Lost von --Ricardus-- (Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle) ================================================================================ Kapitel 12: 13 -------------- Susanna Hayden lag ausgestreckt auf einem Fleck festgetretener rot-brauner Erde vor der Hütte und lies sich von Retriever Vincent widerwillig das Gesicht abschlecken. Der Hundespeichel trocknete zwar dank der warmen Morgensonne im Sekundentakt wieder, hinterlies aber eine unangenehme Note von totem Tier. In dem kurzen Augenblick, der verging, als sie sich aufsetzte und mit vor Ekel verzogener Miene zum Wasserbecken kroch, fragte sie sich, was der Hund die ganze Zeit über auf der Insel essen mochte. Wahrscheinlich alles, von verschiedenen Insekten bis hin zu kleinen Affen, Schlangen, Eidechsen und Vögeln. Und eindeutig Fisch, vergammelter, alter Fisch. Susanna tauchte ihr Gesicht eilig in das kühle, klare Regenwasser und rieb mit ihren Handinnenflächen unter Wasser wie besessen über ihre Wangen, bevor sie der beißende Geruch des Speichels zu weiteren weitgreifenden und weniger geschmackvollen Interpretationen hinriss. Vincent, der das Spektakel anscheinend amüsant zu finden schien, sprang um sie herum, lies die Zunge heraushängen und bellte übertrieben hysterisch. Susanna hob ihr Gesicht wieder aus dem Wasser und lies es abtropfen. Heute war ihr vierter Tag bei den Nadlers und das seltsame Geräusch, sowie der hell leuchtende Himmel hatten sich nicht noch einmal wiederholt. Langsam glaubte sie, es hatte wirklich an der Entkräftung und starken Dehydrierung gelegen, der sie anheim gefallen war, dass sie sich solch seltsame Dinge eingebildet hatte. Verglich sie ihre derzeitige Situation mit der von vor drei Tagen, hatte sich ihr Zustand nur gebessert. Seitdem sie hier war, hatte sie sich einen Großteil ihrer Kräfte wiederholen können. Ihre Wunden waren fachmännisch versorgt wurden oder zumindest soweit es Bernards Kenntnisse als Zahnarzt, der er einmal gewesen war, und Rose’ Erfahrungen als Dschungelhausfrau zuließen. Sie hatte ausreichend Wasser (Tee ...) und Nahrung bekommen und genügend gesunden Schlaf, sah man einmal von den Mücken, Spinnen, gigantischen Heuschrecken und Stechfliegen ab, die sie heimgesucht hatten, als sie die Nächte im Unterstand zwischen der Hütte und den Vorräten verbracht hatte, eingehüllt in eine mottenzerfressene Baumwolldecke und gebettet auf einer Schicht glänzender Dschungelfarne. Vincent hatte schnell die Angewohnheit entwickelt, statt vor der Hüttentür lieber auf jedem Körperteil zu schlafen, dass Susanna im Schlaf unbewusst von ihrem Körper wegzustrecken wagte, sodass sie fast jeden Morgen mit einem unangenehmen Kribbeln an der entsprechenden Stelle aufwachte und die erste viertel Stunde nach dem Aufstehen damit zubrachte, diese zu massieren, damit das Blut wieder hindurchfloss. Als Dank für die zuvorkommende und unvoreingenommene Freundlichkeit, die man ihr entgegenbrachte (sah man einmal von Vincent ab), hatte Susanna in mehreren Gesprächen das Rätsel ihrer Anwesenheit auf dieser Insel gelüftet. Natürlich war alles, was sie Rose und Bernard erzählt hatte, eine grobe Skizze wirklicher Ereignisse gewesen. Keine Lügen, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Sie hatte ihnen erzählt, dass sie ursprünglich aus Canterbury/England kam, aber schon seit mehr als zehn Jahren allein in einem Appartement in Houston-Stafford/Texas lebte, was sie ursprünglich studiert hatte, kleine Informationen über ihre Arbeit bei der NASA und dass sie mit dem Team der STS-185 kurz davor gewesen war, von einer Forschungsmission wieder zur Erde zurück zu kehren, als das Unglück geschah. An den Grund des Absturzes, behauptete sie jedoch, konnte sie sich nicht genau erinnern. Susanna verschwieg auch die wahre Intention der Forschungsmission und die Entdeckungen, die sie dort oben gemacht hatten. Zum einen, weil sie sich nicht mehr sicher war, ob sie etwas derartiges wirklich erlebt hatte und zum anderen, weil wenn es wahr wäre, es streng geheim behandelt werden musste. Des Weiteren verschwieg sie auch die ebenfalls seltsamen Vorkommnisse auf der Insel; die junge Frau, die Fremden bewaffneten Leute, auch wenn diese auf die Beschreibung der Anderen zutrafen, denen sie laut den Nadlers nicht trauen durfte. Sie sah keinerlei Schwierigkeit diesem Rat Folge zu leisten, da sie Menschen mit geladenen Waffen schon von sich aus nicht sehr vertrauenswürdig hielt. Susannas Art die Dinge wiederzugeben, glich einem Lauf durch ein Labyrinth. Jedes Mal wenn sie die Gefahr spürte mit einer Bemerkung in einer Sagasse zu enden, drehte sie schnell um und wechselte das Thema. Geschickt, flüssig und ohne die geringste Spur von Unsicherheit. Wenn sie sich einmal die Wahrheit zurecht geschnitten hatte, aussortiert, was sie sagen durfte und was nicht, zog sie die Konversation in genau diesen abgesteckten Bahnen durch, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein Talent oder eine Gabe, die sie sich in ihrer Jugend angeeignet hatte und von der sie immer wieder Gebrauch machte: Die Fähigkeit Menschen etwas mitzuteilen, ohne dass sie bemerkten, dass man ihnen nur die halbe Wahrheit sagte. Susanna Hayden wusste, dass es keine Eigenschaft war, die einen erfolgreich oder reich machen würde – vielleicht noch nicht einmal eine seltene - aber sie erleichterte das Leben ungemein. Rose und Bernard waren aufmerksame und auffällig interessierte Zuhörer. Verblüfft musste Susanna feststellen, wie schockierend souverän die Beiden mit den Schilderungen des Absturzes, der Entdeckung der Leiche von Simon und ihrem Kilometer langen Marsch an der Küste entlang umgingen und wie distanziert sie selbst die Ereignisse von vor vier Jahren beschrieben: Ihr Flugzeug war über dem Meer auseinander gebrochen. Warum genau es passiert war, warum genau hier, war ihnen noch unklar, doch Rose erwähnte einige Möglichkeiten – eine schleierhafter und tief gesponnener als die andere. Doch, was sie mit Bestimmtheit zu sagen vermochte, war, dass es nahezu einem Wunder glich, dass über vierzig Passagiere den harten Aufprall überlebten. Der Rumpf von Flug 815 der Oceanic Airlines war, nachdem er noch während des Absturzes in drei Teile zerbrochen war (von denen jedes an einer anderen Stelle herunterkam) im Sand eingeschlagen wie eine Bombe, die Insassen heraus geschleudert und über eine große Fläche verteilt wurden, einige sogar bis auf das Meer oder in den Wald hinein. Während sich Rose mit den meisten anderen Passagieren am Strand wiederfand, landete Bernard, der im hinteren Teil des Fliegers saß, mitten im Dschungel. Beide hatten für lange Zeit nicht gewusst, dass der jeweilig Andere überlebt hatte. Doch wie Rose mit einem überglücklichen, liebevollen Lächeln und einem zärtlichen Seitenblick zu Bernard beteuerte, hatte sie nie geglaubt, dass er tot war und letztendlich Recht behalten, als sie sich nach einigen Wochen wiederfanden. Was neben ihrem persönlichen Schicksal alles geschah, klang so abstrus und unglaublich, dass Susanna ab und zu den Eindruck hatte, aus einem Roman, den Edgar Alan Poe und Stephen King zusammen geschrieben hatten, vorgelesen zu bekommen. Rose erzählte von seltsamen Geräuschen, die sie alle in den ersten Nächten gehört hatten und einem seltsamen Monster, dass aus schwarzem Rauch zu bestehen schien und diese fremdartigen und unnatürlichen Geräusche auf eine unbekannte Art und Weise von sich zu geben schien. Sie redete über Eisbären, seltsame Krankheiten und über das Wunder ihrer Heilung, denn Rose hatte Krebs gehabt, als sie in den Flieger gestiegen war. Sie konnte es sich selbst noch nicht ganz erklären, aber er war weg gewesen, sobald sie die Insel betreten hatte. Bernard sprach über einen Verräter in ihren Reihen, bei dem sich nach seinem gewaltsamen Tod herausstellte, dass er zu der Gruppe anderer Menschen gehörte, die schon sehr, sehr lange auf dieser Insel lebten. Sie hatten Häuser, in denen sie wohnten und Stationen, die sie betrieben und die alle einen bestimmten Zweck zu erfüllen schienen. Immer wieder versuchten diese Anderen die Verunglückten auszuspionieren, zu entführen oder zu töten. Sie stellten seltsame Dinge an, über deren Sinn und Zweck sich keiner so richtig einig wurde. Schwangere Frauen wurden entführt und wieder frei gelassen, Vereinbarungen getroffen und gebrochen. Rose und Bernard waren sich einig, dass diese Leute, was auch immer sie hier auf dieser Insel taten und was auch immer sie mit ihren seltsamen Spielen erreichen wollten, weitaus weniger vertrauenswürdig waren, als die natürlichen Gefahren, die im Dschungel lauerten, ignorierte man einmal das beschriebene Monster. Susanna die sich längst dazu entschlossen hatte, alles, was sie hörte, nicht allzu ernst zu nehmen, blockte innerlich ab. Sie war jetzt knapp 38 Jahre auf dieser Welt, hatte auf zwei Kontinenten und in ungefähr 5 verschiedenen Städten gelebt, hatte mehrere Eltern gehabt und Duzende von verschiedenen Freunden, Mitschülern, Mitstudenten und Arbeitskollegen, aber von noch niemanden hatte sie eine so unsinnig klingende Geschichte gehört. Diese Leute waren alt und lebten schon -- weiß Gott wie lange -- auf dieser seltsamen Insel. Es gab so unfassbar viele Erklärungen, die ihr in diesem Moment einfielen, aber dennoch keine, die ihr die Angst vollständig nehmen konnte, die sie davor hatte, sich eingestehen zu müssen, dass vieles von dem, was die Nadlers erzählten und dem, was sie selbst gesehen hatte, wahr war. Irgendetwas in ihr fand einen wahren Kern in den Geschichten oder wusste zumindest, dass man ihn finden konnte, wenn man ein wenig danach suchte. Und dieses Etwas trieb sie in den Wahnsinn. Wie ein Kind, dem man statt einer Gute-Nacht-Geschichte, ein Horrormärchen erzählt hatte, wachte sie mitten in der Nacht auf, zitterte am ganzen Körper und griff im Reflex nach der Nachttischlampe, die natürlich nicht da war, weil sie ja auf einem behelfsmäßigen Bett schlief, mitten im Dschungel. Die unangenehme Erkenntnis, die daraus erwuchs, dass sie erkannte, wo und wie verletzlich sie dort war, auch wenn ihr Bernard versichert hatte, dass sich seit Jahren nur Einsiedlerkrebse und Ozelots so weit an den Strand heran wagten, verstärkte die namenlose Panik in ihr nur noch mehr. Susanna atmete schwer, zog die Decke und den leise schnarchenden Vincent näher zu sich und vergrub ihre Nase in dem hellen Fell des Labradors, bis sie vom warmen Muff eingehüllt wieder eingeschlafen war. So war es nur die zwei ersten Tage gewesen. Der Grund, warum Susanna nun viel tiefer und ruhiger schlief und völlig entkräftet auf dem Boden vor der Hütte lag, war ein ganz anderer. Bernard hatte ihr voller Stolz am dritten Tag ein 4 mal 4 Meter großes Beet, ein gutes Stück hinter der Hütte gezeigt. Es war mit Tomaten- Kartoffel- und Maispflanzen bedeckt, die zwar nicht sehr groß und ertragreich, dafür aber gesund zu sein schienen. Neben Fisch, Mangos und gelegentlichem Wildschweinfleisch war dies ihre Hauptnahrungsquelle. Susanna sollte ihm dabei helfen, das zahlreiche Unkraut, welches zwischen den Reihen der Pflanzen empor spross, auszureißen und die Erde danach zu lockern, damit im Boden genügend Sauerstoff vorhanden war, durch den die mikroskopischen Bodentierchen schneller abgestorbenes organisches Material in wertvollen Nährdünger umwandeln konnten. Aufgrund der größtenteils unfruchtbaren tropischen Roterde musste dieser anstrengende Vorgang mehrmals in der Woche wiederholt werden. Das Beet war nicht sehr groß, aber bei 40 Grad im Schatten war die Arbeit genauso anstrengend wie das Umgraben eines 3 mal größeren Feldes bei menschlichen Temperaturen. Als sie heute die Holz- und Bambusgerätschaften weglegten, stand die Sonne bereits tief am Horizont und während Bernard noch ein paar Eimer Regenwasser über die empfindlichen Tomaten goss, schleifte sich Susanna den kleinen Abhang zur Hütte hinunter und lies sich auf den Rücken fallen. So waren ihre letzten vier Tage verlaufen. Eine ungesunde Mischung aus Anstrengung, Unsicherheit und Angst ... Susanna Hayden starrte ihr Spiegelbild im sich leicht kräuselnden Wasser an und stellte ernüchtert fest, dass sie sich im Moment in einer Situation befand, in der sie weder vor noch zurück konnte. Ihre eigentliche Suche nach Hilfe und einem Weg hier weg schien aussichtslos zu sein, aber auch wenn sie sich bei Rose und Bernard mit viel Arbeit und Geschick einen Platz zum Schlafen und Essen verdienen konnte, ging es ihr innerlich gegen den Strich, bereits nach fast einer Woche auf dieser Insel die Hoffnung aufgegeben zu haben, sich fallen gelassen, es nicht weiter versucht zu haben. Sie formte mit beiden Händen einen Kelch und schöpfte Wasser aus dem Becken zu ihrem Mund, dann wischte sie sich mit dem Handrücken das restliche Nass aus dem Gesicht. Vincent bellte immer noch wie ein Verrückter und hetzte verspielt von einer Seite zur anderen. Oder war er eher aufgeregt? Sie warf ihm einen sporadischen Seitenblick zu. Das Bellen hatte sich verändert. Zwischen Vincents normalen Lauten vernahm sie immer wieder ein kurzes Knurren und Winseln. Er sprang immer noch um sie herum, aber deutlich vorsichtiger, angespannter. Dann bewegte er sich plötzlich rückwärts zur Hütte hin. Susanna atmete tief ein und in einem Seufzer wieder aus. Wahrscheinlich ein Ameisenbär oder eine kleine Baumkatze oder der Hund hatte einfach ein neues Spiel für sich entdeckt, wenn auch ein sehr seltsames. „Vincent ...“, begann sie vorwurfsvoll, doch der Labrador Retriever war bereits hinterm Haus verschwunden. Wie sie dort nun ganz allein saß, lief es ihr kalt über den Rücken. Wie ein schmelzender Eiswürfel, kroch die dunkle Vorahnung über ihren Nacken die Wirbelsäule entlang. Nun konnte sie es auch spüren. Da war etwas. Etwas, was dort nicht sein durfte. Im äußersten Winkel ihres Sichtfeldes, dort wo alles nur noch eine verschwommene Masse undeutlicher laubgrüner Eindrücke war, war etwas aufgetaucht und es war deutlich größer als ein Ameisenbär oder eine Baumkatze. Zwischen den wippenden Sträuchern und Gräsern, die den ersten schmalen Streifen Dickicht in Richtung des Waldes bildeten, stand eine schattenhafte menschliche Gestalt, so unbewegt, so unfassbar ruhig, dass nicht sicher war, ob sie atmete oder überhaupt irgendein Lebenszeichen zeigte. Susanna keuchte. Sie hatte sich noch nicht umgedreht, um zu sehen, wer dort im Schutz der Pflanzen stand und sie beobachtete, doch sie konnte Bernard und Rose ausschließen, denn Vincent blieb immer noch verschwunden. Ihre Gefühle überschlugen sich. Sollte sie sich umdrehen, ihrer Neugier nachgeben und es wohlmöglich bereuen, oder sollte sie einfach die letzten Meter bis zur Tür rennen, sich in das Haus werfen und warten bis der Fremde oder was auch immer dort war, gegangen war? Letzteres erschien ihr als weitaus sinnvollere Reaktion auf dieser Insel. Sie hatte schon viel zu lange gezögert. Unter ihren Schuhen wurden kleine Kiesel und Erdbrocken mit einem leisen Knirschen zur Seite gedrückt, als sie sich mit aller Kraft aufstemmte und den Schwung nutze, um mit möglichst wenigen Schritten an der Tür zu sein. Doch bevor sie auch nur in die Nähe des Türriegels kam, fuhr ein seltsamer, kühler Wind durch ihr weiches Haar und trug die Worte des Fremden an ihre Ohren. „Su! Warte einen Augenblick.“ Susanna Hayden bekam keine Luft mehr. Auf einmal war ihr Gesicht weiß wie der Sand des Strandes, als sie sich langsam zu der Person umdrehte, der die Stimme gehörte, die ihr auf fatale Weise bekannt war. Ihre Hände verkrampften sich in den fein gewebten Stoff ihrer blauen Jacke und die dünnen Adern traten unter der bleichen Haut hervor, wie rote Bindfäden unter dünnem Papier. „Warum rennst du weg, ohne zu sehen wovor?“ Die kühle Briese umspielte weiterhin ihre Wangen, aus denen alles Blut gewichen war, und brannte unangenehm in ihren weit aufgerissenen Augen. Doch sie konnte sie einfach nicht schließen, ihr Blick ruhte auf ihrem Gegenüber, er fraß sich daran fest und zwang sie dazu wie hypnotisiert zu beobachten, wie sich ein warmes Lächeln auf den Lippen von Kevin Eastwick ausbreitete und wieder verschwand, als wäre es nie da gewesen. Er lebte und er stand direkt vor ihr, mit seinem seltsamen Lächeln und der dennoch gerunzelten Stirn. Alles an ihm war wie immer: Die Stimme, die Mimik, der durchtrainierte, athletische Körperbau und dennoch: Etwas war falsch. „Eastwick, was machst du hier?“, begann sie vorsichtig. Ihr Misstrauen wuchs, auch wenn sie nicht wusste warum. Vielleicht war ihr nur unwohl, weil der Hund die Flucht ergriffen hatte oder sie sich so erschreckt hatte. Vorsichtig bewegte sie sich dennoch ein Stück auf ihn zu. Er hingegen bewegte sich nicht einen Millimeter. „Du solltest nicht hier sein, Su.“, sagte er leise, fast wie ein drohendes Flüstern. Es ging ihr durch Mark und Bein. Was war nur mit ihm los? War er wahnsinnig geworden in der Zeit, in der er alleine durch den Urwald geirrt war? Susanna machte weitere Schritte auf ihn zu. „Ich weiß, aber du warst nicht da und ich habe gedacht“, die letzten Worte sagte sie nur leise, „dass du vielleicht gestorben wärst ...“ Eastwick blickte sie nur stumm mit einem Ausdruck an, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte: Mit einem wissenden. Dann drehte er sich auf einmal um und war zwischen den Sträuchern verschwunden. Die Hitze schien ihm wirklich zugesetzt zu haben, aber da war noch etwas. Ein ungreifbares, tiefes Grauen, wie der kühle Luftzug, den sie vorhin gespürt hatte, als er mit ihr sprach, nur tiefer in ihrem Inneren. Der Dschungel schien ihr wie eine dunkle Mauer und würde sie in betreten, wie ein düsteres Gefängnis. „Eastwick! Wo zum Teufel gehst du hin?“, schrie sie über die unsichtbare Grenze hinaus, dann murmelte sie zu sich selbst: „Ich habe Angst ...“ Aber sie würde ihn nicht ein zweites Mal aus den Augen verlieren. Er war ihr Anhaltspunkt, ein Vertrauter und wohlmöglich ihr Lebensretter. „Oh Gott! Du verdammter Idiot!“, fluchte sie und beeilte sich, um mit ihm Schritt zu halten. Sie musste sich stark konzentrieren, um ihn zwischen all der Vegetation nicht zu verlieren. Das Blau seiner Uniform war in den Schatten so dunkel geworden, dass es sich nur durch seine Bewegungen von den anderen lichtlosen Konturen unterschied. Aber egal wie sehr sie auch versuchte ihn einzuholen, sie kam keine zwei Meter an ihn heran. War sie ihm zu nahe, verschwand er hinter einem natürlichen Hindernis und tauchte erst wieder auf, wenn er den Abstand zwischen ihnen wieder hergestellt hatte. Susanna war nicht mehr besorgt oder traurig, sie war wütend, als Kevin Eastwick ein weiteres Mal vor ihr erschien, vor ihr stehend, als wäre nichts gewesen. Er war nicht einmal außer Atem und stand so urplötzlich und staturgleich vor ihr, wie zuvor bei der Hütte. Susannas Aufgebrachtheit verhinderte, dass sie den fremden Ausdruck in seinen Augen bemerkte, der sich leise schleichend des ganzen Gesichtes bemächtigte. Ein Ausdruck von solcher Gefasstheit, wie sie Kevin nie besessen hatte. Susanna machte zwei lange Schritte und bekam ihn am Kragen seines Overalls zu fassen. Sie zog sein Gesicht auf ihre Augenhöhe hinunter und flüsterte, um ihre Fassung ringend, durch ihre zusammen gebissenen Zähne hindurch: „Sag mal, was soll der verdammte Scheiß? Bist du komplett wahnsinnig geworden, Eastwick? Ich bin dir zwar durchaus dankbar, dass du mich aus der Kapsel geborgen hast, aber warum“ Sie zog bekräftigend am blauen Stoff. „bist du einfach verschwunden und hast mich da allein gelassen? Und was war mit Simon? Wieso hast du ihn nicht geborgen, hm?“ Was nun geschah, war so unheimlich, dass Susannas sich erst Minuten später wieder daran erinnerte. Eastwick entspanntes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Das selbe Lächeln, dass er aufsetzte, wenn er versuchte führsorglich, liebevoll oder einfach nur einfühlsam zu wirken. Doch auch wenn er von einem Ohr zum anderen grinste, jeden Muskel auf dieselbe Weise angespannt wie immer, gab es diesmal nur ein Gefühl, das er in Susanna auslöste und das war: Eiseskälte. Nun bemerkte sie es auch in seinen Augen, das Dunkel hinter dem strahlenden Blau; ein Schatten, dort, wo eigentlich eine Seele war. Susannas Wut war verflogen, sie war wie gelähmt. Vom Scheitel bis zur Sole aus Stein. In Trance löste sie ihren Griff und ließ den Arm sinken. Eastwick nahm wieder seine gerade Haltung ein und sah zu ihr hinab, beobachtete einige Sekunden lang, wie sie dastand, der Dinge harrend, die er jetzt aussprechen würde. Sie wusste es. Sie wusste, dass er sich verändert hatte. Langsam bewegte sie ihre Lippen. „Was ist passiert?“, fragte sie mit belegter Stimme und fassungslosem Blick, „Hast du ihn absichtlich dort zurückgelassen und nur mich gerettet? Aber wieso?“ „Du verstehst wohl nicht ganz? Ich habe nichts von alledem getan, Susanna.“, sagte er kühl. „ Und Kevin auch nicht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)