Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde von Linchan ================================================================================ Kapitel 50: Dämonenkind ----------------------- Der Sommer war kurz, aber heiß. Als er sich dem Ende neigte, ließ er das Land trocken und staubig zurück. In Vialla hatte es fast gar nicht geregnet, im Süden des Landes musste es noch schlimmer sein. Leyya saß auf dem Balkon der Gemächer, die sie mit ihrem Mann teilte, im letzten Licht der vergehenden Sommersonne. Jetzt, am Abend, waren die Temperaturen angenehm; mittags waren sie nicht auszuhalten. Sie blieb deswegen lieber drinnen, um ihr Baby zu schützen und sich nicht unnötiger Belastung auszusetzen. Dabei mochte sie die Dunkelheit drinnen nicht und wäre viel lieber den ganzen Tag draußen… jetzt kam der Herbst. Bald würde wieder Regen kommen… Leyya freute sich auf den Frühling. „Das wird der erste Frühling für dich sein, mein Schatz.“, sagte sie zu ihrem Bauch und streichelte glücklich mit den Händen darüber. Die Monde waren so schnell verflogen; inzwischen war ihr Bauch schon ziemlich rund, es konnte nicht mal mehr drei Monde dauern, bis ihr Baby das Licht der Welt erblicken würde. Sie fragte sich wie so oft, was es wohl würde – ein Junge oder ein Mädchen? Sie wollte beides… sie wollte ganz viele Kinder bekommen, hatte sie tapfer beschlossen. Sie liebte Kinder so sehr… Die kleine Heilerin machte ein entzücktes Geräusch, als sie ganz zart in ihrem Inneren fühlte, wie das Kleine sich bewegte. Es war ein lebendiges kleines Kind, es bewegte sich oft. Manchmal hatte sie deshalb nachts kaum Ruhe, weil es immerzu in seiner dunklen Höhle strampelte und offenbar verkünden wollte, dass es da war. Das waren gute Zeichen; besser als wenn es immerzu still läge, das hätte ihr Angst eingejagt. Leyya wippte glücklich auf dem Stuhl vor und zurück und begann zu singen, während sie so in der Abendsonne saß. Seit sie schwanger war, sang sie oft und gern; es gab ihr das Gefühl, damit könnte sie ihrem Baby ihre eigene gute Laune einflößen. Sie wollte, dass es ein glückliches Kind wurde… Die sich öffnende Zimmertür riss sie aus ihrem Lied und sie erhob sich rasch, eilte in die Wohnstube und erstrahlte vor Freude. „Puran, du bist zurück!“ Der gute Mann bekam keine Zeit, etwas zu sagen, denn schon fiel sie ihm zur Begrüßung um den Hals. Er musste glucksen. „Ach, Leyya… mach doch nicht so einen Wirbel, hast du etwa erwartet, ich würde nicht heimkehren? So weit weg ist die Akademie ja nicht, mein Liebes.“ Sie kicherte mädchenhaft, als sie ihn losließ und er sie liebevoll auf die Lippen küsste, dabei mit der Hand über ihren runden Bauch streichelnd. „Und? Alles in Ordnung bei euch beiden?“, fragte er dann und sie kicherte weiter. „Ja, ich habe unserem Baby gerade ein Lied vorgesungen. Es hat gestrampelt!“ Zu ihrem Bauch sagte sie: „Schau, Vati ist zurück. Sei hübsch artig, mein Kleines.“ Puran lachte leise, ehe er sich mit den Händen müde durch die braunen Haare fuhr. „Verdammt.“, stöhnte er dabei, „Ist das eine Affenhitze. Immer noch, obwohl der Mond der Irrlichter schon halb vorüber ist! Ich schwitze mich tot, ich sage es dir, eines Tages schwitze ich mich tot! Ich hasse Hitze, ich hasse sie so dermaßen…“ Er maulte ein wenig herum, begann dabei im Zimmer herum zu gehen und dabei sein Hemd auszuziehen. „Grauenhaft! Ich bin im Norden aufgewachsen, ich halte grausame Kälte aus, aber mit dieser Hitze kannst du mich jagen. Und da erkläre mir mal, wie ich mich auf das Studium konzentrieren soll, bei dieser Affenhitze. Weißt du, was die größte Sauerei ist? Dass offenbar keiner der anderen Säcke da so ein Problem damit hat, ich komme mir maßlos veräppelt vor… ach, ich gehe baden, entschuldige mich, Leyyachen.“ Seine Frau hatte ihm nur lächelnd zugehört; sie wusste ja, dass er fürchterlich hitzeempfindlich war… es tat ihr leid, dass er solche Probleme hatte, aber dagegen tun konnte sie schlecht etwas… sie konnte nur dafür sorgen, dass er wenigstens dann keinen Grund zum Meckern hatte, wenn er bei ihr war. So kam sie einige Zeit später zu ihm ins Bad und hockte sich neben die Wanne. „Ich hab dir Kaffee machen lassen, Liebling, und ein bisschen etwas zu essen. An sich ist bei so einer Hitze Tee ja viel besser, aber ich weiß ja, dass du Kaffee lieber magst…“ Er seufzte, sah sie kurz an und fuhr sich dann mit den Händen über das Gesicht. „Du bist lieb… bitte mach dir nicht meinetwegen Kummer, Leyya. Du solltest dich ausruhen und nicht für mich die Dienstmagd spielen… ich komme mir immer so garstig vor dann, als hätte ich das von dir verlangt.“ „Ich bin schwanger, nicht krank.“, versicherte sie ihm und strich durch seine nassen Haare, „Als deine Frau ist es doch auch meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass du dich wohlfühlst. Und wenn ich schon nicht Vater Himmel bitten kann, die Hitze etwas zu mildern…“ Jetzt lachte er. „Oh nein, Leyya, du rührst mich… wirklich, das… verdiene ich gar nicht.“ Mit einem verschmitzten Grinsen drehte er sich zu ihr. „Ich habe die beste, klügste, hübscheste und wundervollste Frau der Welt. Eindeutig.“ Sie errötete ob des liebevollen Kompliments und ließ zu, dass seine Hand ihre Haare berührte. „Was hältst du davon, Leyya? Du kommst zu mir in die Wanne, wir schmusen ein bisschen, dann essen wir, setzen uns auf den Balkon und sehen dem Farbenspiel des Himmels zu. Und wenn du müde wirst, bringe ich dich ins Bett.“ Sie strahlte ihn an, ehe sie sich vorsichtig erhob und die Riemen ihres Sommerkleides löste, das ihr dann von den Schultern glitt. „Das ist eine wunderbare Idee, das gefällt mir sehr.“ Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, ließ sie den Himmel in einer sattgrünen, düsteren Farbe zurück über dem Land Kisara. Der schwarze Schleier der Nacht breitete sich über der Stadt aus, bereit, jeden zu verschlingen, der es wagte, um diese Tageszeit noch sein Haus zu verlassen. Nalani fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit. Sie konnte sie selbst beherrschen und trotzte dem Grollen des Himmels, als sie alleine auf einem kleinen Felsen an einem seltsamen Ort hinter dem Palast saß, in ihrem schwarzen Umhang gehüllt, weil die Kälte der Nacht jetzt heraufzog. Die Menschen nannten diesen Ort Friedhof, hatte sie gelernt; in Dokahsan gab es solche Orte nicht, an denen Tote begraben wurden und ihnen kleine Denkmäler oder Grabsteine errichtet wurden. Im Norden wurden die Toten verbrannt; bei den Schamanen war es absolut undenkbar, Tote zu vergraben. Wie sollte so der Geist frei sein und zum Himmel aufsteigen können? Waren die Toten, die hier lagen, ihre Geister, nicht für immer an diesen Ort gebunden? Das war eine seltsame Vorstellung… Sie seufzte, als ein kalter Windstoß sie erfasste und sie schaudern ließ, sodass sie den Umhang fester an ihren Körper presste, um nicht zu frieren. Der Wind kam aus dem Norden, es war die Ankündigung des Winters, der bald auch hier ankommen würde. In Dokahsan musste es jetzt schon recht kühl sein… der Nordwind brachte Nalani immer ein Stück Heimat entgegen. Wenn sie die Augen schloss und sich konzentrierte, konnte sie die nördliche Halbinsel im Wind riechen. Die Fichtenwälder von Yagorh, das Salz des nördlichen Meeres, die sturmgepeitschten Klippen der Ostküste… und wenn sie genau horchte, konnte sie ihre alte Heimat im Wind hören: das Rauschen des großen Stroms Undim, das Zwitschern von Vögeln, die nur im Sommer oben im Norden lebten und im Winter gen Süden zogen, um nicht zu erfrieren. Es war auch das Geräusch von Rehen und Hirschen, die über die Wiesen galoppierten, das Wispern des kalten Nordwindes in den Wipfeln der knorrigen, uralten Bäume… Nalani vermisste Dokahsan. All das, mit dem sie aufgewachsen war, sogar die kalten, unbarmherzigen Hungermonde. Wind erinnerte sie immer schmerzhaft an ihren verstorbenen Mann… Tabari war ein Großmeister des Windes gewesen, ein Mann, der das Element Wind ganz und gar hatte beherrschen können, vom kleinen Lüftchen bis hin zum gewaltigen Orkan. Diese vollkommene Beherrschung eines Elementes war eine seltene Gabe, soweit die Frau wusste. „Tabari…“, wisperte sie sehnsüchtig den Namen ihres Mannes, während sie die Augen geschlossen ließ und den Wind in ihrem Gesicht fühlen konnte, der ihr sanft durch die Haare strich und sie zu umarmen schien. Es war, als wäre Tabari wirklich bei ihr, und der Gedanke machte sie glücklich und ließ sie lächeln. Als sich der Wind änderte, war es mit einem Mal keine Umarmung mehr, sondern eine schneidende Kälte, die ihr ins Gesicht fegte, und sie keuchte und riss die Augen wieder auf. Es war stockfinster und sie hörte das bösartige, warnende Zischen der Geister, während sie sich hektisch erhob und vor sich in der Finsternis die Knochenspiralen tanzen sah. Die Vision… stammelte Nalani innerlich; sie erinnerte sich an diese Bilder, die sie schon oft im Traum gesehen hatte. Gleichzeitig überkam sie eine unangenehme, grausame Kälte, während Massen von Bildern über sie hereinbrachen wie ein Platzregen. Mit scharfen Klauen packte der eisige Wind nach ihr, der einen langen, grausamen Winter ankündigte, und sie fuhr zurück, als sie plötzlich vor ihren inneren Augen ihrem Schwiegervater gegenüber stand, dem Tyrannen Kelar, den die Nachwelt immer noch fürchtete. Er bleckte seine scharfen Eckzähne und seine kalten, blauen Augen sahen sie so herablassend und wissend an, dass sie kurz erstarrte. „Hüte dich, Wachtel… du wägst dich in Sicherheit, ich werde dir etwas anderes beweisen.“ Er lachte ein schauriges Lachen, das ihr eine Gänsehaut bescherte, und sie fuhr herum, als sie das Gefühl hatte, jemand packte sie an der Schulter – aber es war nur die heftige Windböse, die an ihrem Umhang riss, als sie sich umdrehte. Kein Mensch war bei ihr auf dem Friedhof. Vor ihren Augen verschwamm das Bild von Kelar und seinen Eckzähnen. Übrig blieb ein Gefühl der beklemmenden, beunruhigenden Kälte in ihr, und sie schnappte nach Luft. Was ist es, das mich beunruhigt…? Was ist das für ein Gefühl, irgendwo in der Tiefe meines Geistes, das mich seit vielen, vielen Jahren schon um den Schlaf bringt, immer und immer wieder…? Es war diese ständige, innere Unruhe, dieses lauernde Gefühl in ihr, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Nalani trat einen Schritt zurück, holte tief Luft und versuchte, sich darauf zu konzentrieren. Erst, wenn sie den Ursprung des unguten Gefühls gefunden hatte, konnte sie versuchen, es zu bekämpfen… „Du hast mir deinen Posten vermacht, Seherin Salihah…“, murmelte sie dabei dumpf und sah über den dunklen Friedhof, „Aber nicht… deine gewaltige Sehensgabe. Du wusstest… was mich beunruhigen würde, oder nicht…?“ Antworten taten ihr die Geister, aber es war nicht Salihah, die mit ihr sprach; es waren böse, gefährliche Stimmen, und sie zischten, als in der Finsternis die Spirale wieder auftauchte und Nalani in der Ferne ein vertrautes und doch zugleich fremdes, kehliges Lachen hörte. „Weißt du es nicht selbst, wenn du auf dein Herz hörst, Schattenkönigin…? Furcht… ist der größte Gegner der Menschen. Sie kann sie lähmen oder gar töten, wenn sie richtig… eingesetzt wird… nicht wahr?“ Plötzlich wusste sie, was ihr immer noch übel aufstieß; plötzlich wusste sie, was sie noch zu tun hatte, als ihr ein anderes Bild zurück in den Kopf schoss. Ulan Manha. Der komische Koch aus Holia, der immer wieder in meinen Träumen vorkommt und der spurlos verschwunden ist… gemeinsam mit Henac Emo nach Rujas Tod. Sie senkte den Kopf bei den Gedanken an den jungen Mann, den sie als er ein kleiner Junge gewesen war vor dem Tod gerettet hatte. Was war es nur für ein merkwürdiges Schicksal, dass er ihr jetzt nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte? „Warst du mal dort?“ , hörte sie noch Tabari fragen, es schien, als wäre es Ewigkeiten her; dabei war es nicht mal ein Jahr. „In Holia? Wo ist das überhaupt…?“ „Ein kleines Dorf im Osten von Senjo…“ Nalani kehrte dem Friedhof den Rücken, um zurück in den Palast zu eilen. Irgendwie zogen die Geister sie nach Westen, hin zu diesem komischen Ort, aus dem der Koch angeblich stammte. Sie fragte sich, was sie in Holia erwarten würde… Als sie im kommenden Morgengrauen an die Zimmertür ihres Sohnes und seiner Frau klopfte, hatte sie ein paar Dinge zusammengepackt, um damit eine Reise von mehreren Tagen überstehen zu können. Sie hatte sich vom König ein Pferd geliehen, mit dem sie nach Westen reiten wollte. Sie musste sich beeilen… Puran öffnete nach einem gegrummelten „Ja…“ verpennt die Tür. Als er dort Nalani stehen sah, dazu gemantelt und gestiefelt, hob er verschlafen eine Augenbraue. „Was ist denn?“, wollte er wissen. „Ich wollte mich abmelden. Ich werde Vialla für eine Weile verlassen und gehe auf Reisen. Es ist wichtig, aber ich werde mich beeilen und so schnell wie möglich zurück sein.“ „Was, Moment – w-wohin willst du?!“, keuchte er und schien jetzt richtig aufzuwachen. Er öffnete die Tür ganz und musterte sie. „Was hast du vor?“ „Ich muss nach Holia.“, verkündete sie und er machte ein konfuses Gesicht. „Nach was? Kann man das essen?“ „Das ist ein Dorf im Osten von Senjo. Der Ort, aus dem Ulan Manha hierher gekommen sein soll. Es zerfrisst mir den Kopf, ich kann nicht ruhig schlafen, ehe ich das nicht gelöst habe. Irgendetwas wollen die Geister uns sagen, indem sie uns wieder und wieder auf diesen Mann hinweisen… dieser Kerl, der irgendwie mit Rujas Tod zu tun hat.“ Puran erstarrte bei den Worten und Nalani senkte den Kopf. „Rechne nicht vor dem zehnten Tagesanbruch mit mir. Der König weiß Bescheid… die anderen werden wohl eine Weile ohne mich zurechtkommen.“ „Warte!...“ hielt er sie kleinlaut auf und hielt sie am Umhang fest, als sie bereits gehen wollte. „Was ist mit Meoran? Weiß er auch davon?“ „Nein, ich habe es nur dir gesagt und dem König.“ Der Sohn nickt kurz, ließ sie los und sah dann zur Seite. Rujas Tod… er hatte lange nicht daran gedacht, auch nicht an diesen Kerl aus Holia oder Henac Emo. Nachdem er Herr der Geister geworden war, hatte der Verräter die Stadt wieder verlassen und niemand hatte je wieder von ihm gehört in den vergangenen Monden. Es weckte auch jetzt ein unbehagliches Gefühl in seinem Inneren, daran zu denken… Nalani lächelte ihn an, als er schwieg, und hob eine Hand, um seine Wange zu streicheln. „Sei tapfer, du bist schließlich der Herr der Geister.“, neckte sie ihn. „Ja, aber ohne deinen Rat total aufgeschmissen…“, feixte er zurück und neigte den Kopf, „Ich wünsche dir Glück, Mutter. Komm gesund zurück und finde das, was du suchst. Gib auf dich acht.“ Sie nickte, ehe sie ihn wieder losließ und sich entfernte. „Du auch, Puran. Und auf deine Frau. Ich beeile mich, um rechtzeitig wieder hier zu sein… ich würde sie ungern die Geburt alleine überstehen lassen, weder Ruja noch Pinhi sind noch hier, um ihr zu helfen, und sie ist so fürchterlich jung…“ Sie seufzte, als Puran verlegen hüstelte. „Ach, tu nicht so, stehe für das gerade, was du mit deiner Frau machst! Es wird schon gut gehen, ich habe ein gutes Gefühl bei eurem Baby. Es wird ein gutes Baby sein, Puran. Ach ja, und grüße Meoran von mir.“ So sprach sie, ehe sie ging und er ihr nachsah, bevor er die Tür leise wieder schloss und eine Weile schweigend da stand. Vielleicht war es gut für sie, ein wenig zu reisen und alleine zu sein. Auch, wenn sie tapfer war, wusste er genau, dass sie schlimmer um Tabari trauerte als er selbst; er hatte zwar seinen Vater verloren, das war schlimm… aber sie hatte ihren Mann verloren, den sie mehr als jeden anderen Menschen geliebt hatte. Puran konnte nicht sagen, was er tun würde, würde er Leyya eines Tages verlieren… Er wollte nicht daran denken. Es gab genug schlimme Zeichen. Als Meoran kam, vermutlich um seine Grüße abzuholen, tat er es mal wieder im falschesten Moment überhaupt. „Puran, verdammt, hast du deine Mutter-…“ „Argh, schon wieder! Raus!“, unterbrach ihn Purans Stimme mit einem empörten Fauchen, und Meoran blieb wie angewurzelt in der Tür stehen und musste erst mal begreifen, was los war, als Leyya keuchend den Kopf hob und ihr ganzes Gesicht errötete. Von weitem sah er gar nichts, was beunruhigend gewesen wäre, Puran saß auf dem Sessel in der Stube der Gemächer, eigentlich komplett angezogen, und vor ihm hockte die ebenfalls angezogene Leyya am Boden. Er musste schon zweimal hinsehen um zu schnallen, wo ihr Kopf eben noch gewesen war, was aber geschickt durch die gepolsterten Armlehnen des Sessels verborgen wurde. Meoran hüstelte. „Ich bringe Neron um. Aber sowas von. Verzeihung – ähm, wenn ihr fertig seid, hätte ich dich gerne gesprochen…“ Er errötete auch, hüstelte wieder und verschwand ganz schnell wieder aus der Tür, während Puran fassungslos auf die Stelle starrte, wo er eben gerade noch gestanden hatte. „Das ist nicht euer Ernst!“, schnaufte er, „Warum, verdammt, finden wir eigentlich nie mal die Ruhe, ordentlich zu-…?! Ach!“ Er fuhr sich jetzt auch errötend durch die Haare und lehnte sich grummelnd im Sessel zurück, während seine Frau sich gekünstelt räusperte. „V-vielleicht machen wir heute Abend weiter, Schatz-… es schien wichtig zu sein, oder…?“ Puran schenkte seinem Lehrmeister einen grantigen Blick, als er und seine Frau ordentlich angezogen und gekämmt das Zimmer verließen und den unfreiwilligen Störenfried auf dem Flur vorfanden. „Ehrlich, Puran, ich schwöre, das war keine Absicht.“, entschuldigte der sich verlegen, „Ich habe wohl ein Händchen dafür, muss so ein Kindheitstrauma sein, seit ich meinen Onkel und deine Großmutter auf dem Kanapee erwischt habe.“ „Klopfen heißt das Zauberwort.“, machte der Jüngere und räusperte sich, „Erwarte jetzt keine gute Laune, auch, wenn ich dir vergebe.“ „Eigentlich ist Neron Schuld, der Penner muss geahnt haben, dass sowas passieren würde, er hat mich ja hergeschickt, dieser Sack! Ich ziehe ihm das Fell über die Ohren, diesem Naseweis!“ „Ich mache mit.“, verkündete Leyya missmutig, ehe Puran das Thema etwas ungalant wechselte. „Was gibt es, was wolltest du, Meoran?“ „Ah, ja. Neron… dieser Penner… hat mich geschickt, wir suchen deine Mutter. Dich eigentlich auch, du bist schließlich der Herr der Geister. Es gibt etwas Wichtiges zu klären.“ „Das ist ungünstig.“, erwiderte der Braunhaarige und seufzte, „Was ist passiert?“ „Da ist ein Knilch, der in den Rat will.“ Auf der Treppe im Innenhof saßen Neron, Tare Kohdar und Saja und rauchten. Saidah war auch da, sie rauchte natürlich nicht, sondern bastelte aus Blumen einen Kranz. Der Knilch, der in den Rat wollte, stand am Fuß der Treppe und alle drehten die Köpfe, als die drei Neuankömmlinge eintrafen. „Da ist ja Puran, immerhin!“, sagte Tare feixend, aber der Herr der Geister hatte ganz anderes im Kopf, er ging schnellen Schrittes auf die Treppe zu und packte Neron unsanft am Kragen, worauf der anfing, sich halb tot zu lachen. „Du elender Sack, du verdammter, ich werde jetzt nur um Saidahs Willen keine perversen Worte in den Mund nehmen, du Tor, aber oh, ich bringe dich um, Neron Shai, ich bringe dich um!“ „Jetzt lass meinen Mann am leben!“, empörte Saja sich und sprang auch auf, während Neron lauthals lachte. „Ich hab’s gewusst, ich hab’s gewusst!“, schrie er dabei, „Du nimmst also keine perversen Worte in den Mund? Haha, und was deine reizende Frau so in den Mund nimmt, wollen wir-…“ „Ich warne dich!“, zischte der Jüngere und Leyyas Gesicht ging vor Scham in Flammen auf, und ertappt blickte sie zur Seite. Meoran hüstelte. „Neron, das reicht, ich häute dich auch nachher, dass du mich da wissend hingeschickt hast!“ „Himmel hilf, diese Wahnsinnigen wollen mich umbringen, Tare, so tu doch was!“, jammerte der Schwarzhaarige gespielt panisch, während Puran ihn weiter schüttelte. Tare Kohdar pustete den Rauch in die Luft. „Nein das hast du echt verdient, du Penner.“ Er lachte und schließlich ließ Puran seinen Kollegen los und der schenkte ihm zur Entschädigung immerhin eine Zigarette. Er nahm sie murrend an und steckte sie mit dem Feuerzauber Vaira an, ehe er die blonde Saja kurz fixierte. „Zügele deinen vorlauten Mann mal, meine Gute, es täte ihm besser, wenn er mich noch einmal beim Sex stört, grille ich ihn…“ Saja lachte blöd und jetzt erhoben sich alle. „Wo ist Nalani?“, wollte Tare wissen, „Wir dachten, du wüsstest es?“ „Ja, ich weiß es auch. Sie ist weg, sie ist verreist und wird sicher nicht vor dem nächsten Neumond wiederkommen.“ „Was, wohin ist sie?“, entgegnete Tare Kohdar verdutzt, „Sie hat nichts gesagt!“ „Nach, äh, Holia, nach Senjo. – Wie auch immer, ist das der Vogel, der die Prüfung machen will?“ Puran zog an seiner Kippe und nickte in Richtung des bisher schweigsamen blonden Kerls. Alle folgten dem Nicken und der letzte Erbe der Kohdars nickte. Puran seufzte, zog abermals an der Zigarette und ging zu dem Mann herüber, der höflich den Kopf neigte. „Ihr seid wohl der Ratsführer.“, sagte er gut gelaunt. „Es ist mir eine außerordentliche Ehre, ich habe sehr viel von Euch gehört, Puran Lyra.“ Der Ratsführer räusperte sich. „Wie ist dein Name?“ „Senol Kita, Herr.“ Der Braunhaarige hob interessiert eine Braue. „Wie, Kita? Der Kita-Clan? Von denen ist ja ewig keiner bei uns aufgetaucht!“ Er erinnerte sich an Erzählungen seines Vaters; der Kita-Clan war ein gar nicht mal so unbekannter, alter Schamanenclan, es hieß, sie waren sehr entfernt mit den Kohdars verwandt. Ein Mann vom Kita-Clan war wohl im Geisterjägerrat gewesen, als Tabari noch klein gewesen war, hatte er erzählt, der Mann war noch älter als Tabaris Großvater Beksem gewesen. Der blonde Mann nickte. „Ja, äh, ich glaube, mein Urgroßvater war in eurem Rat.“ „Ist ja toll.“, machte Puran verblüfft, „Das ist interessant. Wie alt bist du?“ „Vierundzwanzig…“ Der Ratsführer räusperte sich und warf seinen Kollegen einen Blick zu. „In Ordnung; wir haben ein Problem mit dieser Prüfung, da wir nicht vollzählig sind… meine Mutter ist – wie du sicher gehört hast – nicht hier, und Emo-… ach, der verdammte Emo, müssen wir den etwa schon wieder suchen?!“ „Hinfort mit dem Schattenmann!“, empörte sich Saidah im Hintergrund, die offenbar genau alles mithörte, obwohl sie im Gras saß und Blumenkränze flocht. Der Mann namens Kita sah das Mädchen verblüfft an, dann wieder zur Puran und machte ein verwirrtes Gesicht. „Ich, äh, wollte auch keine Umstände machen, eigentlich war es meine Frau, die diese abstruse Idee hatte, ich weiß gar nicht, ob ich hierzu tauge!“ „Aha, noch jemand, der sich von seiner Frau herumscheuchen lässt!“, feixte Neron Shai und zeigte auf Kita. Tare Kohdar machte ein unbeeindrucktes Gesicht. „Na ja, diese Kerle sind in der Vergangenheit immer die Ratsführer geworden…“ Puran schnaubte und hob die Hände, als Senol Kita etwas sagen wollte. „Moment mal, Leute! Wir losen eben mit Zetteln aus, wer seinen Kampf machen müsste, und wenn wir Glück haben und nicht ausgerechnet Mutter oder Emo ziehen, können wir die Prüfung doch auch ohne die beiden machen, oder nicht? Ich glaube, den Geistern wäre das egal.“ „Wenn du das sagst, du bist schließlich der oberste Schamane hier!“, gluckste Neron, und Saja machte sich schon daran, aus einem kleinen Pergament in ihrer Tasche Lose zu basteln, auf die sie die Namen aller Geisterjäger schrieb, auch Nalani und Henac Emo. „Saja wird unsere Sekretärin.“, erklärte Meoran, der ihr über die Schulter sah, „Sie erledigt den Papierkram und wir sitzen gemütlich in der Sonne und rauchen, das gefällt mir.“ Die blonde Frau sah ihn diabolisch an. „Davon träumst du, Meoran, ich werde auch eines Tages die Prüfung machen! Ich will doch nicht ewig euer Mädchen für alles sein… - so, Puran, komm her und zieh einen Zettel, du bist der Ratsführer!“ „Wieso er, ich kann das eben so gut.“, meckerte ihr Mann und lehnte sich jammernd gegen sie, „Oder sollten wir den Prüfling seinen Gegner selbst ziehen lassen? Wie lustig…“ Senol Kita hörte den seltsamen Gesprächen verblüfft zu und lachte doof, während Puran sich die Zigarette wieder in den Mund steckte, herüber ging und Saja über die Schulter in die Hände griff, in denen sie alle zusammen gefalteten Lose beherbergte. Er zog blind einen Zettel, faltete ihn seufzend auseinander, hob theatralisch eine Hand und zeigte dann auf Tare Kohdar. „Ich wähle dich, Tare, hah!“ „Großartig.“, machte Tare Kohdar, „Also, Junge, das bedeutet, wenn du von den drei Tagen Isolation zurückkommst, darfst du versuchen, mich zu besiegen. Schaffst du es, bist du im Rat.“ Er erhob sich, drückte den Rest seiner Kippe am Boden aus und kramte eine neue aus seiner Jackentasche, die er jedoch dem Neuen hinhielt. „Komm zu uns und rauch eine mit, bevor du aufbrichst.“ Senol Kita grinste ihn an. „Welche Ehre! Ich bin Nichtraucher, danke – aber ich setze mich gerne zu euch, wenn ihr erlaubt. Tut mir leid für die Umstände. Wie gesagt, meine Frau… war der Meinung, ich sollte mich bei euch bewerben, sie sagt, ich würde dazu taugen. Mal sehen, was passiert.“ „Na, deine Frau wird das schon wissen. Ist sie auch Schwarzmagierin?“ „Telepathin. Wir sind noch nicht so lange hier, eigentlich erst etwas mehr als ein Jahr; wir haben eine Weile im Westen gewohnt, bis der Aufruf zur Schlacht gegen die Zuyyaner kam und wir zusammen mit vielen anderen Magiern aus Thalurien herkamen.“ Die anderen sahen sich kurz an. Ja, Puran erinnerte sich an die Zeit, in der er Leyya zur Frau gemacht hatte; damals waren die anderen nach Westen und Süden gereist, um mehr Magier in die Armee zu holen. Der blonde Kerl war ihm bis jetzt nie aufgefallen… der Typ war kleiner als er selbst, aber die strohblonden Haare standen ebenfalls in alle Himmelsrichtungen ab, obwohl sie einen Tick kürzer waren. Die Kitas waren ein Clan von Eismagiern, hatte Puran einmal gehört. Ob der Typ auch das Eis beherrschte? Wäre mal etwas Neues, bisher gab es hier nur Wind, Schatten, Blitze und Feuer. Wenn er aus einem der altehrwürdigen Schamanenclans stammte, war er vermutlich kein schlechter Magier. Mit Eis gegen Feuer zu kämpfen war vermutlich eine spannende Sache; er fragte sich, wie das wohl sein würde in drei Tagen. Die Belagerung von Vialla durch die Zuyyaner war vorüber; ganz verschwunden waren die Feinde aber immer noch nicht. Sie streiften wie Banden von Barbaren durch das ganze Land, auch durch das Nachbarland Senjo oder den Westen von Janami, wie sie in der Stadt gehört hatten. Noch immer plünderten und verbrannten die Zuyyaner scheinbar wahllos irgendwelche Dörfer, manche Trupps wurden von jetzt auch im Land verteilten Kriegern aus Kisara erschlagen. Nalani machten es diese schlechten Zustände des Landes nicht gerade einfach, nach Westen zu gelangen, sie musste viele Umwege machen, um unnötigen Schlachten aus dem Weg zu gehen. Manchmal konnte sie es nicht vermeiden und versuchte dann, ohne große Blessuren aus dem Gemetzel zu kommen. Nach mehreren Tagen des Reisens erreichte sie schließlich die Grenze von Kisara, hinter der sich das Land der Reiter erstreckte, Senjo. Das Dorf Holia lag in der Provinz Kamien, sehr dicht an der Grenze zu Kisara. Von weitem war es kein besonderer Ort, ein unscheinbares, ärmliches Dorf, bescheidener als Iter in Anthurien, wie die Schwarzhaarige feststellte, als sie am Morgen des fünften Tages ihr Ziel erreichte. „Und hier hat der Kerl namens Manha gelebt?“, fragte sie sich, als sie von weitem noch auf der Straße auf das kleine Dorf herab sah, die Kapuze ihres schwarzen Umhangs auf dem Kopf, um sich vor dem Nieselregen zu schützen, der eingesetzt hatte. „Nun… ich hoffe, ich bin nicht umsonst hergekommen, Erdgeister. Ich hoffe, die Bauern hier können mir Antworten geben.“ Aus der Nähe war Holia noch viel ärmlicher und mickriger als aus der Ferne. Es war ein zerrüttetes kleines Dorf, die Häuser waren schlecht gebaut, manche noch schlechter als andere, einige machten den Eindruck, als würden sie jeden Moment in sich zusammenfallen. Die sandigen, engen Wege im Dorf waren aufgeweicht und schlammig; hier musste es im Gegensatz zu Vialla ziemlich viel geregnet haben den Sommer über. Aus manchen Ecken drang fauliger Gestank wie von Aas, die Geisterjägerin fragte sich verblüfft, ob sie hier Leichen horteten oder ein Tier im Stall gestorben war und keiner die Zeit hatte, es zu entsorgen. Als nächstes wunderte sie sich, dass es keine Wachen am Zaun gab, der das Dorf begrenzte – vielleicht waren die Zuyyaner nicht hier gewesen? Sie wurde eines besseren belehrt, als plötzlich mehrere Männer brüllend aus scheinbar verrotteten Hütten stürzten und ihrem Pferd den Weg versperrten. Sie schüttelten wild scharfe Speere und Lanzen in ihre Richtung und das Pferd wieherte und wich panisch zurück, als die Frau die Zügel ergriff. „Keinen Schritt weiter, oder wir reißen dich in Stücke!“, rief einer der Männer und bedrohte das Pferd mit dem Speer, ein weiterer richtete seine Waffe in Nalanis Richtung, bereit, zu werfen, wenn sie eine falsche Bewegung machen sollte. Nalani schnaubte. Sie war eine stolze Frau und ließ sich nicht gerne bedrohen, schon gar nicht von Leuten, die ihr definitiv unterlegen waren; aber sie wollte Antworten, die Männer zu vergraulen wäre sehr kontraproduktiv. Ihnen mit Magie ihre Überlegenheit zu demonstrieren würde die Kerle nur beschämen oder noch misstrauischer machen, so hob sie nur die Hände und zog die Kapuze von ihrem Kopf. „Immer die Ruhe, ich führe nichts Böses im Schilde.“ „Kann jeder sagen! Du bist sicher eine dieser Zuyyaner-Schmeißfliegen, die hier umher surren! Leg deine Waffen weg, alle, die du führst, Weibsbild, oder wir schneiden dich auf!“, war die grobe Reaktion. „Genau!“, pflichtete der zweite Mann grimmig bei und die anderen brummten finster. Nalani seufzte, zog aus ihrem Gürtel zwei Schwerter und ein paar Messer, alles ließ sie vom Rücken des Pferdes aus zu Boden fallen. Einer der Männer wollte die Waffen einsammeln, ein anderer hielt ihn auf: „Nicht anrühren, Dummbeutel! Die zuyyanischen Klingen töten dich und keine Tinktur schließt die Wunden, die sie schlagen, Narr!“ Nalani wollte etwas einwenden. „Ich bin keine Zuyy-…“ Doch sie wurde jäh von einer weiteren Stimme unterbrochen, als ein weiterer Mann hinter einem der morschen Holzhäuschen hervor trat. „Ihr Idioten, die Zuyyaner sind anders angezogen. Außerdem… glaube ich nicht, dass die Frauen haben. Bisher hab ich nie eine bei ihnen gesehen…“ Nalani verengte die Augen und musterte den jungen Mann, der jetzt hinter die anderen Rüpel getreten war, worauf alle ihre Speere und Lanzen sinken ließen und ihn ansahen. Offenbar war das der Häuptling des Dorfes. Er musste älter als Puran sein, aber sicher noch keine dreißig Jahre, überlegte Nalani stirnrunzelnd. Die braunen Haare hingen ihm strähnig vom Kopf, ein Stirnband verhinderte, dass sie ihm auch in das scharfkantige Gesicht fielen. Die Frau neigte höflich den Kopf. „Ich bin keine Zuyyanerin, ich komme aus Kisara.“, verkündete sie geduldig. „Mein Name ist Nalani. Bist du der Häuptling von Holia?“ „So in der Art, ja.“, grinste der jüngere Mann sie an, „Ich bin Arlon.“ Er blitzte sie kurz aus dunklen Augen an und kicherte dann. „So… und wenn du keine Zuyyanerfrau bist, Weib, was hast du dann hier verloren? Du siehst viel zu edel aus für diese erbärmliche Gegend, sollen wir das als Ehre oder als Dummheit betrachten, dass du dich zum gemeinen Volk herab begibst…?“ Nalani zog schweigend eine Braue hoch, als die Männer vor ihr verhalten glucksten und offenbar keine sauberen Gedanken hegten, während sie sie eindringlich begutachteten. Oh, wie sie solche Barbaren verabscheute… hier war sie ganz offensichtlich im letzten Kaff voller Wilder gelandet, die vermutlich rohes Fleisch aßen und wie Tiere über die Frauen herfielen, um ihre Gelüste zu erleichtern. Wenn einer von denen es wagen sollte, sie falsch anzufassen, würde ihr Vorhaben in der Tat schwer werden… sie war nicht bereit, ihre Antworten mit ihrem Körper zu kaufen, da stand sie drüber. Wer war sie denn? Aber wenn sie jeden tötete, der sie falsch anpackte, würde ihr niemand mehr etwas sagen… Sie seufzte und versuchte, die ekligen Blicke zu ignorieren. „Ich bin hier, weil ich nach einem Mann suche, der sich Ulan Manha nennt. Ich habe gehört, er soll hier gelebt haben, stimmt das?“ Sie erntete eisernes Schweigen und die Männer tauschten bedeutungsvolle Blicke aus. Der Anführer, Arlon, verfinsterte seinen Blick. Nalani schwieg. Dann war das also ein Volltreffer, zumindest sahen die Männer aus, als hätten sie den Namen definitiv nicht zum ersten Mal gehört. „Ah, Manhas wohnen schon lange nicht mehr hier.“, sagte Arlon dann und schnaubte, die anderen Männer tauschten beunruhigte Blicke. „Vielleicht ist es besser so, waren komische Leute. Aber sie hatten den gleichen, komischen Akzent wie du…“ „Ja, wir stammen ursprünglich aus derselben Provinz im Norden von Kisara, daher kenne ich den Namen ja. Dass sie nicht mehr hier sind, habe ich befürchtet, wisst ihr, wohin sie sind?“ Arlon lachte sie aus. „Wohin sie sind?! Tot sind sie, Alter! Ich weiß ja nicht, wie es bei euch im Norden ist, aber hier ist Krieg, die verdammten Zuyyaner brennen alles nieder, was sie kriegen können! Manhas waren komische Fanatiker, die konnten zaubern, hat ihnen aber auch nichts genützt!“ Die Frau seufzte, ehe sie die Zügel des Reittiers locker ließ und den Mann vor sich eine Weile fixierte. „Ich würde mir wünschen, dass ihr mir etwas über die Familie Manha erzählt. Alles, was ihr zu sagen habt, egal, wie unwichtig es scheinen mag. Ich versuche, Dinge über sie herauszufinden, weil ich dem Mann namens Ulan in Vialla begegnet bin.“ Die Männer aus dem Dorf sahen sich noch verblüffter an. „Vialla?“, machte einer, „Kisaras Hauptstadt? Was hat der denn da verloren, der komische Kauz?“ „Der ist noch am Leben? Und ich dachte, die Lianer hätten ihn zerfleischt…“ Nalanis Augen weiteten sich ungläubig bei dem Murmeln der Bauern. Zerfleischt? Lianer? Wo war sie denn hier gelandet? Der Führer des Dorfes lehnte sich leicht zurück und grinste abermals. Seine Zähne waren dreckig, Nalani gefiel sein Blick nicht besonders. „Gut, dann mache ich dir einen Vorschlag. Ich lade dich ein und erzähle dir dann alles, was mir zu den Manhas einfällt.“ Die Geisterjägerin sah ihn eine Weile an. Was immer er für Absichten hatte, ihr blieb ja keine Wahl als darauf einzugehen, wenn sie etwas erfahren wollte. Wenn er irgendetwas Dummes machte, konnte sie ihm immer noch drohen. Sie brauchte keine Waffen, um sich zu verteidigen… „Einverstanden.“ Das Haus vom Dorfoberhaupt Arlon war das, was noch am besten aussah von all den Bruchbuden des Dorfes. Es gab sogar eine kleine, hölzerne Veranda, aber die Dielen quietschten und knarrten grausam, als Nalani dem komischen Kerl folgte, als würden sie jeden Moment einbrechen. Im Haus war es schummrig und kühl. Der Boden war aus festgestampftem Lehm gemacht, es gab nicht viele Möbel oder Dekorationen. Der Mann schritt vor ihr her und bellte durch die Hütte: „Weib! Setz Wasser auf und koch Suppe, wir haben hohen Besuch aus dem Osten!“ Nalani verzog noch das Gesicht und fragte sich, wie er es wagen konnte, so abscheulich zu sprechen, da tauchte aus der augenscheinlichen Wohnstube eine kleine Frau in einfachen Leinenkleidern auf. Auf dem Kopf trug sie ein Tuch, das ihre Haare aus ihrem Gesicht hielt, auf dem Rücken hatte sie eine kleine Trage, in der, soweit Nalani das erkennen konnte, ein kleines Baby steckte. Dass der komische Kerl Familienvater war, hatte sie ihm nicht angesehen, musste sie einräumen; aber besonders liebevoll schien er auch nicht zu sein, denn als er vor der Frau stehen blieb, fuhr er unfreundlich fort: „Was ist, willst du Wurzeln schlagen? Ich sagte, wir haben Besuch! Weide deine Augen an der Dame aus Kisara, so etwas wirst du in deinem beschissenen Leben hier vermutlich nie wieder sehen.“ Nalani starrte ihn an. Was sagte der da zu seiner Frau? Am liebsten hätte sie ihm eins übergebraten für diese Unverschämtheit, aber Arlons Frau schien das gewohnt zu sein, sie schnarrte munter zurück. „Ach ja? Schön für die Dame aus Kisara, Arlon! Ich hoffe du vergisst über ihre blendende Schönheit oder ihr blendendes Geld nicht, dass ich deine Frau und Mutter deines Sohnes bin, du Drecksack! Noch einmal so ein Spruch und du kannst dir deine Suppe alleine kochen.“ Der Mann gab ihr eine Ohrfeige. „In die Küche!“, empörte er sich wüst und die Frau gab klein bei, schenkte Nalani einen grimmigen Blick und verzog sich tatsächlich. Während sie ihnen den Rücken kehrte, konnte die Schwarzhaarige einen Blick auf das Baby erhaschen, das in der Trage zu wimmern anfing. Sie sparte sich einen Kommentar zu diesem nicht wirklich blumigen Eheleben, stattdessen folgte sie dem Dorfoberhaupt in die Wohnstube. Er setzte sich ohne ihr einen Platz anzubieten auf ein ausgesessenes, schlecht gearbeitetes Sofa und sie nahm sich genauso ungefragt einen Hocker aus der Ecke des Raumes, um sich darauf zu setzen. Neben ihm auf dem Sofa wollte sie nicht wirklich sitzen, das schien er jetzt auch zu begreifen und schenkte ihr einen brummigen Blick. „Diese blöde Schlampe.“, murrte er dann, „Ich habe sie nur geheiratet, weil sie schwanger von mir war, mir doch egal, was sie macht. Aber sie hat die größten Titten im Dorf. Hier in diesem Kaff hat man ohnehin keine andere Möglichkeit. Einmal hier, immer hier, hier gibt es nichts, nur Viehmist, und als Frau bist du doppelt angearscht. Wenn der Vater deines Kindes dich nicht will, solltest du es besser in deinem Bauch töten, denn mit Kind will dich kein anderer Mann. Na ja, aber dass ich sie hier den ganzen Tag machen lasse was sie will, scheint ihr zu Kopf zu steigen, dass sie so mit mir redet.“ Die Ältere zog desinteressiert eine Braue hoch. Vermutlich redete die barsche Bauersfrau noch viel schlimmer mit ihm und er versuchte hier sich vor ihr herauszureden, um nicht so beschämt dazustehen, weil seine Frau schlagfertig genug war, ihm die Stirn zu bieten. „Wolltest du nicht über Manhas erzählen?“, fragte sie, da sie sein Eheleben nicht wirklich interessierte, doch er fuhr erst mal brummend fort: „Diese Provinz ist Dreck, wir sind so der letzte Abschaum des Landes, am weitesten weg von der Hauptstadt Yuron, wo die ganzen Spießer sitzen und Geld kacken. Als ob irgendeiner dieser Monarchen sich mal um die Armut hier kümmerte, pff, denen doch Wurst.“ Er schenkte ihr einen süffisanten Blick. „Und die aus Kisara sind auch schlimm, wenn nicht schlimmer! In Thalurien hocken auch die ganzen reichen Greise auf ihren vergoldeten Scheißhäusern, kommst du auch daher? Bist sicher so’ne spießige Konkubine von irgendeinem Senator oder so, das sind die klugen Politiker, denen das Volk scheißegal sind, die sagen, sie sprächen für die armen Leute, aber selbst von goldenen Tellern essen, während auf den Straßen die Leute an der Pest verrecken.“ Nalani sah ihn unbeeindruckt an. „Nein, mein Mann ist kein Senator.“ Dass er Statthalter gewesen war, damit Vorsteher eines ganzen Kreises, verschwieg sie ihm besser. „Wie auch immer, du hast weiße Haut, das heißt, du musst nicht draußen arbeiten. Meine Frau ist ganz braun und hat einen krummen Rücken, außerdem sind ihre Beine verbeult, weil sie immer auf der Erde kriechen muss und Rüben pflückt.“ Er beugte sich vor und grinste diabolisch. „Mich würde interessieren, ob sich deine Beine anders anfühlen, die sind sicher ganz glatt und weich.“ „Ja, und meine Faust in deinem Gesicht ist dagegen ziemlich hart, Mann. Ich bin nicht hergekommen, damit du mich anmachst, ich bin nicht in deiner Altersklasse, Oberhaupt von Holia. Erzähle mir von den Manhas.“ Sie sah den Mann eindringlich an und fixierte seine dunklen Augen, bis er sich geschlagen zu geben schien, sich wieder zurücklehnte und brummte. „Als sie hergekommen sind, war ich noch ein kleiner Junge, gerade eben in der Schule oder so, keine Ahnung. Sie waren ein ganzer Schwarm, es gab die Eltern und zehn Kinder. Zehn, zieh dir das bitte rein, eine halbe Armee! Die Frauen hier werfen zwar auch ein Kind nach dem anderen, aber zehn hat noch keine geschafft. Erst recht nicht alle vom selben Kerl… sie haben hier gewohnt, bis die Zuyyaner kamen. Sie haben gesagt, sie kämen aus dem Norden von Kisara. Es gab vier Jungs und sechs Mädchen, der Typ namens Ulan war der Älteste von allen, älter als ich. Der Vater war ein ziemlich guter Jäger, Wahnsinn, und sie waren alle Zauberer. Schwarzmagier, glaube ich.“ „Ja, das habe ich auch gehört.“ Das hatte der kleine Junge Ulan selbst gesagt an dem Tag, an dem sie ihn vor dem Tod gerettet hatten in Vikhara. „Zauberer sind hier in der Gegend sehr selten.“, fuhr Arlon seufzend fort, „In Thalurien gibt es recht viele, aber hier drüber fast gar keine. Das war also schon was Besonderes, einerseits war es ziemlich spannend, andererseits gruselig. Die Mutter war eine totale Hexe, die hat die ganzen Dorffrauen aufgestachelt hier, außerdem ging mal das Gerücht die hätte den Ziegenhirten geschlachtet und an ihre Kinder verfüttert. Sie war, soweit ich das als Kind mitbekommen habe, ziemlich talentiert im Zaubern. Und der Ziegenhirte war so ein Volltrottel, der sie total geil fand, und eines Tages war er verschwunden und niemand hat ihn je wieder gesehen.“ Die Geisterjägerin hob noch eine Braue und war verblüfft. Geschlachtet? Das klang doch sehr abstrus… vielleicht war es nur die Panik der Bauern, die eben Angst vor Magiern hatten. Wenn Ulan noch ein Kind gewesen war, als er hergekommen war, mussten sie ziemlich bald nachdem der Junge bei Lyras gewesen war hierher gekommen sein, schlussfolgerte sie nachdenklich. Warum sie hergekommen waren, war eigentlich nicht wichtig; wichtiger war, wie der Kerl nach Vialla gelangt war. Irgendetwas gab es, das sie übersah. Irgendetwas, ein Bruchstück, das sie nicht kannte, das alles zusammensetzen würde. Warum sah sie diesen Jungen in ihren Träumen? Wieso beschlich sie ein ungutes Gefühl, wenn sie an ihn dachte? „Erzähl mir über Ulan.“, bat sie, „Gab es irgendetwas an ihm, das auffällig war?“ „Auffällig? Pff, also mir ist nichts aufgefallen. Er war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, dieselben Augen, grün, dieselben Wangen, denselben Mund und sogar dieselben Zähne, er hatte voll das Mädchengesicht, bis er erwachsen wurde.“ „Er war ein bildhübscher Kerl.“, kam die Stimme von Arlons Gattin von hinten und Nalani drehte den kopf. Die Frau kam mit der fertigen Suppe, stellte sie auf den kleinen Holztisch vor dem Sofa und setzte sich dazu, während sie allen Suppe in hölzerne Schüsseln schöpfte. Nalani nahm dankend die Schüssel an und beobachtete, wie Arlon seine Frau schnaubend beäugte. „Bildhübscher Kerl? So wie Mädchen hübsch sein sollten vielleicht!“ „Er war bildhübsch, aber komisch, die Manha-Kinder hatten mit uns Dorfkindern nur wenig am Hut. Nun ja, die Mädchen sind natürlich später, sobald sie Titten bekamen, von den Rüpeln hier ziemlich angemacht worden, sie waren alle bildhübsch, wie die Mutter.“ Nalani runzelte die Stirn. „Komisch? Wieso komisch?“, fragte sie und Arlon schien es nicht zu gefallen, dass sein Besuch mit seiner Frau redete, so zischte er und riss die Aufmerksamkeit wieder an sich. „Tss, sie waren Schamanen, die sind alle komisch! Die dachten anders als wir, machten andere Sachen als wir, waren irgendwie… abgedreht. Die waren kultiviert, Alter. Die konnten lesen, diese Säcke! Ich meine nicht nur so Schullesen, sondern richtig lesen, die haben richtige Bücher gelesen. Ulan hat viel gelesen, glaube ich, außerdem war er der Kräuterheini, er wollte sicher Arzt werden oder so.“ „Arzt? Als Schwarzmagier ist das schwer.“, sagte Nalani verdutzt. „Kräuterheini?“ „Ja, er hat immer mit Pflanzen gespielt. Damit kannte er sich ziemlich aus, und es gab das Gerücht, er könnte kochen. Kochen! Wie eine Frau! Ich glaube, er stand auf Männer…“ Das war Nalani relativ egal. Aha, er hatte also schon als Kind kochen gekonnt, dann war seine Begabung wenig verwunderlich. Damit konnten auch die Kräuter zusammenhängen. Eine merkwürdige Art war es aber, als Schwarzmagier Interessen eines Heilers zu besitzen. Aber das konnte doch nicht der Grund für ihre Unruhe sein… dann konnte er eben kochen, ungewöhnlich, aber na und? „Konnte er noch irgendetwas sehr gut?“, fragte sie weiter und Arlon seufzte. Er grübelte eine Weile. „Er war auch ein guter Jäger. Hatten aber komische Methoden, Tiere zu erlegen, bei uns setzt man Köder ein, um Raubtiere zu jagen, ohne ihr Fell zu beschädigen, denn die Felle sind viel wert, entweder als Decke für den Winter oder zum Verkaufen in Koraggh. Das kannten die gar nicht, die Spinner!“ Er lachte und die Schwarzmagierin sagte nichts. Ihr fiel etwas anderes wieder ein. „Einer hatte vorhin gesagt, sie wären von Lianern zerfleischt worden. Wieso Lianer, was haben die mit denen zu tun? Gibt es da irgendetwas, was ihr mir sagen könnt?“ „Wieso Lianer?“, schnaufte Arlon sie an, und seine laute Stimme erschreckte das Baby, es fing an zu weinen und wurde von der Mutter behutsam aus der Trage geholt, worauf sie es an ihre wirklich sehr üppige Brust legte und säugte. „Na, weil die hier immer herum schwirren und Leute angreifen! Wer von den Manhas nicht von Zuyyanern getötet wurde, wurde Opfer der Lianer-Anschläge, habe ich gehört! Komisch, dass Ulan überlebt hat! Woher kommst du noch mal, Frau aus dem Osten? Weiß nichts über die Lianer, pff…“ „Wo ich herkomme, gab es fast keine Lianer.“, erzählte die Frau ruhig und dachte an das Volk der Beschwörer. Nein, sie hatten sich immer im Westen des Zentrums angesiedelt oder im Osten von Kisara, in Noheema sollte es auch einige geben. Das Volk der Lianer, die auch Magier waren, war klein geworden über die Jahrtausende. Sie waren äußerlich unschwer erkennbar, weil alles an ihnen bleich war wie die Monde in der Nacht. Sie hatten sehr blasse Haut, viel blasser noch als Nalani, und sie hatten weißblonde Haare und sehr helle, bläuliche Augen. Die Menschen fürchteten die Lianer nicht weniger als die Schamanen; vielleicht sogar noch mehr wegen ihres eigentümlichen Aussehens. „Die verdammten Ärsche vom Gespenstervolk rennen hier herum und morden, kein Wunder, dass keine vernünftigen Beamten aus der Stadt hierher geschickt werden, keiner regiert freiwillig diese Provinz, weil hier die ganzen Barbaren herumlaufen! Diese ätzenden Lianer, verdammt! Deshalb ist hier ja alles so verkommen! Diese scheiß Politiker, entweder wurden sie von den Gespenstern gemeuchelt oder sie sind kreischend wie Frauen geflohen, pff! Unser Dorf kriegen diese Bastarde nicht platt, wir haben einige erwischt in den Jahren, die Manhas waren auch ganz gut dabei, muss ich einräumen. Vielleicht hat die wahnsinnige Mutter die ja auch an ihre Kinder verfüttert, ich würde es fast wetten, die Leichen sind nämlich alle verschwunden.“ „Die Lianer… greifen Menschen an?“, wunderte Nalani sich verblüfft. Das hatte sie noch nie gehört – gerechtfertigt wäre es, so, wie das Volk zusammengedrängt wurde, so, wie sie behandelt wurden. Nalani hatte gelernt, dass Lianer sehr friedliebende Leute waren, die mit der Natur eins sein wollten und eigentlich keiner Fliege etwas zu Leide tun konnten. Aber die furchtsamen Menschen, die um ihre Machtstellung fürchteten, scheuchten die Beschwörer herum, niemand gewährte ihnen Rechte oder eine Bleibe… da wäre sie als Lianerin vermutlich auch einmal auf die Barrikaden gegangen. „Was haben sie dann mit den Manhas gemacht?“ „Keine Ahnung, das war, nachdem sie hier weg waren!“, machte Arlon entrüstet, „Unser Ältester, Gazal, hat mal davon erzählt, er reist immer durch die Provinz und erfährt überall Neuigkeiten. Vielleicht weiß er mehr. – Weib, geh ihn holen, jetzt!“ „Ich stille deinen Sohn!“, empörte die Frau sich und rückte ihre baren Brüste absichtlich etwas in seine Richtung, um ihn damit zu beschwichtigen – ausnahmsweise Mal wirkte das aber nicht und er zeigte grantig zum Flur. „Raus, jetzt! Ich will Gazal, hier, sofort, bring ihn her! Willst du den Besuch warten lassen, du Schlampe?!“ Der Mann namens Gazal war definitiv älter als Nalani. Er war ein hässlicher, gedrungener Mann, aber er war freundlicher als das Dorfoberhaupt, als er berichtete, was er wusste. „Was ich über die Manhas gehört habe, nachdem sie Holia verlassen haben, war alles etwas schwammig. Die meisten sind hier gestorben, der Vater, ein paar Mädchen und die Hälfte der Jungen. Die ältesten Mädchen und die Mutter sind wohl von den Zuyyanern verschleppt worden, aber vermutlich sind sie auch alle ermordet worden, das weiß niemand. Ich habe aber von einem blutigen Massaker an der Grenze gehört, wo Ulan, der Älteste, sich wohl an der Einheit der Zuyyaner gerächt haben soll. Bewohner des Dorfes Zaria haben erzählt, sie hätten gesehen, wie er ganz alleine die Bastarde zerfetzt hätte, es wäre grauenhaft und makaber gewesen, hieß es. Dann habe ich gehört, er soll eine Weile mit einem seiner Brüder, der wohl als Einziger überlebt hat, in Thalurien herum gelaufen sein. Er hat wohl bei Heilern oder Apothekern gearbeitet, mit seinen Kenntnissen über Kräuter war er da wohl recht nützlich. Sein kleiner Bruder ist mit großer Wahrscheinlichkeit von Lianern getötet worden, das habe ich gehört. Schon bevor die Zuyyaner kamen herrschten hier immer und immer wieder Bürgerkriege mit den Lianern. Normalerweise greifen sie Kader aus der Regierung an oder Beamte, und eher selten Zivilisten. Vielleicht war es auch bloß ein Unfall, aber dass Lianer damit zu tun hatten, wurde von allen Quellen berichtet. Das Letzte, was ich von Ulan Manha gehört habe, der wohl als Einziger dieser seltsamen Familie noch lebt, ist, dass er wohl nach Vialla wollte. Er war schon öfter da, als seine Familie noch hier wohnte, er hat irgendwelche Aufzeichnungen gesucht.“ „Ja, das passt zusammen, ich habe ihn in Vialla getroffen, er war Koch im Palast des Königs.“ „Was?!“, entfuhr es Arlon und seiner Frau und letztere keuchte noch. „Wie, beim König?“ „Er war Koch im Palast, wie ich gesagt habe.“, wiederholte die Magierin. „Und was für Aufzeichnungen hat er gesucht, weißt du das auch, alter Mann?“ Der alte Gazal kratzte sich am halb kahlen Kopf und überlegte. „Ehrlich gesagt weiß ich das nicht genau, Herrin. Es hatte wohl irgendetwas mit Magie zu tun, wenn ich mich recht entsinne. Er hat wohl nach einem bestimmten Zauber gesucht. Ich habe ihn gefragt, woher er wüsste, wo er danach suchen sollte, und er antwortete mir, die Geister des Himmels hätten ihm den Weg gezeigt in ein kleines, unscheinbares Antiquariat im Norden von Vialla. Er hat dort, so wie ich das verstanden habe, auch oft Manuskripte über Dokahsan gesucht, die Provinz, aus der er stammte, über die Geschichte und irgendetwas mit Zaubern.“ Die Frau runzelte nachdenklich die Stirn. Gazal fuhr fort. „Er hat einmal zu mir gesagt, als ich ihn gefragt habe, wonach er denn suche, er suche nach einem bestimmten Zauber, den sein Großvater gekonnt haben soll. Er hat wohl… Aufzeichnungen darüber gesucht, wie er funktioniert, wie man ihn anwendet oder so. Ich habe mich gewundert, wenn es der Großvater war, müsste doch einer seiner Eltern Bescheid wissen. Nein, hat er gesagt, seine Mutter wüsste gar nicht, dass es ihr Vater gewesen wäre. Ich wiederum habe ihn gefragt, woher er es dann wüsste. Die Geister haben es mir im Traum erzählt, hat er gesagt. Schamanen sind eigenartige Gesellen, finde ich… sie sprechen mit Geistern, das ist ziemlich unheimlich.“ Nalani verengte die blauen Augen zu Schlitzen. Sein Großvater konnte einen Zauber, den er können wollte? Es war der Vater seiner Mutter, doch die wusste nicht, dass er ihr Vater war… und alles, was er wusste, hat er durch Visionen erfahren…? Vielleicht ist es ja der eine Zauber, nach dem er gesucht hat, der der Schlüssel ist für das Rätsel… wieso zittert meine Seele vor Furcht, wenn ich an ihn denke? Er war nur ein kleiner Junge… er ist nur ein Koch. Sie senkte den Kopf etwas, ehe sie weiter dachte. Aber er hat Ruja getötet… irgendetwas ist an ihm, das mich bis in die Tiefe meiner Seele beunruhigt und erschüttert. Irgendetwas… ist an diesem Mann, das mich einfach nicht loslassen will. „Hat Ulan gefunden, wonach er gesucht hat?“, fragte sie dumpf und sah zu dem alten Gazal, der sich abermals am Kopf kratzte. „Ja, ich glaube schon. Aber nicht in Vialla. Die Berichte, die er gefunden hat, stammten letztendlich aus Taiduhr.“ Taiduhr war die Provinzhauptstadt von Thalurien. Es war eine kleine Stadt, vielleicht so groß wie Tuhuli, viel kleiner als Yiara, die Provinzhauptstadt von Dokahsan. Mit nicht mehr als dem Namen eines Mannes und seines kleinen Buchantiquariats begab sich Nalani umgehend nach Nordosten, zurück ins Heimatland und nach Taiduhr. Sie bezahlte die Bewohner von Holia für ihre Hilfe mit Geld; es war vermutlich nicht das, was Arlon sich am meisten gewünscht hatte, aber er würde sicher einsehen, dass sein Dorf Geld dringender brauchte als er eine Affäre mit einer älteren Frau. Sie war froh, aus Holia weg zu sein; es war ein wirklich schauderhaftes Örtchen. Die Hauptstadt der Provinz Thalurien war sehr übersichtlich. Sie war viereckig angelegt und alle Straßen waren gerade, eigentlich sehr ungewöhnlich für Städte in Kisara. Die Nacht war bereits hereingebrochen, als Nalani den Ort erreichte und das Tor passierte. Heute würde sie das Antiquariat nicht mehr aufsuchen können, so beschloss sie, sich eine Unterkunft für die Nacht zu besorgen und in dem ihr angebotenen Zimmer schon einmal alles, was sie erfahren hatte, im Kopf zusammenzufassen. Sie hatte nicht wirklich etwas gehört, das sie entsetzt hatte; jeder Horst könnte so eine Geschichte haben. Das Einzige, was sie verblüffte, war die Sache mit dem Großvater und dem ominösen Zauber, nach dem sie zu forschen versuchte; und die Tatsache, dass der Mann namens Ulan Manha fähig gewesen war, eine ganze Kompanie Zuyyaner alleine zu töten. Entweder war er für seine gewöhnliche Herkunft übernatürlich begabt – was ja durchaus möglich war, Neron Shai bewies das auch – oder es gab einen Zusammenhang zwischen dem Zauber, dem Großvater und den Fähigkeiten des Mannes. Über die verwirrenden Gedanken fiel die Frau bald in einen traumlosen Schlaf. Das Antiquariat, das sie gesucht hatte, befand sich im Osten von Taiduhr in einem ärmeren Teil der Stadt. Es war ein unscheinbarer kleiner Laden mit altem Krempel, staubigen Artefakten, die vermutlich halb so viel wert waren wie sie kosteten. Der Inhaber des Ladens war ein alter Greis, der kaum noch Zähne hatte und Haare schon gar nicht, und er musterte die Frau mit einem langen, wissenden Blick. „Ihr seid die Königin, die Witwe von Tabari Lyra, habe ich recht?“, begrüßte er sie und sie starrte ihn an. Ein Blick genügte, um sie verstehen zu lassen, dass er Magier war; Telepath, wie sie merkte, als er auf ihre unausgesprochene Frage antwortete. „Ich habe geträumt, Ihr würdet kommen. Vor zwei Tagen war das. Die Geister… haben Euch hergeführt, nicht wahr?“ Der Mann machte eine unterwürfige Kopfneigung und Nalani hob eine Hand, um ihn anzudeuten, dass er das nicht zu tun bräuchte. „So scheint es. Die Geister und der Hinweis eines Mannes aus Holia. Sagt, Ihr führt diesen Laden gewiss schon lange?“ „Mein ganzes Leben, so weit ich denken kann.“ „Dann seid Ihr irgendwann schon einmal jemandem begegnet, der… von den Geistern hergeführt worden ist, nehme ich an. Einem jungen Mann vermutlich, mit braunen Haaren, grünen Augen und einem auffallend hübschen Gesicht.“ Während sie sprach, wunderte sie sich, dass diese Beschreibung genauso gut auf ihren eigenen Sohn hätte zutreffen können. Der Mann sah sie weiterhin wissend an. „Ich habe auch geträumt, Ihr würdet… nach Dingen fragen, die schon einmal erfragt worden sind hier. Vor einigen Jahren kam tatsächlich so ein Mann hierher, ein unscheinbarer Bauernjunge, aber er hatte einen mächtigen, Furcht einflößenden Geist.“ Er griff unter die Theke, hinter der er stand, die umrahmt von Gerümpel war, und zog einen kleinen, zusammengefalteten Haufen schmutziger, alter Papiere hervor. „Er hat hiernach gesucht… ich schätze, es hat ihn weitergebracht, sie zu lesen. Er hat sie nicht weiter gebraucht und mit wieder gegeben. Nehmt sie!“ Er hielt ihr die Lumpen hin und die Frau nahm sie dankend an, faltete die Blätter auseinander und runzelte die Stirn. „Was ist das?“, fragte sie nach. „Es sind Seiten aus Tagebüchern. Ich sammele Relikte aus anderen Zeiten, Zeugnisse von früher, sozusagen. Das hier hat ein Mann aus Dokahsan geschrieben. Er war Krieger, eines Tages vor sehr vielen Jahren kam er hierher und brachte diese Zettel. Er schien es für wichtig zu befinden, dass man sie aufhob und dass die Nachwelt die Chance bekam, sie einmal zu lesen. Der Mann kam um 961 hierher, also vor über zwanzig Jahren. Seine Einträge hier sind aber noch mal zwanzig Jahre älter, sie stammen aus den sehr frühen Vierzigern. Vielleicht interessiert Euch, was er geschrieben hat.“ Nalani runzelte die Stirn. Diese Pergamente waren älter als sie selbst; sie waren etwa so alt wie Tabari, ein wenig jünger. Was mochte hier stehen, das Ulan Manha fasziniert hatte? Sie versuchte, aus dem Text schlau zu werden, der in krakeliger, unsauberer Schrift auf die zerrissenen Papiere geschrieben worden war. Hungermond. Die Männer aus Anthurien geben nicht auf. Ich habe den Sohn des Heerführers gesehen, er verfügt über eine scheußliche Art von Zauber. Dunkle Geister verwehren mir die Sicht auf das, was er denkt, wenn er das tut. Es ist ein grausamer Fluch, mit dem er die Männer unter Todesqualen foltert, bis sie am Schmerz verrecken, den ihnen der Zauber beschert. Er verursacht keine Wunden, er hinterlässt nur ein kleines Zeichen auf der Haut an der Stelle, an der der Fluch das Opfer traf. Er kann damit Schmerzen verursachen, so viel es ihm gefällt, und sie auch aufhören lassen, aber das würde er ja nicht tun. Ich habe gesehen, wie sie Verräter und Meuchler damit zur Strecke gebracht haben, wie sie Kader aus Anthurien damit so lange gefoltert haben, bis sie vor Schmerzen wahnsinnig wurden und dann starben. Es muss ein furchtbarer Zauber sein, der eine gewaltige geistige Kraft erfordert, ebenso wie die gewollte Grausamkeit, einen Menschen so leiden zu lassen. Habe schlimme Gerüchte gehört, der Heerführer misstraut seinem eigenen Sohn, glaube ich. Es weiß vermutlich kaum jemand von diesem Zauber, ich habe es nur zufällig gesehen und fürchte um mein Leben; wenn sie es erfahren werden sie mich sicherlich jagen und schlachten… Was dann kam, war weniger interessant, nur der letzte Satz des Eintrags auf der letzten Seite machte Nalani wieder aufmerksam. Hütet euch vor dem Dämon, der mit seinen Fängen das Zeichen des brutalen Schmerzes setzt. Nalani keuchte. „Der Dämon!“ machte sie, „Das… das Zeichen! Der Zauber hinterlässt keine sichtbare Wunde, sondern nur ein Zeichen! Ein Zeichen, über das brutale Schmerzen heraufbeschworen werden können… das ist der Zauber, den Ulan Manha gesucht hat? Den sein Großvater konnte?“ Sie starrte fassungslos auf die Zettel. „Das… ist ja grauenhaft!“ Es war in dem Moment, dass die Geister ihr auf die Sprünge halfen. „Es ist nicht nur das, Königin… es hinterlässt keine Wunden, aber es tötet. Ein Zeichen, keine Wunden. Das Zeichen des Dämons.“ Die Frau erbleichte, als die Geister mit verschiedenen Stimmen sprachen. Stimmen, die sie einst gehört hatte. „Da war ein Mann… er hat sie alle getötet. Es ging so schnell-… ich glaube, es war ein Dämon.“ Sie schloss bebend die Augen, als sie wusste, was sie hier in den Händen hielt. Den Ansatz von dem, was es bedeutete. „Dieser Kerl… Ulan Manha… er hat den gesamten Kohdar-Clan auf dem Gewissen. Er hat sie mit diesem Zeichen… alle umgebracht.“ War es den ganzen Sommer über trocken gewesen, kam jetzt der Regen mit aller Macht zurück über das Land. Und mit ihm fegte der dunkle Schatten der Zukunft zurück über das Schloss von Vialla, der die alte, tief verwurzelte Furcht wieder weckte, die in Vergessenheit geraten war. „Schatten wird über euch fallen und euch in Finsternis ertränken…“, sprachen die Geister, und sie wisperten fremdartige Worte, die Puran nicht verstehen konnte. Er sah hinab und erblickte auf seiner Hand plötzlich die Spirale tanzen, die er seit Jahren sah, die Spirale, die ihn wieder und wieder beunruhigte, ohne dass er wusste wieso. „Warum fürchtest du dich? Weil du nicht weiß, was dich erwartet, wenn der Schatten die Erde berührt?“ „Oder eher, weil du genau weißt, dass du nicht ausweichen kannst…? Es ist das Ende der Welt.“ Wieder kicherten die Geister und die bedrohlichen Stimmen mit fremden Worten jagten dem jungen Mann eine Gänsehaut über den Körper, sodass er unwillkürlich heftig erzitterte. „Instinktiv weißt du doch, was es ist, das du fürchtest… immer noch, immer wieder, wie du es seit jeher getan hast. Den Dämon… der auch ein Teil von dir ist…“ „Puran?!“ Leyyas besorgte Stimme durchschnitt das Gemurmel der Geister und er riss keuchend die Augen auf – sie brannten wie Feuer, daran merkte er, dass er sie gar nicht zu gehabt hatte. Er träumte schon mit offenen Augen am lichten Tag? „Was-…?“, machte er verdattert und seine Frau zog japsend seine Hand hoch. „Du hast das Tintenfass umgeworfen!“, klagte sie, „Was ist denn passiert? Plötzlich warst du so abwesend und du… mein Himmel, du zitterst…“ Er schnappte nach Luft und starrte vor sich an den Tisch, an dem er saß, und auf die Papiere mit den Notizen, die er für seine Akademie und das Studium hatte machen wollen. Von dem Papier war nichts mehr übrig, es ertrank jämmerlich in der schwarzen Pfütze aus Tinte, die sich aus dem kleinen Fässchen über den ganzen Tisch ergoss, ebenso wie über Purans Hose und den Stuhl und den Teppich unter dem Schreibtisch. Er stieß einen lauten Schrei aus. „Verfluchter Dreck! Oh nein, verdammt, Scheiße! – Ich weiß, das sagt man nicht! Ach, Himmel hilf, wehe, jetzt fange ich an zu reden wie meine Tante, diese verdammte Tinte, sie ist überall! Oh nein, der Teppich, d-der König bringt mich um! Ach, wie ungeschickt…“ „Du liebe Güte!“, machte Leyya auch erschrocken und eilte mit einem Tuch aus dem Bad heran, um zu versuchen, damit und mit etwas Wasser die Flecken aus dem Teppich zu lösen. „Was ist geschehen…?“, wollte sie dabei wissen, während er weiter fluchte, seine versaute Hose auszog, froh war, dass die Unterwäsche nichts abbekommen hatte – ein Wunder – und versuchte, mit einem zweiten Tuch auch die schwarze Tinte vom Tisch aufzuwischen. „Meine ganzen Unterlagen sind im Eimer, ach!“, meckerte er, „Jetzt kann ich von vorne anfangen, Himmel!...“ Er beruhigte sich etwas, während er die nassen Papiere in den Müll warf und der Schauer von zuvor ihn wieder überkam, als er aus dem Fenster in den grauen Berg aus Wolken starrte. Der Schatten… er war wirklich zurückgekehrt, in die Stadt wie auch in seinen Geist. Er fühlte die Unruhe wieder, die er für eine Weile verdrängt hatte, und die Gewissheit, dass irgendetwas Schreckliches zum Greifen nahe war, dass irgendetwas passieren würde, ließ ihn seine Papiere und die Tinte vergessen. „Ich weiß nicht, was es ist.“, murmelte er, „Aber es… macht mir… gerade Panik, Leyya.“ Seine Frau erhob sich vom Boden und sah ihn erschrocken an, wie er apathisch zum Fenster starrte, „Das war eine Vision, oder…? Was haben die Geister gesagt, Puran?“, flüsterte sie und nahm sanft seine Hand, die immer noch bebte und zitterte. Es war die Hand, die durchlöchert gewesen war, die sie geheilt hatte; das Zittern war plötzlich grauenhaft heftig geworden, obwohl sie ihn festhielt. „Puran, deine Hand… w-was machst du mit deiner Hand?“ „Gar nichts… dass die so zuckt, bin ich schon gewohnt, das tut sie meistens bei Neumond. Der Holzmond ist angebrochen…“ „Was hast… du gesehen?“, wisperte die Heilerin besorgt und sah ihm fest ins Gesicht. „Puran! Sieh mich an! Was haben sie gesagt?“ Er senkte den Kopf, um zu ihr herab zu sehen, aber seine grünen Iriden wanderten nur orientierungslos hin und her. „Sie sprechen… von Dämonen… und vom Ende der Welt. Irgendetwas sagt mir… dass irgendetwas Schlimmes passieren wird. Ich weiß nur nicht, was es ist…“ Nalani kam am Nachmittag, dem Schatten folgend, der über die Stadt fiel wie giftiger Regen. Seit ihrem Aufbruch waren elf Tage vergangen; Puran und Leyya empfingen sie am Tor des Palastes, wegen des heftiger werdenden Regens Schirme tragend. Da Nalani keinen Schirm auf dem Pferd halten konnte, war sie nass bis auf die Knochen, als sie das Tier in den Hof des Schlosses führte, ihre triefende Kapuze zurückwarf und Wasser von ihrer Nasenspitze pustete. „Der Schatten des Unheils eilt dir voraus, Mutter!“, begrüßte Puran sie dumpf, „Was hast du für schlechte Nachrichten mitgebracht?“ Seine Mutter warf ihm einen kurzen Blick zu. Sie hatte es auch gespürt… es war ein schlechtes Gefühl gewesen, das sie am Morgen geweckt hatte, und es war immer schlechter geworden, je dichter sie an Vialla heran gekommen war. „Kehr um.“ , hatten die Geister gesagt, „Versuch es, Königin. Auch wenn du nicht weit kommen wirst…“ „Kehr um und deine Familie wird dem Tode geweiht sein.“ So hatten sie gesprochen und es war klar gewesen, dass sie nicht umkehren konnte. Sie würde ihren Sohn, ihre Schwiegertochter und ihr ungeborenes Enkelkind nicht im Stich lassen, was immer es war, das sie zu bedrohen schien. Als sie jetzt vom Pferd absaß und sich schüttelte ob der Nässe und plötzlichen Kälte, überkam sie ein Schauer aus purem Unheil. Es fühlte sich an, als würde sie von irgendwo aus der Ferne von Augen voller Bosheit beobachtet und durchbohrt werden. Wie scharfe Speere drangen sie ihr in Mark und Bein, doch als sie sich keuchend umdrehte, war niemand da. „Ich habe Dinge über Ulan Manha herausgefunden.“, sagte sie knapp, als sie merkte, dass ihr Sohn sie erwartungsvoll anblickte. Jetzt weitete er die Augen und Leyya klammerte sich an seinen Arm, mit der freien Hand hielt sie den Regenschirm. „Der Koch, der… Ruja getötet hat?“, japste sie dabei und die Schwiegermutter schenkte ihr einen nichtssagenden Blick. „Er hat nicht nur Ruja getötet, wie es aussieht. Lasst mich etwas Trockenes anziehen, dass berichte ich euch, was ich erfahren habe.“ Der Regen hatte sie ziemlich ausgekühlt; in ihrem Zimmer wusch sie sich kurz mit heißem Wasser, um wieder etwas aufzutauen, ehe sie sich frische, trockene Kleider suchte. Doch ehe sie sich anzog, setzte sie sich einfach wie sie war auf ihr Bett, um einen Moment in völliger Stille einfach zu sitzen und Ruhe zu haben. Hütet euch vor dem Dämon, der mit seinen Fängen das Zeichen des Schmerzes setzt. Der letzte Satz des alten Eintrags auf den Zetteln ließ ihr keine Ruhe, seit sie Taiduhr verlassen hatte. Es war, als versuchten die Geister, Erinnerungen in ihrem Kopf wach zu rütteln, die sie verloren zu haben schien, indem sie sie andauernd daran erinnerten. Und es war ein ungutes Gefühl, das sie ausfüllte, eine tiefe, finstere Ahnung von Bosheit, die sie, wenn sie tief in sich hinein horchte, schon seit Jahren spürte. Immer wieder. „Der Sohn des Heerführers.“, murmelte sie nachdenklich, während sie nackt auf dem Bett saß und langsam ihre Wäsche zusammensuchte, um sich bald anzuziehen. „Wer war der Sohn des Heerführers? Der Mann, der den Zauber beherrschte, der Kohdars getötet hat… das war der Großvater von Ulan Manha, der seine Technik übernommen hat. Verdammt, in Dokahsan gab es vermutlich diverse Heerführer, der Krieg gegen Anthurien hat Jahre gedauert, ewige Jahre!“ Sie zischte, ehe sie sich erhob und sich tatsächlich anzog. Irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht weit entfernt war. Der Schlüssel, der das Rätsel lösen sollte, war zum Greifen nahe, sie spürte es instinktiv… und dennoch stand sie blind in der Finsternis, sie verstand das fremdartige Gemurmel der Geister nicht. Die unheimliche Beunruhigung in ihrem Inneren machte sich mit lautem Herzklopfen bemerkbar und die Frau fasste schweigend auf ihre Brust, versuchend, sich zu beruhigen. Sie wusste nicht, ob es die Ungewissheit über das Rätsel war, die sie fürchtete, oder nicht eher eine tief verwurzelte, instinktive Gewissheit… über das, was unmittelbar bevor stand. Über das, was unweigerlich geschehen würde. „Du hast es geträumt, schon lange. Deswegen hast du dem Mann in Kadoh dein Schattenschwert gegeben, Nalani. Du spürst, dass der Schatten… um deinetwillen gekommen ist.“ Sie antwortete den Geistern nicht, als sie jetzt angezogen zum Fenster in die Dunkelheit starrte. Es wurde Abend. „Tabari…“, wisperte sie tonlos den Namen ihres Mannes, „Was würdest du an meiner Stelle tun?“ Ihr Mann schwieg und sie schloss seufzend die Augen, ehe sie leise ein und aus atmete und sich daran machte hinunter zu gehen. Es war zeit für das Abendmahl. Und sie hatte noch viel zu berichten. „Das ist Senol Kita.“, wurde der Geisterjägerin im Speisesaal der junge Mann vorgestellt und sie musterte ihn kurz. „Er ist jetzt Mitglied des Rates!“, addierte Neron fröhlich, der jetzt neben dem Neuen stand und ihm kameradschaftlich auf den Rücken klopfte. Der Blonde verneigte sich vor Nalani. „Ich habe viel von Euch gehört, Herrin.“ „Wie, er ist Mitglied des Rates?“, wunderte diese sich bloß, „Ich war nicht hier, wieso habt ihr ohne mich die Prüfung gemacht? Und Emo?“ „Wir haben Lose gemacht und zum Glück wurden weder du noch Emo gezogen.“, erklärte Puran, „Die Geister haben mir nicht widersprochen, Kraft meines Amtes als Herr der Geister habe ich also entschieden, wir machen es einfach ohne euch. Zumindest hat mir niemand widersprochen und der Kerl hat Tare besiegt…“ „Ja, wir vom alten Schlag müssen wohl Platz machen.“, machte Tare Kohdar und die einzige Frau im Rat zog die Brauen hoch. „Ja, vielleicht sollten wir das. Willkommen im Rat, Senol Kita. Ich bin Nalani, wie du ja weißt. – Setzen wir uns, ich habe Schauergeschichten aus dem Westen mitgebracht.“ Der König hatte wie jeden Abend eine große Tafel, an der alle aßen, und ließ einen Gang nach dem anderen servieren, als lebten sie in einem Reich des Überflusses. Die anderen Geisterjäger waren entsetzt über die Neuigkeiten bezüglich des Todes der Kohdars, die Nalani ihnen brachte, vor allem natürlich Tare, der vor Schreck sein Brot verschluckte und fast erstickt wäre. „D-der Kerl hat – er ist Schuld an allem Unheil!“, röchelte er dann, noch immer halb über den Tisch gebeugt, als Meoran ihm das Leben gerettet und ihm so lange auf den Rücken geschlagen hatte, bis das Brot wieder aus seiner Luftröhre gekommen war. Keiner wagte, den Namen Ulan Manha in den Mund zu nehmen; wer wusste, wer zuhörte und zufällig mit ihm befreundet war? „Ein Zauber, der ein Fluchmal schafft und Schmerzen verursacht, die einen umbringen?“, fand Puran viel entsetzlicher und er schauderte. „U-und wer ist der Sohn des Heerführers, von dem du gelesen hast?“ „Wenn ich das wüsste, wären wir einen Schritt weiter. Es gab in Dokahsan sehr viele mächtige Schamanen, die zu so etwas Furchtbarem in der Lage gewesen wären.“ Sie drehte den Kopf und sah an der Tafel entlang, an der sie saßen und immer noch aßen. „Was mich ebenfalls stutzig macht ist… dass er Ruja nicht auf dieselbe Weise getötet haben kann wie Kohdars. Sie hatte nicht das Mal.“ Daraufhin erntete die Frau stumme Blicke von ihren Kollegen, die ihr recht gaben. Meoran unterließ einen Kommentar, er gab seiner Tochter, die neben ihm saß, eine Schale mit Pudding. Dieser Mann hatte seine Frau auf dem Gewissen und vermutlich den ganzen Kohdar-Clan, abgesehen von Tare… der Gedanke, dass der Kerl frei umher lief und niemand wusste, wo er war, stieß ihm jetzt übel auf und er warf einen besorgten Blick auf Saidah, die fröhlich Pudding aß. „Wenn er Ruja nicht mit diesem Zauber getötet hat, wie dann?“, fragte Neron, der neben ihm saß, und Meoran zischte. „Können wir mal aufhören, über ihren Tod zu sprechen, bitte?“ „Willst du nicht wissen, was sie umgebracht hat? Jedenfalls war es nicht dieser Zauber. Emo hatte doch auch damit zu tun, oder…?“ Neron sah fragend zu den anderen, doch die schwiegen nur. Es war nie klar gewesen, was genau Ruja getötet hatte; sie hatten es nie wissen wollen. Es war furchtbar genug, dass sie tot war. Puran seufzte und widmete sich wieder seinem Essen, nachdem er seinem Meister noch einen trüben Blick geschenkt hatte. Er konnte verstehen, dass es ihm nicht gefiel, wenn sie so darüber sprachen, als redeten sie vom Einkaufen. Als er jetzt an Meorans hübsche Frau dachte, schmerzte ihn die Erinnerung an ihren Tod ebenfalls noch. Es war gerade ein Jahr her… etwas weniger. Ein Jahr, und wie gerufen war der Schatten jetzt zurückgekehrt. Er schauderte und ließ das Besteck fallen, als sein Kopf plötzlich schmerzte und pochte, als die Geister anfingen, zu zischen und in eigenartigen, bedrohlichen Worten zu zischen. Für den Bruchteil eines Augenblickes flackerten die Bilder der Spiralen wieder vor seinen Augen auf, ehe er sie richtig erfassen konnte, waren sie wieder verschwunden. Seine linke Hand zitterte wie Espenlaub, als er sie an seine pochend schmerzende Schläfe hob, und er erntete einen besorgten Blick von Leyya, die neben ihm saß, und einen scharfen von seiner Mutter, die ihm gegenüber den Kopf hob und ihn jetzt kalt fixierte. „Was hast du?“, flüsterte die Heilerin unruhig und griff hektisch nach Purans zuckender Hand, um sie verwirrt zu betrachten. „Ich habe die Wunde doch geheilt, irgendwelche Nerven scheine ich nicht getroffen zu haben, so, wie du zitterst… und immer nur links!“ Ihr Mann hörte ihr nicht mehr zu, er senkte nur schwer atmend den Kopf, als die Unruhe und die Furcht in seinem Geist mit einem gewaltigen Hammerschlag so heftig wieder zurückkehrten, dass ihm übel wurde und er sich beinahe auf den Tisch übergeben hätte. Als er sprach, war es kaum mehr als ein heiseres Krächzen, das aus seiner Kehle kam. „W-was immer es ist… das meinen Geist dermaßen beunruhigt… es ist jetzt in diesem Moment näher an uns dran als jemals zuvor…“ Er hatte das Gefühl, dass die kommende Nacht grausam werden würde. Seine Instinkte hatten ihn nie im Stich gelassen. Obwohl der Neumond bereits wieder vorüber war und der Holzmond ins Land gezogen war, zitterte seine linke Hand mit der hässlichen Narbe so heftig wie nie zuvor, hatte Puran das Gefühl, als er am Abend auf der Seite im Bett lag, seiner Frau den Rücken kehrend, obwohl er wusste, dass sie genauso wach war wie er selbst. Sie war hochschwanger; dass sie sich vereinten, war keine gute Idee, und auch auf die Spielchen ohne echte Vereinigung, die sie seit ein paar Wochen als Ersatz trieben, hatte er gerade keine Lust. Die Unruhe in seinem Geist und das Zittern seiner Hand störten ihn zu sehr, als dass er sich auf das Liebesspiel hätte konzentrieren können. So viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die ihn störten und verwirrten, die ihn zutiefst besorgten. Dieser Kerl, Ulan Manha, den er zum ersten Mal als kleiner Junge gesehen hatte und der seitdem immer wieder in seinen Träumen aufgetaucht war, war nicht einfach irgendein Koch. Nicht einmal irgendein bösartiger Koch; er hatte Kohdars getötet. Er beherrschte einen Zauber, der selbst Persönlichkeiten wie Hakopa und Barak getötet hatte, mächtige Magier, denen so ein Landei eigentlich unterlegen hätte sein müssen. Und er hatte Ruja getötet… auf eine andere, aber ebenso abstruse Art und Weise, da war Puran sicher. Ruja war keine dumme Frau gewesen. Sie war eine gute Seelenmagierin gewesen und sie hatte nie etwas mit dem Koch zu tun gehabt; wann hätte er einen Fluch auf sie sprechen sollen? Und noch dringender war eigentlich die Frage nach dem Warum. Die Geister schwiegen ihn an und ließen ihn allein in der Dunkelheit, alleine mit der Ungewissheit, was geschehen würde. Aber ein flaues, fürchterliches Gefühl in seinem Magen verriet ihm, dass es nichts Gutes war, was kommen würde. „Sprecht mit mir.“, bat er die Himmelsgeister in Gedanken und vergrub die bebende Hand unter dem Kopfkissen, um das ewige Zittern etwas zu unterdrücken. Langsam nervte es wirklich… ob Leyya irgendeine Medizin hatte, die das eindämmte? „Was ist es, das Ruja getötet hat? Was verschweigt ihr vor mir? Sprecht!“ Die Geister kicherten und er keuchte, als ihm schwarz vor Augen wurde; nicht, weil er ohnmächtig geworden wäre, sondern ob der Schatten, die plötzlich über seinen Geist fielen. In der Ferne tanzte die weiße Spirale. „Was willst du jetzt machen, Lyra?“, fragte eine bekannte und doch unbekannte Stimme in der Dunkelheit. „Mich erschlagen? Eure Zeit ist abgelaufen, du spürst es genauso wie ich. Ich werde dafür sorgen, dass es so ist…“ Er hörte ein schauriges Gelächter und in der Finsternis um ihn herum tauchte eine bleiche Hand auf, die die Spirale festhielt und sie dann auf der Handfläche weitertanzen ließ. Langsam wuchs der Hand ein Arm, dem Arm ein Körper und am Ende sah Puran sich wieder der Silhouette gegenüber sah, der er schon oft begegnet war. Dem Mann mit den Fangzähnen und den grünen Augen, auf dessen Hand die Spirale hüpfte. Ulan Manha, der Mörder von Kohdars und Ruja. „Was ist es, das Ruja getötet hat?!“, schnappte Puran zornig, „Sagt es mir, Geister!“ „Ist es wirklich das, was du wissen willst? Ist es nicht eher die Frage danach… wer als nächster kommt?“ Puran erstarrte, als er fühlte, wie seine kleine Frau sich hinter ihm regte. Nalani hatte das Fenster geöffnet und spürte den kalten, nassen Regen, der ihr ins Gesicht sprühte, während sie auf der breiten Fensterbank saß und in den Himmel starrte. Die Luft war stickig gewesen im Zimmer, daher wollte sie ein wenig frische Luft herein lassen, ehe sie schlafen ging. Sie war nervös. Eine leichte Übelkeit erfüllte sie schon eine ganze Weile, sie schob es auf die grausame Unruhe in ihrem Inneren. Die Kälte und der Geruch des Regens taten gut und sie seufzte, den Blick vom Himmel abwendend. Hütet euch vor dem Dämon, der mit seinen Fängen das Zeichen des Schmerzes setzt. Sie zischte. „Ihr wollt es mir vor Augen halten und ich bin zu dumm, Geister! Dann seid nicht so stur und sagt es mir!“ Sie öffnete die blauen Augen wieder, stieg von der Fensterbank und sah weiter hinaus, als eine starke Windböse ihr die vom Regen feuchten Haare ins Gesicht pustete. Sie hob die Arme empor und spürte, wie die Macht der Geister in ihre Hände floss und ihren Körper durchströmte, gleichzeitig mit einem unangenehmen Schmerz in ihrem Inneren, den sie gekonnt ignorierte. Ich will diese Antworten… und ihr werdet sie mir geben. Egal um welchen verdammten Preis. Wer… ist Ulan Manha? Wer ist der Dämon, den wir fürchten sollen? Die Geister zischten in ihrem Kopf und die Frau stutzte, als es um sie herum finster wurde. „Dann wirst du sehen, was geschehen ist an jenem Tag… an dem Lyrien in den Schatten stürzte.“ Nalani war benommen. Sie wusste nicht, was es war, aber als sie die Augen öffnete, blieb es stockfinster. Erst nach drei weiteren Versuchen nahm sie verschwommen und gemeinsam mit dumpfen, langsam abklingenden Schmerzen im ganzen Leib eine Stimme wahr, die sie schon einmal gehört hatte. Sie fragte sich erst panisch, was passiert war; wieso war sie so schläfrig, apathisch? Wieso war sie wie gelähmt und unfähig, irgendetwas anderes zu empfinden als diese Trägheit ihres Geistes? Als wäre er dabei, für immer zu erlöschen… „Seelenfänger!“, schoss ihr der grausige Name des Wächters der Toten in den Kopf, des Geschöpfs, das den Menschen die Seelen nahm und sie hinüber ins Geisterreich brachte oder für immer zerstörte. Sie spürte den Seelenfänger, den Todesgott, der nach ihr angelte – Dass sie träumte, merkte Nalani erst, als sie die Augen doch zu öffnen schaffte und das Gesicht eines bestürzten Jungen über sich sah, der sie aus grünen Augen entsetzt anstarrte. „Ihr seid verletzt, Herr, kann ich Euch helfen?“ Mit einem Mal wusste Nalani wieder, was sie hier sah – die Vision, die ihr zeigen sollte, wer Ulan Manha war. Da war er, direkt vor ihren Augen, der Junge, der er gewesen war, als sie ihn gerettet hatten. „W-was zum-… was bist du denn für ein Knirps?!“, hörte sie sich selbst sprechen und sie japste innerlich – die Stimme kannte sie. Das war nicht ihre Stimme – was war hier los, wieso lag sie am Boden? Die dumpfen Schmerzen in ihrem Inneren flammten stärker auf, während Ulan Manha versuchte, sie hinzusetzen. „Ich komme vom Dorf Canulo im Süden, i-ich sollte nach Wurzeln graben, wir haben nichts zu essen… da fand ich Euch hier liegen!“, antwortete der Junge verzweifelt und sie zischte mit der anderen Stimme. „Hau ab! Ich brauche keine Hilfe.“ Ein Röcheln entrann ihrer Kehle und sie spürte wieder die Kälte des Seelenfängers in sich aufkommen, spürte die Nähe des Todes. Die finstere Welt, die sie nur noch benommen wahrnahm, wurde dunkler, „Ihr sterbt!“, jammerte der Junge, „Ich hole Hilfe aus dem Dorf! Bleibt, wo Ihr seid!“ Jetzt verschwand die Kälte, als das Kind sich aufrappelte, und Nalani drehte benommen den Kopf, als eine empörte Wut in ihr aufflammte, zeitgleich mit den übler werdenden Schmerzen. „Wie kannst du es wagen, mir zu… befehlen…?! Weißt du nicht, mit wem… du hier redest?!“ Die Schwarzmagierin keuchte und riss die Augen auf, als ihr dämmerte, was es wirklich war, was sie hier sah. Und mit wessen Augen sie es sah. Geister… das tut ihr nicht wirklich. „Du wolltest die Antwort, Königin.“, sagten die Geister daraufhin. Die Frau blickte auf das Kind zurück, das inne gehalten hatte und sie fassungslos mit geöffnetem Mund anstarrte. Dann sah sie sie. Die spitzen Eckzähne, die der Junge hatte. Die Fänge des Dämons, die sie sehr gut kannte… die sie fürchtete und verabscheute wie nichts anderes auf der Welt. Das verdammte Kind hatte die Zähne. Die gleichen Zähne, die unverkennbaren Eckzähne der Bestie. „Hat noch jemand in deiner Familie diese Zähne? Würde mich nicht wundern…“, hörte sie sich sprechen, achtete aber mehr auf das, was Ulan erwiderte. „Ja, meine Mutter… was hat das damit zu tun?“ Nalani schnappte nach Luft. Es hatte eine Menge damit zu tun. Es gab nur eine Möglichkeit, eine Seele an jemanden Bestimmtes weiterzugeben und es selbst zu kontrollieren, ohne dass sich ein Dritter einmischte. Eine Seele wurde wiedergeboren, wenn ein Kind geboren wurde und den Namen eines Ahnen bekam. Dieses Kind war längst geboren und hatte einen Namen, aber seine Abstammung war keine Frage mehr. Sie wusste, wer Ulan Manha war, als sie mit der Stimme der Bestie zischte: „Eine Menge. Und jetzt stirb, du dummes Dorfkind!“ Wenn der Junge kurz vor dem Tode stand, ebenso wie sie selbst, würde ihre Seele auf ihn übergehen und ihm das Leben retten… ihr eigener Körper war dahin. Dafür hatte man gesorgt. Die letzten Gedanken, die sie hegte, ehe es zappenduster wurde, galten Salihah. Du hast dich geirrt, Salihah… wenn du gedacht hast, du könntest mich töten. In diesem Kind wird meine Seele weiterleben und ich werde keine Ruhe geben, bis ich euch alle vernichtet habe. Ein Kind von meinem Blut… ein wahrer Erbe meines Reiches. Die Geisterjägerin schlug die Augen wieder auf und fand sich noch immer an der Fensterbank. Ihr schwindelte und eine grausame Übelkeit überfiel sie, sodass sie strauchelte. Die Vision war vorüber – die Geister hatten nicht verhüllt, was sie ihr hatten sagen wollen. „Der Sohn des Heerführers.“, keuchte sie benommen und stolperte apathisch rückwärts, bis sie gegen das Bett stieß und einknickte, sich auf die Kante setzte. Sie spürte noch immer die Schmerzen aus der Vision… nein, sie kam von irgendwo anders her, aber es waren wirkliche Schmerzen. „Der Heerführer… der vereinten Armee Dokahsans war Beksem Lyra.“ Es war so klar… plötzlich fragte sie sich, warum sie es nicht vorher gewusst hatte. Keuchend sah sie zum Fenster und spürte den Schwindel mit aller Macht zurückkehren; er war hier. Er war hier im Schloss. Und sie wusste, warum er gekommen war. „Kelar!“, japste sie den Namen; sie hatte keine Furcht mehr vor ihm. „Kelar… ist der Sohn des Heerführers. Der Dämon, der das Schmerzmal beherrschte. Und Ulan Manha… ist sein Enkelsohn. Sein Enkelsohn, der seinen Geist… in sich versiegelt.“ „Liebling? K-kannst du mich hören? Sag doch was, Liebling!“ Puran zog keuchend die Luft zwischen den Zähnen ein, als Leyyas kalte Hände seine Schultern ergriffen und ihn schüttelten, um ihn aus der Trance der Vision zu reißen. Er hatte die Augen geöffnet, aber dennoch kam es ihm vor, als würde er sie erst jetzt aufschlagen und wieder wach werden, als er seinerseits Leyyas Oberarme ergriff und sie auf sich zog. „Diese Spiralen, Himmel!“, stammelte er, „Was sollen sie immerzu? Was ist es, das Ruja getötet hat?“ „Spiralen?“, fragte Leyya verblüfft, jetzt plötzlich auf ihm liegend, und sie setzte sich vorsichtig auf, um nicht auf ihrem runden Babybauch zu liegen. Puran fuhr sich verstört durch die braunen Haare und atmete heftig ein und aus, was sie beunruhigte. Sie war aus ihrem Halbschlaf geschreckt, als er hinter ihr plötzlich angefangen hatte, heftig zu japsen und nach Luft zu schnappen, und in der Angst, er könnte ersticken, hatte sie dann versucht, ihn wach zu rütteln. Er hatte sie aus offenen Augen angestarrt und sie dennoch nicht erkannt, und sie hatte gewusst, dass er träumte… aber es war beängstigend gewesen. „Es waren innere Blutungen…“, stöhnte er unter ihr und sie runzelte die Stirn, während ihr Mann langsam seine Fassung zurückzugewinnen schien. „Innere Blutungen und niemand wusste, woher sie kamen!“ Leyya nickte zögerlich, als er sich aufsetzte, sie somit auf dem Schoß hatte, sie dann sanft von sich herunter schob und aus dem Bett hechtete. „Es müssen diese Spiralen sein, Ulan Manha hat Ruja mit diesen Spiralen umgebracht! Verdammt, wenn ich nur wüsste, was das bedeutet, das ist doch sicher symbolisch! Spiralen, wofür stehen Spiralen?“ Er schnaubte, rannte im dunklen Schlafzimmer umher und zog aus der Schublade einer Kommode schließlich einen Kohlestift, mit dem er in Ermangelung eines Papiers auf das Bettzeug die Form der Spirale aufmalte. Leyya quiekte. „Das Bettzeug, Puran, d-du machst alles schwarz-…! Was ist das?“ Sie betrachtete verdrossen seine Zeichnung und er zischte. „Die Dinger, von denen ich immerzu träume, diese Spiralen, nur dass sie weiß sind und nicht schwarz! Sie tanzen in der Finsternis und der Koch Ulan Manha hatte sie in seiner Hand!“ Er trat zurück und sah seine kleine Frau das Werk betrachten, bis sie schließlich die Stirn erneut runzelte. „Sie erinnern mich an die Fleischköder aus Knochen, die die Frauen meines Onkels in Makar benutzt haben, um Raubtiere zu töten, ohne an sie heran zu müssen und ohne ihr Fell zu ruinieren.“, meinte sie, „Es sind kleine Spieße aus Knochen, wenn man sie einweicht, kann man sie verbiegen und ganz klein zusammendrücken. So hat meine Tante die Dinger in das Köderfleisch gedrückt, das die Tiere gefressen haben. Dann haben sich die Knochenspieße im Magen wieder auseinander gedreht und haben den Magen von innen zerstochen… es hat nicht sehr lange gedauert, bis die Tiere daran starben und man ihre Felle und Knochen verwenden konnte. Aber-…“ Sie stockte, als ihr bewusst wurde, was sie sagte, und sie hob den Kopf. Puran erbleichte und ließ den Kohlestift fallen. „Knochenspieße?“, japste er, „Das… das ist es, was Ruja getötet hat! Diese Knochendinger! Sie sind im Essen gewesen, so muss es sein-…und daher kamen die inneren Blutungen. Der Kerl ist Koch! Es ist nicht schwer für ihn, sowas in die Gerichte zu mischen, wenn sie so klein sind, fallen sie ja nicht auf!“ Leyya stand auf, als ihr Mann sich schnell Kleider überwarf und zur Tür hastete. Plötzlich begannen die Geister in seinem Kopf wieder zu zischen und er spürte, wie sie ihn drängten, das Zimmer zu verlassen. Sein Instinkt warnte ihn vor dem Schatten, der näher kam… Er war hier. Hier im Schloss, und warum er gekommen war, stand außer Frage. „Puran!“, rief Leyya panisch und warf sich einen Morgenmantel über, „W-wohin willst du?! Mitten in der Nacht…“ „In die Küche.“, brummte er, „Und ich werde die Dinger finden, die Ruja ermordet haben. Ich darf nicht zulassen, dass es so weitergeht.“ Sie folgte ihm hastig und war rasch aus der Puste, als sie die vielen Treppen und Korridore hinab und vorbei an diversen Wachmännern des Königs hinunter in die Etagen der Diener stürzten, bis sie die menschenleere Küche erreichten. Die Tür war abgeschlossen; Puran hatte keine Zeit für Höflichkeiten, so schnappte er sein Geisterschwert und zertrümmerte das Schloss, sodass die Tür aufsprang und ihnen Einlass in den dunklen Raum gewährte. Während sie rannten, wurde das Zischen und Flüstern in Purans Kopf immer laute rund dringender, und er wirbelte keuchend in der Finsternis herum. „Woher willst du wissen, dass sie hier sind?!“, fragte Leyya hysterisch, die nach Luft schnappte und eine Öllampe neben der Tür aufhob, die sie mit Vaira anzündete. „Er kann sie auch in seiner Hosentasche haben!“ „Und wenn sie sich dann aus irgendwelchen Gründen auflösen und sein Bein verletzen? Wohl kaum. Die Geister führen mich… ich weiß, dass sie hier sind!“ „U-und was machen wir, wenn wir sie finden?“ Leyya rannte ihm nach, als er keuchend durch die Küche hetzte und begann, in Schubladen und Schränken zu suchen. Sie half ihm. „Sie dem König zeigen und dafür sorgen, dass jedes verdammte Gericht, das diesen Raum verlässt, kontrolliert wird darauf! Ich spüre diese Unruhe, e-es wird so weiter gehen! Er ist zurückgekehrt… er ist hier im Palast, Ulan Manha.“ Vor Schreck ließ Leyya beinahe die Lampe fallen. „Was?!“ „Ich habe ihn gesehen… in meinem Traum! Ich habe keine Ahnung, wer er ist und was er macht, aber er hat Kohdars und Ruja ermordet! Er wird weiter machen, w-wir müssen verhindern, dass noch einer von uns dran glauben muss!“ Die Heilerin wimmerte panisch, während sie weiterhin Schubladen durchkämmte auf der Suche nach den Spießen, die ihre Tanten benutzt hatten – bis Puran neben ihr plötzlich schrie und sie zum zweiten mal beinahe die Öllampe zerstört hätte. „Hier sind sie!“, rief ihr Mann und hockte sich vor einen alten, hölzernen Schrank, aus dem er mit lautem Scheppern und ohne Rücksicht auf Verluste ein paar Pfannen warf, es folgten alte Suppenkellen. Alle Instinkte schlugen in ihm Alarm, als er noch hinter den Kellen einen morschen Holzscheit aus dem Schrank fischte, ihn zu Boden warf und dahinter ganz unscheinbar einen kleinen Haufen der spiralförmigen kleinen Knochen zu Tage förderte. In dem Moment, in dem er die kleinen Spieße in den Händen hatte und sie seiner Frau hinhielt, kehrte die Furcht, die er nach jedem Traum mit den Spiralen gespürt hatte, mit aller Macht in seinen Geist zurück. „Puran!“, schrie Leyya, stellte rasch die Lampe auf die Anrichte der Küche und stürzte zu ihm, als er plötzlich vor ihren Augen erbleichte, stolperte und zu Boden stürzte, als hätte ihm jemand eine Flasche über den Kopf gezogen. „Um Himmels Willen, was hast du?!“, jammerte sie und packte seine Hände, aus denen die Spiralen kullerten und zu Boden fielen. Sie waren, wie Leyya erzählt hatte, aufgeweicht, zusammengerollt und dann getrocknet worden, damit sie ihre trügerische Form beibehielten. Puran war unfähig sich zu rühren. Er saß jetzt plötzlich auf dem Hintern und konnte nicht aufstehen, er starrte seine hysterische Frau nur aus weit aufgerissenen Augen an, als die Furcht in ihm mächtiger wurde als jemals zuvor. „Es ist zu spät, Lyra… du kannst mich nicht aufhalten. Ich habe dein Schicksal längst besiegelt… Puran.“ Und dann sah er seine Mutter, die den Kopf in seine Richtung drehte. Auf ihrer Schulter tanzte die Knochenspirale, wie sie es im Schatten getan hatte. „Ist es wirklich das, was du wissen willst? Ist es nicht eher die Frage danach… wer als nächster kommt?“ „Mutter!“, japste er atemlos und Leyya erstarrte vor ihm, als er heftig den Kopf schüttelte, um die Finsternis aus seinem Geist zu vertreiben. Er rappelte sich auf die Beine, packte ein paar der Knochenspieße vom Boden und taumelte; schnell hatte er aber sein Gleichgewicht zurück und als seine Frau noch aufstand und ihn verzweifelt und verwirrt anstarrte, packte er mit der freien Hand ihre, um sie unsanft mit sich zu zerren, hinaus aus der Küche, hinauf über Treppen und Korridore. Puran hatte keinen Kopf dafür, dass die Übelkeit wieder zurückkam in seinem Inneren und auch nicht dafür, dass seine hochschwangere Frau vielleicht nicht so schnell laufen konnte wie er. Das einzige, was in seinem Kopf war, waren die zischenden Stimmen der Himmelsgeister, die ihn warnten, und das Rauschen seines eigenen Blutes. Je weiter sie von der Küche weg kamen, desto schneller rannten sie, wobei die arme Leyya kaum mithalten konnte und panisch wimmerte, er solle langsamer machen. „W-was ist denn los?!“, wollte sie verunsichert wissen, als sie den Korridor erreichten, in dem ihre Zimmer lagen, und Puran ließ sie los – dann packte er sie wieder und rannte weiter. Nein, er durfte sie nicht zurücklassen, egal, wie anstrengend es für sie war… er hatte zu viel Angst, dass ihr jemand etwas antun könnte. Er antwortete ihr nicht, obwohl sie empört jammerte, während er sie weiter zerrte – als er das Zimmer seiner Mutter erreichte und heftig die Tür aufstieß, sah er sie im Schlafzimmer empor fahren. Sie hatte auf dem Bett gesessen und starrte jetzt in das entsetzte Gesicht ihres Sohnes. „Puran! Was bei Himmel und Erde-…?!“ „Der Kerl! Ulan Manha, wir wissen, wie er Ruja getötet hat!“, schnappte er, „I-ich habe von dir geträumt, Mutter, es sind diese Knochenspieße, sie sind im Essen versteckt und bringen einen von innen um!“, quasselte er völlig außer sich los und Nalani keuchte, als sie die wahnsinnige Panik in seinem bleichen Gesicht erkannte. „Kind, beruhige dich…!“, murmelte sie, „Liebe Zeit, die arme Leyya, habt ihr einen Tausendmeilenlauf hinter euch oder was-…?“ Sie japste, als sie einen Schritt in Leyyas Richtung tun wollte und plötzlich die Schmerzen in ihrem Inneren so plötzlich heftiger wurden, dass sie zuckte. Als der stechende, grauenhafte Schmerz sie noch betäubte, hustete sie heftig und presste die Hand auf ihre bebenden Lippen, während Puran und Leyya sie gleichermaßen fassungslos anstarrten. „Was zum-…?“, keuchte die Frau stimmlos und ließ die Hand sinken. Als sie sich des seltsamen Geschmacks in ihrem Mund bewusst wurde, der sich mit den bohrenden Schmerzen in ihrem Leib vermischte, sah sie herab auf ihre Finger. Das Zischen der Geister verstummte augenblicklich in Purans Kopf, als er das Blut auf der Handfläche seiner Mutter sah. __________________________________ öööy xD *Fahne schwenk* Oktober 982. Yeah. xD TEH PANIC! Und Senol Kita war etwas random xD aber er war da xD und er ist sowas von absolut unwichtig für die Story xD Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)