch jetzt; schon wenige Sekunden später entspannten sich Irmas Züge und sie begann, sich mit den Fingern gedankenvoll über ihr feuchtes Geschlechtsteil zu reiben. „Eins muss man dir lassen,“ sagte sie lächelnd, „du hast dir echt viel bei mir abgeschaut. Ich hätte nie gedacht, dass du mich gleich zum Orgasmus bringst.“ „Ich auch nicht,“ gestand Hay. „Ich hab mir einfach nur Mühe gegeben, das ist alles.“ Ihre eine Augenbraue knickte herunter. Um ehrlich zu sein, es ist nicht wirklich mein Ding. Es fühlt sich an, als wäre man nur so eine Art…“ „…Masturbiermaschine? Ich weiß, was du meinst.“ Mühevoll zog Irma die Füße unter ihrem Körper hervor und probierte, wieder auf die Beine zu kommen. Mehrere Versuche später hatte sie es geschafft und reckte im Schein des Halbmonds ihre Glieder. „Nun, das gute alte Rein-und-Raus-Spiel stellt meines Wissens die einzige Alternative dar,“ meinte sie dann. „Falls dir das eher zusagt…“ Die kleine Chinesin nickte peinlich berührt. „Du hast es geahnt?!“ „Dass du nicht wirklich lesbisch bist? Nun, vielleicht weißt du es ja nicht mehr, obwohl du dich sooo gerne daran erinnerst, aber das war doch wohl der eigentliche Grund, warum wir-“ Hay Lins Wangen röteten sich leicht. „Mach dich nicht lustig! Du weißt doch, dass ich ein schlechtes Gedächtnis habe, und ich habe dir vorhin so einiges vorgespielt.“ Sie starrte nachdenklich auf ihre nackten Knie. „Außerdem… wollte ich einige Teile unseres Gespräches gar nicht im Gedächtnis behalten.“ Man brauchte kein Genie zu sein, um zu verstehen, was sie meinte - solange man wusste, wovon sie redete. Und Irma wusste es. „Hay Hay, das ist auch jetzt noch genauso lächerlich wie damals!“ sagte sie mit saurem Gesichtsausdruck. „Vielleicht hatte Eric einen schlechten Tag oder so, aber das ist noch lange kein Grund, irgendetwas in eure Beziehung hinein zu dichten, was gar nicht da ist. Er ist für mich nicht der Typ, der untreu wird!“ „Er hat mich angesehen, als hätte er bei meinem Anblick Bauchschmerzen!“ „Nun ja, Schuldgefühle erzeugen wahnsinnige Bauchschmerzen, das kann ich dir sagen!“ „Schon…“ räumte Hay Lin widerstrebend ein. „Es könnte sein, dass er-“ „Es könnte nicht nur sein, es ist so!“ verkündete Irma, entschieden und ohne den Hauch eines Zweifels. Sie beugte sich zu ihrer Freundin hinunter, und ihr ganzer runder Vorbau senkte sich aufreizend nach vorne. „Und jetzt hörst du bitte auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen! Wenn du wirklich etwas ändern willst, dann musst du die Initiative ergreifen! Vermutlich wartet er seit Monaten, dass du ihn darauf ansprichst! Verdammt, vielleicht ist er inzwischen genauso verzweifelt wie du!“ Hay versuchte, sich den Sinn dieser Worte genau vorzustellen… ließ es dann aber lieber bleiben. „Und was schlägst du vor?“ fragte sie müde. Ein gefährliches Lächeln breitete sich auf Irmas Gesicht aus. „Na na, das muss aber mit mehr Begeisterung herauskommen!“ Ihre Hand krabbelte ins Hay Schoß und kraulte spielerisch ihre Schambehaarung. Hay Lins ganzer Körper erzitterte, und ihr Kopf wurde in Sekundenschnelle feuerrot, als ihr Blick auf Irmas vorhängenden Busen gezogen wurde. „Hey, was soll das, ich dachte, du wärst…“ „Was wirst du machen?“ drängte Irma, während sie neben ihrer Freundin niederkniete, den Arm um ihre Schulterpartie legte und mit sanftem Druck ihren Mittelfinger über Hay Lins immer noch feuchte Schamlippen führte. „A-a-abwarten?“ brachte die junge Chinesin mit arg erzwungener Ruhe hervor, als die fleischigen Muskeln plötzlich nachgaben. Das überraschende Eindringen von Irmas Finger in ihren Körper entlockte der zierlich gebauten Asiatin einen Aufschrei der Lust, dessen Kraft jeden erstaunt hätte, der sonst nur ihre freundliche Sopranstimme kannte. „Falsche Antwort!“ kommentierte die Wächterin des Wassers in gnadenloser Ironie und zog ihren Finger kurz wieder zurück, um ihn gleich darauf noch etwas tiefer in Hay Lins Ritze zu stoßen, rein und wieder heraus. Zu gerne hätte Hay Lin eine andere Antwort gegeben, aber Irmas Finger, der energisch, kräftig und liebevoll in sie hinein fuhr, ließ ihr keine Gelegenheit dazu. Sie setzte noch einmal an. „I-I… Ich… ooh…“ Es war zu überwältigend. Gegen die übermächtige Welle der Erregung, die sie durchflutete, kam sie einfach nicht an. Sie legte den Kopf in den Nacken und stöhnte hingebungsvoll. Irma genoß ihre Position sichtlich. Hay Lin zu befriedigen hatte ihr schon lange keinen solchen Spaß mehr gemacht. Ihre Stimme wurde geradezu beschwörerisch, als sie ihre Freundin neckte: „Du wirst…“ „Ich… werde…“ „… Eric gleich morgen anrufen…“ „… hhhmm…“ „… und ihm sagen, wie sehr du dich nach ihm sehnst…“ „… ja… ja…“ „… weil du es kaum noch erwarten kannst…“ „I-i-i-irma-aaah…,“ keuchte Hay Lin unter Schweißausbrüchen. „… mit ihm zu-“ „I-i-i-ich… aah… Irma, hör… auf!“ Irma grinste sadistisch und ließ ihren Finger in Hay Lins Spalte kreisen. „Erst, wenn du es versprichst!“ „Nei… oahh… hhhmm!“ „Wusste ich’s doch, dass dir der Gedanke gefallen würde!“ Irma lächelte triumphierend… doch bevor sie zu den finalen Stößen ansetzen konnte, hatte ihre kleine Freundin Irmas Hand gepackt und dem Ganzen ein Ende gesetzt. Begleitet von einem leisen Flutschen zog sie Irmas Finger heraus und stieß ihn beiseite. Ihr Gesichtsausdruck gab Irma nicht zum ersten Mal das Gefühl, eine schmutzige Hure zu sein. „Gratuliere! Sehr subtil, das Ganze!“ murmelte Hay Lin vorwurfsvoll. „Machst du es bei Will genauso?“ Das hatte gesessen! Irma zog ihre Hand behutsam wieder zurück und versenkte sie in ihrem eigenen Schoß. „Ich hab geahnt, dass du darauf herumreiten würdest. Aber ob du’s glaubst oder nicht, sie ist darauf angesprungen!“ „Es spielt keine Rolle, ob es ihr gefällt oder nicht!“ entgegnete Hay Lin scharf. „Am Ende ist es doch auch nur dasselbe wie bei uns – eine rein… sexuelle Geschichte!“ Irmas Wangen färbten sich karmesinrot. „Ist! Es! Nicht!“ „Ist es doch!“ sagte Hay Lin stur. „Von Anfang bis Ende!“ „Ist es nicht!“ Irma blieb hart. „Oder haben wir jemals gemeinsam über die Zukunft gesprochen? Oder über unsere wahren Gefühle? Ganz sicher nicht, sonst säßen wir jetzt nicht hier!“ „Oh ja,“ Hay Lin lachte bitter, „du bist immer ganz offen und ehrlich zu ihr. Ich habe euch vorhin reden gehört: rein wissenschaftliche Neugier! Sehr ehrlich!“ In ihrem Schoß ballten Irmas Hände sich schon wieder zu Fäusten. „Ich bin fast so weit,“ presste sie hervor. „Ich sag’s ihr, sobald sie es selbst erkennt-“ „- dass sie ohne dich nicht leben kann?“ unterbrach sie Hay Lin. „Soweit ich weiß, konnte sie das bis jetzt sehr gut! Und zwar mit Matt!“ „Ja, aber im Gegensatz zu Matt bin ich immer bei ihr!“ entgegnete Irma trotzig. „Ja, und? Das ist auch nicht immer so ein Vergnügen für sie!“ Es war schon komisch, wie Hay Lin das schaffte, im ersten Moment noch fügsam und unschuldig wie ein Kind zu wirken, und kurz darauf eine gnadenlos ehrliche, junge Frau zu sein. Manchmal war der Übergang so fließend, dass Irma nahe dran war, ihr eine zu scheuern - wenn es bei ihr nicht ähnlich gewesen wäre. „Tut mir leid!“ lenkte Irma ein. Hay Lin nickte gequält. „Mir tut es auch Leid – unser ganzer Streit, meine ich - aber… mal ehrlich, glaubst du im Ernst, sie hätte schon ewig darauf gewartet, mit dir Händchen zu halten? Sie hatte ein anderes Leben, eine andere große Liebe, und sie war wirklich glücklich damit!“ Irma schnaubte trocken. „Aber nur zeitweise - wenn Matt nicht gerade von Nerissa benutzt oder von Jonathan Ludmoore’s Zauberbuch aufgesogen wurde… oder bei anderen Gelegenheiten dafür gesorgt hat, dass Will das Herz brechen konnte!“ Wieder einmal fasste sie nach dem Gras und begann es büschelweise auszurupfen. „Der Kerl hat von Anfang an nichts als Schwierigkeiten gemacht!“ „Das mag schon sein, aber er hat diese ganzen Sachen niemals herausgefordert. Im Prinzip,“ sagte Hay Lin unnachgiebig, „ war es doch meistens nur Wills Misstrauen, das alles verkompliziert hat. Selbst du hast ihr das manchmal unter die Nase gerieben!“ Das stimmte zweifelsohne, doch Irma wollte nichts davon hören. „Und was ist er für ein Freund, wenn er ihr nicht Vertrauen beibringen kann? Ich habe das in den letzten paar Stunden besser geschafft als er in den ganzen Jahren, seit sie sich kennen! Ich habe mich sowieso schon ernsthaft gefragt, woher Will die Sturheit hatte, ihm nach all diesen Scherereien immer noch hinterher zu dackeln!“ „Das sind alles die gleichen Argumente, die auch gegen dich sprechen,“ stellte Hay Lin zähneknirschend fest. „Du stellst dir damit nur selber ein Bein!“ „Schön… aber einen wichtigen Unterschied gibt es!“ entgegnete Irma ohne Zögern. Sie zog die Beine wieder an den Körper und schlug die Augen nieder. „Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, mit Karmilla auf Tour zu gehen oder vielleicht erst ein Jahr bei meiner Freundin zu bleiben… ich hätte mich an seiner Stelle für letzteres entschieden!“ Hay Lin glaubte zuerst, ihren Ohren nicht zu trauen. Irma Lair bekannte offen, dass sie ihr Idol für zweitrangig gegenüber ihrer Freundin hielt? Sie schob ihre Finger unter Irmas Kinn, hob es auf Augenhöhe - und sah voll Schrecken, was sie schon vorher gespürt hatte. Es war nicht nur eine leere Phrase, Irma war von dieser Aussage vollkommen überzeugt. Einen solch tiefen Einblick in ihr Herz hatte sie bisher selten jemandem gewährt (so weit Hay Lin wusste), und am allerwenigsten Will! Wieso auch? Sie gab damit ein Stück ihrer Seele preis, machte sich verwundbar… und sich verwundbar und schwach zu zeigen, das hatte sie vor ihrer Anführerin noch nie zustande gebracht! Was war an Will dran, das sie für Irma so immens wichtig machte? Das war doch nicht nur Begehren, oder? Diese Tatsache, so schwerwiegend sie auch war, konnte Hay Lin allerdings nicht davon abhalten, das zu sagen, was gesagt werden musste... auch wenn das Gewicht auf ihrer Zunge dadurch auf einmal eine Tonne mehr wog. „Irma! Ich hatte eigentlich gehofft, ich müsste es dir nicht so sagen, aber… Taranee, Cornelia und ich… also, wir sind uns einig darüber, dass… dass das zwischen dir und Will nicht so weiter gehen kann… deshalb soll ich dir… von ihnen aus sagen…“ „Dass ich sie nicht mehr weiter beeinflussen darf, nicht wahr?“ Ein bitterer Unterton lag in diesem Satz. „Ich soll meine Flirtversuche mit ihr einstellen, bevor es zu spät ist und am besten nie wieder drüber reden.“ „Ja, das trifft es in etwa.“ Hay Lin wand und krümmte sich vor Unbehagen. Sie wusste, wie schwer es war, auf Liebe und Geborgenheit zu verzichten, sie für den Moment zurück zu stellen oder vielleicht sogar vollends aufzugeben. Doch in diesem Fall musste es einfach sein. Zu viel stand auf dem Spiel. „Es wäre besser so… für uns alle. Du machst dir doch Sorgen, dass du deinen ersten, richtigen Höhepunkt von mir bekommen hast statt von Will, nicht wahr? Nun, zumindest bei mir ist es so, dass… dass ich meinen ersten Sex auch lieber mit Eric gehabt hätte… anstatt mit dir!“ Am Anfang ihrer Rede wiegte sich Irma noch vor und zurück, nervös wie ein Fasan während der Jagdsaison, doch als Hay Lin diesen Fakt anführte, hielt sie inne und starrte mit freudlos glänzenden Augen in den Nachthimmel hinauf. „Was ich damit sagen will: alle Entscheidungen, die wir treffen, haben Folgen, nicht für uns selbst, sondern auch für andere. Wenn du Will verführst - auch nur einmal verführst - dann hat das Konsequenzen für uns alle! Matt würde es irgendwie erfahren, und dann würden er und Will sich zerstreiten.“ Hays Stimme zitterte auf einmal erbärmlich. „Er kennt unser Geheimnis, Irma! Er hat versprochen, uns nicht zu verraten, aber… wer weiß, ob er es nicht tut, wenn die beiden sich in Wut zertrennen? Keiner von uns hat eine Ahnung, was passieren würde, wenn du mit deinem Vorhaben weitermachst, aber wir vermuten, dass du das alles verhindern könntest, wenn du jetzt aufhörst, denn jetzt ist die letzte Chance zum Umkehren, denn sonst…“ Sie schluckte heftig. „… sonst könnte es das Ende unserer Gruppe bedeuten.“ Irmas strubbelige, braune Augenbrauen senkten sich bekümmert bis kurz über ihre Lider. Möglicherweise hatte Hay Lin etwas überdramatisiert, aber im Grunde lag sie richtig: Irma hatte nie in Erwägung gezogen, dass Will auch die Möglichkeit hatte, ‚Nein’ zu sagen. Sie hatte sich soviel auf ihre Verführungskünste eingebildet (die sie außer bei Hay Lin nie richtig erprobt hatte), dass der Gedanke beinahe ausgeschlossen schien. Ihr Erfolg hatte ihr ja auch Recht gegeben. Pustekuchen! Vielleicht würde Will ihr Spiel eine Zeit lang mitmachen, ihr für die gute Behandlung danken und sich dann wieder Matt zuwenden. Oder Will würde ihre billigen Tricks und egoistischen Beweggründe durchschauen, sie in Grund und Boden stampfen und dann doch noch auf ihr ehemaliges Feiertagsdate eingehen. In jedem Fall würde Irma allein zurück bleiben, wie schon so oft. Wahrscheinlich war dieses Mädchen die ganzen durchwachten Nächte, die geheimen Pläne und lang gehegten Sehnsüchte sowieso gar nicht wert! Wofür hatte sie sie denn geliebt? Für ein paar Wahnvorstellungen, hervorgerufen durch alberne Fotos und homosexuelle Erfahrungen mit ihrer besten Freundin! Eine Beziehung konnte man darauf nicht aufbauen. Will aufzugeben war wahrscheinlich das Klügste, was sie tun konnte. Vielleicht sogar das Klügste, was sie jemals getan hatte. Oder jemals tun würde… „Nun?“ fragte Hay Lin bestimmt, jedoch so, dass es nicht als Drängelei rüber kam. Noch ein Mal sammelte Irma all ihren Mut, ihr Verantwortungsgefühl und ihren guten Willen in ihrer Kehle… um sich dann auf ein grimmiges Nicken zu beschränken. „Gut,“ flüsterte Hay Lin erleichtert und erhob sich vorsichtig. Mit Irmas Zustimmung fiel auch die Schwermütigkeit von ihr ab, und sie plapperte genauso hemmungslos wie früher, während sie ihre wenigen, in der Gegend verstreuten Kleidungsstücke wieder anzog. „Du kannst dir natürlich etwas Zeit damit lassen, wenn es nicht so abrupt passieren soll. Es wäre dumm, Will nach diesem Kuss plötzlich die kalte Schulter zu zeigen. Sorg einfach dafür, dass es nie wieder über ein bisschen Streicheln oder einen Wangenkuss hinausgeht!“ „Ja,“ stimmte Irma zu, obwohl sie es besser wusste. Hay Lin ahnte ja nicht mal, wie intim sie einmal fast gewesen wären. „Und falls es dich wirklich überkommen sollte, geh auf die Toilette und rubbele es dir aus der Seele!“ „Ja,“ erwiderte Irma erneut. „Und noch was,“ fügte Hay Lin hinzu, nachdem sie ihr Top über die Brust gezogen hatte. Sie legte ihrer Freundin ein letztes Mal für diese Nacht die Hand auf die Schulter „Sei nicht so traurig darüber! Das Leben geht weiter, und du hast Will ja immer noch als beste Freundin. Eine beste Freundin ist oft mehr wert als eine gewonnene und wieder verlorene Geliebte!“ Und mit diesem weisen Spruch des Tages und einem Lächeln auf den Lippen drehte sie sich um, legte wieder die Fingerspitzen aufeinander und teletransportierte sich zurück in ihr Zuhause über dem ‚Silver Dragon’. Irma starrte noch lange auf die Stelle, an der sie eben gestanden hatte. Trotz ihrer ermutigenden Worte fühlte sie sich mit ihrer Aufgabe mächtig allein gelassen. ‚Wer hat dem Mädchen nur beigebracht, so dermaßen ins Gewissen zu reden?’ fragte sie sich selber. ‚Bestimmt ihre Großmutter!’ Doch ungeachtet dieser pessimistischen Gedanken war sie entschlossen, ihr Versprechen diesmal zu halten… sei es, weil sie Hay Lin einen Gefallen schuldete, oder weil sie das in sie gesetzte Vertrauen der Gruppe nicht wieder enttäuschen wollte. Es war beileibe keine leichte Entscheidung, aber sie war durchaus in der Lage, ihre Wahl zu treffen und dafür jeden, wirklich jeden Preis in Kauf zu nehmen. Egal, was man sonst von ihr dachte… „Okay, Irma!“ sagte sie laut. „Zeit, deinen großen Plan total über den Kamm zu scheren, oder wie auch immer man dazu sagt!“ Nachdem sie noch eine Weile auf der Wiese beim Wasserturm gesessen hatte, um über sich selbst und ihr Leben nachzudenken, zog Irma ihr Nachthemd wieder an und benutzte die Dislokation, um sich ins Wohnzimmer ihres Hauses zurück zu ‚beamen’. Nach einer Stunde im silberhellen Mondlicht empfand sie die allgemeine Düsternis des Hauses als umso bedrückender. Es mutete an (und Irma wusste, dass es so war), als lauere ein schreckliches Unheil in jeder Ecke dieses Zimmers. Nichtsdestotrotz lag ein zarter Geruch von Beruhigungstee in der Luft, wie ihre Mutter ihn kochte. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Langsam stieg Irma die Treppe zum Obergeschoss hinauf und lauschte auf das Schnarchen ihrer Eltern, auf das von Chris und, wie sie hoffte, auch auf das von Will. Oder besser gesagt: auf das, was am ehesten nach ihr klang. Sie hatte Will bis jetzt nie schnarchen gehört, nicht einmal in dem Sommer, den sie gemeinsam mit ihren W.I.T.C.H.-Freundinnen auf der Couch eines Strandhauses in Cormoran Beach verbracht hatte. Als sie das Treppenende erreicht hatte und den Flur entlang weiter schlich, warf sie auch einen flüchtigen Blick in das Gästezimmer… … und war nicht im Mindesten überrascht, dass sie Will dort auf dem Bett sitzen sah. Trotzdem setzte ihr Herzschlag eine ganze halbe Minute lang aus. So lange brauchte sie, bis ihr Gehirn über den nächstliegenden Schritt entschieden hatte. Unter normalen Umständen wäre sie sofort ins Bett geschlüpft und hätte die Konfrontation auf Morgen früh verschoben, wenn Will sich ein bisschen beruhigt hatte. Dann hätten sie die Angelegenheit in Ruhe und Frieden regeln können. Bestimmt wäre sogar ein kleiner Versöhnungskuss dabei herausgesprungen. Aber die Umstände waren eben nicht normal, und einen solchen Kuss durfte es zwischen den Beiden nicht mehr geben. Besser, sie beendete die Sache kurz und schmerzvoll… So betrat sie in das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Will, gerade eben noch dem Fenster zugedreht, blickte verwundert über die Schulter. Irgendjemand, der glaubte, besonders wortgewandt zu sein, hatte einmal den Spruch erfunden: „Du bist so süß, wenn du wütend wirst.“ Vermutlich war es der gleiche neunmalkluge Komiker, der behauptet hatte: „Sauer macht lustig!“ Wer auch immer es gewesen war, besaß zwar viel Begabung im Umgang mit Worten, hatte aber noch nie Will Vandom in Rage erlebt. Es gab nichts mehr in ihrem Gesicht, was man noch im Entferntesten ‚süß’ nennen konnte, dafür aber jede Menge, was nach ‚sauer’ schrie! Eine Schwere, die sich anfühlte wie ein gewaltiger Klumpen Butter, legte sich auf Irmas Herz, als sie mit zitternder Stimme sprach: „Umm… Hi, Will!“ „Spar dir die Floskeln!“ zischte diese von ihrem Sitzplatz auf der Bettkante aus. „Nur damit du es weißt: es ist nicht schön, sich um jemanden Sorgen zu machen, wenn man gleichzeitig so verdammt wütend auf ihn ist!“ „Oh, du hast dir Sorgen gemacht?“ fragte sie in der Hoffnung, Will von ihrem Sturmross ein wenig herunter zu holen und das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Es misslang ihr grandios. „Ja, das habe ich,“ antwortete Will nicht weniger scharf als zuvor, „aber bilde dir ja nichts darauf ein!“ Sie drehte den Kopf weg und fixierte ihr Nachtschränkchen, auf dem eine dampfende Tasse mit Kräutertee stand. „Wenn du glaubst, ich lege mich noch einmal mit dir zusammen in ein Bett, damit du mich ungefragt antatschen kannst, dann täuscht du dich! Es ist schlimm genug, dass ich vor den Augen deiner Mutter da lag wie eine orientalische Haremsdame, aber dass du dann auch noch davonläufst, ist unverzeihlich!“ Irma schluckte. „Ungefragt?! Heißt das etwa, wenn du wach gewesen wärst, hätte es dir gefallen?“ Trotz der alles umfassenden Dunkelheit konnte sie instinktiv spüren, wie Will errötete. „Ja, ich war eine Zeit lang so krank zu denken, du würdest es gut mit mir meinen. Aber da hab ich mich anscheinend geirrt! Du willst nur meinen Körper, nichts weiter!“ „Na klar, was hast du denn gedacht?“ sagte Irma mit einer anmaßenden Kaltschnäuzigkeit, für die sich selber liebend gern in den Magen getreten hätte. „Also echt, Will! Manchmal ist deine Leichtgläubigkeit einfach nur süß.“ Wills Kopf fuhr wieder herum. Ihr Gesicht war so entsetzt, als hätte man ihr offenbart, sie wäre schwanger. „Wie bitte? Ich hör wohl nicht recht!“ „Doch, du hast schon richtig gehört!“ antwortete Irma scheinbar unbekümmert. „Ich meine, du bist ja sehr hübsch und klug und so, aber ich bin nicht wirklich lesbisch und du hast schon einen Freund, also wieso sollte ich mich da ernsthaft in dich verlieben?“ Das Gleiche schien sich Will inzwischen auch zu fragen. Ein Hauch von Kummer stahl sich in ihre Züge, den Irma so gut es ging ignorierte, auch wenn es ihr unendlich schwer fiel. „Und warum dann diese ganzen... Küsse?“ fragte Will weiter. „Schön, ich war eben neugierig!“ bekannte Irma jovial. „Ich wollte ausprobieren, wie das ist, ein Mädchen zu küssen. Wenn die Jungs so dafür schwärmen, muss es irgendeinen geheimen Trick geben, der es unwiderstehlich macht. Ich dachte, ich könnte mir dabei etwas abschauen. Und du warst eben die Beste innerhalb unserer Gruppe, an der ich es überprüfen konnte. Mit Cornelia hätte es nie und nimmer geklappt, und Taranee und Hay Lin hätten gleich wieder zu viel hinein interpretiert! Aber du hast ganz einfach darüber hinweg gesehen und mir sogar Mut gemacht! Das war sehr lieb von dir!“ Wills Miene verfinsterte sich weiter. „Und… meine Brust…“ Okay, nun kam der Hammer! Irma musste sich wahnsinnig zusammen reißen, um Will auch weiterhin in die Augen zu sehen und dabei zu lächeln. „Mich hat schon immer interessiert, wie sich eine Brustwarze im Mund anfühlt. An meinen eigenen konnte ich leider nie kosten. Zu dicker Hals, wenn du verstehst! Ich weiß, ich hätte dich fragen sollen, aber ich war nicht sicher, ob das nicht zu weit ging!“ Sie verbog ihre Mundwinkel zu einem um Verzeihung heischenden Lächeln, doch Wills düsterer Blick ließ es wieder in sich zusammen fallen. Mit einem Teil echter Reue in den Augen, der allerdings lange nicht so groß war wie die, die sie tatsächlich empfand, schaute sie zu Boden. „Es tut mir echt leid, wenn ich dich dadurch in Verlegenheit gebracht oder verletzt habe! Das muss für dich ein unglaublicher Schock gewesen sein. Aber mal ehrlich, ich könnte mich nie in dich verlieben und du dich ganz bestimmt nicht in mich! Es wäre absurd, etwas anderes zu denken! Ich meine: was hätten wir denn für einen Grund dazu? Und was meine Mutter angeht… die wird ganz bestimmt glauben, dir sei in meinem Zimmer zu heiß geworden. Deine Brust lag ja zum Glück nicht völlig offen. Und ich werde dich auch nie mehr anrühren, versprochen!“ Halb erwartete Irma, dass Will noch etwas darauf sagen würde, irgendetwas wie: ‚Glaubst du wirklich, damit sei die Sache erledigt? Du hast mit meinen Gefühlen gespielt, und dafür hasse ich dich!’ Es wäre eine willkommene Erleichterung für Irma gewesen, deren Finger hinter ihrem Rücken nervös mit einander fochten. Stattdessen hatte Will immer noch die gleiche Zornesmiene wie vorher im Gesicht, die ihr in eisiger, stahlharter Ruhe zugewandt war. Es ließ sich absolut nicht sagen, was sie in jenem Moment dachte; es ließ sich nicht einmal an ihren Augen ablesen, und das war bei einem gefühlsbetonten Menschen wie Will der absolute Rekord an Gefährlichkeit. In jenem Moment hätte alles passieren können. Doch endlich, nach einer mehr als angemessenen Zeit des Wartens und Schwitzens für Irma, wich diese Ruhe von ihr, und Will drehte sich zurück zum Fenster. „Ich hatte dich echt für etwas reifer gehalten, nach alldem, was du heute für mich getan hast!“ sagte sie leise. „Ach, das habe ich auch nur getan, um dich für die Geduld zu belohnen, die du mit mir hattest. Das war das Mindeste, was ich im Gegenzug für dich tun konnte,“ erwiderte sie demütig. „Ich wollte dir ehrlich nicht schaden! Es sollte uns beiden Spaß machen.“ Bei ihren nächsten Worten lächelte sie scheu. „Und nach dem, was du gesagt hast, hat es dir anscheinend auch Spaß gemacht!“ Dieser Satz war zu entwaffnend, als dass Will irgendetwas dagegensetzen konnte. „Schon gut, vergiss es!“ murmelte sie, als sie die Beine auf dem Bett ausstreckte und die Decke drüber zog. Nicht mal an ihrer Tonlage war zu erkennen, was sie gerade fühlte. Das Einzige, was man sich anhand ihrer Stimme und ihres Gesichtes zusammenreimen konnte, war Enttäuschung - eine Art materiell gewordene Dunkelheit, die über die Nasenlöcher in den Blutkreislauf und von dort ins Herz gelangte, wo es dann durch den gesamten Körper und schlussendlich zum Gehirn hinaufgepumpt wurde. Dort schlug es seine Wurzeln, verkrallte sich in jeden einzelnen Gedanken und wandelte jede Sinneswahrnehmung von außerhalb in finster brütende Seelenqual um. Irma hatte dieses Gefühl nur einige Male in ihrem Leben erlebt, z.B. wenn sie ihren Eltern wieder einmal einen Tadel oder eine schlechte Note vorgelegt hatte, der sie an den Rand des Sitzenbleibens brachte, und immer hatte sie im Nachhinein gefleht, dieses Gefühl nie wieder spüren zu müssen. Die ernsten Worte der Lehrer hatten bewirkt, dass sie sich wie eine Schwerverbrecherin vorkam. Wie ein hoffnungsloser Fall… Will war das erste Mädchen gewesen, das ihr gesagt und auch bewiesen hatte, das das nicht stimmte. Und sie dankte es ihr, indem sie sie so verletzte. Das war wirklich etwas, wofür man sich schämen konnte… „Schlaf gut, Will, und träum was Schönes!“ flüsterte sie kaum hörbar, und das waren die ersten Worte in ihrem Gespräch, die sie auch wirklich so meinte. „Nacht!“ brummte diese und drehte sich wieder der Wand zu, reglos und steif wie eine Mumie. Und damit verschlang die Nacht ihrer beider Gedanken. Kapitel 12: Jenseits des Bewussten ---------------------------------- Am Anfang war es nur die Finsternis; angenehm schwarze Finsternis, in deren unauslotbaren Abgründen Stimmen, Eindrücke und Töne leise durcheinander schwebten. Dann begann sich aus dem Herzen der Dunkelheit der Schatten eines Mädchen heraus zu schälen. Sie trug ein rüschenbedecktes, grünes Kleid, hatte braune Haare, riesengroße grüne Augen… und einen dicken Zauberstab mit einem Herz an der Spitze. Ihr gegenüber erschien wie aus dem Nichts ein mit Muskeln bepackter, grünhäutiger Alien, auf dessen winzigem Kanonenkugelkopf ein wilder Kranz weißer Haare wuchs. Die zwei Wesen sprachen kurz miteinander, doch ergab, was sie sagten, für einen Außenstehenden nicht sonderlich viel Sinn… in Wirklichkeit schienen sie mit jemand ganz anderem als ihrem Gegenüber zu sprechen. Doch wie gesagt, es spielte nicht wirklich eine Rolle. Denn sie begannen zu kämpfen. Grüne Energiebälle schossen zwischen ihnen hin und her, deren Bahnen im Laufe des Kampfes immer größer und unberechenbarer wurden. Laute Schreie und Rufe wurden abgegeben… und Sätze, die an Merkwürdigkeit kaum zu übertreffen waren. Schließlich umschwirrten die Lichtkugeln nicht mehr nur die beiden Kämpfer, sondern auch den stillen Beobachter, der am Rande der Dunkelheit saß und versuchte, eine Landschaft aus dem ihn umgebenden Schwarz heraus zu filtern. Für diese Person war das Alles nicht mehr als das Flimmern von Farbwirbeln, die entstanden, wenn man sich die Augen rieb. Schon bald füllte das Licht ihr gesamtes Blickfeld aus, und die Kugelwirbel steigerten sich zu einer Entladung gewaltiger Energie, die ganz am Ende explodierte und alles verschluckte… Als die erste Woge der Energie später abflaute, traten aus ihrem Zentrum zwei seltsam gezackte Pflanzenwesen und ein Junge mit einem Pfeil auf der Stirn hervor. Sie waren vorher noch nicht da gewesen, und man konnte sehen, dass das Licht gleichsam durch sie hindurch und in sie hinein floß, als wären sie Geister. Nachdem sie sich aber erst einmal ihrer eigenen Existenz bewusst geworden waren, verließen sie den Lichtkreis, um in den Kampf einzugreifen. Und Hay Lin sah ihnen dabei zu, als wäre es für sie im höchsten Maße spannend. Im Prinzip mochte sie solche sinnlosen, chaotischen Träume nicht sonderlich. Es waren willkürlich durcheinander gewürfelte Gedankengebilde, sie hatten keine erkennbare Handlung, und eine Erkenntnis über das eigene Unterbewusstsein erlangte man daraus auch nicht! Doch unter den gegebenen Umständen, und in Anbetracht des zurückliegenden Tages, war ihr das nur gerade recht. Sie hatte heute mehr ungewollte Einblicke erhalten, als sie auf einen Schlag verdauen konnte, und im Traum konnte sie gut und gerne darauf verzichten. Was sie jetzt brauchte, war sinnfreie, amüsante Unterhaltung… „Du solltest nicht so viele japanische Trickfilme ansehen, mein Kind! Das sind nicht deine Wurzeln.“ Von einem Moment auf den anderen fiel Hay Lins verrückter Traum in sich zusammen, und ihr Unterbewusstsein holte sie wieder ein. Eiskalte Angst überflutete sie. Nichts hatte sie mehr gefürchtet als diesen Augenblick. Für ihr Verhalten hätte sie jede Bestrafung akzeptiert, die man sich unter der Sonne ausdenken konnte, sogar ein geharnischtes Urteil des hohen Rates von Kandrakar und eine Strafpredigt des Orakels… solange sie dabei nicht ihrer Großmutter gegenüber stehen musste. Doch nun war sie von selber gekommen: alt, weise und grauhaarig, wie sie immer war… und dennoch im Moment schrecklicher als eine waffenstarrende Heerschar. „Wovor fürchtest du dich, mein Kind? Du siehst so… rosa aus,“ sagte Yan Lin, das von Falten bedeckte Gesicht ernst und besorgt dreinblickend. Hay Lin hätte ihr gerne eine beruhigende Antwort gegeben, aber die durchdringende Scham in ihrem Inneren ließ keine Möglichkeit dazu. Sie fühlte sich, als würde jedes ihrer Stimmbänder mit der Breitseite eines Messers eingedrückt, die sie - sollte sie auch nur versuchen zu sprechen - mit der scharfen Kante voran durchschneiden würde. Aufs Äußerste gereizt biss sie sich auf die Lippen und schluckte heftig. Ihre Großmutter wandte den Blick ab und schickte ihn suchend über den Scherbenhaufen aus Phantasiegestalten, den ihre Enkelin hinterlassen hatte. Schon bald fand sie ein Bild, dass sie interessieren musste. Yan Lin beugte sich vorsichtig darüber, strich mit der Hand an der Bruchstelle des Traums entlang und fügte ihn so wieder zu einem Bild zusammen. Die Scherben, getränkt von einem seltsamen Schleim, der sich bei näherem Hinsehen als Brombeermarmelade (!) entpuppte, erschufen ein lebensgroßes Abbild von Irma… einer Irma mit noch weiter ausschwingenden Kurven, als sie sie von Natur aus hatte. „Ich verstehe,“ murmelte Yan Lin traurig. Hay Lin hingegen wäre am liebsten schreiend aufgewacht, auch wenn sie dadurch ihre Großmutter allein im Reich der Träume zurück gelassen hätte. Diese Reue, dieses unverminderte Gefühl der Schuld konnte sie beim besten Willen nicht ertragen. Allein die Vorstellung, wie sich die Weisen von Kandrakar die Köpfe heiß redeten und lautstark über ihre Uneinigkeit und ihr fragwürdiges Verhalten klagten, oder der Gedanke, dass ihre Oma sich gerade wunderte, was für ein perverses Monster sie da großgezogen hatte… Urplötzlich fuhr ihre Großmutter herum, die Augen leicht zusammengekniffen. Sie schaute zu ihrer Enkelin hinüber, neigte argwöhnisch den Kopf und nickte langsam. „Damit liegst du gar nicht mal so fern, mein Kind! Die Weisen sind tatsächlich empört! Sie fragen sich allen Ernstes, was mit euch los ist… und um ehrlich zu sein, dass frage ich mich jetzt auch.“ Ihre Worte waren so ruhig vorgetragen wie eh und je, doch Hay Lin fing trotzdem an zu weinen. Nicht mal, weil sie die Worte besonders rührten. Einfach, um irgendwie das Eis zu brechen, dass ihre Zunge eingefroren hatte. „Es tut mir Leid, Großmutter! Ich schäme mich so dafür!“ stieß sie leise hervor. „Aber, aber, mein Kind! Die Weisen übertreiben eindeutig, wenn sie sagen, ihr wärt allesamt magersüchtig!“ … Die Worte drangen erst mit einiger Verspätung zu Hay Lins Verstand vor, aber trotz der Tränen in ihren Augen schaffte sie es, vollkommen baff zu wirken. „Sehr gut, du hörst mir also noch zu!“ sagte Yan Lin grinsend und nahm ihre Enkelin in die Arme. „Und jetzt kommen wir zu den wirklichen Problemen… von denen der Rat im Übrigen gar nichts weiß. Manche von ihnen können Homosexualität nicht einmal buchstabieren.“ Nun hatte es Hay Lin vollends die Sprache verschlagen. Sie atmete nur mehr röchelnd ein- und aus, und ihre Augen, vorher noch von Tränen bedeckt, wurden wieder klar und schwarz. „Ihr… also, das Orakel, Endarno und… ihr wisst davon?“ Yan Lin nickte. „Und ihr verurteilt uns nicht deswegen?“ brachte sie krächzend heraus. „Ich - ich meine, habt ihr denn nicht gesehen…“ „Glaub mir, das Triumvirat hat wesentlich wichtigere Dinge zu tun, als sich in euer Liebesleben einzumischen,“ erklärte die alte Chinesin verschmitzt. „Wir haben nicht mehr gesehen, als uns die Quasare gezeigt haben. Wir konnte ein Ungleichgewicht in der Gruppe erkennen - ein sehr großes Ungleichgewicht zwar, aber dennoch nicht mehr als das! Etwas in eurer Gruppe verändert sich… und wir wissen nicht, ob zum Guten oder zum Schlechten. Aber was es auch wird, ihr dürft nicht zulassen, dass es eure Freundschaft vergiftet! Wenn ihr zum richtigen Zeitpunkt handelt, dürfte es keine Auswirkungen auf euch und eure Kräfte haben!“ Hay Lin schüttelte zerknirscht den Kopf und löste sich aus der Umarmung ihrer Großmutter. „Das hatte es schon! Nimm mich doch als Beispiel!“ Sie wies mit einer schwachen Geste auf die kurvenreiche Traumgestalt von Irma. „Merkst du nicht, was aus mir geworden ist?!“ „Doch, doch ich merke es,“ versicherte Yan Lin. „Aber das ist nichts, weswegen man sich fürchten bräuchte. Du bist ein sehr anhängliches Mädchen, meine Kleine, und dasmacht dich in hohem Maße verletzlich! Du hast Angst, dich von Dingen zu trennen, deshalb klammerst du dich an allem fest, was dir Kraft und Halt geben könnte. So war es einst bei mir… und so ist es jetzt immer noch.“ Sie seufzte. „Man kann nicht gerade sagen, dass deine Freundin Irma ein großes Opfer gebracht hätte, aber sie hat das Alles nur getan, um dir zu helfen… und sie hat es gern getan, auch wenn sie spürte, dass du dich damit auf einem falschen Weg befindest! Aber solche Fehler machen alle Jugendlichen… bis zu einem gewissen Alter!“ Hay Lin hob eine Augenbraue. „Du auch?“ Yan Lin schwieg. „Oma?“ „Schon gut, schon gut! Es gab da mal diesen süßen, jungen Bauern in Szetschuan… aber davon braucht dein Vater nichts zu wissen!“ Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte Hay Lin wirklich ungequält. Tatsächlich musste sie sich mühsam ein Kichern verkneifen… noch dazu, weil auch Yan Lins Mundwinkel offenkundig zuckten. „Du meinst also, es ist noch nicht zu spät für mich?“ fragte Hay Lin hoffnungsvoll. „Natürlich, das hast du doch wohl selber gemerkt, mein Kind,“ entgegnete ihre Großmutter schmunzelnd. Dann jedoch fiel ihr Blick noch einmal auf das Traumbild, und ihr Lächeln schrumpfte in sich zusammen. „Was allerdings Will und Irma angeht…“ „Sie werden damit aufhören, keine Sorge,“ versicherte Hay Lin. „Dieses komische Ungleichgewicht wird bald verschwinden… hoffe ich zumindest!“ Yan Lin nickte langsam, sagte allerdings nichts weiter. Stattdessen sah sie dabei zu, wie die Scherben der Träume - nun, da Hay Lins Geist gereinigt war - in den konturlosen, schwarzen Raum jenseits des Bewusstseins zurückkehrten. Einzig der Junge mit dem Pfeil auf der Stirn blieb zurück und blinzelte Hay Lin auffordernd an. Diese ertappte sich dabei, wie sie unter seinem Blick errötete und ihn freundlich lächelnd erwiderte. Yan Lin bemerkte es. „Nun, dann will ich dich mal nicht länger vom Schlafen abhalten!“ Meinte sie das ernst? Na ja, Hay Lin musste zugeben, dass dieser Junge ganz süß aussah… selbst wenn er nur eine Zeichentrickfigur war. Nicht, dass das ein Hindernis wäre: schon früher hatte sie die komische Angewohnheit gehabt, sich in Zeichentrickfiguren zu verlieben. Sie waren viel interessanter und netter gewesen als echte Jungs… und im Grunde waren sie das auch heute noch. Dieser Junge hier war (dem ihm angedichteten Alter nach) etwas jünger als sie… aber das störte sie nicht weiter. Im Traum konnte man so alt sein, wie man wollte. Und gegen einen kleinen Tanz und ein wenig nette Gesellschaft gab es bestimmt nichts einzuwenden… Doch vorher gab es da noch eine Sache, die sie erledigen musste… Sie hielt ihre Großmutter am Arm fest und zog sie zurück. „Du musst mir etwas erklären! Etwas über Magie!“ --------- Für keine der fünf Wächterinnen war in dieser Nacht an ruhigen Schlaf zu denken. Zum gleichen Zeitpunkt, als Hay Lin sich die Geschichten ihrer Großmutter anhörte, Irma unter Gewissensbissen wieder ins Bett kroch und Will mit tausend Fragen im Kopf einnickte, lag auch Taranee Cook noch wach. Und, ebenso wie die Anderen, hatte sie den Verstand voller Sorgen. Wie es bei ihr üblich war, gehörten auch die Schule und die bevorstehenden Abschlussklausuren dazu. Bis vor ein paar Minuten hatte sie noch im brütendheißen Licht ihrer Nachttischlampe gesessen, Schulbücher gewälzt und uralte Gedichtzeilen vor sich hingesagt, die die Intentionen eines Autors besonders gut unterstrichen. Sie war sich durchaus darüber im Klaren, dass es inzwischen auf Mitternacht zuging, aber sie hätte es Cornelia und sich selbst nie verziehen, wenn sie aufgrund dieser elenden Beschattungsoperation das Lernen vergessen hätte. Außerdem war der Schulstoff eine hervorragende Gelegenheit, sich abzulenken. John Adams oder Jean-Jaques Rousseau hatten sich in ihren Schriften herzlich wenig um die Liebe geschert… Zu dumm, dass es bei ihr nur zweieinhalb Stunden dauerte, bis sie den ganzen Stoff auswendig hersagen konnte und er damit an Reiz verlor. Als nächstes versuchte sie, sich dem Rauschen der Wellen hinzugeben, das vom Strand zu ihrem Haus hin schallte. Das war ihre übliche Art der Entspannung – jedoch war sie für diese Situation absolut ungeeignet. Sofort kamen die üblen Gedanken wieder, und das Bild von Will und Irma, wie sie sich küssten, stieg erneut vor ihrem inneren Auge auf. Sie hatte es mehrere Male heimlich gedeutet, und sobald sie angefangen hatte, ehrlich mit sich selbst zu sein, war sie zu dem Schluss gekommen, dass das, was sie sah, kein Verbrechen darstellte. Es war bizarr, unheimlich und für sie kaum logisch nachvollziehbar… aber es schadete niemandem. Dieser einzelne Fakt wollte Taranees Hirn partout nicht verlassen: es schadete niemanden. Das war der kritische Punkt. Es war vielleicht nicht ganz normal, aber niemand wurde dadurch verletzt. Warum also, fragte sich Taranee, hasste alle Welt die Homosexuellen so sehr? Was war die Ursache dieses Konfliktes? Für jeden Konflikt gab es Ursachen, meist sogar mehrere, und es lag Taranee fern, hinter diesem nur einen – den Offensichtlichsten – zu vermuten. Es musste eine logische Erklärung geben… irgendetwas, von dem sich eine Lösung herleiten ließ… …Ein jäher Einfall… eine unvorhergesehene Grille… Sie schwebte vor ihr in der Luft, heruntergekommen und missachtet. Aber sie war so außergewöhnlich, dass Taranee sie mit beiden Händen ergriff und in ihre Umarmung zog. Als sie den Einfall in ihren Schoß sinken ließ, offenbarte er sich als ein Buch - ein Buch über die Tierwelt Afrikas. Ein unbeabsichtigtes Gähnen unterdrückend klappte sie es auf. Es enthielt viele Fotografien und eine Menge großartiger Artikel, die sie allerdings nicht alle im gleichen Maße gelesen hatte, denn einige Themen ließen sie zurückschrecken. Nun blätterte sie vorsichtig durch die Hochglanzseiten… und blieb schließlich bei einem Artikel hängen, der sie beim bloßen Anschauen dazu gebracht hatte, das Buch zuzuschlagen. Während sie las, loderte die Leidenschaft in ihrem Inneren hoch auf, und der Mut, den die Kraft des Feuers ihr schenkte, entflammte wieder. Sie begann Parallelen zu ziehen, und nach und nach formten sich Wege in dem Dschungel ihrer Gedanken. Womöglich gab es eine Lösung! --------- Es war so weit. Nun war sie da - die Schwärze, die sie selbst gewählt hatte. Sie wusste nicht genau, worauf es hierbei ankam. Sie hatte es sich bisher immer verkniffen, weil sie es als falsch ansah. Doch irgendwann war es doch passiert… meist mitten im Traum. „Beginn am Anfang, geh weiter bis zum Ende und bleib dann stehen“ - so stand es in einem ihrer Lieblingsbücher. Ließ sich das auch auf diese Situation anwenden? Aber wo war der Anfang? Womit hatte es begonnen? Ja, genau - das Gesicht! Ein rundes Gesicht mit tiefen, geheimnisvollen Augen, die so blau und grün waren wie eine Meeresflut. Dazu ein breiter Mund mit vollen, runden Lippen, verzogen zu einem zutiefst verbundenen Lächeln, und sympathische Grübchen in den Wangen, die es sorgenfrei und ehrlich erscheinen ließen. „Na, Will, bist du jetzt wieder gut mit mir?“ fragte der Mund verschmitzt und lehnte sich dichter über das rothaarige Mädchen. Eine kess über das Auge gelegte Locke fiel nach vorne und kitzelte Wills Nase. Diese nickte grinsend und blickte das Mädchen von unten her mit großen, braunen Augen an. Die fremden Lippen näherten sich ihr, nur leicht gespitzt, und küssten sie hauchzart, während sich eine fremde Haut, ungewohnt in ihrer haarlosen Samtigkeit, über ihren Bauch schob. Das Mädchen wusste, dass es Will so lieber war. Es wirkte weniger bedrohlich. Der Oberkörper der Fremden hob sich langsam, und Will, noch verzaubert von dem vorherigen Augenblick, sah gebannt auf die Brüste, die vor ihr im Ausschnitt eines eng anliegenden T-Shirts tanzten. Sie fragte schüchtern, ob sie durfte, und es wurde ihr gestattet. Vorsichtig schob sie ihre Hand unter den Stoff... … und spürte, wie sich in ihrem Inneren ein wildes Feuer ausbreitete. Sie konnte kaum glauben, dass ihre Hand da wie selbstverständlich auf einer weiblichen Brust ruhte und diese Wärme, diese weiche, formbare Masse umfasst hielt. Am Anfang konnte sie vor Angst keinen Muskel rühren, nur ihr Herz schlug, als müsse es entzwei brechen. Dann krümmten sich ihre Finger kaum merklich nach unten und quetschten die Brust mehrmals leicht zusammen. Das Mädchen reagierte prompt. Warme Finger umschlossen Wills Handgelenk und führten es, ein wenig vor, ein wenig zurück, ein wenig zur Seite, und wieder zurück... Wills Wangen wurden röter als Kirschen und Johannisbeeren zusammen. „Irma…“ flüsterte sie, „ich kann das nicht! Das ist so… so…“ Die Braunhaarige lächelte wieder. „Überwältigend?“ wisperte sie ihrer Freundin ins Ohr und legte dabei den Zeigefinger auf Wills Nasenspitze. Im Zeitlupentempo glitt er von dort die Oberlippe herab und drückte sacht auf die Untere. Will nickte kaum merklich, und Irma lachte. „Du weißt ja gar nicht, was ich sonst noch zu bieten habe,“ flüsterte sie in ihr Ohr, bevor sie die Unterlippe mit ihrem eigenen Mund in die Mangel nahm und mit der Zunge abstreifte. Sie holte den Rest ihrer Finger wieder hinzu, und schickte sie gemeinsam Wills Kinn hinab, über ihren Hals, den sie zart abschleckte, bis hin zu den zwei Wölbungen, unter denen sie Wills Herz schlagen hörte. Mit einigen sorgfältig gewählten Handgriffen knöpfte sie Wills Schlafanzughemd auf, so dicht über deren bebender Brust, dass der Stoff ihre aufgestellten Brustwarzen streifte. Der Körper der Hüterin spannte sich immer weiter an. Ihr Geist raste und war gleichzeitig vollkommen still, angefüllt nur mit der einen Botschaft. Ihre eigene Hand bewegte sich von selber wieder nach vorn, unter das T-Shirt, und spielte unsicher mit Irmas Vorbau, der ihr noch immer unvorstellbar groß erschien. Bald nahm sie auch noch ihre andere Hand dazu, bearbeitete beide Brüste in einer Weise, die ihr selber Angst machte. Sie hörte Irma seufzen… keuchen… stöhnen… und dass ließ sie ein wenig wagemutiger werden. Ihre Bewegungen wurden größer und unverblümt gieriger. Irmas Oberteil spannte sich unter ihren Bemühungen, und die Wächterin des Wassers quittierte dies mit einer Reihe der wildesten Küsse, die sie und Will jemals vollbracht hatten. Sie waren so animalisch, so stark an Gewicht, dass die Hüterin des Herzens am Ende kaum noch Gegenwehr hineinlegte, sondern nur noch mit vor Lust verschleiertem Geist darniederlag. Mit ihrer nunmehr freien Hand zwang sie Irma zu ihrem Hals herunter, und die Wächterin, die sich letztendlich als Siegerin entpuppt hatte, kam ihrer Aufforderung mit größtem Vergnügen nach. Begierig legte Irma ihre Lippen auf Wills Brustwarze und befeuchtete sie mit der Zungenspitze. Gleichzeitig legte sie eine Hand zur Stärkung auf Wills Schulter, während sie mit der anderen Wills Unterkörper entlang fuhr. Leise kichernd schloss Will die Augen. Von alledem spürte sie am deutlichsten die Lippen auf ihrem Busen, ein ums andere Mal zu neuen liebkosenden Küssen ansetzend, wieder und wieder mit ihrer weichen Oberfläche das nachgiebige Fleisch massierend. Dunkle, unverständliche Laute drangen an ihre Ohren, Laute fast wie unterdrücktes Stöhnen, Töne, die immer kräftiger wurden, immer stärker, immer schöner… Sie war so dicht an ihr dran… so nah… so nah… Sie war da… unübersehbar… unumgehbar… unverfehlbar… mit all ihrer Wärme… mit all ihrer Liebe… so nah… so nah… …und sie würde nie wieder gehen… nie mehr… ja… jaa… „Will? Bist du schon auf? Wiiilll!“ Verwundert riss Will die Augen auf und blinzelte. Helles Tageslicht strömte ihr von rechts über das Gesicht, und sie musste sich wundern, dass sie es nicht bereits vorher gespürt hatte. Ihre erste Feststellung war, dass sie überall schwitzte: an der Stirn, unter den Achselhöhlen, am Rücken… es gab praktisch keinen Ort, wo sie nicht nass war. Gedankenverloren schaute Will an sich herab. Ihr ganzer Oberkörper war nackt, das aufgeknüpfte Hemd fast ganz über die Schultern geschoben. Längs über ihrem Brustkorb lag die Steppbettdecke, zu einer einzigen langen Wurst verdreht, von ihren Armen umschlossen und fest in alle Fugen ihres Körpers geschmiegt. Schwer atmend setzte Will sich auf, wobei die Decke von ihr abfiel und auf dem Teppich landete. Dann fiel ihr ein, dass sie vorhin schon einmal wach geworden war. Ihre Augen hatten sich kurz geöffnet, und sie hatte erkannt, dass es Tag war. Zu mehr hatte ihr Denkvermögen in diesem Moment nicht ausgereicht. Sie kannte dieses Phänomen, denn es hatte sie schon so manchem Morgen im Bett gehalten. Ihr Bezug zur Realität war dann gerade so groß, dass sie bestimmte äußere Einflüsse registrieren konnte, doch weil ihre Gedanken noch irgendwo im Reich der Träume weilten, zog sie daraus zuweilen ziemlich absurde Schlüsse. Zum Beispiel wurde das Rascheln des Kissens unter ihren Ohren zum Marschtritt einer Armee meridianischer Soldaten, und ihr eigenes Haar verwandelte sich in einen Strauch Brennnesseln, der sich an ihren Kopf festgeheftet hatte. Manchmal geriet das kleinste Kribbeln auf ihrem Rücken zu einer Legion von Ameisen, und die Matratze erschien so hart wie die Bohlen einer Streckbank. Es war eine sehr seltsame Angelegenheit, und Will hätte es nicht zu erklären vermocht… Möglicherweise war das der Dauerstand ihrer Seele, der in diesen Augenblicken aus dem Unterbewusstsein hervortrat und die Führung übernahm, während ihre anderen Körperfunktionen noch schliefen. Alle Handlungen waren instinktiv, und Entscheidungen wurden rein aus dem Gefühl heraus getroffen, ohne das zur Hilfe zu nehmen, was man im Allgemeinen die ‚Menschliche Intelligenz’ nannte. Zumindest hatte Will sich diese Theorie zurecht gelegt, als sie diesen Zustand das letzte Mal gespürt hatte… und der heutige Morgen hatte ihr Recht gegeben. Denn vorhin, im Halbschlaf, hatte Will die Bettdecke für Irmas Körper gehalten. Und sie hatte gehandelt, wie sie es im richtigen Leben wohl auch gern getan hätte… „Will? Kann ich reinkommen?“ Mrs. Lair… ihre Stimme kam von hinter der Zimmertür. Offenbar wartete sie da schon eine geraume Zeit lang. „Warten Sie, Mrs. Lair! Ich bin gleich bei ihnen!“ rief Will, während sie in aller Eile ihr Hemd zuknöpfte und die Bettdecke über der Matratze ausbreitete. Den feuchten Fleck, der sich in ihrem Schritt ausgebreitet hatte, verbarg sie so gut es ging in den Falten zwischen ihren Beinen. Sie strich gerade ihre völlig verwuschelten Haare glatt, da öffnete sich die Tür und Irmas Mutter kam mit einem gewaltigen Wäschestapel auf den Armen ins Zimmer. „Entschuldigung, dass ich dich störe, aber hier drin bewahren wir normalerweise das Bettzeug auf, und ich wollte diese Laken noch einräumen, bevor wir wegfahren!“ “Sie stören nicht,“ antwortete Will, bevor sie ein Gähnen überkam. Sie schaute gedankenverloren auf ihren Wecker. „Sie wollen jetzt schon los? Es ist doch erst… fünf vor sieben?!“ „Nein, nein, jetzt noch nicht,“ bekräftigte Irmas Mutter, als sie die Laken in ein freies Regal im Kleiderschrank legte. „Wir wollten eigentlich noch gemeinsam Frühstück machen und dann um 8:00 losfahren. Aber Irma meinte, du kämst so schnell nicht aus dem Bett, und ihr beide würdet dann alleine noch mal frühstücken. Hat sie dir nichts davon gesagt?“ „Nein,“ sagte Will trocken. „Sie hat mir so einiges nicht gesagt!“ Mrs. Lair seufzte. „Ich weiß wirklich nicht, was neuerdings mit dem Mädchen los ist. Mitten in der Nacht so einfach zu verschwinden, dir nicht mal das Gästezimmer zu zeigen - sie ist total durch den Wind! Anscheinend hat sie es auch nicht für nötig gehalten, dich zu wecken, obwohl ich sie bereits vor einer halben Stunde darum gebeten habe!“ Will schaute nachdenklich auf die in aller Eile glatt gestrichene Decke und dachte an ihre erotische Phantasie zurück. „Ich glaube, ich habe vor fünf Minuten die Türe knarren gehört,“ bemerkte sie verträumt, obwohl sie sich mit dieser Zeit nicht ganz sicher war. „Nun, ich werde trotzdem noch mal mit ihr reden!“ antwortete Mrs. Lair und stand auf. „Ach ja, sie sagte vorhin, du hättest heute Nacht ziemlich geschwitzt!“ fügte sie mit einem besorgten Seitenblick auf Will und ihren fleckigen Schlafanzug hinzu. „Ja, ja, ja, das stimmt,“ bestätigte Will hastig. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte Irma das bereits heute Nacht angekündigt, und es war sicher besser, bei ihrer Version der Geschichte zu bleiben. „Übrigens - hat sie ihnen inzwischen erzählt, wo sie gestern Nacht war?“ Mrs. Lair neigte den Kopf. „Im Haus war sie jedenfalls nicht! Zuerst hat sie behauptet auf dem Klo gewesen zu sein, aber das ist unmöglich, weil das der erste Ort war, an dem ich nachgesehen habe. Es war nicht mal das Licht angeschaltet.“ Sie seufzte wieder und begann automatisch, Wills zerknautschte Bettdecke neu zusammenzulegen. „Am besten, du fragst sie danach! Du bist ihre Freundin. Ich will es nicht beschwören, aber ich glaube, sie hat irgendetwas vor.“ Will nickte. Obwohl es spät in der Nacht passiert war, konnte sie sich noch an jede Einzelheit des Gespräches mit Irma erinnern… an jede ihrer offensichtlichen Lügen, an jeden ihrer Ausflüchte. Etwas daran war ihr schon gestern fragwürdig vorgekommen: „ …ich könnte mich nie in dich verlieben und du dich ganz bestimmt nicht in mich…“ Wieso hatte sie nur das Gefühl, das sowohl das Eine wie auch das Andere eine Lüge waren? Nachdem sie sich frische Unterwäsche, neue Anziehsachen und ihre Waschutensilien aus der Tasche geangelt hatte (und nebenbei auch noch den Beruhigungstee ausgetrunken hatte, den sie gestern in ihrer Aufgewühltheit nicht hatte trinken wollen), ging Will mit Anna Lair zusammen auf den Flur hinaus. „Willst du deinen Schlafanzug noch mit in die Wäsche tun?“ fragte Mrs. Lair gerade. „Eigentlich wollte ich die Waschmaschine gerade anstellen, aber es gibt da einige Sachen, die ich noch einpacken muss!“ Wie zur Bestätigung schallte Gebrüll die Treppe hinauf. „ANNA! WO SIND MEINE GUMMISTIEFEL?“ „Komme schon, Schatz,“ rief sie hinunter, dann wandte sie sich wieder an Will. „Meinst du, du könntest…“ „Kein Problem, ich kann sie auch alleine anstecken,“ antwortete Will lächelnd. „Das mache ich zu Hause öfter.“ Mrs. Lair nickte dankbar und wollte gerade die Treppe hinuntersteigen, als… „MUM!!! IRMA LÄSST MICH NICHT INS BAD REIN!“ Da war es - dasselbe Gebrüll noch einmal von links. Es wurde begleitet von Christopher, der fast an der Treppe vorbei gerannt wäre, wenn er sich nicht am nächsten senkrechten Gegenstand festgehalten hätte. In diesem Fall war das Wills Bein, das ob der Wucht des Aufpralls sofort einknickte. Bei ihrem Sturz begrub sie auch den achtjährigen Schwesternschreck unter sich. Mrs. Lair hatte für diesen nicht gerade alltäglichen Anblick nicht mehr als ein gefasstes Stöhnen übrig. „Chris, du warst doch vorhin erst im Bad! Jetzt ist Irma dran!“ „Aber meine Baseballmütze ist noch da drin,“ erklärte Chris hinter Wills Rücken hervor. „Ich kann doch nicht ohne meine Baseballmütze spielen!“ „Wenn du sie so unbedingt brauchst, dann hol sie dir nachher, wenn Irma fertig ist!“ „Die braucht doch noch Stunden! Sag ihr, dass sie sie mir rauswerfen soll!“ „Das werde ich nicht, junger Mann. Deiner Schwester geht es heute nicht so gut, also nimm ein bisschen Rücksicht darauf! Außerdem habe ich noch zu tun.“ „Das ist unfair!“ maulte Chris. „Du nimmst sie immer in Schutz!“ „Es bleibt dabei!“ sagte seine Mutter entschieden und ließ ihren Sohn und Will auf dem Treppenabsatz zurück. „Deine Mutter hat Recht!“ meinte Will, während sie sich von Chris weg schob und aufsetzte. „Du wirst einfach etwas Geduld haben müssen!“ „Aber ich brauche meine Baseballkappe - JETZT!“ bläkte Chris wie ein kleines Baby, das seinen Teddy beim Einschlafen dabei haben wollte. Es schien ihm wirklich ernst damit zu sein. Normalerweise hätte Will sich in diese Angelegenheit nicht weiter eingemischt. Doch gerade Mrs. Lairs letzte Bemerkung, Irma ginge es nicht so gut, erregte nun ihre Aufmerksamkeit. Es lag klar auf der Hand, dass da etwas faul war. Noch einmal sah sie den kleinen Bruder ihrer Freundin eindringlich an. Hier musste man wie ein Anführer denken. Chris war schnell - ohne Frage - dazu risikobereit und bestechlich, fast wie ein kleiner, milchgesichtiger Auftragskiller. Und er war mehr als perfekt für das geeignet, was sie vorhatte. Natürlich gab es ein Risiko, aber wann gab es das nicht? „Hast du was Schlechtes gegessen, Will? Du guckst so komisch!“ Will grinste schief und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich glaube, ich kann dir helfen…“ Kapitel 13: Das Portal des Grauens ---------------------------------- Unschuldig - eine Tür wie diese sah in Momenten wie diesen immer unschuldig aus. Aber wie hätte sie auch anders aussehen können? Sollte sie sich plötzlich in ein Tor zur Hölle verwandeln, dämonisch in seiner teilnahmslosen Einfachheit; oder in ein schweres Eichenportal zu einer Festung, die nie jemand eingenommen hatte? Nein, die Wirkung einer Tür beruhte nicht unbedingt auf ihrer physischen Beschaffenheit. Die bekam sie erst, wenn es daran ging, zu klopfen, die Türklinke herunter zu drücken und den Weg frei zu machen zu dem, was dahinter lauerte. Erst, wenn die Tür aufhörte, ein Hindernis oder Schutz zu sein, wurde man sich ihrer wahren Bedeutung bewusst. Dann wünschte man sie wieder in ihre ursprüngliche Position zurück. Will ging es im Augenblick genauso. Vorhin, in ihrem Kopf, hatte sich der Plan so gut angehört, aber nun, da sie ihn in die Tat umsetzen wollte, da sie vor der Tür stand, die sie von Irma trennte, erschien er ihr auf einmal unmöglich in der Durchführung. Es fühlte sich an wie gestern Nachmittag in der Eisdiele: das gleiche hohle Gefühl im Bauch, dieselbe unheimliche Leere, in der tonnenschwere Gedanken wie Schmetterlinge herumflatterten. Und der scheußliche Verdacht, dass sie ganz bewusst eine falsche Entscheidung getroffen hatte… Es wurde Zeit, dass sie das ein für alle Mal los wurde! Sie schaute noch einmal den Gang hinunter, in Richtung der Schlafzimmer. Hinter irgendeiner dieser Türen musste Christopher lauern. Hoffentlich tat er auch genau das, was sie ihm aufgetragen hatte! Bei kleinen Jungen konnte man nie wissen, wann sie ihren eigenen Kopf bekamen; diese Erfahrung hatte Will über zahlreiche Babysitterabende hinweg sammeln müssen. Sie ließ einen leisen Pfiff los, und sofort folgte ein trockenes Bellen als Antwort. Der Junge war also bereit! Vorsichtig legte Will das Ohr an die Badezimmertür und schirmte das andere mit der Handfläche ab. Sie hörte nichts weiter als das harte Prasseln des Duschwassers, aber das brauchte noch nichts bedeuten. Möglicherweise war Irma wieder dabei, die Wassertropfen zu beobachten. Wie sie gegen den Duschvorhang donnerten und dann in dünnen Rinnsalen daran herabflossen. Für sie war das ein unbeschreiblicher Genuss. Wie sie sich ihren Weg suchten über alle Unebenheiten. Wie sie vorwärts krochen, manchmal inne hielten und sich sammelten, um dann in einer dickeren Spur weiter zu ziehen. Und das Alles tat Irma, während sie nackt in der Dusche stand und das Wasser über ihren Körper floß! Will schluckte heftig bei diesem Gedanken und verabscheute sich im nächsten Moment schon wieder dafür. Sie versuchte sich einzureden, dass das auf keinen Fall die Wahrheit war, aber wo ihr Verstand sich damit einverstanden erklärte, stritten ihre Gefühle es vehement ab. Es musste sein! Sie konnte es nicht länger hinauszögern! Schweren Herzens hob sie den Arm, drehte die geschlossene Hand ihrem Gesicht zu und ließ sie dann mehrmals gegen das Holz der Tür krachen, wobei ihr jeder Ton unnatürlich laut vorkam. Niemand antwortete darauf. Sie biss sich schuldbewusst auf die Lippen… dann versuchte sie es erneut. Wieder kam nichts, mal abgesehen von einem plätschernden Quietschen, als etwas Nasses über das Porzellan des Duschbeckens geschleift wurde. Sie klopfte ein drittes Mal, und erneut hörte man nichts anderes als das Rieseln des Duschstrahls. ‚Das ist doch zum Verrücktwerden!’ fluchte Will innerlich. Sie war versucht, ein viertes Mal zu klopfen, aber weder ihr Zorn noch ihre Angst ließen das zu. Also rief sie (mit möglichst lauter Stimme, um gegen den Duschlärm anzukämpfen): „Irma! Könntest du mich bitte kurz reinlassen?“ Schon wieder keine Antwort! Will verlor langsam die Geduld. War sie diesem Mädchen vielleicht nicht laut genug? Sie presste noch einmal ihr Ohr gegen das Holz, während sie das Gegenstück schalldicht zuhielt. War da nicht irgendein Geräusch zu hören - ein Ton von Irmas Stimme? War das womöglich ein… ‚Nein! Denk es nicht!’ befahl Will sich selbst, doch das nutzte natürlich rein gar nichts, weil man etwas nicht ‚nicht’ denken kann, ohne es vorher gedacht zu haben. Leider gab das Wills Nervosität nur den letzten Rest, und sie schleuderte ihre Stirn wutentbrannt gegen das Türblatt. Da endlich regte sich Irmas Stimme sanfte Stimme hinter der Tür mit folgender Frage: “Verdammt noch mal, Will, bist du übergeschnappt? Du kannst doch nicht einfach unsere Tür…“ “Dein Bruder,“ unterbrach sie Will in scharfem, klaren Ton. „Er braucht seine Baseballkappe, und zwar wirklich dringend, so wie es aussieht!“ Irma stöhnte so laut, dass es selbst das permanente Prasseln der Brause übertönte. „Ich hab’s ihm vorhin schon einmal gesagt: ICH - BIN - UNT - ER - DER - DU - SCHE! Er kann sie holen, wenn ich fertig bin – und nicht früher!! Sonst noch was?“ ’Oh ja,’ dachte Will, ‚sonst noch was…’ „Was ist, wenn ich sie hole?“ Schweigen folgte. Ob Irma das Angebot überdachte oder ignorierte, war nicht auszumachen. Nichtsdestotrotz fuhr Will fort zu reden, denn nachdem sie einmal bemerkt hatte, wie sich der Gefühlsknoten in ihrem Magen löste, wollte sie ihn nun endgültig entwirren. „Du weißt ja, bei mir würde es ganz schnell gehen,“ erklärte sie zittrig, „und du bräuchtest dir keine Sorgen um deine Intimsphäre zu machen.“ Irmas Erwiderung kam nur zögernd, als wolle sie sicher gehen, dass alles mit rechten Dingen zuging. „Wenn es das ist, was ich denke, das es ist,“ presste sie halb flüsternd hervor, „dann hast du leider über Nacht ’nen Vollschuss gekriegt!“ Zu ihrem eigenen Erstaunen fing Will plötzlich an, zu lachen. Es war ihr mit einem Mal ganz egal, ob Chris vielleicht zuhörte. Doch gleich darauf beherrschte sie sich wieder, und bemühte sich, ihre Lachfalten in eine möglichst unschuldige, freundliche Miene zu verwandeln (Miss Kelly, ihre Schauspiellehrerin, hatte einmal erwähnt, dass die Mimik auch den Klang der Stimme beeinflusste). „Nein, so kompliziert brauchen wir’s doch gar nicht zu machen! Du schließt mir einfach die Tür auf, ich lasse dir ein wenig Zeit, dich zu verstecken, dann hole ich die Mütze und alle sind zufrieden!“ Erst, als der Klang der Worte verflogen war, als ihre Mundwinkel den Sprechvorgang beendet hatten und wieder herab sanken, erkannte Will, wie schnell ihr Herz inzwischen schlug. Es war schlimmer geworden, als sie befürchtet hatte. In ihrem Brustkorb rumorte es mittlerweile wie in einem aufgestörten Wespennest. Wieso hatte sie es nicht einfach bleiben lassen? Mit der heutigen Nacht waren doch alle Zweifel beseitigt, warum also sollte sie noch Fragen stellen? Diese ganze elende Farce konnte längst zu Ende sein! Aber leider war diese Farce zugleich ein Rätsel…und Rätseln hatte sie noch nie widerstehen können. Doch da hörte Will es bereits – nasse Füße patschten auf einen Badezimmerläufer, ein dickes Handtuch wurde vom Halter gerissen, und wenige Sekunden später knackte es im Türschloss. Irmas Gesicht erschien in der Spalte und spähte zaghaft hinaus, ob sich nicht neben, hinter oder unter Will ihr kleiner Bruder verbergen mochte. Erst nach ausgiebiger Erkundigung dieserseits schob sich auch der Rest von ihr hinter dem Türblatt hervor. Will war überrascht, wie sehr sie auf einmal dem Mädchen aus ihrem Traum ähnelte: ihr braunes Lockenhaar war nass und fiel ihr in strähnigen, glatten Wellen über den Hals und die Schultern; nur ihre typischen Stirnlocken hingen noch vor ihrem Gesicht in die Luft und ließen ab und an einen einzelnen Wassertropfen auf den Boden fallen. Dort, wo drei Zentimeter ihres eng an den Körper gezogenen Bademantels offen standen, konnte man ein weißes Handtuch sehen, dass sie wie eine Toga um den Torso geschlungen hatte. Selbst ihre Beine schienen in den Tiefen dieses Mantels zu verschwinden. „Du tust das auf eigene Verantwortung, klar?“ fragte sie misstrauisch. Will nickte eifrig. „Okay, komm rein!“ Damit trat sie ein paar Schritte zurück und gab den Weg frei. Will presste die Anziehsachen in ihren Händen besonders fest an die Brust, atmete tief durch und trat ein. Im Badezimmer stand die Luft. Eine entsetzliche Schwüle erfüllte das ganze Zimmer bis unter die Decke und setzte sich in glitzernden Tropfen auf dem Glas des neuen Duschbeckens ab, das Irmas Eltern erst Monate zuvor hatten einbauen lassen. Rechts neben der Dusche standen die halb gefüllte Waschmaschine und ein voll gestopfter Wäschekorb. Irma, sichtlich unzufrieden mit der Situation, setzte sich auf den Rand der Badewanne, die in einer Nische hinter der Tür platziert war, und schlug die Beine übereinander. Dabei warf sie einen schnellen Blick zurück zur Türe, als könne ihr Bruder doch noch hindurchschlüpfen. So bemerkte sie zuerst nicht, dass Will ihre Beine anstarrte. „Beeil dich aber bitte!“ sagte Irma nebenher. „Wenn du auch noch unter die Dusche springen willst, bevor meine Eltern abreisen, hast du sonst nicht mehr viel Zeit dazu.“ „J-ja… klar…“ Wills Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet. Wieso hatte sie nur nie bemerkt, wie kräftig und glatt Irmas Schenkel waren? Und da, in der Dunkelheit unter ihrem Bademantel… war das…? Das genaue Gegenteil passierte: der Sabber, der ihr eben noch fehlte, sammelte sich plötzlich in der Mundhöhle. Doch dann wurde der Blick auf Irmas Schoß abrupt unterbrochen, als diese die Beine über Kreuz schlug und ihre Freundin ungewöhnlich scharf anschaute. Beides ärgerte Will, und so streckte sie Irma demonstrativ das Kinn entgegen. Was diese natürlich sofort als Provokation auffasste. „Lass mich raten,“ knurrte sie, „diese kleine Pestbeule hat nicht gesagt, wo die Mütze überhaupt liegen soll?“ „Nein, hat er nicht,“ antwortete Will und packte ihren verschwitzten Schlafanzug schnell auf den Haufen, der über dem Wäschekorb thronte. „Ich hatte eigentlich gehofft, dass du mir das sagen könntest.“ Irma verdrehte die Augen. „Ist das nicht entzückend? Sie fragt mich, ob ich was weiß! Was für ein Freudenfest! Dann sag’ ich’s dir am besten gleich auf die direkte Tour: ganz – bestimmt – nicht - hier!“ „Bist du dir sicher?“ hakte Will nach. „Ja, ich bin mir sicher!“ gab Irma genervt zurück. „Nach über einer halben Stunde hier drin kann ich mir tatsächlich sicher sein.“ „Aber Chris sagt, er hätte das Bad mit der Baseballmütze betreten und später ohne sie wieder verlassen. Also muss sie hier sein!“ „Quod erat demonstrandum!“ entgegnete Irma zynisch (dt. „Was zu beweisen war“). „Und nun, da wir das geklärt haben – mach dich vom Acker!“ „Ich deute nur an -“ „-dass ich eine große, böse Schwester bin, die ihren kleinen Bruder aus reinem Spaß an der Freude quält, klar!“ Irmas Stimme wurde lauter und erboster als sie es Will gegenüber je geworden war. „Noch so ein Ergebnis deiner überragenden Vorstellungskraft!“ „Ich deute nur an, dass du sie vielleicht übersehen hast!“ erwiderte Will, bereits auf halbem Wege zur Verzweiflung. „Sie ist weiß und orange mit einem blaugrünen Schirm.“ „Überraschung! Ich hab hier weder eine weiß-orange noch eine gelb-grüne oder eine lila-grüne gesehen, stell dir vor!“ „Das ist kein Grund, mich anzuschreien! Ich versuche nur, zu helfen!“ Mit einem Satz war Irma auf den Beinen. Erst in dieser Haltung erkannte Will richtig, wie muskulös sie eigentlich war, und obwohl sie immer noch wundervoll weiblich wirkte, überkam Will plötzlich die Vorstellung, wie ihr ein Schnurrbart unter der Nase wuchs. „Am meisten hilfst du uns allen, wenn du einfach raus gehst!“ donnerte Irma. „Falls du’s noch nicht gemerkt hast, ich habe heute Morgen verdammt schlechte Laune!“ Und damit knallte sie ihre Faust gegen das Duschglas. Ein leichtes Zittern durchlief die gesamte Duschkabine bis zu ihrem obersten Rand, die gespannte Atmosphäre zwischen den Mädchen quasi noch unterstreichend. Doch dann schwang das Wummern jäh um, und ein kurzes Schleifen trat an seine Stelle, das schließlich in einem satten Plantschen endete. Zwei Köpfe fuhren gleichzeitig herum und schauten voller Sorge ins Duschbecken. Irma kam nicht mal dazu, vor Schreck zu keuchen, da Will bereits im nächsten Augenblick die unausweichliche Frage stellte: „Wie zum Teufel ist die da hinauf gekommen?“ Es dauerte eine Weile, bis Irmas Körper genügend Farbe in ihre Wangen gepumpt hatte - dann aber wurden sie feuerrot. „K-kann sein, dass ich sie vorhin… so ganz aus Versehen… dort oben… drauf-gelegt-habe.“ Trotz des plötzlichen Schocks musste Will lächeln. Dafür, dass sie eben noch so herrisch und streng gewesen war, erschien ihre temperamentvolle Freundin jetzt herzzerreißend kleinlaut. Sie beugte sich hinab und fischte die triefende Baseballmütze aus ihrem nassen Grab. „Das ist nicht weiter schlimm!“ meinte sie nach einer kurzen Begutachtung. „Wenn du deine Kräfte benutzt, dürfte sie im Handumdrehen wieder trocken sein!“ Sie hielt Irma das nasse Objekt unter die Nase, die zunächst noch zögerte, es dann aber mit abgespreizten Fingerkuppen entgegennahm, während sie ihre andere Hand schützend darunter hielt, um das Tropfwasser aufzufangen. Dabei glitten ihre Augen immer wieder zu Will zurück, die weiterhin schüchtern lächelte. Will spürte, wie die frischgebackene Distanz zwischen ihnen wieder zerbröselte, Blick um Blick, Zwinkern um Zwinkern, und wie sich stattdessen ein neues Band der Dankbarkeit und des Verzeihens entrollte. Vielleicht wäre in jenem Augenblick alles anders geworden… hätte nicht ohne Vorwarnung Chris die Tür aufgerissen und die tropfnasse Baseballmütze in Irmas Hand zu sehen bekommen. Bei dieser Gelegenheit fiel Irma ein, dass sie Chris, obwohl er doch ihr Bruder war, niemals aufrichtig wütend oder traurig erlebt hatte. Er hatte vielleicht manches Mal den Bogen der normalen Geschwisterrivalitäten überspannt, und er trug den Spitznamen ‚Monster’ gewiss nicht unverdient, aber da Irma ihre Große-Schwester-Rolle (von ihr selbst ‚Löwenbändigen’ genannt) ziemlich ernst nahm und sich immer wieder mit ihm versöhnte, war es bisher nie zu einem langfristigen Streit zwischen ihnen gekommen. Um ehrlich zu sein, wollte sie so etwas bei einem hyperaktiven Nervenbündel wie Chris auch gar nicht riskieren. Aber wie man so schön sagt: es gibt für alles ein erstes Mal. Als Chris seine Baseballmütze in diesem Zustand sah, so schlapp und nass an Irmas Fingern hängend, verzerrte sich sein Gesicht zu einer grauenhaften Fratze, in der Traurigkeit und aufrechtes Entsetzen ein sagenhaftes Duett eingingen. Im nächsten Augenblick schon verfiel er in ein bedauernswertes Jammern, vermischt mit gemurmelten Flüchen und Tränen, die er gar nicht erst zu verdecken suchte. Währenddessen sauste er auf seine Kappe zu, entriss sie Irmas Griff und bettete sie in seinen Händen, wie andere einen toten Vogel. Doch urplötzlich - und gleichzeitig ganz allmählich - gingen seine leisen Flüche in lautes, verstocktes Geplärre über. Laut die Nase hochziehend beschimpfte er seine Schwester als ‚elende Schlampe’, als ‚dummes Hurenkind’ und mit anderen Ausdrücken, die ihm in Gegenwart seiner Mutter niemals über die Lippen gekommen wären. Hatte er noch einen Sekundenbruchteil vorher die Mütze gehalten, so hieb er im nächsten mit der Faust auf Irmas Unterarm ein, einzeln und mit brutaler Gewalt, so gut es ihm seine kurzen Arme erlaubten. Will versuchte, ihre Freundin aus der Gefahrenzone zu schieben, doch auch sie galt nun als Verräterin und musste Schläge einstecken. Wie ein mittelalterlicher Morgenstern klatschte die Schirmkante auf ihre nackten Oberschenkel nieder und hinterließ ein lang anhaltendes Brennen darauf. Er hämmerte so brutal auf Will ein, dass sie nach hinten austrat, gegen die Wanne stieß und rücklings hineinfiel. In ihrer Angst zog sie Irma mit sich, was jedoch nicht verhindern konnte, dass ihre Wirbel mit voller Kraft auf das Porzellan krachten. Ein scharfer Schmerz jagte durch Wills Rücken. Beinahe war ihr, als würde sie das Bewusstsein verlieren, denn alles um sie herum begann zu verschwimmen. Sie hörte nur noch eine Tür, die zugeschleudert wurde, und einen Schlüssel, der sich im Schloss drehte. Will schoss das Blut literweise in den Kopf, als sie registrierte, was passiert war. Sie war mit Irma alleine… Die Schmerzen ihres unfreiwilligen Sturzes jagten noch immer durch die Knochen der beiden Mädchen, obwohl Irma – gut gepolstert unter zwei Schichten Badefrottee – sicher nicht halb so starke Schmerzen hatte wie Will, die auf das blanke Hinterteil gefallen war. Als sie probeweise das Rückgrat durchstreckte, wurde das nur allzu deutlich. Ein gequälter Schrei entfuhr ihren Lippen, und die Handgelenke, mit denen sie sich abgestützt hatte, knickten um wie Streichhölzer „Will!“ fragte Irma erschrocken. „Tut es… sehr weh?“ „Ja,“ erwiderte ihre Freundin gekränkt und schniefte. Irma bemerkte dünne Tränen in ihren Augenwinkeln, und eine Welle von Mitleid erfüllte sie, was sie nach Zorn und Gewalt der letzten Minuten wahrhaftig begrüßte. Nie wieder, so schwor sie sich, würde sie Will derart anschreien. „Lass dir Zeit,“ sagte sie laut. „Wir versuchen’s noch einmal, wenn die Schmerzen etwas abgeklungen sind.“ „O-okay,“ antwortete ihre Freundin und zog die dünnen Arme um ihre Knie, die über den Rand der Wanne hinwegragten. Währenddessen versuchte Irma, das Brennen auf ihrem rechten Oberschenkel durch Reiben abzumildern. Sie überlegte angestrengt, auf welche Weise sie Will sonst noch trösten konnte, aber alles, was ihr einfiel, hatte in irgendeiner Art mit ‚Anfassen’ zu tun. Sie getraute sich nicht einmal, ihr einen nassen Waschlappen anzubieten – so sehr fürchtete sie sich allein vor dem Anblick von Wills Körper. „G-geht es schon wieder?“ fragte sie nach einer Weile, bemerkte aber gleichzeitig, dass ihre Freundin wirklich angefangen hatte zu weinen. „Was ist denn?“ „Nichts!“ antwortete Will schniefend. „Ich hatte mir das nur ganz anders vorgestellt – das ist alles!“ „Was denn?“ „Na - das alles hier,“ rief Will aufgebracht. „Ich bin hergekommen, um mich mit dir zu versöhnen… und schau, was am Ende dabei herausgekommen ist. So viel zu meinen angeblichen Führungsqualitäten!“ „Aber das war doch nicht deine Schuld,“ versicherte Irma hastig. „Doch, das war es!“ entgegnete Will verärgert. „Wenn ich dich gestern Abend bei deiner Rückkehr nicht so heruntergemacht hätte, wärst du heute nicht so sauer gewesen und wir hätten gemeinsam nach der Mütze suchen können! Dann hätte Chris uns nicht geprügelt und alle wären glücklich!“ Irma lachte trocken. „Schon vergessen, Will? Du warst es, die wegen mir sauer war, ich hatte überhaupt keinen Grund, mich zu beschweren. Du warst im Recht, ich im Unrecht, das haben wir doch akzeptiert! Und jetzt komm!“ Mit diesen Worten streckte sie die Kniekehlen nach vorne und rutschte auf ihrem Hintern das Porzellan hinauf, bis ihre Füße schließlich die Fußmatte vor der Wanne berührten. Dann drehte sie sich um und reichte Will ihre Hand entgegen. Doch diese griff ganz bewusst nicht zu, sondern ließ weiter die Tränen über ihr blasses Gesicht laufen. „Nun mach schon!“ In Irmas Stimme deutete sich vage Verzweiflung an. „Oder willst du den ganzen Tag da drin sitzen?“ „Ich stehe erst auf, wenn du mir gesagt hast, was mit dir los ist!“ erklärte Will laut und deutlich. „Eher gehe ich hier nicht weg!“ Irma wich leicht zurück. Unsicherheit und Angst breiteten sich auf ihrem Gesicht aus. „Können wir das nicht nachher besprechen? Ich muss mir immer noch die Zähne putzen und die Locken eindrehen-“ Aber so leicht wurde sie eine Will Vandom nicht los. In Irmas ganzen Bekanntenkreis gab es keinen Sturkopf, der es mit ihr aufnehmen konnte. „Warum warst du gestern Abend auf einmal weg? Und wo warst du? Ich denke, ich habe wirklich ein Recht darauf, das zu erfahren, oder? Wenn du mir schon das Hemd aufgeknüpft hast…“ „Will…“ Irmas Stimme zitterte. Sie war mittlerweile käsebleich geworden. „… Da gibt es echt nichts-“ „Lüg mich nicht an!“ fauchte Will, wischte sich betont flüchtig die Nase frei und fuhr fort: „Es ist mir echt egal, was für eine Antwort du mir gibst, aber lass sie wahr sein! Wenn du mich anlügst, dann passieren nur noch mehr Katastrophen wie diese hier. Wenn es mit einer Wette oder irgendeinem Spiel zu tun hat - okay, damit könnte ich leben! Meinetwegen kannst du es auch nur gemacht haben, um mich vom Nachhilfestoff abzulenken. Das wäre zwar nach allem, was ich weiß, eine handfeste Lüge, aber wenn es das ist, was dir so zusetzt, dann glaub ich dir! Sag es mir nur endlich und friss es, gottverdammt noch mal, nicht in dich hinein!“ Auf diese lange und eindeutige Anklage konnte Irma keine Antwort geben. Sie hatte sich in der Zwischenzeit immer weiter von Will fort geschoben und war unmerklich in Richtung Tür gerückt. Natürlich war ihr klar, dass diese noch verschlossen sein musste, dennoch machte sie einige verzweifelte Versuche, an der Klinke zu rütteln. Dieses vor allen Dingen war es, was Wills Aufmerksamkeit erregte. Mehr schlecht als recht - der Schmerz in ihrem Steißbein hatte noch nicht vollständig nachgelassen - rappelte sie sich auf und blieb wackligen Fußes mitten in der Badewanne stehen. Von dort aus beobachtete sie ihre Freundin, die stumm an der Tür rüttelte und sich dabei immer wieder mit einem bittenden Blick zu ihr umdrehte. Will wusste genau, worum sie bitten würde. Es lag zwar in ihrer Macht, die Dislokation anzuwenden, aber offensichtlich hatte sie Angst, es ohne Wills Erlaubnis zu probieren, da diese das Herz von Kandrakar trug. Tatsächlich dachte Will einen Moment darüber nach, ob sie die Befragung nicht lieber später fortsetzen sollte, aber dann sah sie wieder dieses Leuchten in Irmas Augen, und das Seufzen in ihrer Stimme, und sie entschied sich anders. Als nach einer Minute beharrlichen Schweigens immer noch keine Antwort kam, machte sie den letzten Zug, schwang das Bein über den Rand der Badewanne und trat auf die Matte. Ihre Miene war dabei gar nicht mehr so unfreundlich. „Also?“ fragte sie ihre weiterhin an der Türe klebende Freundin. Diese schwieg. „Ich weiß es doch schon fast,“ erklärte Will bedachtsam. „Du brauchst nur noch zu nicken, wenn ich richtig liege.“ Doch Irma nickte nicht. Tatsächlich ließ sie es im Moment an menschlichen Reaktionen mangeln, wenn man mal davon absah, dass ihre äußere Unruhe noch größer geworden war. Will schüttelte den Kopf. „Glaubst du etwa, mir ist es leicht gefallen, das einzugestehen? Ich habe auch an meinem Verstand gezweifelt! Dabei ist es gar nicht so schlimm.“ „Du verstehst das nicht!“ krächzte Irma schließlich. „Wenn ich es jetzt ausspreche, dann kommt alles wieder!“ „Aber warum wieder?“ beharrte Will. „Was hat dich denn dazu gebracht, es aufzugeben? Nur, weil ich gestern ein wenig abweisend war? Irma, du musst doch verstehen, dass ich-“ „Verdammt, Will, halt endlich die Klappe!“ „Hör mir doch wenigstens zu!“ „Nein, du hörst mir jetzt zu!“ donnerte Irma und kam damit der Stimme ihres Vaters näher als sie vielleicht beabsichtigte. „Ich weiß nicht, warum du dir das so gerne einbilden möchtest, aber ich bin nicht lesbisch, ist das klar! Ich bin mit Jungs ganz zufrieden, und wenn ich mir kurz einen Spaß mit dir gemacht habe, dann war das alles, was ich jemals in diese Richtung tun werde!“ Sie hielt kurz inne, um die Arme vor der Brust zu verschränken, dann sprach sie weiter, eher dem Handtuchhalter als Will zugewandt: „Also, wenn du es unbedingt hören willst: ja, du bist der Grund, weshalb ich sauer war! Als ich dich vorhin wecken wollte, habe ich gesehen, was du mit deiner Bettdecke angestellt hast! Es war ziemlich offensichtlich, dass das nicht Matt darstellen sollte!“ Sie scharrte verlegen mit dem großen Zeh über die Fliesen. „Da hab ich halt Angst bekommen und bin weg gerannt! Ich meine… ich wollte wirklich nicht, dass du in irgendetwas hineinsteigerst, nur weil ich dich mit meinem Verhalten in diese Richtung gestupst habe!“ Will blinzelte heftig, stellte jedoch mit großer Freude fest, dass sie nicht errötete. Das war zu ihrem Vorteil, denn das, was sie nun gestehen wollte, hatte sie noch nie irgendjemanden offenbart. „Du hast mich nicht gestupst. Möglicherweise bin ich ganz allein in diese Richtung gegangen!“ sagte sie leise. Sie kam etwas näher an Irma heran, und spürte mit jedem Schritt, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog und wieder entkrampfte. Zwar wurde sie gewahr, wie Irma sich immer stärker an die Tür presste in Erwartung einer aufziehenden Gefahr, doch selbst davon ließ sie sich nun nicht mehr verunsichern. „Weißt du, ich habe in letzter Zeit oft über dich nachgedacht,“ fuhr sie fort, „und festgestellt, dass ich mich vorher nie so richtig mit dir beschäftigt habe. Es gibt so viele Seiten an dir, die ich noch nicht kenne und die ich gerne kennen würde. Zuerst dachte ich, es käme mir nur darauf an, eine bessere Anführerin zu werden,… aber gestern… gestern ist mir klar geworden, dass ich dich beeindrucken wollte…“ Sie tat weiter Schritt um Schritt, bis ihre Füße knapp vor denen Irmas zum Stillstand kamen. Wäre sie noch ein paar Zentimeter näher dran gewesen, hätte Irmas auf- und niedergehender Brustkorb vielleicht den ihren gestreift. Auch ihre Augen versagten nicht in ihrer Ausdruckskraft - sie glänzten noch von Wills ersten Tränen. Sie sprach weiter: „Vorhin… im Bett… habe ich versucht, mir vorzustellen, wie es hätte sein können, wenn wir gestern weiter gemacht hätten.“ Sie bewegte ihre Hand auf Irmas Wange zu – dem einzigen Fleck Haut an ihrem Körper, der nicht von Haar, Handtuch oder Bademantel verdeckt war - und flüsterte zärtlich: „Du hattest Recht - es hätte mir gefallen!“ Irgendwie hatten diese Worte nicht den Effekt, den Will sich so farbenfroh ausgemalt hatte. Irmas Augen, anstatt sich staunend zu weiten, wurden schmal und ihr Blick unglücklich. Ihr Mund krümmte sich leicht nach unten, und ihr Körper rutschte am Türblatt herab. Will bekam sie zwar noch an der Hüfte zu fassen, wurde aber gleich darauf energisch abgeschüttelt, so dass Irma rettungslos nach hinten kippte - in die auf einmal leere Türöffnung. Sie stürzte zu Boden und blieb mit dem Gesicht nach oben auf der Schwelle liegen. Ihr starrer Blick war zur Decke gerichtet, wanderte dann aber langsam zu dem Geschöpf, das die Türe im genau richtigen Augenblick geöffnet hatte: ihre Mutter. „Was soll denn das nun schon wieder, Irma?“ fragte diese über den Rand ihres Wäschekorbs geneigt. Ihre Tochter schenkte ihr ein sehr gezwungenes Grinsen. „’Theatralisch sterben für Fortgeschrittene’?!“ „Spar dir die Witze, junges Fräulein!“ erwiderte Mrs. Lair ziemlich böse. „Such Will sofort einen frischen Bademantel heraus und komm dann runter in die Küche! Es wird Zeit, dass wir mal reden!“ Irmas kurzer Anflug von Freude ging schnell wieder vorüber. Sie nickte hastig, stand auf und schnappte sich ihre Anziehsachen vom Wäschestapel. Dann warf sie Will im Vorbeigehen einen kurzen, rosa Bademantel zu und stürmte - nein, rutschte fast - auf den Flur hinaus und ins Erdgeschoss. Eine Flucht in weniger als fünf Sekunden. Mrs. Lair und Will tauschten einen langen, besorgten und enttäuschten Blick, dann seufzten sie im Chor. Kapitel 14: Zwischen Schmerz und Freude --------------------------------------- Schon kurze Zeit später stand Irma, in ein flatteriges Unterhemd gekleidet, unten in der Küche gegen die Spüle gelehnt, und starrte mit missmutiger Miene, durch einen unsauberen Vorhang klammer, nasser Haare zum Gartenfenster hinaus. Es bot einen guten Ausblick auf die Wäscheleine, an der eine nasse Baseballmütze baumelte - so seelenruhig, als wolle sie Irma eine lange Nase zeigen. Das Wetter draußen versprach wunderschön zu werden. Mit dem ersten klaren Morgenlicht kamen auch die Schmetterlinge wieder zum Vorschein, und die Bienen, und die Libellen, die sonst am Gartenteich des Nachbarn saßen und nun in Anna Lairs Garten kamen, um ihr Frühstück zu sich zu nehmen. Irgendwo konnte man Vögel singen hören. Ab und zu hüpfte eine Amsel über den Rasen und pickte in den Boden - manchmal gezielt, manchmal unentschlossen, als suche sie irgendetwas Winzigkleines, von dem sie selbst nicht wusste, wie es aussah. Irma konnte sich nur zu gut in sie hineinversetzen. Mitten aus diesem krümeligen, braunen Etwas, das sich Humus nannte, musste man etwas Kleines, Wertvolles und extrem Seltenes herauspicken, und viel zu oft war es so, dass sich die Beute im Schnabel als ungenießbar entpuppte. Und wenn man doch mal das Richtige fand, konnte man es nicht für sich selber behalten, sondern musste es zu seinen Küken bringen, damit die davon satt wurden. Niemand konnte sagen, sie hätte sich keine Mühe gegeben. Nein, wirklich, sie hatte sich bemüht. Aber es hatte nun einmal nicht gereicht. Am Ende war auch Irma klar geworden, dass sie für solche halbherzigen Aktionen wie diese nicht das richtige Temperament hatte. Oder genug Entschlossenheit. Oder Grips. Wie sollte sie nur eines Tages auf eigenen Füßen stehen können, wenn alles, was sie anpackte, schief lief? Sollte sie dann wie eine Gefangene in den Wänden ihres Hauses hocken? Sollte sie von der Hand in den Mund leben und alle Entscheidungen jemand anders überlassen, weil sie selbst zu blöde dafür war? Sie konnte ja doch nichts an ihrer Situation ändern… Während Irma zum Küchenschrank ging und sich in ihrem Heißhunger ein Glas Schokoladenaufstrich herausnahm, fragte sie sich immer wieder, wie zum Teufel sie die Sache jetzt noch gerade biegen sollte. Jetzt, wo sich andeutete, dass Will, ganz ihrem ursprünglichen Plan entsprechend, tatsächlich in sie verliebt war. ‚Vielleicht könnte ich ihr sagen, dass ich mich… Nein, nein, keine gute Idee. Das glaubt die mir nie! Wo sollte ich mir denn Aids geholt haben? Bei Martin?’ Irma schauderte bei dem Gedanken. Vielleicht ging es ihr gar nicht so schlecht, wenn sie schon wieder in der Lage war, solchen Schwachsinn zu fabrizieren. Und dann kamen auf einmal die Stimmen zurück. Jene Stimmen, die sie inzwischen so gut kannte, und die eigentlich nur Variationen ihrer eigenen darstellten. ‚Nimm ihr Angebot doch an! Was ist schon dabei?’ ‚Ich hab’s versprochen, hörst du? Ich hab’s versprochen!’ ‚Aber sie will es! Egal, was du sagst, sie wird damit einverstanden sein.’ ‚Halt’s Maul!’ ‚Überleg doch! Du willst ihre Nippel – sie zeigt sie dir! Du willst sie befummeln – sie lässt es geschehen!’ ‚Halt – die - Klappe!’ ‚Du kannst nicht ewig vor ihr weglaufen. Egal, was du sonst versuchst, es wird scheitern!’ ‚Nein! Nein!’ ‚Sei doch ehrlich… ehrlich… ehrlich…’ „Oh Mann, das ist so was von krank!“ „Was ist krank?“ Irma schreckte hoch und zerschlug dabei fast das Schokoladenglas, beruhigte sich jedoch wieder, als sie ihre Mutter vor sich sitzen sah. Nur ihre Mutter - nichts, worüber man sich Sorgen musste! Es war ihre liebe Mama… ihre Erstversorgungsinstanz… …Und wenn schon! Änderte das etwas an ihrer Situation? Nein! Pi-pa gar nichts! „Irma… sind deine Augen voll funktionsfähig?“ „Ja, ja,“ murmelte diese unwirsch. „Dann bitte ich dich, mich anzusehen!“ Widerwillig hob Irma ihren Blick, so dass er etwa auf der Höhe von Anna Lairs Rockzipfel lag. Es war kein guter Fluchtpunkt, denn ihre Mutter ging ohne Weiteres in die Knie und schaute Irma offen ins Gesicht. Ihre Augen, denen ihrer Stieftochter so ähnlich, obwohl sie nicht die Gleichen waren, strahlten Besorgnis und Kummer aus. „Und jetzt sag mir endlich, was mit dir los ist,“ sagte sie, „auch auf die Gefahr hin, dass ich es mal wieder nicht verstehe!“ „Wieso tut ihr eigentlich alle so, als würde ich Swaheli sprechen? grummelte Irma. „Ich hab doch jetzt oft genug gesagt, dass nichts ist!“. Anna Lair nickte spöttisch. „Ja, das merke ich. Du bist mürrisch, aggressiv, ungerecht, und nach dem, was ich gehört habe, hast du Christopher auch schon zur Weißglut getrieben… und das alles, während deine beste Freundin zu Gast ist. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin im Moment sehr enttäuscht von dir… am Meisten darüber, dass du gerade das mir gegenüber nicht tust!“ Auf einmal war Irma, als würde es ihr in den Ohren klingeln. Was sollte denn das werden? Ein Angriffspiel von hinten? „Ach so,“ begann sie zuckersüß. „Du willst also auch nur die Wahrheit, hä? Die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit! Ist echt schön, dass ihr alle so verdammt ehrlich seid!“ „Was soll das heißen?“ „Dass ich jedes Mal, wenn ich ehrlich bin, eins auf den Deckel kriege, zum Beispiel! ‚Da, Herr Horseberg, ich versteh’das nicht!’ – Tadel! ‚Madame Gounoud, ich hatte keine Zeit zum Lernen!’ – Tadel! ‚Frau Warton, mir ist da echt nichts eingefallen; ich hab mich bemüht, aber es kam nichts, ich kann doch nichts dafür, oh bitte bitte, Frau Warton, tun Sie das nicht, ich brauch doch nur noch ein, zwei Tage, bitte, bitte!’“ Irma machte eine kurze Pause, um Puste zu holen. Sie war selbst erstaunt, wie flüssig die Worte aus ihrem Mund gesprudelt kamen. War sie jetzt womöglich drauf und dran, wahnsinnig zu werden? „Unglaublich, oder?“ fuhr sie fort, als ihre Mutter nichts erwiderte. „Komisch, was die Leute dauernd von einem wollen, nur damit sie selber ein gutes Gefühl haben! Auf die Idee, dass man selber auch Gefühle hat, kommen sie gar nicht mehr! Man muss ihnen sagen, dass dieser Mensch dort besser ist als dieser, und dass der da wirklich blöde sein muss, weil er dies und das getan hat – und hallo, der dort ist ja ganz bescheuert, der trägt ja schwarz in schwarz! Und dann-,“ ein Schluchzer stieg in ihrer Kehle hoch, und ihre großen Augen fingen an zu brennen „- dann meint meine beste Freundin auch noch, sie müsse sich in mich verlieben. Verlieben! Kannst du dir das vorstellen? Ich hab versucht, ihr klar zu machen, dass das nicht funktionieren kann, aber glaubst du, die hat mir zugehört?“ Inzwischen vermochte Irma gar nicht mehr, den Kopf zu heben und ihre Mutter anzuschauen. Irgendetwas in ihrem Brustkorb hatte sich so stark zusammengezogen, dass sie ihn nicht mehr zurückbeugen konnte, ohne gewaltige Schmerzen zu haben. „Ich hab sie geküsst, Mom,“ flüsterte sie plötzlich. „Ich hab sie echt geküsst! Auf den Mund. Auf die Haut. Auf die Brust. Gestern Nacht. Ganz fest. So fest wie möglich. Ich war so heiß auf sie, ich konnte fast nicht mehr. Und… und…“ Irmas Bauchschmerzen erreichten einen vorläufigen Höhepunkt. Wieso erzählte sie das alles? Welcher grausame Puppenspieler bediente da gerade ihren Mund? Sie wollte, konnte es nicht sagen… und dennoch drängte alles in ihr danach, es endlich raus zu lassen. Plötzlich spürte sie mit der Intensität eines feinen Stromstoßes, dass ihre Mutter ihr eine Hand aufs Haar gelegt hatte und im Begriff war, sie zu kraulen wie damals, als sie ein kleines Kind gewesen war. Es war eigentlich unangebracht, solche Streicheleinheiten mit sechzehn Jahren noch immer über sich ergehen zu lassen, aber Irma kümmerten solche Konventionen im Moment herzlich wenig - sie drückte ihren Kopf auf die Beine ihrer Mutter und verkrallte sich in ihrem Rock. Und zur gleichen Zeit, als ihr Herz sich öffnete, ließ es auch einen dicken, schmerzhaften Pflock frei, der bereits seit Monaten da unten fest gesessen hatte. Wie ein Rülpser stieg er in ihrem Brustkorb auf und machte sich Luft in vier kurzen Worten: „Mum… ich bin schwul…“ Da… es war raus! Wo also blieben die fassungslosen Schreie und schockierten Gesichter? Irma selbst rechnete ja irgendwie mit den Posaunen der Apokalypse, aber das war bestimmt zu teuer für einen einzelnen Menschen. Und da sie kein Christ war, brauchte es sie so oder so nicht zu kümmern. Im Moment fürchtete sie weniger die Verdammnis der Hölle als das Verhalten der lebendigen Menschen. Sie spürte Anna Lairs Finger in ihrem Haar, genauso wie vorher, und meinte dennoch eine leichte Veränderung bemerkt zu haben – ein allgegenwärtiges Zögern, ein inneres Ringen zwischen Erstaunen, Angst und gutem Willen. Trotz dieser vielen kleinen Störfaktoren stupsten die Hände ihrer Mutter sie unbeirrt in eine aufrechte Position, und schafften es sogar, die Tochter, die auf Frauenbrüste stand, an ebendiese zu drücken. Fast hätte man meinen können, alles wäre wie immer. Fast… „Wieso hast du mir das denn nicht früher gesagt?“ fragte Anna Lair schließlich. Irma schniefte bedrohlich. „Du stellst Fragen! ‚Hallo, Mom, schön, dich zu treffen. Nebenbei: ich bin schwul, bin’s schon seit Monaten, aber das macht dir doch nichts aus, oder? Hab mich nur in meine beste Freundin verliebt und möchte sie dazu bringen, ihrem bisherigen Leben ‚Bye, bye’ zu sagen und mit mir nach Deutschland durchzubrennen. Muss sie nur noch ihrem Freund ausspannen, dann kann’s gleich losgehen! Ach ja, und warte nicht mit dem Essen auf mich, ich bin spätestens in zehn Tagen wieder da, weil ich’s mir wieder mal anders überlegt habe, wie üblich!’“ Sie saugte tief Luft ein, bevor sie weiter aufbrauste: „Das ist mein Problem, so ganz grob ausgedrückt! Kannst du mich jetzt bitte in Frieden rauswerfen?“ „Langsam, langsam…!“ bat Irmas Mutter und begann, wie es sich in solchen Fällen gehörte, das Ganze von hinten nach vorne aufzuarbeiten. Ihre Stirn erglühte dazu in sattem Rot. „Wie kommst du denn überhaupt auf den Gedanken, dass ich dich rauswerfe?“ war daher ihre erste Frage Irma schniefte wieder, enttäuscht darüber, dass sie noch immer nicht richtig losheulen konnte. „Weiß nicht!“ brummte sie. „Manche Mütter tun das, wenn ihre Töchter nicht mehr präsentabel sind.“ „Manche Mütter vielleicht,“ antwortete Anna Lair bestimmt, „aber die können sich kaum Mütter nennen, nicht wahr? Und außerdem,“ fügte sie aufmunternd hinzu, „eine Vorzeigetochter warst du noch nie!“ „Na ja, weißt du denn, wie du damit umgehen sollst?“ fragte Irma. Das Lächeln schwand von Anna Lairs Gesicht. Sie fuhr fort, Irma hinter den Ohren zu kraulen und starrte nun ebenfalls zum Fenster hinaus auf die im hypnotischen Takt pendelnde Baseballmütze. „Nein!“ murmelte sie. „Nicht wirklich. Eigentlich überhaupt nicht. Ich könnte dich natürlich auf die Straße setzen, wenn du das willst, aber ich habe Angst, dass deine neue Unterhose nass wird.“ Irma schnaubte abfällig, und selbst ihre Mutter musste zugeben, dass das ein ziemlich fauler Witz war. Sie überlegte weiter, ging offenbar dieselben Dinge noch einmal durch, die auch Irma bedacht hatte, allerdings mit noch viel tiefer gerunzelter Stirn. Das Mädchen konnte sich vorstellen, dass dies mehr war als alles war, was sie sich jemals von ihrem Mutterdasein erträumt hatte. Bestimmt war sie in der gleichen verbissenen Lage… und zweifellos hatte sie Angst, daran zu scheitern. Zu ihrer eigenen Beruhigung – und der Zuneigung wegen – ergriff sie die auf ihrem Rücken liegende Hand und streichelte sie so lange, bis ihre Mutter mit Hängen und Würgen ein Urteil ankündigte: „Irma, es ist ganz bestimmt nicht das, was du dir unter mütterlicher Weisheit vorstellst, aber ich fürchte, du musst noch einmal mit Will reden. Und diesmal darfst du sie nicht so mir nichts, dir nichts abspeisen. Es ist ihre Entscheidung, wie weit das Ganze gehen kann, und es ist [style type=“italic“]deine[/style] Entscheidung, wie weit du gehen möchtest! Und das heißt, dass nur ihr beide zusammen eine Lösung finden werdet. ... Was danach kommt… na ja, das sehen wird dann später.“ Sie fasste ihre Tochter genau ins Auge. „Damit du es weißt - es wird gar nicht so einfach werden, das deinem Vater beizubringen, von Chris mal ganz zu schweigen!“ Irma nickte. Das hatte sie von Anfang an gewusst. Es war kaum vorstellbar, was Chris oder ein anderer Junge seines Alters zu einer Schwester dachte, die mit Frauen knutschte. Aber das war auch gar nicht das Wesentliche… „Was ist mit Tante Dorothy?“ fragte Irma plötzlich, „Und Onkel Francis? Und Cousin Mark? Und Großmama? Was willst du denen sagen?“ Das war nämlich der springende Punkt: die Welt bestand nicht nur aus Freunden und Bekannten, die über jeden Fehler hinwegsahen und sich damit abfanden. Es gab Leute, die es geradezu als persönliche Beleidigung empfanden, wenn jemand auch nur etwas neben der Spur lief. Und es war schwer zu glauben, dass Irmas sympathische, durch und durch spießige Sippschaft aus großen, kleiderschrankbreiten Fußballfans und Volksmusik hörenden Hausfrauen da eine Ausnahme machte. Nicht einmal Anna Lair schien sich da ganz sicher zu sein. Sie setzte zögernd an… und hatte auf einmal eine so wunderbare Idee, dass ihr Mund sich automatisch zu einem Grinsen verbreiterte. „Wenn sie sich nicht damit abfinden können,“ verkündete sie, „werden sie eben für den Rest ihres Lebens auf meinen berühmten Zucchini-Auflauf verzichten müssen!“ … Langsam erhob sich Irma aus der Umarmung und starrte ihre Mutter unter heftigem Blinzeln an. „Zucchini-Auflauf?“ fragte sie schrill. „Zucchini-Auflauf!“ kam die Antwort prompt. Irmas Verhalten änderte sich von einem Moment auf den anderen grundlegend. Ihre müden, schlappen Bewegungen wurden lebhaft und aufgeregt, ihre Lippen zitterten und ihre Augen leuchteten stark. Schnell pflanzte sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn und ging mit hastigen Schritten die Treppe ins obere Stockwerk hinauf. Dort angekommen, lehnte sie sich gegen die Wand, legte die Hand vor ihren Mund… und verfiel in einen tränenreichen, durch Mark und Bein gehenden Lachkrampf: „… Z-z-zuchini-Auflauf…“ Währenddessen rückte die Küchenuhr tickend auf halb acht. Ein Sprichwort sagte zwar schon, dass gute Laune ansteckend war, doch Irma hatte nie daran gedacht, dass das auch für etwas anderes als Parties gelten konnte. Und nun war sie hier, schlenderte beschwingt zum Badezimmer und malte sich bereits aus, wie Will sie wohl empfangen würde. Das Bild, wie sie ihre Lippen ganz langsam mit der Zunge befeuchtete, war derzeit ihr größter Favorit. Eine nackte Will, die sich mit dem Handtuch umschlang, kam gleich dahinter. Und eine Will, die sie mit albernem Schmollmund und auffordernder Geste in die Dusche lockte, schien sogar schon zu viel des Guten zu sein. Die Realität hingegen war, wie sie gleich feststellen musste, eine angezogene Will, die sich ziemlich geräuschvoll die Zähne putzte und gerade den Schaum ins Becken spuckte, als sie Irma bemerkte. „Oh… äh… hi!“, sagte sie unbeholfen. Es schien nicht so, als ob sie mit ihrer Rückkehr gerechnet hatte. Ein dicker Klecks Zahnpasta rann ihr übers Kinn und tropfte genau vor die Füße. „Ja… hi!“ murmelte Irma zurück und warf dieser kleinen Mischung aus Fluoriden, chemische Zusatzstoffen und Zucker einen abweisenden Blick zu. Soviel also zum Thema ‚Knisternde Erotik’! „Ich wäre dann fertig,“ antwortete Will, nachdem sie den Mund ausgespült und abgewischt hatte. „Hast du was dagegen, wenn ich mich bei dir umziehe?“ „Nö, geh nur!“ sagte Irma unsicher. „Ich meine… während du dort bist?!“ „Ist recht!“ murmelte Irma zurück. Sollte es das etwa gewesen sein - ihre große Liebesgeschichte? Unmöglich gemacht von einer Portion Denta-Frisch? Zum Teufel noch mal, es war doch bloß Will! Nicht gerade die Unschuld in Person, aber ein unbeschriebenes Blatt, was richtigen Sex anging. Vielleicht gab es irgendwo ein paar Knitterfalten am Rand, aber das war es dann auch schon… vermutlich… ………………………………… …und wenn nun nicht? Dieser Gedanke kam Irma viel zu spät, setzte sich aber umso schneller fest und ließ sie nicht mehr los, bis Will an ihr vorüber ging. Ausgerechnet da geschah es: ihre dicken Lider klappten bis zum Anschlag auf, und ihr Kopf ruckte ungeduldig in Wills Richtung, als wolle sie etwas sagen. Will blieb erwartungsvoll stehen und verbog ihre Mundwinkel zu einer Art aufmunternden Lächeln… … was ihr jedoch gleich wieder verging, als ihre Freundin sich mit dem Gedanken ‚Besser jetzt als nie’ auf sie warf und sie gegen den Türrahmen presste. Noch bevor Will ganz erfasst hatte, was eigentlich vor sich ging, spürte sie plötzlich einen harten Widerstand, der den Saum ihres Bademantels tief in ihren Schoß drückte und ihn in schnellen, hämmernden Bewegungen auf und nieder schob, in einer Art und Weise, die Will mit nichts vergleichen konnte, was sie zuvor erlebt hatte. Mehrere Male versuchte sie, sich mit Beschwichtigungen Gehör zu verschaffen, doch wurden ihre Worte immer wieder von einem besonders starken Vorstoß in ihren Beckenbereich unterbrochen. Der Rest ihrer Laute verschwand irgendwo in den fieberartigen Schauern, die ihren Körper in den weniger heftigen Phasen dazwischen durchflossen und die bei aller Härte nicht immer unangenehm waren. Dies bedenkend, beruhigte sich Will ein wenig - zumindest soweit, dass ihre Gegenwehr an Kopflosigkeit verlor. Obwohl diese Behandlung meilenweit von dem entfernt war, was sie sich erträumt hatte, erkannte sie doch, dass keine böswillige Absicht dahinter steckte. In einem jener ruhigen Momente, in dem der Stoff des Bademantels ein kleines bisschen sachter über ihren Schambereich ging, nahm sie einen kurzen Atemzug und stieß Irma beim Ausatmen so weit von sich weg, wie es nur ging. Die Wächterin des Wassers stieß rückwärts gegen die gegenüberliegende Seite des Türrahmens, die Augen verwirrt blinzelnd, die Lippen fest ineinander verbissen, die rechte Wange rot vom Aufstützen auf Wills Brusthügel. Ein Moment intensiver Stille baute sich zwischen den beiden auf, in der sie nichts weiter taten als leise zu atmen und die Röte in ihrer beider Gesichter wegzublinzeln. Irma setzte zwar zu einer kurzen Entschuldigung an, doch Will unterbrach sie bereits: „Schon gut! Bei mir wäre es ähnlich geworden, wenn ich vorhin Gelegenheit dazu gehabt hätte!“ Sie schob sich schüchtern eine lockere Haarsträhne hinters Ohr. „Ganz bestimmt sogar!“ schloß sie als Zusatz daran an. Irma erwiderte zunächst nichts, folgte nur mit ihrer freien Hand dem Weg von Wills Haarsträhne. Eine Mischung aus Schlucken, Seufzen und Ächzen drang aus ihrer Kehle und formte nur notdürftig die Flüstertöne eines Satzes: „Ich hab ganz einfach die Nerven verloren!“ Sie schniefte verbittert, wohl bewusst, dass die folgenden Worte klingen würden wie aus dem Mund einer trächtigen Kröte, und vergrub ihr Gesicht in Wills klammem Haarvorhang. „Zum Teufel, ich weiß bestimmt am Besten von uns allen, wie man es machen sollte – aber grade dann, wenn ich es dir besorgen will, vergesse ich alles!“ Hilfe suchend krabbelten ihre Arme an Wills Seiten hoch und schoben sich unter ihren Achselhöhlen hindurch, um sich in einer Vergebung heischenden Umarmung auf ihrem Rücken zu verschränken. Irma wollte die ganze entsetzliche Kraft in Wills dürrem Körper um sich haben: ihre kräftigen Schultern, ihren breiten Brustkorb, ihren vom Wasser geformten Hintern – Irma wurde so schwach, wenn sie daran dachte … Doch nachdem sie den ersten Schrecken erst einmal überwunden hatte, erinnerte sie sich wieder des Versprechens ihrer Mutter gegenüber, und das brachte sie immerhin so weit, sich zusammen zu reißen und ihrer Freundin ins Gesicht zu sehen. Will fing ihren Blick auf. Er flatterte. „Du weißt wirklich, wie man es machen sollte?“ fragte sie leise. Irma nickte zögernd, die Augenbrauen fragend angehoben. Wie aus den Augen eines Fremden sah sie Wills Hand durch die Luft schweben und auf ihrem Hals landen. Lauwarme Feuchtigkeit glitt über ihre Haut und ließ sie bis ins Rückenmark erschauern. Eine sonderbar fremd klingende Stimme traf auf ihr Ohr und forderte wispernd: „Zeig es mir! Bitte!“ Eine weiche, weibliche Brust, zugedeckt von einem Bademantel, rieb sich an der ihren, voluminös und formbar unter dem Flatterhemd. Wills Augen waren halb zugeklappt, und ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen lüsterner Faszination und experimenteller Verspieltheit. Dann senkte sie ihren Mund auf den Irmas herab und gab ihr einen kurzen, feuchten, ein klein wenig saugenden Kuss, den sie langsam und gleichmäßig zurückzog, bis nur noch ihre Zungenspitze auf Irmas Unterlippe lag und sie zärtlich beleckte. Irma, obgleich verwundert, öffnete bereitwillig den Mund und schloss ihn um den sich windenden, dunkelroten Gaumenmuskel, sanft und vorsichtig daran knabbernd. Sie ließ Wills Zunge bis hinter ihre Zähne dringen und über ihr Zahnfleisch fahren, bevor ihre eigene Zunge eigenmächtig vorwärts schoß und unter die ihrer Partnerin drängte. Das zarte Reiben in Wills Schoß nahm nun wieder stetig zu, fühlte sich aber weniger hart und dafür intensiver an, vor allem, da Will seine angenehme Wirkung nun ganz ohne Angst genießen konnte. Die Fieberschauer von vorhin verwandelten sich in Wellen aus Genuß, und ihr ängstliches Keuchen ging fließend in ein leises Stöhnen über, hervorgepresst zwischen den Pausen eines hitzigen Zungenkusses. Irgendwann verließen Irmas Finger das grobe Wolltuch und strichen zärtlich über Wills Unterschenkel. Ihr Kuss setzte einen Augenblick lang aus, und zwei blaugrüne Sterne brannten sich in die Braunen ihrer Freundin. Will nickte zögernd, senkte den Blick, spreizte die Beine ein wenig und fasste Irma vorsichtshalber an der Schulter, um sie im äußersten Notfall wegstoßen oder wenigstens regulieren zu können. Eine ungewisse, lähmende Angst befiel sie. Sie hatte sich noch nicht einmal dort unten berührt, nicht einmal in ihren wildesten Träumen von Matt hatte sie jemals den Mut aufbringen können, den letzten Schleier zu lüften und sie beide vollkommen in nackt zu sehen. ‚Denk einfach an etwas anderes!’ befahl ihr Hirn. ‚Es wird dir schon nicht wehtun!’ Sie schloss die Augen und dachte an den Kuss, versuchte, allein an den Kuss zu denken und alles andere zu ignorieren. Sie wollte sich das nachfolgende Erlebnis auf keinen Fall durch Schmerz verderben lassen. Doch wenn sie wirklich Bescheid gewusst hätte, wäre ihr klar gewesen, dass das zu nichts führte. Sie fühlte trotz allem immer noch den scharfen Stich, als Irmas Fingerkuppe auf ihre Schamlippen traf, sie fühlte, wie unangenehm hart sich der Finger an ihrer Jungfernhaut vorbei schob, obwohl Irma dies bewusst etwas langsamer und vorsichtiger tat als gewöhnlich. Nichts hatte sie wirklich darauf vorbereitet – und nun tat es weh, höllisch weh sogar! Bevor Will jedoch zu einer flehenden Bitte ansetzen konnte, gebot ihr Irma mit einer raschen Geste gegen die Brust Einhalt. Entschlossen, ihrer Freundin endlich den ersehnten Genuß zu bieten, ließ sie ihre Zunge auf Wills Schlüsselbein tanzen und zog damit eine lange, feuchte Spur ihren Hals hinauf, bis diese sich wieder entspannt hatte. Es kitzelte ziemlich, und als Irma ihre Zunge in einem plötzlichen Vorstoß auf die Haut um ihren Kehlkopf drückte, fühlte es sich unerwartet heiß und prickelnd an… ähnlich einem Stupser in die Achselhöhle. Dies erkennend gab Will nickend ihr Einverständnis, und Irmas Finger begann sich wieder in ihrem Scheidenvorhof zu bewegen, bevor er sich vorsichtig wieder der Klitoris näherte. Es tat tatsächlich nicht allzu weh, wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte! Sogar das ständige Gefühl der Anspannung lockerte sich mit der Zeit und machte einer angenehmen Feuchtigkeit Platz. Ein warmes Prickeln, ein wohltuendes Drücken… mehr war es im Prinzip nicht, aber es fühlte sich so erfrischend an wie mancher langer Kuss oder eine heiße Dusche, und manchmal auch wie ein feiner Nadelstich, der Will einen spitzen Jauchzer entlockte. Immer wieder strich Irma auch über die feuchten Ränder ihrer Schamlippen und irgendwann, als Will begann, Gefallen daran zu finden, drückte sie die Jungfernhaut vollständig beiseite und ließ den Finger in Wills Ritze gleiten. Jede der beiden hatte Angst vor diesem speziellen Vorgang gehabt, und nun musste Irma sehen, wie ihre Freundin unter dieser Behandlung regelrecht aufblühte. Sie riss den Mund auf, machte die Beine noch ein bisschen breiter, legte ihre Arme um Irmas Oberkörper und begann sich in den sonderbaren Rhythmus zu fügen. Alle Bedenken fielen von ihr ab, und jegliche Gewissensbisse verschwanden, während sie in den Wellen aus Befriedigung und Hitze schwamm und in das Wesen der sexuellen Liebe eintauchte, auf und ab… immer wieder auf und ab… auf und ab… rein und raus… rein… und… raus. Doch ebenso plötzlich, wie es angefangen hatte, war es auch schon wieder vorbei. Eine letzte, unwesentlich heißere Welle brandete durch ihren Körper, da stellte Irma auf einmal die Reibung ein. Will öffnete die Augen, die sie eben noch in Ekstase geschlossen hatte, während sie gleichzeitig eine zarte, feuchte Berührung am hintersten Rand ihrer Schläfe wahrnahm. Irma hatte sie halb aufs Ohr geküsst. Sie wirkte nun um ein Vielfaches entspannter als vorhin. Ein glückseliges Lächeln umspielte ihre verträumt dreinblickenden Augen, und sie kuschelte ihre Nase tief in Wills Haar. „I-L-U!“ flüsterte sie leise. „Wie bitte? Was soll das heißen?“ fragte Will irritiert. Irma grinste. „Streng doch mal deine Phantasie an!“ Wills Groschen fiel in der Tat schnell. „Oh… du meinst… also…“ Sie wurde krebsrot. „Also, ich glaube… nun… so direkt…“ Irma nickte sinnlich und strich ihr noch einmal über die bloß liegenden Schenkel. „Wenn du das akzeptieren kannst…“ Will erwiderte das Streicheln verwirrt, doch noch schien sie ihre Bedenken gegen eine Antwort zu haben. Irma beschloss, ihr noch etwas Zeit zu geben, und sprach ein anderes Thema an. „Hast du diese Abkürzung dafür echt noch nie gehört? Auch nicht im Chat oder in einer von Matts Botschaften?“ „Nicht… nicht dass ich wüsste..“ Irma seufzte lächelnd. „Er hat wirklich einiges nachzuholen.“ Will nickte wissend. „Wir übrigens auch!“ Ein wacher, intensiver Blick aus blaugrünen Augen streifte sie überrascht, und Will lachte ihm auffordernd entgegen. Dann glitten ihre Hände hinunter zu Irmas Rückenpartie und schoben sie energisch in den Flur und darüber hinaus. Auf ihrem Weg meinte sie kurz, eine Gestalt angerempelt zu haben, aber als sie hinter sich (und um Christophers Willen auch noch mal unter sich) schaute, war dort niemand zu sehen. Es war auch unwichtig. Alles andere war jetzt unwichtig… Bereitwillig ließ sich Irma von Will in ihr Zimmer zurückführen, wo sie sich erst einmal in einer festen Umarmung aneinander schmiegten und die Augen schlossen, um ihre Lippen in quälender Langsamkeit und geringer Distanz voneinander zu öffnen. Zuerst rieb Will ihre Unterlippe nur mehrere Male sachte gegen die ihrer Freundin, dann drückte sie sie behutsam nach unten und berührte mit dem äußersten Ende ihrer Zungenspitze die empfindliche Innenseite des Mundes. Nicht lange, und sie umschloss Irmas Mund vollständig, saugte an ihm wie an einer Eistüte, und ließ sich schließlich auf ein weiteres unvergleichliches Zungenspiel ein, dass sie mehr und mehr gefangen nahm. Gierig schob Irma indessen ihre warmen Hände unter Wills Bademantel und legte sie auf ihre Brüste, derweil Will anfing, den um ihre Taille geschlungenen Gürtel zu entknoten. Schon bald glitt die grobe Wolle von Wills Schultern, und sie stand da in all ihrer schlanken, blasshäutigen, orangensüßen Herrlichkeit. Es kam Irma fast wie ein Traum vor, so schön sah sie aus… Träume und Gedanken von einst ging ihr durch den Kopf; Träume, die uralt zu sein schienen, obwohl sie in Wirklichkeit nur drei Wochen zurück reichten. Wie sie am Abend nach dem großen Marmeladenessen im Bett gelegen und an Will gedacht hatte… Wie sie versucht hatte, die obszönen Gedanken an sie auszublenden und sich stattdessen nur auf ihre verschmitzte Art des Modellstehens zu konzentrieren… Wie sie sich schließlich in einem fiebrigen Traum hin- und her geworfen hatte, in jeder Bettfalte Wills warmen Körper findend… Seit jenem Tag hatte sich viel verändert. Während Irma noch zögerte, hatte Will endlich die Initiative ergriffen, ihrer Freundin die Arme um den Hals gelegt und sie an sich gedrückt. Wiegend und tanzend bewegten sich die beiden durchs Zimmer, während Will sie auf Umwegen, aber doch unausweichlich in Richtung Bett bugsierte… Was danach geschah, würde sich bis in alle Ewigkeit in Irmas Gedächtnis brennen: während sie sich auf dem Bett ausstreckte und die Beine leicht anwinkelte, schwang sich Will breitbeinig auf ihren Bauch und platzierte ihre Unterseite dicht über Irmas Hüfte. Das in unstillbarem Verlangen versunkene Küssen begann von neuem. Ganz von ihrer gegenseitigen Neugier geleitet, machten sie diesmal auch an den Grenzen des Kopfes nicht halt. Will setzte ihren Mund überall auf, wo es ihr passend erschien: in den Falten von Irmas Hals, auf ihren Schultern und im Knochendreieck ihres Schlüsselbeins. Dabei streifte ihr Kinn bereits jene Region, nach der es sie am Heißesten verlangte, und die sie sich gleich als Nächstes vornahm. Sie legte prüfend die Hand darauf, fühlte die unaussprechliche Masse zwischen ihren Fingern… es war so viel, mehr, als sie je bekommen würde… so viel… Und dann geschah, was Will niemals für möglich gehalten hatte: sie senkte den Kopf über Irmas Brustwarze und küsste sie zaghaft. Irma lächelte leicht, und auch Will genoß es. Sie hob den Kopf ein wenig und berührte den Nippel mit der Zungenspitze. Irmas Lächeln wurde breiter. Sie leckte langsam über die Ansätze einer Milchzitze… und Irma stieß einen zarten Schrei der Begeisterung aus. Ein Schrei, der jäh vom Schlagen einer Hand auf ihren Wecker unterbrochen wurde. Das blöde Ding klingelte los, als wäre der Teufel persönlich hinter seiner schwarzen Erweckerseele her. Will und Irma fuhren hoch, als wäre das Gleiche auch bei ihnen der Fall. Sie schauten sich panisch um, sogar unters Bett blickten sie, doch es war niemand zu finden, der den Alarm ausgelöst haben könnte. Und da wurde es ihnen schlagartig bewusst: es war bereits kurz nach Acht! „Scheiße,“ fluchte Irma. „Mum und Dad warten bestimmt schon auf uns!“ Will nickte, als wäre sie immer noch leicht abwesend, und tastete nach ihrer Stirn. Sie glühte genauso stark wie gestern, als sie diese bösartigen Kopfschmerzen überfallen hatten, was jedoch nicht einmal zwangsläufig mit der Anwesenheit eines unsichtbaren Monsters zu tun haben musste. „Stimmt," murmelte sie, "wir müssen uns noch von ihnen verabschieden. Und von deinem kleinen Monsterbruder...“ Währenddessen sauste ein undeutlicher Schemen durch den magischen Äther, flog über den dämmrigen Morgenhimmel von Heatherfield auf ein großes quadratisches Haus zu, das von spiegelnden Fensterscheiben und blühenden Balkongärten bedeckt war. So schnell wie ein Blinzeln, ungesehen von beinahe jedem außer einem magisch Begabten (und auch von diesem nur, wenn er genau hinsah), materialisierte der Schemen mitten in einem Zimmer mit blassblauen Tapeten und wurde zur Gestalt eines hoch gewachsenen, schlanken Mädchens mit sagenhaft langem, blonden Haar. Nur der saure Ausdruck auf ihrem Gesicht wollte nicht recht in diese Schönheit hineinpassen. "Ich hab's ihnen ja gesagt," murmelte sie und griff sofort nach ihrem Handy. Kapitel 15: Chink! ------------------ Warnung: Sämtliche in diesem Kapitel vorkommenden Diskriminierungen dienen nur der Beschreibung einer Problematik, nicht der tatsächlichen Herabwürdigung irgendeines Menschen. ------------------------------- „Also habt ihr mich verstanden, Kinder?“ „Ja, Mom! Keine kleinen Partys, niemandem die Tür aufmachen, das Bad und den Herd im Auge behalten, und dreh’ die Musik nur auf Zimmerlautstärke, dein Reich komme, dein Wille geschehe, im Himmel wie auf Erden, bis dass der Tod uns scheide… hab ich noch irgendwas vergessen, Will?“ „Das Essen!“ „Ah ja, das war’s. Ich dachte schon, es wäre die Erinnerung, dass wir nicht aufhören sollen zu atmen!“ Zehn Minuten waren seit dem kleinen Stelldichein zwischen Will und Irma vergangen, doch die Familie Lair war – wie vor allem Irmas Mutter betonte - keineswegs in Zeitnot. Sicher, es hatte sich herausgestellt, dass die Reisevorbereitungen wie üblich etwas länger gedauert hatten als angenommen, aber das war noch keine Katastrophe. Auch die Tatsache, dass der Sprit im Autotank gerade noch für zwei Kilometer reichte, war nicht das Ausschlaggebende. Das einzige Problem war gewesen, den schmollenden kleinen Chris bis zum Auto zu zerren und zu versichern, dass seine heiß geliebte Baseballmütze jetzt bereit für ihn war. Diese ihnen verbliebene Zeit hatten die beiden Freundinnen nutzen können, um sich für ihren gemeinsamen Tag entsprechend zurecht zu machen und anzuziehen. Wills Wahl war dabei allerdings ein wenig unglücklich ausgefallen: der kurze Rock, den sie jetzt trug, schützte ihre Beine nicht vor den kalten Windschauern, die so früh am Morgen teilweise noch durch die Vorstadt jagten. Was daran schlimm war? Eigentlich nichts, wenn man nicht gerade einen so gut wie leer gefegten Kopf auf den Schultern trug, der mit seinen Gedanken immer noch in vergangenen Sphären weilte, in denen die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers klar und deutlich vor Augen stand. Wieder und wieder flog Wills unsteter Blick zu Irma hinüber und maß ihren Körper ab - eben noch ein nacktes, lebendiges Gebilde aus starken Knochen, Muskeln und sanftem Fleisch, jetzt wieder das sittsam verhüllte Mädchen Irma Lair, das seine Mutter umarmte. Zuweilen überlagerten sich die Bilder in ihrem Kopf, und dann musste die Hüterin des Herzens sich mit aller Kraft zwingen, diese Eindrücke auseinanderzuhalten. Ein leises, abwertendes Schnauben von außerhalb ihres Kopfes holte Will in die Realität zurück, und sie fand recht schnell zu seiner Quelle, die auf der Rückbank eines Autos saß und vor sich hin schmollte: Chris. Lächelnd beugte Will sich vor und sprach ihn an: „Na, Chris, bist du schon aufgeregt?“ Der Achtjährige schaute auf und blickte sie geringschätzig an. Ganz klar erschien sie in seinen Augen wie eine miese kleine Verräterin. „Sag mal,… ist das für dich vielleicht trocken?“ knurrte er plötzlich rundheraus. Will errötete. Ein jäher Windstoß hatte eben ihren Rock an der Rückseite leicht aufgebläht, so dass ein Teil ihres Slips sichtbar wurde. In aller Eile langten ihre Finger nach ihm und zerrten den Rocksaum wieder in seine ursprüngliche Position… allerdings so heftig, dass er dafür am Bund zu weit nach unten rutschte. Nun waren es die Strings, die hervorblitzten. Verzweifelt grinsend („Warte, das hab ich gleich!“) friemelte Will an den Bundfalten herum und schob sie hin und her (sehr zum Erstaunen des kleinen Christophers), bevor ihr zu ihrer eigenen Bestürzung aufging, dass diese Frage gar nicht dem Slip gegolten hatte. „Oh… deine Baseballmütze…“ Chris, dem bei Wills Anblick auf einmal ganz anders geworden war, nickte langsam, bis ihn das Schütteln des Kopfes wieder zur Besinnung gebracht hatte, und wedelte ihr mit dem fraglichen Objekt – wenig behutsam – vor der Nase herum. „Siehst du hier? Das sieht aus, als hätte jemand reingeschifft! Das ist doch echt das Letzte, oder?“ Will schüttelte lächelnd den Kopf. Chris’ Frage schrie nach einem Ja, nach einem kleinen Akt der Bestätigung. Dabei waren die Flecken, auf die er deutete, nichts weiter als Shampoo-Rückstände, die Irma mit ihren Kräften des Wassers nicht hatte entfernen können. Man würde sie am Ende nicht einmal sehen können… Aber so waren Jungs nun einmal – sie mussten sich immer wichtig machen, ganz egal, wie alt sie sein mochten! „Also dann noch viel Spaß bei deinem Baseballspiel!“ sagte Will grinsend und zerwuschelte dem kleinen Kobold zum Trost die Haare. „Wir drücken dir hier zuhause die Daumen! Ihr werdet die Flaschen von Coppervalley bestimmt in den Boden rammen!“ Christopher rümpfte stolz die Nase. „Ich brauche keine Glückwünsche! Und schon gar nicht von Mädchen!“ „Och, natürlich brauchst du die nicht, mein Kleiner!“ Will zwinkerte Irma, die nun ebenfalls zu ihrem Bruder trat, verschmitzt zu, und wie sie es geplant hatten, drückten sie ihm je einen dicken Kuss auf die Wange. Der kleine Satansbraten blinzelte zweimal vor Verblüffung, und einen Moment tendierte sein Gesicht zu einem Bild des Erstaunens. Doch dann erinnerte sich offenbar, wenn er da vor sich hatte, und krabbelte – vor Ekel schaudernd - schnellstmöglich tiefer ins Auto hinein. „IIIIIGITT! Eeeeklig! Wenn das meine Freunde erfahren…“ „Die werden neidisch sein!“ schmunzelte Irma. „Die müssen bestimmt noch ganze 8 Jahre auf ihren ersten Kuss warten.“ „Na, vielen Dank auch!“ fauchte Chris und kauerte sich in die hinterste Ecke der Rückbank. „Bitte, gern geschehen“, sagte Will mit sanfter Stimme und langte ins Auto, um ihm noch einmal durch das Haar zu streichen. „Du hast mir einen unvergesslichen Besuch beschert, mein kleiner Süßer.“ Christopher schürzte nur die Lippen und zog den Kopf weg. Damit schienen alle Abschiede erledigt zu sein. Irma ging schon wieder ins Haus hinein, doch Will drehte sich auf der Türschwelle noch einmal dem Autofenster zu… und bemerkte, dass Chris ihr nachschaute. Sie winkte ihm zu. Nach kurzem Zögern erwiderte er es schwach. Dann verließ das Auto die Einfahrt und bog auf die Straße ab. Das Letzte, was Will von Chris erkennen konnte, war sein schwacher Umriss in der Heckscheibe. Sie war sich nicht sicher, aber irgendetwas sagte ihr, dass er gerade sein Spiegelbild im Seitenfenster betrachtete und sich vorsichtig über eine seiner Wangen strich, die noch immer etwas feucht von ihrem Kuss war. Und sein Mund formte die Worte: „Kleiner Süßer…“ „Was ist? Schaust du deinem neuen Liebsten nach? Bin ich dir nicht mehr gut genug?“ Will machte sich nicht mal die Mühe, über die Schulter zu schauen. Sie ahnte bereits, dass Irma von hinten die Arme um sie legen würde, um sie an sich zu drücken. Diese Art Umarmung war eine ihrer ureigenen Spezialitäten. „Wieso nicht mehr gut genug?“ fragte Will. „Du bist doch keine Maschine, die man regelmäßig upgraden muss.“ „Schön, dass gerade du das sagst,“ murmelte Irma und platzierte einen zarten Kuss auf ihrer Wange. „Irre ich mich,“ fügte sie nach einer Weile hinzu, „oder hattest du vorhin beim Treppensteigen die Beine wirklich so komisch verschränkt?“ Ihre Augen wanderten mit einem ziemlich eindeutigen Ausdruck zu Wills Schoß hinab. Sofort presste diese die Schenkel zusammen. „M-muss das i-irgendwas zu bedeuten haben?“ fragte sie ausweichend. „Oh nein, nein,“ antwortete Irma lapidar, während ihr Grinsen und ihre Körpersprache sich sehr viel deutlicher dazu äußerten. Ohne, dass Will etwas dagegen tun konnte, näherte sich Irmas Hand schon wieder ihrem Unterleib und verschwand unter dem Minirock. Ganz klar würde sie bald wissen, das Will ihr etwas verschwiegen hatte. Eine zarte Röte stieg in die blassen Wangen der Hüterin, und ihre Lippen gaben einmal mehr zarte Seufzer von sich, als sie Irmas Fingerkuppe an ihrer Klitoris spürte, sie vorsichtig berührend und ein ums andere Mal darüber streichend. Noch einmal hörte sie die Laute I-L-U in ihren Ohren nachhallen, und je öfter sie sie hörte, desto wahrhaftiger schienen sie ihr. Sie hatten bisher nicht viel über ihre Gefühle gesprochen, und um ehrlich zu sein, wusste Will auch gar nicht, wie sie das, was sie nun mit Irma verband, ausdrücken sollte. Möglicherweise war es nicht mehr als ein kleiner Traum, vergänglich und beliebig, wie es Träume und Gefühle nun mal waren… Nun war es der Augenblick, der zählte… Gedankenverloren betastete sie Irmas Arm und folgte ihm Glied für Glied, wie er sich von hinten um sie schlang und unter ihrem Rock verschwand, auslaufend in einem Paar von Fingern, die vorsichtig auf die empfindsame Stelle drückten. Will liebkoste die Zwei nur einen Moment,… dann ließ sie ihre eigene Hand nachkommen… Zur gleichen Zeit langten vor dem Tor des Garden Plaza, einer der besten Adressen der Heatherfielder Innenstadt, Taranee und Hay Lin auf ihren Fahrrädern an. Zur Begrüßung tauschten sie nur ein kurzes Nicken aus - beide hatten eine lange und anstrengende Nacht hinter sich, und noch dazu waren sie nach ihrem letzten Gespräch am Vortag nicht friedlich auseinander gegangen. Wobei man sagen musste, dass Hay Lin doch ein bisschen munterer wirkte, während Taranee die typische brummige Haltung eines Bettgrüblers zeigte. Erst, als ihnen Cornelias Mutter über den Summer das Tor geöffnet hatte, brach die Wächterin des Feuers ihr Schweigen: „Also… wie fühlst du dich?“ „Gut,“ murmelte Hay Lin, und beließ es dabei. Das Schweigen dauerte fort, bis zu dem Moment, an dem sie beide in den Lift stiegen. Diesmal war es Hay Lin, die einen Anfang suchte: „Hat dir Cornelia eigentlich gesagt, worum es bei unserem Treffen gehen soll? Mich hat sie nämlich mit sage und schreibe fünf Worten abgespeist!“ „’Halb neun bei mir, verstanden’?“ Die Wächterin der Luft nickte knapp. „Jep, genau das war’s! Ich hab nicht mal meinen Kaffee austrinken können!“ Taranee runzelte fragend die Stirn. „Seit wann trinkst du denn Kaffee?“ „Seit heute Morgen!“ erwiderte Hay Lin, wobei sie allerdings ein Gähnen unterdrücken musste. „Hab schon besseres getrunken!“ Damit war auch dieses Gespräch zu Ende. Erneut trat Stille ein, die nur unterbrochen wurde vom mehrmaligen Gähnen beider Fahrstuhlinsassen. Erst kurz vor der Zieletage stellte Hay Lin die Frage, die ihr wirklich auf der Seele brannte. „Glaubst du, Cornelia gibt uns ein wenig von ihrem Frühstück ab?“ Im nächsten Augenblick öffnete sich die Fahrstuhltür, vor der sie bereits Cornelia erwartete, die sie mit einem leisen, hastig geflüsterten „Kommt schon!“ hinauszog. „Seid bloß leise,“ zischte sie ihnen zu, bevor sie die Wohnung betraten. „Und lasst euch um Himmelswillen nicht von meiner Schwester erwischen.“ „Wieso, was hat sie denn?“ fragte Hay Lin in normaler (ziemlich hoher) Lautstärke. Cornelia zuckte zusammen, legte symbolisch den Zeigefinger an die Lippen und drehte dann mit äußerster Langsamkeit und Präzision den Schlüssel im Schloß. Sie quetschten sich zusammen durch die schmale Türöffnung und schlichen, wie Cornelia es ihnen vormachte, mit möglichst leichten Schritten den Flur entlang. Auf ihrem Weg lag die breite Öffnung zum Wohnzimmer, aus dessen Fernsehecke ein beträchtlicher Lärm kam, verursacht durch laute Marschmusik, Straßengeräusche und die rasselnde Stimme einer älteren Frau, deren Geschnatter alles zusammen übertönte. Reichlich unsicher signalisierte Cornelia ihren Freundinnen, rasch anzuhalten, bereute dies aber im nächsten Moment schon wieder, als Hay Lin in sie hinein stolperte. Zu Tode erschrocken lauschte Cornelia kurz in den Flur. „… es ist eine Schande, dass ich mir das von dir anhören muss, Harold! Du müsstest es eigentlich besser wissen! Dein eigener Vater hat unser Land gegen die Nazis und die Schlitzaugen im Vietnam verteidigt! Und jetzt willst du mir sagen…“ Das Geschnatter im Wohnzimmer war offenbar unverändert geblieben. Vorsichtig schlich Cornelia zur Kante der Öffnung und schaute zum Sofa hinüber. Von da dauerte es eine ganze Weile, bis sie sich wieder rührte, und Taranee und Hay waren schon fast die Füße eingeschlafen, als die Erdwächterin den Befehl zum Weitermarsch gab. Sie schlichen von der Wandöffnung weg auf die gegenüberliegende Seite und drückten sich mit dem Rücken dagegen. Dann schoben sie sich schrittweise an der Wand entlang zum anderen Ende des Einschnittes, bis das Sofa mit Cornelias Großmutter darauf außer Sichtweite war. Sicher wären sie auch noch ohne Probleme bis zur Küche gekommen… wäre nicht ausgerecht Taranee beim Verlassen des Wandstücks über den schwarzen Kater Napoleon gestolpert. Von da ab folgte eine Kettenreaktion: Hay Lin schaute zu Cornelia, diese zu ihrer Mutter, die wiederum nur für einen Moment unwillkürlich zu Taranee hinblickte. Das reichte, um Großmutter Hale vom Fernseher abzulenken. „Meine Güte, Cornelia,“ rief sie sogleich in vollster Bestürzung. „Zeugt das etwa von Anstand, dass du deine Freundinnen durch die Wohnung schleust, ohne sie zumindest ‚Guten Tag’ sagen zu lassen? Ich muss schon sagen, Liebling, deine Manieren haben sich seit dem letzten Mal bedauerlich verschlechtert, ich habe deiner Mutter schon ein dutzend Mal gesagt, sie solle dich nicht so schleifen lassen! Und du, Mädchen, du warst doch die Tochter der Richterin Cook, nicht wahr? Eine sehr vorbildhafte Frau, wie ich schon immer gesagt habe. Ich weiß noch, wie wir uns auf der Jahrestagsfeier des Bürgermeisters zum ersten Mal begegnet sind…“ In ihrem Redeeifer merkte die alte Dame nicht, dass Cornelia sich die Hand vor die Augen schob. „Herrgott im Himmel, hab doch einmal Gnade mit mir…“ Die Sonne begann sich langsam am Himmel empor zu arbeiten, und der Winkel des Lichtscheins, der durch das Oberlicht von Irmas Haustür fiel, veränderte sich gleichsam mit den Schatten, die er auf den Körpern der beiden Mädchen erzeugte, die aneinandergepresst auf der untersten Treppenstufe saßen. Sie saßen Stirn an Stirn, beide schwer atmend, beide die Hand in Wills Schoß bewegend. Die Hüterin des Herzens machte es ihrer Partnerin nicht allzu leicht, weiter nach unten zu dringen – zu sehr amüsierte sie es, ihr den Weg zu versperren und nur hin und wieder einen kurzen Vorstoß zuzulassen, der tiefer ging als der obere Rand ihres Slips. Es erzeugte gerade die richtige Menge an Wohlgefühl, um ihre Klitoris anschwellen zu lassen und ihre Lust am Laufen zu halten. Zugleich bewahrte es sie davor, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten. Doch Irma ließ nicht locker: sie wandte alles an, was sie jemals an Hay Lin ausprobiert hatte, und manches davon funktionierte. Zum Beispiel, mit den Fingerspitzen kurz über den Bauch zu reiben – nichts schien Will mehr zu genießen, abgesehen von den Zungenküssen, nach denen sie immer aufs Neue verlangte, und wenn sie auch noch so kurz ausfielen. Als Nächstes versuchte es Irma mit der Front-zu-Frontposition: sie schwang die Beine halb über Wills Oberschenkel, die Hand noch immer im Schritt verharrend, und nutzte den Moment des Schrecks aus, Will zu überrumpeln. Diesmal schaffte sie es, wenn ihr Vorstoß auch ruppiger kam als beabsichtigt. Sie grinste ihre Freundin überlegen an, deren Erstaunen sie triumphierend zur Kenntnis nahm… … bis sie merkte, dass das Erstaunen nicht einfach von der Plötzlichkeit kam: ein anderer, seltsamer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht - und er wurde noch klarer, als Will rasch ihren Unterkörper anhob und sich mit ihrem ganzen Gewicht auf Irmas Hand setzte. Auch wenn das nicht viel war – aus dem kurzen Halt tat es höllisch weh, und Irma schrie auf, als ihre ausgestreckten Fingerknochen nach hinten gebogen und gegen den Velour-Belag der Stufe gepresst wurden! Will jedoch stöhnte - sie stöhnte aus vollem Herzen. Sie wippte sogar noch vor und zurück, um den neuerlichen Druck in allen Zügen auszukosten, während ihre Freundin vor Schmerz das Gesicht verzog. Mit aller Gewalt stemmte Irma sie hoch und sah ihrer Freundin in die Augen, welche den Blick zunächst kaum erwiderte, sondern sich in die Privatsphäre hinter den Lidern zurückzog. Normalerweise hätte Irma jetzt eine saftige Standpauke vom Stapel gelassen, aber weil Will so schweigend lächelnd da saß, brachte die Wasserwächterin vor Empörung kaum ein Wort heraus… zumindest kaum ein sinnvolles. Als Will die Augen dann wieder öffnete und sich breit feixend vor ihrer Freundin räkelte, wurde es der Wächterin des Wassers zu viel, und sie wählte die Höchststrafe… Schon bald lag Will weinend und lachend auf dem Flur und wurde erbarmungslos durchgekitzelt. Doch obwohl es ein schöner Kick war, ihre Freundin so zappeln zu sehen, bekam Irma irgendwann den Eindruck, dass dieses Mädchen ihre Bestrafung sogar zu mögen schien – jedenfalls war ihre Klitoris, als Irma das nächste Mal danach fasste, fühlbar steifer geworden. Währenddessen hatte Will, ihrer Erschöpfung zum Trotz, die Beine um Irmas Hüfte geschlagen und die Träger ihres Oberteils gepackt, um sie mit Nachdruck zu sich herunter zu ziehen. Noch einmal entlockte sie Irma einen kurzen Kuss, dann schob sie die Träger endlich beiseite und fasste Irma in den Ausschnitt. Die Wächterin des Wassers wusste nicht mehr wirklich, wie ihr geschah. Eigentlich hatte Hay Lin sie schon einmal so berührt… doch andererseits war es für Will das allererste Mal. So sehr sie es auch wollte – mit einem Mal konnte Irma die beiden Erinnerungen nicht mehr richtig auseinander halten, und Will, bis eben noch ein Symbol der Lust, verlor deutlich an Farbe und verwandelte sich in eine Form von Hay Lin, die für Irma nunmehr Geschichte geworden war. Die Hüterin des Herzens bemerkte wohl den schwindenden Enthusiasmus ihrer Freundin, denn sie sah auf und blinzelte verwundert: „Ist was?“ Obwohl sie die Antwort wusste, schüttelte Irma nur den Kopf. Sie zog ihren Körper von Will weg und bedeckte ihn abwehrend. Ihr Blick flog zerstreut und traurig durch den Raum, und ihre gute Laune zerrann zu einem Eindruck von Heuchelei. Die Schuldgefühle würden bleiben, und möglicherweise waren auch die Gefühle der Müßigkeit nichts, was einfach so vorüberging, denn wie sollte es sonst zu erklären sein, dass sie bei Wills Berührung an dieser Stelle nichts fühlen konnte als bloße Gier? Einerseits hasste sich Irma für dieses Gefühl, andererseits war sie auch erstaunt, dass sie so etwas überhaupt spürte. Was war nur los mit ihr? Durch diesen plötzlichen Eindruck verwirrt, mied Irma den fragenden Blick ihrer Freundin, schaute zu Boden, und wich sogar Wills flehentlich ausgestreckten Fingern. Mit einem Mal konnte sie nichts anderes mehr tun, nur ihre Beine drängten sie noch dazu, davonzulaufen aus dieser seltsamen Misere, die sie überhaupt gar nicht gewollt hatte... … Doch Will ließ sie nicht gehen. Es würde kein Davonlaufen mehr geben. Im Hinblick darauf, die Probleme ihrer Freundinnen zu erkennen, war Will ein Bluthund, und dies bewies sie auch jetzt wieder, als sie Irmas abgewandten Körper zu sich herum drehte und ihrer Freundin in die Augen blickte. Irma erschauerte. Wieder einmal fühlte es sich so an, als wäre jede Fiber ihres Ichs bloßgelegt, als wären sie und ihr innerer Konflikt, den sie so vehement vor den Augen anderer verbarg, eine offene Seite im Notizbuch des Anderen und bedurften keiner näheren Erklärung. Dies fühlte Irma jetzt, oder glaubte zumindest, es zu fühlen, und meinte zum gleichen Augenblick auch, Verständnis zu finden in den Gedanken dieses rothaarigen Mädchens, das doch letztendlich nur eines unter Millionen war. Ihre Lippen fanden sich wieder, zu einem anderen Kuss, und Irma wurde bewusst, dass sie sich die Veränderung nicht bloß eingebildet hatte. Dieser Kuss schien aufs Haar der Beschreibung zu gleichen, die Will von ihrem ersten Kuss mit Irma gegeben hatte, und übertraf sie dennoch bei weitem. Diesmal begannen Wills Berührungen, Kontur anzunehmen. Sie gewann an Ruhe, vermochte es, ihrer Lust freien Lauf zu lassen, ohne hastig zu werden, und streichelte Irma so auf eine Weise, die kein bloßer Bettpartner nachmachen konnte, wenn er sich nicht in vollem Einklang mit seinem Gegenüber befand. Wills Bewegungen wurden so langsam, so ausführlich, so eindringlich, als würde sie eine Leinwand bemalen, bei der nur ein einziger falscher Pinselstrich das Ende bedeuten mochte. Und mit der Zeit, mit dem Wachsen des Genusses, musste Irma feststellen, dass auch sie dazu imstande war. Ihre Finger regten sich wieder Wills Klitoris entgegen, die unverändert steif war, und feucht. Sie pulsierte unter Irmas Berührung, begann stärker und stärker ihren Widerstand einzusetzen, so dass jeder Druck deutlicher wurde als jemals zuvor. Mit einer Energie, die sie in sich nur einmal zuvor wahrgenommen hatte, im Unbewusstsein ihrer eigenen Gefühle, kniff und drückte die Wächterin die Vorhaut ihrer Freundin zusammen, und schob und zog sie, als hinge ihr Leben davon ab. Wills anfängliche Seufzer wurden zu Schreien, zu gleichen Teilen aus Schmerz und Erregung bestehend, und ihr ganzer Körper wand sich unter Irmas Handgriffen, die sie juchzen und zugleich erschauern ließen. Doch bei all diesem wehrte sie sich nicht, und mehrere Male rief sie Irma sogar ihren Namen zu, in der Hoffnung sie damit zum Weitermachen zu bewegen, denn egal wie lächerlich es auch sein mochte, sie musste weitermachen, unbedingt… unbedingt… Die Wangen rot, die Augen wässrig und verschleiert, offenbarte sie ihre Erregung schließlich in einem einzigen langen, Mitleid erregenden Aufschrei der Lust, mit dem sie erschöpft auf die Treppe sank und dort zitternd liegen blieb. Für die ersten Minuten nach ihrem Orgasmus vermochte sie sich nicht mehr zu rühren, und Irma, die sie noch immer in den Armen hielt, sorgte sich schon, sie könnte ihre Freundin ungewollt entjungfert haben. Doch als sie dann zur Probe den Rock lüftete, konnte sie nur eine lange Spur von Wills Freudenfluss über das Holz kriechen sehen. Die Schamlippen glühten zwar noch, zeigten aber sonst keine Anzeichen von Blut. Erleichtert über diese Entdeckung, aber auch furchtbar ermüdet und gleichzeitig erschrocken über die Macht ihrer Hände, lehnte sich Irma zurück und wartete, Wills Haarschopf streichelnd, auf die Rückkehr ihrer Freundin aus dem Land der sexuellen Selbstbestätigung. Nach einer geschlagenen halben Stunde, in der ihre Großmutter nichts anderes getan hatte, als alte Geschichten und sachkundige Kommentare zur Lage der Nation auszubreiten, hatte Cornelia es nun endlich geschafft, sich aus dieser verfahrenen Situation loszueisen. „Wir müssen jetzt wirklich weiter, Oma! Die Parade wartet nicht auf uns, weißt du?“ sagte sie eben, krampfhaft um ein sanftes Lächeln bemüht, und verbeugte sich mehrere Male wie ein etwas übereifriger Comic-Chinese. Befriedigt durch das in ihren Augen gute Gespräch, nickte Madame Hale großmütig. „Geht nur! Es ist nur rechtens, dass sie die Paraden dieses Jahr ein wenig ausweiten. Sonst lassen sie ja auch alles mögliche Gesocks auf die Straße, diese ganzen Fußballfans, Gay Pride und wie sie alle heißen! Da ist es nur gut, wenn sie endlich mal wieder zeigen, worauf es dabei wirklich ankommt…“ „Ja, Kinder, es wäre wirklich besser, wenn ihr jetzt geht,“ fügte Cornelias Mutter erleichtert hinzu und erhob sich. „Ich bringe euch noch vor die Tür.“ „Elisabeth Hale, ich bitte dich!“ unterbrach Madame Hale sie. „Das kann Cornelia, bei allem was recht ist, allein machen! Du verwöhnst sie einfach zu sehr, das ist der springende Punkt….“ „Kommt schon, verschwinden wir!“ flüsterte Cornelia ihren Freundinnen zu, und in Blitzesschnelle verließen sie die Wohnung (wobei sich Cornelia noch ihre Schultertasche schnappte) und gingen eiligst zum Fahrstuhl zurück. Von einem Entschädigungsfrühstück in der Küche der Hales konnte nun nicht mehr die Rede sein. Erleichtert seufzend ließ sich jede der drei Freundinnen gegen eine Wand des Fahrstuhls fallen, ungeachtet der Schlieren, die ihre Kleidung darauf zog. Hay Lin war die Erste, die ihrem Ärger Luft machte: „Also, Cornelia, wenn es das war, weswegen wir herkommen sollten… ich hätte drauf verzichten können.“ Cornelia lachte trocken und kurzatmig. „Bedank dich nicht bei mir,“ sagte sie finster. „Ich für meinen Teil habe nie behauptet, dass ich Tanzunterricht nehme.“ Sie warf einen eindeutigen Blick zu Taranee, die allein aus Rücksichtnahme nichts erwiderte. „Und wenn schon,“ fauchte dafür Hay Lin. „Du kannst es dir immerhin leisten. Ihr könnt euch alles leisten…“, murrte sie noch mit dem Kopf zur reich verzierten Liftstange. Sie war überhaupt in mancher Beziehung merkwürdig geworden, seitdem sie zusammen Cornelias Wohnung betreten hatten: sie bedachte den ganzen Prunk um sich herum mit einer Verächtlichkeit, die nur jemand nachvollziehen konnte, der ihre kleine, relativ kärgliche Wohnung über dem ‚Silver Dragon’ kannte. Taranee, deren Fähigkeit des Gedankenlesens schon längst Alarmglocken schlug, bestätigte die Zweifel ihrer Freundin im nächsten Augenblick. „Es ist, weil deine Großmutter von ‚Schlitzaugen’ gesprochen hat,“ sagte sie zu Cornelia, ohne Vorwurf in der Stimme. Eigentlich hätte sie wissen müssen, worauf das hinauslaufen konnte: Hay Lin konnte rot anlaufen, und ganz bestimmt würde sie wütend werden, und Cornelia, die selbstsichere, blonde Cornelia konnte ganz plötzlich erbleichen und mit einem unangenehmen Gefühl im Magen in der Ecke stehen. Genauso geschah es dann auch. Keine von ihnen brachte ein Wort über die Lippen, es schien, als wären sie plötzlich allesamt zugenäht. Die Worte an sich waren aus bloßem Zufall auf den Plan getreten, und dennoch belegten sie jeden von ihnen mit etwas… Unerwünschtem, einem Gefühl der Unzulänglichkeit gegenüber allen Anderen. Schließlich hielt Hay Lin es nicht mehr aus – sie ballte die Fäuste und schlug schreiend auf die Liftstange ein, als könne dieses Metallstück alle Ungerechtigkeiten aus der Welt schaffen. Es wäre seltsam gewesen, wenn Cornelia das nicht ihrerseits erzürnt hätte: sie schnappte ihre Freundin von hinten beim Handgelenk und riß sie mit den Worten: „Jetzt reiß dich aber mal zusammen, hörst du?“ zu sich herum, was sich die junge Asiatin jedoch nicht gefallen ließ: sie packte Cornelia beim Kragen und schleuderte sie ihrerseits umher, was jedoch nur so lang funktionierte, bis die blonde Erdwächterin ihre Größe ausspielte und sich dem Temperament ihrer Freundin entgegenstemmte. Eine Zeitlang standen sie sich so gegenüber, Auge in Auge, von Angesicht zu Angesicht, beide verletzt durch die Überreaktion und bereit, der anderen Paroli zu bieten, wenn sie sich noch einmal so gehen ließ. Irgendwann jedoch gewannen ihre Schuldgefühle die Oberhand, ihre entgleisten Gesichtszüge entspannten, sie legten einander die Arme um die Taille (wobei Cornelias Schultertasche einige Schwierigkeiten bereitete), … und küssten sich über fünfzehn Zentimeter Größenunterschied hinweg. Das Chaos der Gedanken, das in diesem Augenblick durch Taranees Geist tobte, war nahezu unbeschreiblich. Sogar schon bevor sie den Fahrstuhl betreten hatten, war ihre eigene Nervosität mit ihr durchgegangen und hatte ihr alle Gespanntheiten im Haus ringsherum angezeigt. Nun, mit all den Gefühlen und Gedankensprüngen im allernächsten Umfeld, wurde es ernsthaft zuviel für sie. „Könntet ihr für einen Moment damit aufhören?“ flehte sie. „Bitte! Leute, ihr tanzt auf meinem Kopf Lambada!“ Doch die beiden Küssenden ließen sich von derlei Vergleichen nicht aus der Fassung bringen… wenn denn in diesem heftigen Münderabbeißen überhaupt noch so etwas wie Fassung vorhanden war. Obwohl Cornelia die ältere und stärkere der zwei Wächterinnen war, schien sie sich Hay Lin, die sich unerbittlich an sie drückte, willig zu beugen. Jeder unbewusste Ansatz, aus der Umarmung auszubrechen, führte nur zu noch mehr Nachdruck in dem Lippenspiel, denn die Wächterin der Luft wollte das Ende dieses Traumes auf jeden Fall hinauszögern. Da jedoch drang Taranee zwischen sie. Voller Ärger drückte sie die zwei Freundinnen auseinander und stieß sie zur Seite, wobei sie zugleich auch den Fahrstuhlknopf drückte, denn das ganze Spektakel hatte nicht hinter verschlossenen Türen stattgefunden, wie die Anderen gemeint hatten. Die Verwirrung, die sich nach dem Rückkehr in die Normalität schlagartig wieder ausbreitete, hallte in Taranees Kopf genauso deutlich wieder wie alles andere zuvor, aber da dies nicht ganz unerwartet kam, hatte die Wächterin des Feuers Zeit, ihre telepathische Kraft auf Durchzug zu schalten. „Du machst das absichtlich, oder?“ klagte sie, an Cornelia gewandt. „Es scheint geradezu verboten zu sein, aus dir schlau zu werden.“ „Was ist denn jetzt mit dir los?“ fragte die Blonde verständnislos. Taranee stöhnte. „Was mit mir los ist? Was mit dir los ist, würde ich gerne mal wissen. Du hast uns hierher gerufen, weil Irma und Will miteinander geschlafen haben! Und ja,“ erklärte sie mit einem Seitenblick auf Hay Lin, die vor Schock zitterte, „das haben sie, wir streiten das besser gar nicht ab! Aber anstatt uns zu sagen, was um Himmels Willen wir jetzt tun sollen-“ „Was wir jetzt tun sollen? Warum in Gottes Namen soll ich das jetzt schon wieder wissen?“ „Weil es deine verdammte Idee war,“ schrie Taranee, „und wir wahrscheinlich nicht so weit gekommen wären, wenn du uns nicht unbedingt dazu gedrängt hättest!“ „Ich habe euch zu gar nichts gedrängt!“ erwiderte Cornelia scharf und entschieden. „Verzeiht mir bitte, dass ich meine wertlosen Sorgen vor euch ausgebreitet habe, weil ich gehofft hatte, ihr könntet mir irgendwie damit helfen!“ „Wir wollen dir immer noch helfen,“ meldete sich Hay Lin schüchtern zu Wort. Sie hatte den Schock noch nicht ganz verkraftet, nachdem ihr Irma in der vergangenen Nacht dieses Versprechen gegeben hatte. Doch die Wächterin des Feuers schüttelte den Kopf. „Ich kann das aber nicht mehr, Hay!“ sagte sie wütend. „Ich kann das nicht mehr mit mir vereinbaren. Wenn sogar ihr beide so unbefangen herumknutscht - warum sollten Will und Irma das nicht auch können? Es ist doch komplett ihr eigenes Ding.“ „Es geht dabei nicht nur ums Knutschen,“ entgegnete Cornelia bitter. „Ich habe gesehen, wie sie sich nackt auf dem Bett rumgewälzt und befummelt haben wie in einem Ekelporno! Das ist einfach nicht gut für die Beiden!“ „Wer sagt denn, dass es nicht gut für sie ist?“ versuchte Taranee es sachlich zu klären. „Ich habe da gestern Abend ein Buch gelesen-“ Cornelia verdrehte die Augen. „Komm mir jetzt bloß nicht mit Büchern! Was wissen deine Bücher schon vom richtigen Leben?“ „Eine ganze Menge mehr als du in deinem Elfenbeinpalast,“ brüllte Taranee, gerade, als sich die Fahrstuhltür zum Erdgeschoß öffnete. Einen Moment schien sie zu schwanken, doch als sie von ihren Freundinnen keine Gegenreaktion hörte, stürmte sie hinaus in die Empfangshalle und von dort aus ins Freie, die schwere Glastüre hinter sich zu schlagend. Dabei lief sie beinahe in Fräulein Prottinger, eine Nachbarin Cornelias, die gerade über die Eingangstreppe ging. „Entschuldigung!“ Die Hausbewohnerin schnaubte empört. „Das will ich dir auch geraten haben, du kleine…“ „Entschuldigung!“ – „Entschuldigung!“ „Aah!“ Die vorbeisausenden Schatten warfen Fräulein Prottinger beinahe aus den Stöckelschuhen, doch sie konnte sich gerade noch an einem Blumenkübel in ihrer Nähe festhalten. Den drei rasenden Mädchen, die durch den Vorpark stolperten, schrie sie nach: „Wenn ich euch noch einmal in die Finger bekomme, ihr ausländisches Gesindel!“ Doch keine der Drei hörte sie – zum Glück… Als Cornelia und Hay Lin auf der Straße ankamen, hatte Taranee sich schon in ihren Sattel geschwungen und war verschwunden. „Das kann doch alles nicht wahr sein,“ keuchte Hay Lin voller Enttäuschung. „Aber leider ist es wahr,“ bestätigte Cornelia trocken und griff in ihre Schultertasche. „Wir werden auch ohne sie auskommen.“ Sie holte eine rosa Schirmmütze hervor und wog sie bedachtsam hin und her, bevor sie das Leder, schwer seufzend, über ihre Haare zog. Nun konnte man auch ihre feucht schimmernden Augäpfel nicht mehr sehen. Sie wollte noch einmal in die Tasche fassen, aber Hay Lin kam ihr zuvor: Sie angelte eine grüne Mütze aus dem Wirrwarr und zog sie mit einem kräftigen Schwung über ihren Schädel. „Sicher?“ fragte die Wächterin der Erde. „Ganz sicher!“ antwortete die Wächterin der Luft grimmig und brachte ihre Finger in Position. „Wir gehen jetzt zu den Beiden und zeigen ihnen, wo der Haken hängt.“ „Langsam, langsam,“ beschwichtigte sie Cornelia. „Nehmen wir lieber die Fahrräder! Damit sind wir auch nicht später da.“ In Wirklichkeit hatte wohl auch sie langsam im Gefühl, dass ihr Pensum für den persönlichen Gebrauch von Magie bereits deutlich an seine Grenzen ging. Die Fahrräder boten eine gesunde Alternative dazu. Tatsächlich dauerte es (trotz zahlreicher Umleitungen über Nebenstraßen) nur zehn Minuten, bis sie in Irmas Häuserblock einbogen. Sie versteckten ihre Fahrräder im Rhododendron-Busch vom Vortag und überquerten offen die Straße zum Haus der Lairs. „Bereit?“ fragte Cornelia, bevor sie die Schwelle des Gartentors überschritten. Hay Lin nickte. „Bereit!“ Sie ging voran und drückte auf den Klingelknopf. Nichts passierte. Cornelia folgte ihr nach und warf einen Blick durch die Fenster neben der Eingangstür. Offenbar waren die Zwei weder im Wohn- noch im Esszimmer, und auch im Garten nicht, wie eine Lautüberprüfung Hay Lins ergab. „Sollten wir es nicht doch mit Magie versuchen?“ fragte sie Cornelia, und diese nickte und zeigte mit dem Finger nach oben. „Du weißt, was zu tun ist.“ Während Cornelia unten Wache stand, ließ sich Hay Lin von ihren Kräften der Luft ein Stück weit in die Höhe tragen, bis sie wieder auf dem Dach vor Irmas Zimmerfenster saß. Doch nicht einmal hier, wo Cornelia sie zuletzt gesehen und am ehesten vermutet hatte, waren die Zwei zu finden. Lediglich das Fenster war geöffnet, um frische Luft einzulassen. Nachdem sie Cornelia ebenfalls aufs Dach befördert hatte, krochen die Beiden vorsichtig in Irmas Zimmer, das, nahm man den gemächlich kauenden Lattich beiseite, einen recht verlassenen Eindruck machte. Sogar das Bett war gemacht worden und erinnerte nicht mehr an die sündigen Morgenstunden. Hay Lin fand das Ganze mehr als merkwürdig. „Wo bei allen Göttern treiben sich die Zwei herum?“ „Probieren wir es mal im Bad!“ schlug Cornelia vor. „Das erscheint mir am Logischsten.“ Als sie auf den Gang hinaustraten, bemerkten sie jedoch, dass es einen anderen, näher liegenden Platz gab: die Tür zum Gästezimmer stand sperrangelweit offen, und ein beständiges Rauschen zeigte an, dass dort ein weiteres Fenster gekippt war. Hay Lin ging als Erste hinein, auch wenn sie den Anblick möglicherweise nicht ertragen würde. Das Bett vor ihr war ebenso leer und sauber wie das von Irma, doch auf der glatt gestrichenen Decke lag ein eiserner Briefbeschwerer, unter dem ein Stück Papier hervor lugte. Cornelia zog es heraus. Die zwei Mädchen lasen den Brief mit großer Spannung, doch war seine Botschaft gleichermaßen eindeutig wie schockierend: Netter Versuch, Mädels, aber irgendwann reicht es! Ihr werdet uns nicht aufhalten, und ihr werdet uns nicht wieder sehen! Nie mehr… Herzliche Grüße und Danke für den Fisch, eure Ex-Freundinnen Will + Irma Hay Lins Augen füllten sich mit Tränen, die auch nicht verschwanden, als sie ihre Augen auf die Schlussformel richtete. Sie wandte sich an Cornelia, die ebenso begeistert dreinschaute. „Verspielt?“ fragte sie. „Verspielt…“ ------------------------- A/N: Chink (das im Kapiteltitel genannte englische Wort) ist eine vulgäramerikanische Form für 'Schlitzauge' und entspricht im Grad des Rassismus vielleicht am ehesten dem ostdeutschen 'Fidschi'. Es ist also keine falsche Sensibilität, dass Hay Lin über diese Bezeichnung zutiefst verärgert ist. Kapitel 16: Spielball --------------------- „Ich muss mich manchmal wirklich über sie wundern, Miss Vandom,“ mokierte Irma in gespielter Bewunderung. „Wie sie so hart und entschlossen gegen ihre Freundinnen vorgehen, ist bereits unglaublich genug. Aber ‚Danke für den Fisch’ – das drückt ein neues Höchstmaß an Gewitztheit aus. Eine neue… geschmackliche Note, sozusagen!“ Will lachte unwillkürlich. Ihre Freundin hatte schon seit vier Minuten die Maske einer demütigen Schülerin aufgelegt und benutzte diese Scharade, um ihr zu jeder sich bietenden Gelegenheit Komplimente zu machen. Teilweise waren diese so unverschämt überzogen, dass man gar nicht anders konnte, als haltlos darüber loszulachen – und den eigentlich ernsten Anlass, den sie betrafen, zu vergessen. „Ach, so gewitzt ist das eigentlich gar nicht,“ antwortete sie. „Ich habe vor kurzem eine Zusammenfassung der Serie im Fernsehen geschaut. Du wirst es nicht für möglich halten, aber wenn Dean etwas noch lieber mag als seine Geschichtsdokus, dann ist das Douglas Adams.“ Irma erschauerte und fiel dabei zum ersten Mal aus der Rolle. „Echt unheimlich, zu welchen Auswüchsen ein Geschichtslehrer fähig sein kann. Aber sein Humor war ja schon immer zum Gruseln.“ „Wem sagst du das! Vor kurzem hat er gesagt, mein Musikgeschmack wäre noch schlechter als die Dichtkunst der Vogonen…“ „… welche bekanntermaßen die Drittschlechteste im Universum ist!“ vollendete die Wasserwächterin. „Ich weiß, Hay Lin hat es mir mal versuchsweise ausgeborgt. Nicht, dass ich sie drum gebeten hätte...!“ „Und wie weit bist du gekommen?“ Irma seufzte. „Eben bis zu der Stelle! Danach hab ich es nicht mehr finden können. Hab es wohl zu doll gegen die Wand getreten! Daran kann man mal wieder sehen, dass ‚Humor’ Geschmackssache ist!“ „Wenn wir mit dem Unterricht fertig sind, wirst du auch solche Wälzer schaffen,“ versprach Will freimütig, bevor sie ihre Freundin um die Ecke und ins helle Sonnenlicht zog. Die Strandpromenade lag vor ihnen, auf der – wie jedes Jahr - der Feiertagsmarkt stattfand. Was einen Riesenumsatz für die Stadt und platt getretene Füße für die Besucher bedeutete. Jeder Zentimeter zwischen den Buden war mit Leuten besetzt, die entweder versuchten, im dichten Gedränge halbwegs voran zu kommen, oder sich dem Strom widersetzen mussten, um ihr Bier nicht umzukippen. Dazu kamen noch als Gründerväter verkleidete Schauspieler, die immer wieder Leute anhielten, um sie zur Teilnahme an einem todsicheren Gewinnspiel zu überreden. Noch schlimmer war die Situation am Strand, der vor kinderreichen Familien, Jugendlichen und Touristen nur so überquoll. Auf jeden Fall schien Irma, als sie vom Straßenrand aus den Besucherstrom verfolgte, in ihrer Begeisterung erheblich gedämpft zu werden. „Und da sollen wir rein, richtig?“ fragte sie trocken. Will nickte, ergänzte aber schnell: „Nicht für lange! Wir werden uns fünf Minuten unter die Leute mischen und dann verschwinden. Das sollte eigentlich lang genug sein.“ „Und wie sollen wir dann wieder herauskommen? Das hier ist schlimmer als ein Krokodilfluss in Afrika!“ „Das lass mal meine Sorge sein! Halte dich einfach dicht neben mir! Ich habe mir vorhin extra Deo unter die Achseln gesprüht, damit du mich in der Menge stets wieder findest.“ „Stimmt, das ist mir auch schon aufgefallen.“ Irma blinzelte misstrauisch, ging mit der Nase ein wenig näher an Wills Aura heran und schnüffelte. „Aber das ist nicht etwa das Deo meines Vaters?“ Ihre Freundin grinste verlegen. „Und wenn es das wäre? Es waren nur zwei kleine Spritzer,“ fügte sie schnell hinzu. „Und auch erst, nachdem wir Sex hatten.“ Irma verdrehte die Augen bis zum Himmel und erschauerte. „Super, den Gedanken werd’ ich jetzt ganz bestimmt nicht mehr los. Du gehst gleich nachher unter die Dusche und wäschst das Zeug aus, klar? Ich habe keine Lust, in deinem Haar zu kuscheln und dabei an eine Männerumkleide zu denken.“ „Wieso?“ antwortete Will, gefährlich lächelnd. „Ich dachte, das macht dir den meisten Spaß!“ „Tu es einfach, okay? Es ist eine Frage des Anstands!“ Zu Irmas unendlicher Erleichterung lenkte Will ein. Immerhin wusste sie noch, wo es die Grenze zu ziehen galt, … obwohl auch ihr Humor langsam schwierig zu werden begann. Dann aber nahm sie Irmas Hand und tauchte mit ihr gemeinsam in die Menge ein. Zwei Minuten später fragte sie sich erneut, ob das eine so gute Idee gewesen war. Selbst für einen Menschen wie Irma, der gerne ein Bad in der Menge nahm, war dieser Trip, im weitesten Sinne des Wortes, anstrengend. „Ich weiß nicht, wie’s dir geht,“ bemerkte sie einmal giftig, während sie neben Will herstolperte und dabei ständig fremde Haare und Kleidungsstücke in die Nase bekam, „aber mir blüht gerade so richtig das Herz auf vor Vaterlandsliebe!“ „Ich weiß,“ antwortete die Hüterin, gleichfalls gereizt, „aber wenn uns die Mädchen tatsächlich verfolgen sollten, werden sie es jetzt bestimmt bald aufgeben.“ „Meinst du? Bei Taranee und ihren Gedankenlesekräften, und Hay Lin mit ihrem Fledermausgehör-“ „Das hat nichts zu sagen,“ unterbrach sie Will, „sie sind beide nicht dermaßen vertraut mit ihren Fähigkeiten, dass sie uns aus einer Menge von mehr als eintausend Leuten herauspicken könnten.“ „Außerdem,“ - fügte sie zögernd hinzu - „wenn Taranee wirklich hier wäre, würde sie bestimmt mit uns Kontakt aufnehmen.“ Sie zögerte wieder, diesmal schmerzlich lange. „Zumindest würde das die Taranee tun, die ich kenne.“ Irma schluckte schuldbewusst. Sie hatte so etwas geahnt. „Du brauchst mir nicht zu glauben,“ entgegnete sie vorsichtig. „Ich habe nur gesagt, dass sie gestern Abend vor dem Fenster saß!“ „Das ist ja das Schlimme,“ zischte Will, „ich glaube dir sogar! Das Herz von Kandrakar hat sie ja gespürt, vielleicht noch stärker als Hay Lin, auch wenn ich selbst abgelenkt war. Ich habe keine Ahnung, was sie dort zu suchen hatte, aber… wenn sie tatsächlich etwas gegen unsere Gefühle hat…“ Tief empfundene Reue brodelte Irmas Hals empor. Sie bemerkte das Tränen erstickende Kratzen in Wills Stimme durchaus, und es ließ ihr Herz zu einer Waschtrommel mutieren, die sich zweihundert Mal pro Minute drehte. Seit ihrer ersten Begegnung in der Eingangshalle des Sheffield Instituts hatten Taranee und Will immer eine besondere Beziehung gehabt – eine Beziehung, die sich nicht anders als „Best Friends Forever“ beschreiben ließ, oder als ‚Seelenverwandtschaft’, wenn man es romantisch sehen wollte. Die Möglichkeit, dass ihre beste Freundin mit ihren Gefühlen nicht einverstanden sein würde, war absurd, aber dennoch ein nachvollziehbarer Horror. Sogar für Irma. Nichtsdestotrotz fasste die Wächterin des Wassers ihre Geliebte beim Arm, zog sie ganz nah an sich heran und zwang sie, das Antlitz in ihre Richtung zu drehen. „Sie – hat – nichts – gegen – deine – Gefühle!“ stellte sie ein für alle Mal klar. „Tara ist nicht der Typ für solche kranken Aktionen. Wenn jemand Schuld daran hat, dann doch ganz sicher Cornelia!“ Ein tiefes Grummeln klang aus Wills Oberleib. „Genau das denke ich auch,“ erwiderte sie kummervoll, „ aber es macht die Sache nicht schöner.“ Irma betrachtete ihre Freundin mit neuer Aufmerksamkeit. Sie konnte sich noch erinnern, dass sie vorhin, als sie ihr den Grund für die geheimnisvollen Vorgänge der letzten Stunden erklärt hatte, nicht so zittrig gewesen war. Vielleicht hatte sie den Schmerz damals verdrängt, oder die Informationen hatten erst einmal Wurzeln schlagen müssen, bevor sich ihre emotionale Wirkung in voller Pracht entfalten konnten. Doch egal, wie es gekommen war – der Kampf in ihr fand nun statt und würde so lange andauern, wie die Geheimniskrämerei weiterging. In vielerlei Hinsicht erinnerte die Enttäuschung an letzte Nacht – an Irmas Rückkehr von der Wiese unter dem Wasserturm (dessen vorangegangene Ereignisse sie wohlweislich verschwiegen hatte). Aber jetzt war da nichts außer Schmerz, und selbst, wenn er vielleicht geringer war als üblich, so war er allein und für sich doppelt so schädlich. Irma war sich nicht ganz sicher, was sie damit tun sollte. Einfach zugrundewitzeln wollte sie das Problem diesmal nicht, aber sonst fiel ihr auch keine andere Lösung ein, die dem Debakel gerecht geworden wäre. Unsicher schwankte ihr Blick hin und her und erspähte eine Imbissbude in nicht allzu großer Entfernung, zu der sich gerade eine längerfristige Lücke auftat. Sie machte Will darauf aufmerksam. „Möchtest du vielleicht etwas essen? Wenn mich meine Nase nicht täuscht, verkaufen sie dort drüben Plundertaschen.“ Die Ablenkung funktionierte. Wills verkniffenes Gesicht löste sich zu einer Miene des Erstaunens. „Was zum Teufel sind Plundertaschen?“ Irma lachte, und mit einem Mal schien sich ihre Zunge wieder von ganz allein zu bewegen. „Nichts da mit Teufel,“ verkündete sie stolz, „das sind Geschenke des Himmels, in Blätterteig gefasst. Eine Sünde für die Figur, aber ein Kuss für den Gaumen!“ Es klappte vorzüglich - ein vertrautes Lächeln kehrte auf Wills Antlitz zurück. „Was meinst du - wenn wir Cornelia mit diesen Plundertaschen füttern, wird sie toleranter werden?“ „Vielleicht… “, argwöhnte Irma, „aber da müssten wir schon wirklich viele kaufen.“ „So etwa… zwanzig Stück?“ „Nur für sie? Ich bitte dich!“ --------------------------------------------------------------------- Der Angriff kam so plötzlich, so unerwartet, dass Cornelia für einige Sekunden nicht wusste, wo ihr die Sinne standen. In ihrem Kopf schwindelte es, als hätte sie an einem düsteren Nebelmorgen, nach einer Nacht unruhigen Schlafes, ein Kettenkarussell bestiegen und dabei den Kopf zu lange in den Wind gehalten. Doch die Realität holte sie schnellstmöglich wieder ein – ein neuer Hieb erwischte sie, diesmal in der Bauchregion, und warf sie mit ungezähmter Kraft über die Bettkante, so dass ihr Nacken auf den Teppich schlug und ihre Schirmmütze im Nirgendwo verschwand. Wie ein Blitz fuhr der Schmerz in ihren Rücken und brannte, stärker, als sie es je für möglich gehalten hatte. Zugleich aber – und das machte ihr noch weitaus mehr Sorgen – entsprang von ihrem Bauch und ihrem Unterkiefer aus ein Gefühl, dass sie nur aus lang zurückliegenden Kindertagen kannte: ein Gefühl, das beim Kontakt von warmer Haut mit Eis entstand, besonders, wenn man einen Schneeball ins Gesicht bekam. Ihr Nervensystem meldete an allen Ecken und Enden wilde, stechende Schmerzen und Hitzewallungen ohne Ende, obwohl nichts daran ansetzte außer der von ihren blauen Flecken ausgehenden, schmerzlichen Kälte. Die Welt kreiselte vor ihren Augen … Sie bekam jedoch nicht viel Zeit, dieses Gefühl einzuordnen. Schon sah sie den Schatten ihres Angreifers über sich hinweg springen und hörte ihn wenige Zentimeter neben sich landen. Dann traf sie wieder ein Schlag – ein gut gezielter Tritt in die Seite, der ihrer Kehle einen qualerfüllten Schrei und ihren Augen Tränen entlockten. Zwei weitere Tritte folgten, einer härter als der andere, doch noch immer machte Cornelia keine Anstalten, aufzustehen oder sich zu wehren. Denn das schreiende, kreischende Etwas, das da über ihr stand und sie diesen entsetzlichen Grausamkeiten aussetzte, war niemand anderes als ihre in Tränen aufgelöste Freundin Hay Lin. ---------------------------------------------------------------------- Letztendlich belief sich die Summe der gekauften Plundertaschen doch nur auf zwei. Diese allerdings waren so saftig und lecker, dass Will, sonst kein sonderlicher Fan von Süßspeisen, die Augen übergingen. Während sie gemeinsam nach Herzenslust schlemmten und sich dabei auf die Deichmauer stützten, überflog Will mit ihrem Blick noch einmal den unter ihnen liegenden Strandabschnitt. Sie waren auf ihrem Weg gut vorangekommen und hatten in den vergangenen Minuten fast das Ende der Uferpromenade erreicht. Von hier aus war es nur noch ein kurzer Weg bis zum offiziellen Ende des Badestrandes. Hier, wo der Sand feiner und die Wellen trügerischer wurden, löste sich das undurchdringliche Netz der Strandbesatzer ein wenig auf und schuf Platz für einige sehr stille, romantische Ecken, die nur wegen des strengen Geruchs nach Algen noch unbelegt waren. Diesen Ort hatten sie für ihren gemeinsamen Urlaubstag ausgewählt. Sobald sie aufgegessen hatten, packte Will ihre Strandtasche am Riemen und führte Irma mit festem, vertraulichem Griff über die Treppe zu den Dünen hinunter. Der Flecken, den sie ausgewählt hatten, lag knapp hundert Meter entfernt, zwischen einigen Felsklippen und dem Abhang der dahinter liegenden Wiesen. Von oben war er durch hohe Grashalme abgeschirmt, und an der Seite durch aufgeschwemmte Sandhaufen, in deren Schatten kleine Kuhlen mit Wasser lagen. ‚Bestimmt voller hässlicher Krabben und Wattwürmer,’ dachte Will schmunzelnd, und ihre Laune besserte sich noch weiter. Frohgemut verflocht sie ihre Finger in Irmas Hand und schlenderte mit ihr in gemächlichem Tempo durch die Schirme. Sie sog die vielfältigen Gerüche nach verbrannter Haut, Badeöl und Meerwasser in sich auf und fühlte sich zum ersten Mal, seit sie das Haus verlassen hatte, wirklich sicher. Das Meer war ihre Welt, die sie von kleinauf kannte und zu der sie immer wieder hingezogen wurde, wenn sie ihre Schwimmnachmittage auch hauptsächlich in überfüllten Hallenbädern zubringen musste. Auch Irma schien dies zu verstehen, doch ihre Augen galten anderen Dingen. Wirbelnden Bällen zum Beispiel, und Jungs in kurzen Hosen… „Irma? Irma!“ Eine schlanke Hand fuchtelte der Wächterin des Wassers vor dem Gesicht herum. „Hallo! Erde an Houston, senden Sie noch?“ „Klar und deutlich, Erde“, antwortete Irma grinsend. „Wir beobachten gerade die beherrschende Lebensform dieses Planeten – groß, schlank, sexy Rücken…“ Will verdrehte die Augen. „Kann es sein, dass du doch nicht so i-l-u bist, wie du sagst?“ „Komm schon, Will! Willst du ernsthaft behaupten, dass dich dieser Anblick kalt lässt?“ ‚Das tut es eben nicht,’ dachte Will, ‚zumindest nicht, wie du diesem Kerl dort dauernd auf den Hintern starrst.’ Nichtsdestotrotz wandte sie ihren Blick dem laufenden Volleyballmatch vor sich zu und beobachtete eine Zeitlang, nicht sonderlich interessiert, den Spielverlauf. Irma dagegen war Feuer und Flamme, obwohl sie sonst alles andere als ein Sportass war. „Sieh es dir nur an,“ flüsterte sie begeistert, „sechzig Kilogramm reine Muskelkraft, schlanke Hände, schöne Kurven… da kommt man schon ins Träumen, oder?“ „Sag mal – wovon redest du da eigentlich?“ In Wills Augen traf keiner der männlichen Spieler dieses Idealbild. „Na, von diesem Traum dort drüben,“ antwortete Irma verschmitzt und drehte Wills Kopf dezent in die richtige Richtung: Drei Badenixen in sportlichen Stretch-Bikinis, die während einer Spielpause über einen gemeinsamen Witz lachten. Das ergab deutlich mehr Sinn … Trotzdem konnte Will sich mit diesem Gedanken nicht so recht anfreunden. Für sie war die Sache mit Irma nach wie vor rein persönlicher Natur. Weder wollte sie sich von nun als Lesbe sehen, noch wollte sie ihre bisherige Vorliebe für Jungs aufgeben… zumindest nicht, bis sie sich über ihre Gefühle absolut im Klaren war. Dies sagte sie auch Irma, die ihre Bedenken verständnisvoll aufnahm. „Ich erwarte nicht von dir, dass du von jetzt an jedem Rock nachschaust “, erklärte sie. „Das wäre gar nicht deine Art. Aber mal ehrlich,“ fügte sie nach einer Pause hinzu, „wenn du mich nicht hättest – für was würdest du dich entscheiden?“ Will schwieg. Sie wagte gar nicht, aufzusehen. Wäre sie wirklich ehrlich gewesen – hätte sie sich dann auf diese Affäre mit Irma eingelassen? Auf eine Affäre mit irgendeinem Mädchen? Gar nicht auszudenken, dass sie überhaupt daran dachte … … Aber wenn es in dieser Sache wirklich nur um eine Frage der Möglichkeiten ging… Vorsichtig hob sie den Blick und fasste noch einmal nacheinander die Mädchen der beiden Mannschaften ins Auge. Keine von ihnen sah schlankweg hässlich oder unsympathisch aus. Aber es gab gewisse Züge, die vor allen anderen heraus stachen … Schließlich blieb ihr Blick bei einem Mädchen hängen, das gegenüber den anderen am interessantesten aussah. Sie stand in Aufschlagsposition und prüfte mit dem Blick das gegenüberliegende Spielfeld ab. Zwar wirkten ihre Augen etwas müde angesichts des Gegners, aber ihr knochiger Körper und ihr Gesicht signalisierten trotzdem volle Aufmerksamkeit und Einsatzbereitschaft. Als sie kurz lächelte, wurden unter ihren Lippen große Zähne erkennbar, die ihr ein freches, kumpelhaftes Aussehen verliehen, und die beiläufige, aber beinahe zwanghaft wirkende Geste, sich die rotblonden Haare hinters Ohr zu streichen, erinnerte Will so sehr an ihre eigenen Gewohnheiten, dass sie gar nicht anders konnte, als Übereinstimmung mit dem Mädchen zu empfinden. Übereinstimmung, ja … aber war das schon Liebe? Will zwang sich, genauer hinzusehen, und ihr Blick wanderte den langen Hals des Mädchens herab, über ihren Rücken, kräftig und wohlgeformt, über ihren Po, wunderbar glatt erscheinend, hinunter zu den langen, staksigen Beinen. „Du hast eine Stelle vergessen,“ flüsterte eine Stimme hinter ihr. Irma hatte sich ihrer Freundin von hinten genähert und schaute ihr nun über die Schulter, die Hände auf ihren Rücken gelegt. Will schüttelte abwehrend den Kopf, doch sie konnte nicht verhindern, dass Irma ihren Kopf wieder einmal manuell auf Kurs brachte und auf das Objekt ihrer Begierde drehte. Ganz plötzlich musste Will sich der bitteren Erkenntnis stellen, dass ein weiblicher Brustkorb, war er auch wie in diesem Fall hager und dünn, beim Atmen unvergleichlich aussah; dass weibliche Brüste nicht allzu offen liegen mussten, um die Phantasie in gewisse Bahnen zu lenken; und dass man, wenn man bei ihrem Anblick Hungergefühle bekam, nicht unbedingt ein Kannibale sein musste … „Unglaublich, oder?“, flüsterte wieder Irmas Stimme, und ihr Mund ging ganz nah an die Ohrmuschel ihrer Freundin heran. „Diese Rundungen … diese Schatten … “ „Jaa…,“ hauchte Will, und fühlte, wie sich die Sperre in ihrem Kopf löste und Gedanken freigab, die ganz selbstverständlich dort geruht hatten. Sie beobachtete das rotblonde Mädchen, das jetzt zum Aufschlag in die Luft sprang, und Abbilder von ihren flatternden Haarsträhnen und mitschwingenden Brüsten sammelten sich in ihr, zu einer Reihe erstaunlicher Phantasien. Irma hinter ihr lachte. „Tja, wer hätte gedacht, dass der weibliche Rücken so wahnsinnig biegsam sein kann?“ Will, die eigentlich gar nicht mehr richtig zuhörte, nickte geistesabwesend. Erst zu spät, als Irma sich von ihr entfernte und der Druck ihrer Hände auf dem Rücken sprungartig zunahm, als sie aufs Spielfeld stolperte und sich alle Blicke, inklusive der des Mädchens, auf sie richteten, wurde ihr der Doppelsinn dieser Worte klar. Jetzt ging es um die Ehre… Es schien beinahe eine Ewigkeit zu dauern, bis Cornelia endlich den Mut zeigte, aufzuspringen und ihrer prekären Situation zu entfliehen. Ihr ganzer Körper fühlte sich an wie ein lose verschraubtes Autogestell, von Schluchzern geschüttelt und von Tränen zersetzt. Halb konnte sie noch Hay Lins Hände fühlen, die sie an der Schulter packten und ihren Rücken mit Faustschlägen traktierten, doch letzten Endes hinderte sie nichts mehr daran, zur Türe zu stürzen und sich in ihrer rasenden Todesangst für einen Weg ins Treppenhaus zu entscheiden. Sie rannte, so schnell es ihr die grün und blau getretenen Beine ermöglichten, doch Hay Lin war ihr dicht auf den Fersen und schickte ihr nacheinander drei scharfe Luftwirbel hinterher, die ihren nur mühsam aufrecht gehaltenen Gang straucheln ließen und sie schlussendlich gegen die Wand neben der Treppe warfen. Cornelia hätte sich fast die Nase gebrochen bei diesem Sturz, doch zum Glück konnte sie noch rechtzeitig die Arme nach vorne reißen und den Aufprall mit den Händen abfangen. Nichtsdestoweniger bremste sie das in ihrer Flucht, und als sie das nächste Mal den Kopf umwandte, sah sie, dass ihre Freundin sie schon beinah erreicht hatte. Auf die kurze Distanz wirkten ihre glattschwarzen Augen von dunklem Feuer beschienen, und ihr Gesicht war eine einzige Maske animalischen Zorns, wie ihn Cornelia noch nie gesehen hatte. Jeder ihrer Knochen signalisierte ihr, aufzugeben, aber Cornelia hörte nicht darauf. Sie zwang ihren Körper torkelnd die Treppe hinab, immer drei Stufen auf einmal nehmend, und schlitterte am Ende in Eisläufermanier um das Treppengeländer, um direkt vor der Wohnzimmertür zum Stillstand zu kommen. Dort, so meinte sie in ihrer Verwirrung, würde es ein Mittel geben, Hay Lin ruhig zu stellen. Gerade noch rechtzeitig schlug sie ihrer Freundin die Tür vor der Nase zu. Die versuchte zuerst noch, die Tür durch einen Wirbelsturm aus den Angeln zu heben, doch als das nicht klappte, begnügte sie sich damit, ihre Schulter mit der Kraft eines wild gewordenen Nilpferdes dagegen zu werfen. Die ganze Decke erbebte unter diesem Stoß, aber Hay Lin kümmerte das wenig. Für sie zählte im Moment nicht viel mehr, als ihren rasenden Zorn irgendwo abzulassen. Zu ihrem Glück erwischte sie bei diesem Ansturm auch die Klinke. Die Tür schwang auf und gab den Blick auf das Wohnzimmer und vor allem Cornelia frei. Die bösartig geschundene Wächterin der Erde hockte neben einer Kommode auf dem Boden, das Gesicht von der Tür abgewandt und nur mit einer Hand notdürftig Halt findend. Ihre Aufmerksamkeit aber galt einem merkwürdigen, kleinen Etwas in der anderen Hand. Plötzlich drehte sie den Kopf und erblickte ihre Freundin. Ihr Gesicht lag halb unter der zerzausten blonden Haarflut verborgen, und ihre Lidränder waren vom stetigen Tränenfluss längst zu konturlosen Flecken zerronnen. Aber das Gefühl, das in ihren Augen stand, war nackte, panische Angst. Angst vor einer Freundin, die sich von einer Sekunde zur anderen in ein Monster verwandelt hatte … Allein dieser Gedanke brachte Hay Lin zum Kochen - sie schickte ihrer Gegnerin einen Wind entgegen, der sonst einen Baum entwurzelt hätte, die Wächterin auf dem Boden aber kaum mehr behelligte. Doch in jenem Augenblick, da der Sturm etwas nachließ - das tat er nur für ein oder zwei Sekunden, denn Hay Lin setzte schon wieder zum nächsten an – in jenem Augenblick also stürmte Cornelia vorwärts, riss die Arme nach oben, die sie vorher verborgen gehalten hatte, und hielt der Wächterin der Luft verzweifelt weinend ein Bild aus längst vergangenen Tagen entgegen : Ein Foto von Irma und ihr, eng umschlungen, am zwölften Geburtstag ihrer Freundin gemacht. Hay Lin hielt kurz inne, ohne indes ihre vorbereitete Haltung aufzugeben. Auch der Luftwirbel in ihren Händen wurde keinen Millimeter kleiner. Dennoch verharrte Cornelia so, die Augen fest auf ihre Freundin gerichtet, das Gesicht so bestimmt wie möglich. Sie drängte das Bild noch weiter nach vorne, dicht vor Hay Lins Augen, und wartete geduldig das erhoffte Ergebnis ab. Hay Lin rührte sich nicht, nur ihr Blick blieb auf das zweifelhafte Foto geheftet, auf das Lachen der beiden Mädchen, auf die leuchtenden Augen und die schwesternhafte Liebe, die schon damals zwischen ihnen geherrscht hatte ... Ein kurzer Ruck ging durch ihren Körper, Cornelia atmete auf ... ... und schon schwang ein lang ausgestreckter Unterarm Cornelias Brust entgegen, an der gleichen Stelle, die er schon einmal getroffen hatte. Cornelia flog quer durch das Zimmer und landete schließlich wieder unter der Kommode, wobei ihr Hinterkopf genau gegen eine Schublade stieß, die durch die Erschütterung alle der Kommode auferlegten Gegenstände der Schwerkraft übergab. Eine der Blumenvasen kippte nach vorn auf Cornelias Scheitel, und das darin enthaltene Wasser ergoss sich in breiten Strömen auf ihre Sporthose. Die Wächterin der Erde war jedoch längst nicht mehr in der Lage, sich darüber aufzuregen. Die schmerzhaften Flecken auf ihrer Haut plagten sie ärger als je zuvor, und das stressgeladene Wummern in ihrem Herzkasten ließ sie bereits an ihrer weiteren Zukunft zweifeln. Im trüben Schatten ihrer zerzausten Haare sah sie wie im Traum die Wandbilder schwingen und trockene Blätter durch die Lüfte wirbeln. Ein letztes Mal sammelte sie die Kraft, um aufzusehen und zu beobachten, wie die kleine Asiatin drohend auf sie zuging, ganz im Bewusstsein ihrer zerstörerischen Kraft gefangen. Dann flackerte ihr Blick, ihr Körper erhob sich wie von grauenvollen Schnüren gezogen, und bevor diese irgendetwas dagegen tun konnte, umarmte sie Hay Lin, ähnlich fest, wie sie es auf dem Foto mit Irma gesehen hatte. Tatsächlich schien all die Kraft, die sie vorher zurückgehalten hatte, nun aus ihr heraus zu fließen. Ein grüner Schimmer umschloss die beiden Mädchen, und vor allem Hay Lin schien dieser Schimmer in ihrem Innersten anzurühren. Ihre überbordende Kraft kam mit einem Mal zum Stillstand, und unter das Tiefschwarz ihres Augapfels drängten sich wieder die Konturen ihrer einstigen Regenbogenhaut hervor. Die aggressive, auszehrende Wut wurde von Cornelias Umarmung aus ihr herausgequetscht, und sie hatte keine Möglichkeit mehr, sich dagegen zu wehren. Eine Sekunde später war alles vorbei. Hay Lin, nun wieder ganz die Alte, stolperte nach hinten wie vom Schlag getroffen, und ließ ihre Freundin dabei wie einen Sack zu Boden plumpsen. Einen Augenblick konnte Cornelia noch spüren, was vor sich ging. Dann kippte sie zur Seite und rührte sich nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)