Lost von --Ricardus-- (Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle) ================================================================================ Kapitel 1: 2 ------------ Rauschen. Auf dem Rücken und alle Viere von sich gestreckt, lag Susanna Hayden am Boden. Aus dem Hörer ihrer Funkverbindung kam permanentes Knistern. „Kevin?“ Ihre Stimme war leise und brüchig. Der Sauerstoff im Helm war nur noch zu einem sehr kleinen Bruchteil vorhanden. Sie musste in Ohnmacht gefallen sein und das Meiste weggeatmet haben. Als sie ihren Arm heben wollte, um das Visier zu säubern, tat sich nichts. Die Gliedmaße blieb an Ort und Stelle. Irgendetwas stimmte nicht. „Simon? Was…“ Die Sprechanlage war ausgefallen, sie bekam keinen Kontakt, aber nun spürte sie deutlich, worunter ihr gesamter Körper zu leiden hatte. Es war Schwerkraft. Wo war sie? Reglos blieb sie liegen und versuchte ein persönliches Resumé zu ziehen. Aber da waren nur die Bilder vom ewigen Weltall, von unvorstellbar vielen Sonnen und von der alleinnehmenden Erdkugel, die geräuschlos und scheinbar reglos im schwarzen Nichts schwebte. Sie spürte die überweltliche Stille des Vakuums und dessen kalte Umarmung, die sie trotz des Anzuges gefühlt hatte. Der Druck, der erst nur anfänglich auf ihren Ohren gelastet und den drohenden Tinnituston unterbunden hatte, schwoll mit jedem kurzen Atemzug an. Mit einiger Anstrengung unternahm Susanna einen zweiten Versuch ihre Hand an das Visier zu bringen, welches ihr die Sicht behinderte. Sie zuckte zusammen, als ihre scheinbar leblose Rechte gegen den Helm stieß. Sie musste zurück an Bord des Space Shuttles sein und jemand hatte die künstliche Gravitation eingeschaltet, aber wieso hatte man ihr den Helm nicht entfernt? Mit einem Ruck öffnete sie die verklemmte und von warmem Atem beschlagene Scheibe und wartete darauf, die gewohnten Geräusche des Schiffes aufzunehmen. Doch das, was sie in die weltraumgleiche Stille ihres Anzuges gelassen hatte, war eine Überdosis an Gerüchen und Geräuschen, die sie emotional niederstreckte. Als hätte man ihr einen Eimer mit Eiswürfeln durchmengtes Wasser und eine Schüssel kochendheiße Suppe gleichzeitig ins Gesicht geschüttet, lag sie da, die vor Sonnenlicht schmerzenden Augen weit aufgerissen und auf ein bewegtes grünes Durcheinander gut fünf Meter über ihr starrend. Träge und chaotisch bewegte es sich wie tausende von grünen Ameisen über den gleißenden Himmel. Susanna erkannte nicht, um was es sich handelte, denn das unerträglich weiße Licht, das zwischen den Farbflecken hindurch brach, überreizte ihre Sehzellen gnadenlos. Um sich herum nahm sie erst ein lautes Dröhnen war. Alle Geräusche hatten sich zu einem Wust zusammengeschlossen und drängten sich nun in ihre beiden Ohren. Es war nahezu unerträglich. Ihre Nase, obwohl die beiden Nasenflügel brannten, war das wohl leistungsfähigste Organ und konnte bereits verschiedene Gerüche ausmachen und voneinander trennen, auch wenn Susannas Gehirn keinem von ihnen eine Bedeutung zuordnen konnte. Die Luft die sie schon seit einigen Sekunden einatmete, roch nicht nach der abgestandenen im Rumpf des Shuttles. Sie war kühl und trug unendlich viele Informationen, die ihr im Moment nichts sagten. Aber eines war ihr klar: Schon seit den ersten Atemzügen wusste Susanna Hayden, dass sie wieder auf der Erde war. Stunden lag sie da. Reglos, an sich selbst gefesselt, begeleitet vom monotonen Rauschen der Funkverbindung. Mit der Zeit hatte sie immer mehr Geräusche und Gerüche aufnehmen und identifizieren können. Zum Beispiel hörte sie ganze Gruppen von Vögeln, deren Singsang nichts mit dem der heimischen Vogelarten gemein hatte, das Rauschen von Blättern, das leise und laute Knacken von Unterholz und, etwas weiter entfernt, eine Brandung, die gegen hartes Gestein schlug. Riechen konnte sie noch weitaus mehr. Sie roch, dass der Boden auf dem sie lag, feucht war, dass sich um sie herum eine Menge von Bäumen und Moos befand und, dem süßlichen Geruch nach zu urteilen, ebenfalls Blumen oder Früchte. Zudem konnte sie Salzwasser und ein bisschen von dem wahrnehmen, was sie am meisten irritierte und beunruhigte: Brandgeruch. Es war an der Zeit der Sache auf den Grund zu gehen, es war an der Zeit die Augen zu benutzen. In kleinen Abständen hatte sie immer wieder geblinzelt und jedes Mal ein wenig mehr von ihrer Umwelt gesehen. So wusste sie bereits, dass sie unter riesigen Baumkronen lag, die ihr die Sonne vom Leib hielten und dass sie immer noch im weißen Raumanzug steckte, der ihre Bewegungen um einiges erschweren würde. Dies war ihr erstes Problem. Bevor sie aufstehen konnte, um sich ein Bild über ihre Situation zu machen, musste sie aus diesem Hindernis steigen. Nachdem Susanna den Helm vollends entfernt hatte, öffnete sie von oben bis unten alles, was die beiden Hälften der schweren Kleidung zusammenhielt. In der Mitte angekommen, lies sie ihre Hände pausieren und registrierte mit Besorgnis, wie viel Kraft es sie erst kosten würde, wenn sie versuchen würde, aufzustehen. Als sie ihre Arme und Beine aus den Röhren zog, verformte sich ihr Gesicht vor Schmerzen. Es war, als sei sie von ziemlich weit oben herunter gefallen. Ihr Körper musste übersäet sein von Hämatomen und Prellungen und mit höherer Wahrscheinlichkeit, war auch der ein oder andere gebrochene Knochen unter denen, die sie gerade herauszog. Nach der schmerzenreichen Befreiung rollte sie sich unter Stöhnen zur Seite und blickte auf einen großen grauen Klumpen Metall, gut hundert Schritt von ihr entfernt. Das rauchende Wrack der Rettungskapsel. Von einer Sekunde auf die andere war sie auf den Beinen und humpelte auf das zerstörte Objekt zu, verzweifelt Eastwicks und Simons Namen rufend. Keine Anzeichen irgendeiner Reaktion. Nur das stete Knistern und Fauchen des langsam ersterbenden Feuers, als ob es sich dagegen wehren würde, zu erlischen, so wie sich Susanna dagegen wehren musste, ihr Bewusstsein ein weiteres Mal zu verlieren. Schwindel und Übelkeit hatten sie gepackt. Taumelnd erreichte sie die schwelende Hülle, die in Fetzen hing und unter der sich bereits das Metall- und Kunststoffskelett abzeichnete. Die Ausstiegsklappe stand offen und aus dem Inneren quoll der schwarze Atem des Brandes. Irgendjemand musste sie aus der Kapsel gezogen haben und war dann verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Oder er war bei dem Versuch ein weiteres Mal den Helden zu spielen, elendig erstickt. Susanna schob sich den Kragen ihrer blauen NASA Jacke über Mund und Nase, kniff die Augen zusammen und kniete sich nieder, um unter der Rauchsäule in den Innenraum zu blicken. Kurz darauf zog sie den Kopf aus der Öffnung, riss sich beim Zur-Seite-Drehen den Kragen herunter und übergab sich im Gras. Als die Magenkrämpfe mit einem letzten Würgen endeten, zitterte sie am ganzen Leib. Ihr Körper hatte die abartigen Bilder und Gerüche aus der Rettungskapsel mit einer mehr als heftigen Reaktion beantwortet und sich somit auch die letzte verbliebene Kraft geraubt. Susanna Hayden musste weg vom Frack, weg vom süßlichen Geruch des verbrannten Fleisches, weg von der irrational entstellten Leiche Simons, den man allein nur an dem lesbaren Aufnäher seiner Jacke erkennen konnte und von dem sonst nicht vielmehr übrig geblieben war, als Muskelfleisch und geschwärzte Knochen. Susanna kämpfte erneut gegen eine Brechattacke bei der Vorstellung, sie wäre genau so geendet. Auf ihre Unterarme und Ellenbogen gestützt robbte sie wieder zurück an die Stelle, an der sie aufgewacht war und fand dort endlich die Kraft in Tränen auszubrechen. Der Schmerz, der sich dadurch in ihrem Gesicht und ihren geschwollenen Kehle ausbreitete, war befreiend. Was war nur geschehen? Die Kapsel sollte im Meer landen und sie alle sollten am Leben sein. Und wo war Eastwick? Ihn hatte Susanna nicht entdecken können. Vermutlich war er es gewesen, der sie ins Freie geschleift hatte. Aber wieso war er verschwunden? „Oh Gott, oh Gott, oh Gott.“, flüsterte sie schluchzend, ihren Oberkörper vor- und zurück wiegend, „Wo bin ich? Oh Gott, lass mich nicht allein.“ Nach Minuten hatten sich ihre Nerven soweit beruhigt, dass sie erneut aufstehen und sich umsehen konnte. Hinter den Überresten der Kapsel führte eine steile Felswand hinunter in ein unruhiges Meer, rechts und links, die Klippe entlang, wuchs ein breiter Streifen Gras und hinter ihr begann ein dichter Urwald, so dunkel, dass sie trotz der starken Sonneneinstrahlung kaum fünf Meter weit in das Dickicht hinein sehen konnte. Keine gute Idee in diese Richtung zu gehen. Sollte sie überhaupt gehen? Vielleicht war Eastwick ja doch zu etwas nutze und gerade dabei Hilfe zu holen. Wäre das der Fall, sollte sie tatsächlich lieber abwarten, bis er zurückkehrte. Allerdings traute sie ihm auch zu, dass er nachdem er sie gerettet hatte, kopflos und ohne einen bestimmten Plan im Gewirr der Pflanzen verschwunden war. Folglich würde er, wenn er Pech hatte, bald seinen Verletzungen erlegen sein oder Schlimmeres … Susanna entschied sich mit einem Blick auf die Rettungskapsel dazu, selbst ein paar Schritte zu tun und auf der Wiese, parallel zum Meer entlang zu wandern, um mit einigem Glück das nächstliegende Dorf oder die nächste Stadt selbst zu erreichen. Vielleicht bestand auch die Möglichkeit per Telefon jemanden von der NASA zu erreichen und ihnen ihre Lage zu schildern. Man würde sofort Hilfe schicken, da war sie sich sicher, wenn diese nicht schon längst unterwegs war. Zudem musste sie ihren Kopf frei bekommen, ihre Gedanken erneut ordnen. Vor einigen Minuten war sie dem Wahnsinn verflucht nahe gekommen. Die Sonne stand fast senkrecht am Himmel, nun wieder Lichtjahre entfernt und unbegreifbar fremd. Welch Ironie, dachte Susanna Hayden bitter, einen winzigen Augenblick den Himmel sehen und dafür die ganze Hölle kaufen. Dann machte sie sich auf den Weg, den schmalen Pfad zwischen Ozean und Dschungel entlang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)