Lost von --Ricardus-- (Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle) ================================================================================ Kapitel 3: 4 ------------ Es war soweit. Susanna Haydens Zuversicht war mit jedem weiteren Schritt nach Sonnenuntergang geschwunden. Nun war es stockfinster und nichts davon war noch übrig. Mehr als einen halben Tag war sie der Küste gefolgt und nicht mal auf einen Ansatz menschlicher Besiedlung gestoßen. Ihr Weg hatte sie über flache Strandabschnitte und hohe Felsen geführt, dennoch fehlte ihr der Mut durch die dichte Vegetation ins Landesinnere zu gehen. Sie hatte von einer Landschaftsanhöhe aus sehen können, wie unglaublich weit dieser tropische Wald reichte. Bis zum sichtbaren Horizont und wohlmöglich noch um einiges weiter. Die Temperaturen waren nur langsam bei Einbruch der Nacht gesunken, da das nahe gelegene Meer die Wärme länger speicherte und den Landstreifen weiterhin aufheizte. Durch den fehlenden Einfluss der Sonne jedoch, konnte man deutlich einen frischen Luftzug spüren, den man in keiner Weise als Wind bezeichnen konnte, der aber Abkühlung versprach. Susanna seufzte erleichtert, als sie sich auf den steinernen Untergrund setzte und ihre schmerzenden Beine an sich heranzog. Es war unklug in der Nacht weiterzugehen, aber ihre innere Sehnsucht endlich ihr Ziel zu erreichen, wo auch immer es liegen mochte, lies sie nicht in Ruhe. Sie hatte sich sogar zu einer kleinen Verschnaufpause zwingen müssen, um ihren Körper nicht zu überlasten. Der einsehbare Ort, an dem sie sich gerade befand, schien ihr dafür ein guter Platz zu sein. Das rötlich-hellbraune Gestein hatte hier äußerst bizarre Formen angenommen. Es war rund gewaschen und bedeckte eine große Fläche. Unter ihrer Hand fühlte es sich warm an und die erkennbaren Gesteinsschichtungen boten auch dem Auge eine wahre Pracht. Ähnliches hatte sie an Finnlands Küsten schon einmal gesehen, wo sie vor einigen Jahren an einer Universität ein Seminar für Raumfahrttechnologien besucht hatte. Die Landschaft hatte sie fasziniert, aber das Wetter hob sich nicht sehr von dem in ihrem Heimatland ab: England. Dort war es als würde man in einem ewig andauernden April leben. Für sie kein Problem. Wenn man einen Großteil seines Lebens dort verbracht hatte, war es so normal wie das Salz in der Suppe. Sie war in Canterbury geboren wurden. Einem historisch stark belasteten Städtchen in der englischen Grafschaft Kent. Zu allen Jahreszeiten nahezu überrollt von Touristen; mit seiner Kathedrale, Zentrum der anglikanischen Kirche, und mit seinen Universitäten ebenfalls geachtet als Bildungsquelle. Sie war an diesem Ort aufgewachsen, zur Schule und zur Universität gegangen, hatte neue Horizonte und Grenzen entdeckt, war Träumen gefolgt und wieder von ihnen abgefallen und hatte Dinge erlebt, die ihr Leben entweder bereichert hatten oder aber auch solche, die ihr die Sicht nahmen, ihr vorheriges wie auch weiteres Bestehen seiner Klarheit und Normalität beraubten. In ihrer Kindheit und Jugend hatte es Tage gegeben, die ihr im Gedächtnis saßen wie Ungeziefer. Sie hatte diese Tage unter einer dicken Schicht aus Ignoranz begraben, doch sie wusste, dass sie da waren. Immer. Genauso wie man weiß, dass sich unter der eigenen Bettdecke Milliarden kleiner Staubmilben befinden, die unberührt von uns, Massen an Hautschuppen vertilgen. Winzig klein, krampfhaft ignoriert, aber immer greifbar nah. Für einen Moment rutschte Susanna Hayden in eine dieser dunklen Erinnerungen hinab. Sie blickte plötzlich wieder durch große Kinderaugen, die durch Angst und das Nicht-Begreifen-Können, noch weiter zu wachsen schienen. Tränen trübten ihr die Sicht, Panik verstopfte ihr die Ohren. Um sie herum bewegten sich Schatten. Ihre Mutter lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Obwohl sie eine kleine, aber kräftige Frau war, hatte sie den Schmerzen, die ihr die unnatürlich starken Wehen zufügten, nichts entgegen zu setzen. Susanna war acht und das Einzige, was sie wusste, war, dass sie ihrer Mutter helfen wollte. Sie wollte ihr die Schmerzen nehmen, sie wollte, dass ihr kleiner Bruder schnell zur Welt kam und dann würde sie Mama wieder gesund pflegen. Und bald, das wusste sie, würden sie wieder Eis essen, in die Kirche gehen oder im Park Drachen steigen lassen. Nur, die Schmerzen hörten einfach nicht auf. Bereits seit Stunden kümmerte sie sich in Aufopferung ihrer verbleibenden kindlichen Kräfte um das Fieber, welches ihre Mutter am Morgen befallen hatte. Nun war sie am Ende. Wäre ihr Vater noch hier gewesen, würde das alles nicht passieren. Das Kind, was ihre Mutter so quälte, war nicht von ihm, denn er war schon vor langer, langer Zeit gegangen. Es war von dem neuen Mann. Dem Mann, welcher vor mehr als einem Jahr, in ihr beider Leben regelrecht hinein explodiert war und sie einander entfremdete. Er nahm ihre Mutter oft zu sich nach Hause. Susanna blieb allein. Er mochte das Kind nicht und nie im Leben hätte er noch eines haben wollen, wäre da nicht die Nacht gewesen, in der er im Suff Susannas kleinen noch ungeborenen Halbbruder gezeugt hatte. Die Monate, die nach dem positiven Schwangerschaftsergebnis folgten, waren die Hölle. Er wollte, dass sie das Kind abtrieb, aber sie wehrte sich entschieden. Es entspräche nicht den Prinzipien ihres Glaubens, sagte sie, doch in Wahrheit sprach viel mehr ihre Mutterliebe aus ihr, als ihre Gottesfurcht. Trotzdem ging der Mann nicht. Er wurde hartnäckiger, begann sie und Susanna zu schlagen, trank weit mehr als er vertrug und war nicht mehr aus dem Haus zu kriegen. Vor gut eine Woche, gerade als die Schwangerschaft ihrer Mutter den achten Monat zählte, drehte er ein letztes Mal völlig durch, indem er sie in dem fensterlosen Bereich seines Hobbykellers einschloss und den Schlüssel mit sich nahm, wohin er auch immer gegangen war. Sie fanden Vorräte und warteten darauf, dass jemand sie suchte. Doch als die Wehen am morgen des dritten Tages zusammen mit dem Fieber einsetzten, war noch niemand gekommen. Ihre Mutter bäumte sich auf. Sie war vor Schmerzen ganz verrückt und schlug wild um sich. Sie schrie, dass sie sterben wolle und wünschte dem Mann, der ihr das angetan hatte, alles erdenklich Böse auf Erden. Und genau in diesen letzten unheimlichen Minuten wich Susanna von der Seite ihrer Mutter. Das erste Mal schien ihr die Frau gegenüber völlig fremd. Der irre Blick, die spitzen, hasserfüllten Schreie. Es war ihr, als würde ihre Mutter sie anschreien und nicht den Mann in ihren Halluzinationen. Als ihre Mutter nach ihr schlug und die Fingernägel ihre Waden zerkratzten, kroch Susanna schluchzend in die andere Ecke des Raumes unter die Werkbank des Mannes, schloss ihre Augen und steckte sich die Finger in beide Ohren. So fand man sie noch einige Stunden später sitzend. Ihre Mutter war vor längerer Zeit ohnmächtig geworden. Der Notarzt schaffte es, den Säugling vor dem Erstickungstod zu retten, aber ihre Mutter verschied noch bevor das Kind ihre Lenden verlassen hatte... Susanna Hayden spürte wie Tränen ihr in die Mundwinkel drangen. Der Geschmack des Meeres. Die aufspritzende Gischt hatte sie wieder in das Hier und Jetzt zurückgeholt. Das weitere Salzwasser auf ihrem Gesicht machte die Tränen unbedeutend. Fast dreißig Jahre lang hatte sie Zeit gehabt, die Dinge aufzuarbeiten und zu akzeptieren. Am Ende dieser Zeit konnte sie nur einsehen, dass sie nicht gereicht hatte. Ihre Reaktionen auf gelegentlich auftretende Anflüge von Panik und Trauer waren zwar nach und nach abgeflacht, aber immer noch schmerzvoll. Sie lies ihre Knie los und streckte ihre Beine bis ihre Fersen vollständig auf dem Fels zum Liegen kamen. Dann richtete sie ihren Blick gen Himmel. Vereinzelt schwammen milchige Wölkchen am Nachthimmel. Der abnehmende Mond färbte sie silbern und lies auch das rötliche Gestein kälter erscheinen. Susanna drehte den kopf und sah über ihre Schulter zum Wald hinüber. Ein tieferes Schwarz konnte nicht existieren. Durch die ersten Bäume brach noch Mondlicht, doch dahinter war kein Blatt mehr zu erkennen, kein Stamm mehr vom anderen zu unterscheiden. Sie holte stockend Luft. Das Weinen hatte ihren Atem durcheinander gebracht und ihre Brust bewegte sich immer noch schnell, denn sie hatte Panik. Nicht der Erinnerung wegen, sondern vielmehr, weil sie sich gehetzt füllte. Unruhig, paranoid, getrieben. Und weil sie wusste, dass sie dieser unergründliche Trieb noch diese Nacht in den Dschungel führen würde. Ihre Beine gaben unter ihr nach wie nasse Schwämme, als sie zitternd aufstand. Die Mühe die es sie kostete, Ruhe zu bewahren und ihr angstvolles herz im Inneren nieder zu ringen, nahm ihrem Körper die letzte Würde. Die ersten Meter legte sie nur stolpernd zurück. Stieß sich hier und da den Fuß, schrammte sich Schienbeine und Ellbogen auf. Doch je größer die Strecke wurde, die sie zurücklegte, umso sicherer und weiter wurden ihre Schritte und umso kleiner der Abstand zu der endgültigen Dunkelheit vor ihr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)