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One litre of Tears

~100 fanfiction challenge~
von

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001. Beginnings

001. Beginnings
 

Lange hatte sie sich auf diesen Tag vorbereitet. Schon Wochen vorher hatte Ikeuchi Aya mit zittrigen Händen an den heutigen Tag gedacht, der über ihren weiteren Werdegang im Leben entscheiden sollte. Entweder würde sie Erfolg erzielen oder aber... versagen und somit auf eine andere Schule gehen müssen, die ihrem Wunsch wohl nur in Ansätzen entsprechen würde.

Die Aufnahmeprüfung für die Higashikou fand in gut zwei Stunden statt, und so wie viele andere Schüler auch, hatte Aya in der Nacht zuvor kein Auge zugetan.

So stand sie bereits vor ihrer gesamten Familie auf der Matte und zog die Jalousie des Ladens hoch. Ihr Vater betrieb ein Tofu-Geschäft und die Vorbereitungen für den täglichen Ladenbetrieb mussten bereits in früher Morgenstunde erledigt werden, damit sie nicht in Verzug gerieten. Jedes Familienmitglied der Ikeuchis hatte mit zu helfen, was natürlich ein früheres Aufstehen als bei anderen verlangte. Neben Aya und ihren Eltern Shioka und Mizuo, gab es auch noch die drei Geschwister Ako, Hiroki und Rika – wobei Rika mit ihren süßen fünf Jahren das Nesthäkchen war und eher daneben stand oder für andere kleine Tätigkeiten eingespannt wurde, während der Rest den Tofu aufbereitete. Ayas Vater kam nun in den Arbeitsraum und wurde von seiner Tochter mit einem herzlichen „Guten Morgen“ begrüßt. Verwundert blieb er stehen und schaute sie fragend an. „Aya... Hast du etwa die Nacht durchgemacht?“

„Ich konnte nicht schlafen“, antwortete sie wahrheitsgemäß und nahm ihm etwas von der Last ab, die er bereits in einem großen Behälter mit sich trug.

„Also hast du nicht genug geschlafen!“ Dies mit einem Lächeln abtuend, wurde ihr allerdings gar nicht die Zeit gelassen, sich zu verteidigen, „Lass gut sein, du hast heute deine Aufnahmeprüfung! Also leg dich lieber noch einmal hin oder wiederhole deine Englischvokabeln! Du musst heute nicht helfen.“

„Doch, dass muss sie.", sprach sich nun ihre Mutter Shioka gegen die Worte ihres Ehemannes aus.

„Shioka, musst du denn so hart sein? Sie hat ihre Aufnahmeprüfung-“

„Denkst du, dass die diese besteht, wenn sie schläft?“

„Keine Sorge, mir geht es gut!“, stimmte Aya ihrer Mutter zu und holte währenddessen einen mittelgroßen Tofuquader aus dem Becken. Sie wollte diesen gerade zu ihrer Mutter transportieren, als auch schon das Unglück hereinbrach und wabernd zu Boden fiel. „Oh Nein...“

„Was machst du denn? So eine Verschwendung!“ Hiroki sah auf den Tofuhaufen am Boden, kam aber auch nicht auf die Idee diesen zu beseitigen. Stattdessen machte sich Shioka dadran gemacht, während nun auch die kleine Schwester Rika mit großen Augen danebenstand. „Gescheitert.“

Alle Köpfe wandten sich sofort zu ihr um und es herrschte für ein paar Sekunden Stille.

„Rika-chan, dieses Wort sollten wir heute wirklich nicht verwenden! Aya hat doch ihre Aufnahmeprüfung!“, wurde sie von der Mutter belehrt, doch in diesem rief Mizuo fluchend dazwischen und konnte sich gerade noch verkneifen, das gleiche Wort zu wiederholen. Der Morgen schien wirklich nicht gut zu beginnen, war nun auch ihm etwas runtergefallen.

„Zieh dich um! Du musst ordentlich frühstücken!“, wies der Vater Aya an und diese hatte nun mehr keine andere Wahl mehr als mit einem leichten Lachen einzustimmen.

Aya konnte nur hoffen, dass der Rest des Tages nicht auch so unglücklich verlaufen würde. Nicht heute, wo sie sich doch wochenlang mit dem Lernen gequält hatte und nun auch noch unter Schlafmangel litt.

Kaum hatte sie fertig gefrühstückt, eilte sie mit ihrer Tasche unter dem Arm aus dem Haus, wurde erst einmal von ihrer Mutter zurückgehalten, welche ihr die beinahe vergessene Berechtigungskarte für die Prüfung zusteckte, dann allerdings gefolgt von ihrem Vater:

„Hey, warte mal!“ In Eile etwas hektisch wieder kehrt machend, guckte sie Mizuo skeptisch an, bekam dann allerdings einen kleinen Glücksbringer in die Hand gedrückt. Sich die Aufschrift durchlesend, musste sie allerdings etwas stocken.

„Blühender Handel?“

„W-Was?!“ Ayas Vater schaute ebenso auf den Glücksbringer und schien erst jetzt die Verwechslung zu bemerken.

„D-Das macht doch keinen Unterschied!“, meinte er schnell, und schob sie an den Schultern davon. „Und nun geh, sonst verpasst du noch den Bus!“

Mit einem großen Lächeln nickend, eilte Aya los.

Dies war der Beginn ihrer Highschool Daseins... sie würde es schaffen, ganz bestimmt.

002. Middles

002. Middles
 

Die Augen öffnend, starrte sie an den Lattenrost des oberen Bettes. Aya drehte ihren Kopf zur Seite, blickte auf ihren Wecker, welcher Aufstehzeit versprach. Eine ganze Stunde früher als sie sonst auf den Beinen war.

Sich langsam aufsetzend, stützte sie sich an der Bettkante ab und erhob sich langsam und schweren Schrittes.

Tippelnd erreichte Aya ihren Schreibtisch, auf dem noch ihre Federtasche vom Vorabend lag. Diese in die Hand nehmend, hob sie ihre Schultasche auf den Stuhl und legte die Sachen vorsichtig hinein.

Was würde sie wohl heute erwarten? Wenn sie daran dachte, dass ihr endlos lange Treppenstufen bevorstanden, das wiederholte Zuspätkommen zum Unterricht, das Ausbleiben des Sportunterrichtes und des Basketballclubs...

Aya hatte es satt. Wie viel musste sie noch aufgeben? Reichte es nicht schon, dass sie all diese für andere Menschen so normalen Dinge nicht mehr tun konnte? Reichte es nicht, dass sie einen Menschen verloren hatte, mit dem sie hätte glücklich werden können? … Nein das war falsch, vermutlich wäre sie auch im Falle vollkommener Gesundheit nicht glücklich geworden. Und eigentlich... konnte sie noch eine ganze Menge Dinge tun. Es brauchte nur seine Zeit. Sie brauchte ihre Zeit.
 

Inzwischen war es zur Routine geworden, dass ihre beiden Freundinnen Mari und Saki am Schultor warteten. Die beiden waren so liebenswert... Jeden Tag halfen sie Aya ins Schulgebäude, schoben sie im Rollstuhl die Gänge entlang oder trugen ihre Sachen voraus – und das alles ohne sich auch nur ein einziges Mal zu beschweren. Wenn Aya ihre Freunde nicht hätte... würde sie trotz allem nicht mehr dem nächsten Morgen entgegenblicken können. Freunde ließen selbst das größte Unwetter vergehen oder boten einem zumindest mit einem Regenschirm Schutz.

Doch als die Älteste der Ikeuchi Geschwister an diesem Tag in die Gesichter der beiden sah... stimmte etwas nicht. Etwas war anders als sonst. Saki und Mari schienen von einer Sache bedrückt zu sein und konnten nicht mehr das Lächeln lächeln, welches Aya immer wieder fröhlich stimmte. Sie sprachen kurz mit Ayas Mutter, so wie jeden Morgen, verabschiedeten diese und hakten sich bei ihrer Freundin ein. Still schweigend gingen sie den langen Weg zum Schulgebäude entlang.

Gehörte dies auch dazu?

In Aya begann der Gedanke aufzukeimen, dass auch ihre Freunde es langsam leid wurden, sich um sie zu kümmern. Natürlich taten sie dies freiwillig, Aya hatte sie nie darum gebeten, und auch wurde dieser immer wieder zugesichert, dass es in Ordnung wäre. Sie hatte diese netten Gesten fortan immer mit einem Lächeln erwidern wollen, aber nun... schien alles auf einmal einzustürzen. Die kleine heile Welt, die ihr noch geblieben war, löste sich nach und nach auf und Aya wusste nicht wie sie auch nur im Entferntesten an den verbleibenden Rest festhalten konnte. Sie konnte nur hoffen, dass es überhaupt möglich war und dass sie nicht miterleben musste, wie sich ihre Freunde von ihr entfernten und aus ihrem Leben gingen.

Dass sie heute einen Arzttermin hatte und somit früher nach Hause musste, kam Aya demzufolge nur recht. So würde sie den beiden zumindest für den Rest des Tages nicht zur Last fallen können...

Sich zum Ausgang schiebend, hielt Aya jedoch nach wenigen Sekunden in ihrem Rollstuhl an. Das Heft – das Heft mit den Aufgaben für morgen lag noch unter ihrem Schülerpult! Vorsichtig wendend, rollte sie zurück zum Treppenansatz. Sich mit beiden Händen am Geländer hochziehend, schleppte sie sich Stufe für Stufe hoch, musste zwischendurch immer wieder pausieren, um genug Kraft für die übrigen paar Meter zu haben. Die Gewichte an ihren Knöcheln ließen Aya zwar sicherer gehen, allerdings waren sie in Bezug der Treppe auch recht hinderlich.

Es dauerte eine Weile, bis sie den Klassenraum erreichte. Vor diesem zunächst etwas nach Luft ringend, legte sie die Hand an den Türgriff, verharrte jedoch, als sie von drinnen eine Stimme vernahm, welche gerade ihren Namen verlauten ließ. Worum ging es da?

Und mit einem Schlag, nur in ein paar Sätzen verfasst, war alles klar... Die Klasse sorgte sich darum, wie es mit ihnen weitergehen sollte, wenn Ayas Zustand so anhielt, wenn er sich verschlimmerte. Was sie machen sollten. Dass es doch keine Lösung wäre, Aya weiterhin hier die Schule besuchen zu lassen...

Also doch.

Hatte sie sich nicht getäuscht.

Den Kopf gegen den Türrahmen lehnend, versuchte Aya die aufkommenden Tränen zu unterdrücken und ruhig zu bleiben. Durfte sie etwa nicht hier bleiben? Waren etwa wirklich alle der gleichen Meinung? Alle?

In jenem Moment wünschte sie sich nichts lieber, als einen Menschen, der gegen die Meinung aller sprach. Einen einzigen Menschen, der sie in den Schutz nahm. Doch.... gab es etwa keinen?

Ihre Klassenkameradin Tomita Keiko forderte nun auch Mari und Saki auf zu sprechen. Wie nicht anders zu erwarten hielt Mari eindeutig zu ihrer kranken Freundin, sie erklärte den anderen Ayas Lage so gut wie möglich, versuchte ihr Bestes, dieser zu helfen! Und Saki... sah es nicht anders, aber im Gegensatz zu Mari war sie zartbesaiteter und aus ihrer wankenden Stimme sprach Leid, Schmerz und ein Hauch der Verzweiflung. Sie wollte immer für Aya da sein, aber selbst... vernachlässtigte sie sich so sehr, dass sie Angst hatte, die Prüfungen nicht zu schaffen oder dass sie nicht mehr an Clubaktivitäten teilnehmen konnte.

Also doch...

Die Augen schließend wäre Aya in diesem Moment am liebsten wieder umgekehrt, einfach wieder verschwunden, als hätte sie dies alles nicht mitbekommen. Doch selbst wenn sie es gewollt hätte, bewegten sich ihre Beine kein Stück.

Ihr Herz war so schwer... als würde diese Schwere ihre Füße fest am Boden lassen.

„Hinterhältig“, erklang auf einmal eine tiefe Stimme und durchbrach somit die aufkommende Stille, „Findet ihr es nicht ziemlich verschlagen, ihr die heile Welt vorzuspielen und euch dann über die Situation zu beschweren?“

Asou-kun... er war es, der gerade das Gerede der anderen angriff! „Keine Sorge, das macht nichts, alles in Ordnung – Wenn ihr so sprecht, wie ihr es jetzt in ihrer Abwesenheit tut, dann hättet ihr von Anfang an nicht so freundlich sein sollen!“

„Asou, ich weiß, was du sagen willst, aber nun ist gut-“, versuchte der Lehrer zu unterbrechen, wurde aber bereits von Asou über den Mund gefahren, „Sie sind doch auch nicht besser!“

„W-Was?! A-Also, das ist ja wohl-“

„Warum haben Sie ihr nicht von Anfang an gesagt, was Sache ist? Es ist nicht so, dass sie euch alle nicht versteht! Ihr müsstet nur einmal mit ihr reden und sie würde versuchen einen Weg zu finden, der die beste Lösung für alle verspricht! Wenn Sie es ihr ins Gesicht gesagt hätten, dann würde sie auch den Mut aufbringen können, sich der Sache zu stellen“, wandte sich Asou seinem Mentor erneut zu und ließ auf dessen Gesicht somit einen Ausdruck des Schuldgefühls aufkommen. Ein weiteres Schweigen erfüllte den Raum. Asou war gerade dabei sich umzudrehen und wieder zu seinem Platz zu gehen, nachdem er sich erhoben hatte und provozierend einige Schritte auf den Lehrer zugegangen war – als er Aya hinter der Tür sah.

„Ikeuchi...“ Die Köpfe aller flogen zur Tür.

Nun konnte sie sich nicht mehr verstecken.

Aya schob tief einatmend die Tür auf und lächelte entschuldigend. „Ich... habe nur etwas vergessen... bitte beachtet mich nicht weiter...“ Den Blick zum Boden gerichtet, kämpfte sie sich tapfer zu ihrem Platz vor, vorbei an Mari – die größte Hürde. Zu gerne hätte sie all die Worte und Gefühle ausgesprochen, die ihr in diesem Moment das Herz zuschnürten, doch stattdessen nahm sie einfach nur ihr Heft unter dem Pult hervor und begab sich erneut zum Klassenzimmer hinaus.

Ja... anscheinend gehörte dies auch dazu...

Anscheinend war es ihr wirklich nicht möglich, ihr normales Leben aufrecht zu erhalten und vermutlich hatten ihre Klassenkameraden dies noch früher erkannt als sie selbst. Dennoch... hatten sie in Anbetracht beider Seiten geschwiegen und versucht das beste aus der Situation zu machen...

Sich nun wieder am Treppengeländer festhaltend, ruhte Aya für ein paar Sekunden und atmete tief durch. Nein, sie würde dem Schmerz in ihr nicht nachgeben. Nicht jetzt...

Mit einem Male schallten schnelle Schritte durch den leeren Korridor, die in kurzer Zeit immer näher kamen. Aya horchte auf und sah mit einem Mal Asou in die Augen, welcher ihr wohl gefolgt war. Verwirrt, was er wohl von ihr wollte, blickte sie ihn einfach nur an.

Asou sagte nichts, ging an ihr vorbei und hockte sich am Treppenansatz hin.

„Steig auf“, waren die einzigen Worte, die er sprach, während er darauf wartete, dass er sie huckepack nehmen konnte.

Ein einziger Mensch, der sie beschützte oder ihr zumindest half...

003. Ends

003. Ends
 

003. Ends
 

Ikeuchi Aya blickte mit müden Augen zu ihrem Nachttisch, auf dem ein kleiner Blumenstrauß in einer Vase prangte. Die Uhr daneben verriet ihr, dass es bald wieder so weit war. Wie auf Kommando öffnete sich in diesem Moment auch schon mit einem leichten Knarren die Zimmertür.

Hätte sie die Kraft gehabt, wäre sie ihm entgegen gerannt.

Sie wäre aufgesprungen, hätte ihn begrüßt. Doch konnte sie es nicht. Schon lange hatte sie einfach nicht mehr die Kraft dazu. Und zum ersten Mal in ihrem Leben bereute sie wirklich etwas: Dass sie sich über all die Zeit, die sie einander schon kannten, nicht früher über ihre Gefühle im Klaren gewesen war. In ihren Augen hatte es anfangs immer nur Kawamoto gegeben. Kawamoto, ihr Senpai, derjenige, der ihr Motivation gab, der sie zu ihrer ersten Verabredung einlud... und von dem sie dann, nach dem Unfall während des Sommerfestes, bei der zweiten Verabredung versetzt worden war. Dies alles war nun mehr als neun Jahre her und sie hatte seit ihrer Schulzeit nichts mehr von ihm gehört. „Hey“, wurde Aya begrüßt und schon sah sie in das lächelnde Gesicht Asou-kuns, „Tut mir leid, das ich nicht früher kommen konnte.“

Aya lächelte oder versuchte es zumindest so gut wie möglich. Inzwischen hatten auch ihre Gesichtsmuskeln an Straffheit verloren und es fiel ihr schwer, die Mundwinkel zu heben. Das fröhliche und starke Lächeln des Mädchens, welches sie einmal war, würde sie nie wieder lächeln können.

Gleichzeitig bemerkte Aya aber ein weiteres Mal, dass sich ebenso der ehemalige wortkarge Junge, den sie einst kannte, verändert hatte. Seine Gesichtszüge waren markanter, er wirkte erwachsener und war zu einem jungen Mann gereift. Zehn Jahre waren inzwischen seit der Diagnose ihrer Krankheit vergangen. Zehn lange Jahre, die ihr aber dennoch wie ein Katzensprung vorkamen. In dieser im Leben eines Menschen doch eigentlich so kurzen Zeit hatten die ihr gegebenen Möglichkeiten immer weiter abgenommen. Erst verlor sie die Fähigkeit normal laufen und rennen zu können, dann die Kontrolle über ihre Hände, und schließlich, was bedeutend länger brauchte, aber schließlich doch jegliche Hoffnung zu nehmen schien, der Verlust ihres Sprachvermögens. So sehr sich Aya auch bemühte, kamen doch keine Worte, geschweige denn überhaupt ein Ton aus ihrer Kehle hervor. Der Schock, als sie eines Morgens aufwachte und erkannte, dass sie nicht einmal die simpelsten Silben sprechen konnte, war groß – Erneut schien ihre Welt zusammenzubrechen. Allerdings konnte Aya dies nicht allzu sehr erschüttern. Zu viel hatte sie bereits einbüßen müssen, als dass sie die Tatsache, von nun an vollkommen auf die Silbentafel vertrauen zu müssen, in die Tiefe fallen ließ.

Zehn lange Jahre... Trotz sämtlicher Schmerzen und Leiden waren es auch zehn lange Jahre, in der er ihr zur Seite gestanden hatte.

„Schon okay“, tippte sie auf seine Entschuldigung hin mit zittrigem Finger die Hiraganazeichen der Zeigetafel an.

Ja, schon okay... Sie hatte gelernt so zu leben, wie sie jetzt leben musste.

„Auf der Station herrschte Hochbetrieb und Kindergeburtstag. Hast du die Clowns gesehen?“

Wieder erhielt er von Aya ein versuchtes verschmitztes Lächeln als Reaktion: „Lügner.“

Sich nun zu ihr setzend, behielt Asou einen Augenblick lang seine Augen auf die ihre gerichtet,

Es waren immer noch die gleichen großen Augen, die ihn anstrahlten, wenn er zu Besuch kam.

Selbst, wenn sich ihr Zustand stetig verschlechterte und der Kampf von Tag zu Tag härter wurde, würde sie immer noch die Ikeuchi Aya bleiben, die sie einst war.

„Du weißt, was morgen für ein Tag ist, oder?“

Seine Aufmerksamkeit nun wieder gesamt Aya geltend machend, senkte Asou kurz die Lider.

Aya nickte schwach. Sicher wusste sie dies... Morgen war der neunte März – der Tag der Schulabgänger.

Es fiel Aya schwer, sich an damals zu erinnern. Higashikou hatte sie noch im ersten Jahr hinter sich lassen müssen, ihren Abschluss an einer Sonderschule gemacht. Ihre gesamte Schulzeit kam ihr immer mehr wie ein Traum vor. Manchmal musste sie stark nachdenken, ob das, was sie erlebt hatte nicht doch nur einer ihrer vielen Wünsche war. Allerdings träumte Aya seit langem nicht mehr davon, dass sie wie jeder andere rennen konnte, dass sie studierte oder dass sie ihr High School Dasein an der Higashikou verbracht hatte. Seit ihr die Realität bewusst geworden ist und sie mit dem lebte, was sie hatte, hatten auch solche Wunschträume aufgehört.

„Ich würde dich morgen gerne einmal von hier wegbringen.“

Aus den Augen des Mädchens sprach Verwunderung. „Ich habe auch schon mit Mizuno-sensei geredet. Er hat mir sein Einverständnis gegeben. Denkst du, du schaffst das?“

Wieder nickte Aya. Asou-kun wollte sie tatsächlich noch einmal zu ihrer alten Schule führen, die Erinnerungen zurückkehren lassen, welche zu verblassen drohten. „Gut.“

Asou warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. Leicht seufzend erhob er sich von seinem Stuhl und bemerkte dabei Ayas enttäuschten Blick, versuchte diesen allerdings mit einem ehrlichen Lächeln zu mildern.

Die Tafel an ihren Beistelltisch gelehnt, tippte sie Zeichen für Zeichen an. Für Aya hätte es gar nicht schnell genug gehen können, doch sorgte die vermehrte Anstrengung nur für weiteren Verdruss und sie brauchte noch länger als sonst, um ihre Nachricht an ihn weiterzugeben.

„Geh nicht.“

Asous Lächeln verschwand für eine Sekunde, bevor er es wieder aufsetzte. Eher gezwungen, als gewollt.

„Ich muss. Ich habe morgen Vormittag mündliche Prüfung.“ Denn in wenigen Wochen wäre auch sein Medizinstudium fürs Erste endlich beendet. Und nach all der Zeit konnte er dieses nun in der entscheidenden Phase nicht schleifen lassen, wo er deswegen bereits so viel Zeit mit Aya hatte zurückstecken müssen.

Aya noch einmal richtig zudeckend, beugte er sich zu ihr runter und hauchte ihr nach kurzem Zögern einen sanften Kuss auf die Stirn. „Schlaf gut.“

Er wusste, dass sie ihm nachsehen würde.

Er wusste, dass sie nicht so ruhig schlafen könne, wie sie wollte.

… War dies wirklich noch Aya? Seine Aya?

Es trieb ihm Tränen in die Augen, wenn er an früher dachte, an die Zeit, in der sie noch so lächeln konnte wie er...

Und mit jedem weiteren Tag, dass wusste er, beugte sich ihr Leben mehr dem Ende entgegen, bis er sie schließlich vollends loslassen musste.

Ja, Menschen waren gierig und egoistisch.

Sie konnten nicht loslassen.

Er konnte es nicht.

004. Insides

004. Insides
 

„Aya, ist alles in Ordnung?“

Stumm nickend, begab sich die Angesprochene mit geistesabwesenden Blickes, die Treppen hinauf, zu Akos und ihrem Zimmer. Nicht einmal das Licht schaltete sie an, blieb einfach nur im Raum stehen, ließ ihre Tasche aus der Hand rutschen und landete schließlich selbst am Boden.

Einfach nur vor sich hin starrend, versuchte Aya zu begreifen, was ihr Mizuno-sensei noch vor einer halben Stunde gesagt hatte. Schon seit der Heimfahrt versuchte sie es ihrem Verstand und Herzen klarzumachen:

All ihre Befürchtungen, die Sorgen und der Kummer, der sich die Woche im Voraus angestaut hatte, die hitzige in Tränen endende Diskussion mit Asou-kun am Vortag, die Angst, vielleicht genau das gleiche Schicksal erleiden zu müssen wie Yuka-chans Vater, diese grausame Diagnose... bestätigt.

Einfach nur mit einem Wort bestätigt.

„Doktor... leide ich an spinozerebellärer Ataxie" ?“

„Ja.“

Den Weg nach Hause hatte sie stillschweigend im Taxi verbracht und auch wenn ihre Mutter ihr helfend die Hand entgegenhielt, konnte Aya diese einfach nicht nehmen. Sie verstand nicht, warum dies passierte. Warum dies ausgerechnet ihr passierte.

Aya wusste nicht, was sie denken sollte. Worüber sie nachdenken solle.

Es gab so vieles, was ihr durch den Kopf ging: Wie würde ihr Leben jetzt laufen, welche Zukunft hatte sie, wie... sollte sie das alles verkraften... was würden ihre Freunde dazu sagen, sollte sie es ihnen überhaupt sagen...

Sie hörte nicht einmal, wie ihre Mutter leise das Zimmer betrat und ausrichtete, dass das Essen bereitstand. Erst als sich die Lampe an der Decke erhellte, wachte Shiokas Tochter aus ihrem tranceartigen Zustand auf.

„Aya, ist alles in Ordnung?“ Besorgt kniete sich Shioka zu ihrer Gegenüber nieder, welche ihr den Rücken zugewandt hatte und nur nickte.

„Ich... ich werde bei Bestes geben, darum... ist es okay“, antwortete diese mit einem Lächeln, merkte allerdings selbst wie sehr ihre Stimme schwankte. Das war so leicht gesagt – und es hörte sich genauso leicht nach einer Lüge an...

Shioka suchte für einen Moment nach Worten, wusste auch nicht so recht, was sie sagen konnte, um ihr Kind aufzumuntern, aber irgendetwas musste sie tun.

„Aya, wir schaffen das! Während du behandelt wirst, werden sicherlich neue Medikamente und Therapien entwickelt, hörst du? Es ist noch lange nichts verloren!“

„Aber... wir wissen nicht, was später passiert... wir wissen gar nichts...“, setzte Aya nur schwach entgegen und spürte, wie vor ihren Augen alles verschwamm. Heiße Tränen liefen ihr nun die Wangen runter und zeigten, dass rein gar nichts in Ordnung war. Auch wenn sie versuchte, es zu akzeptieren, konnte sie einfach nicht. Es war zu grauenhaft.

Sich ihrer Mutter zuwendend, sah sie diese für ein paar Augenblicke einfach nur an, bevor sie weitersprach: „Warum ich? Warum hat diese Krankheit mich ausgesucht? Okaa-san... ich bin gerade einmal 15 Jahre alt!! Das ist zu viel...“ Mizuos Ehefrau legte sanft ihre Arme um Aya, drückte sie an sich und streichelte ihr fortwährend über den Rücken, während sie sie sanft wiegte. „Aya... es tut mir leid... Okaa-san kann nichts für dich tun... Es tut mir so leid...“

„Das ist so unfair.... Gott ist nicht fair...“

„Ich weiß Aya, ich weiß.“

War es überhaupt fair, dass es so etwas wie Krankheiten auf dieser Welt gab. Und noch dazu solch grausame?

Immer wurde von Prüfungen geredet, die es galt als Mensch zu absolvieren.

Damit man sich weiterentwickelte.

Damit man nicht stehen blieb.

Aber konnte man das hier wirklich so leicht begründen?

Wäre ein Sinn für Aya vorhanden gewesen, wäre ihr auch nicht so schwer ums Herz...

Diese plötzliche Gewissheit riss ihr einfach den Boden unter den Füßen weg. Als würde man ihr mit einem Schlag alles nehmen.

Alles, wofür sie bisher hart arbeitete.

Alles, was gerade erst begonnen hatte.
 

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Entschuldigt dieses schludrige Kapitel. Es ist meinen Augen bisher das schlechteste. Vermutlich aber auch deshalb, weil ich mich zu sehr an das Original gehalten habe... Ich gelobe Besserung beim nächsten Kapitel! ... Oder versuche es zumindest! (lacht)

005. Outsides

005. Outsides
 

Viele Dinge, die ihr noch vor einiger Zeit möglich gewesen sind, konnte sie nun mehr kaum oder gar nicht bestreiten. Den Basketballclub hatte sie aufgeben müssen und auch konnte sie nicht mehr so einfach laufen, wie sonst. Sie brauchte länger als andere, um vom einen Klassenraum in den nächsten zu gelangen. Am Sportunterricht konnte sie schon lange nicht mehr teilnehmen und auch das Treppenlaufen fiel ihr von Tag zu Tag schwerer.

All das hatte Aya inzwischen allerdings akzeptiert und konnte damit mit leben. Es waren nicht die Schwierigkeiten im Alltag, die ihre Gedanken trübten, denn trotz allem ging sie mit klarem Schritt vorwärts. Nein, viel mehr waren es die anderen, die ihr Sorgen bereiteten. Die andern, Mari, Saki, die ihr jeden Tag halfen und deshalb ebenso so oft zu spät kamen, wie sie selbst. Die ihr jede Schwierigkeit abnahmen und somit auch die täglichen Aufgaben erleichterten.

Dennoch konnte Aya von Tag zu Tag ganz genau sehen, wie sich auch auf den Gesichtern ihrer Freunde Müdigkeit abzeichnete.

Jedoch war sie ihnen deswegen nicht einmal böse, im Gegenteil, es überraschte Aya viel mehr, dass sie solange die Verantwortung mit übernommen hatten.

Sie bemühten sich so sehr um ihre Freundin, aber trotzdem konnte Aya ihnen an den Augen ablesen, dass sie sich manchmal wünschten, diese Problemanhäufung nicht auf sich nehmen zu müssen.

Ebenso Aya. Solange sie nur selbst den Schmerz ertrug, den ihr ihre Krankheit immer wieder verpasste, war alles in bester Ordnung.

Doch zog sie in ihr Leiden auch noch andere mit hinein, und das wollte sie nicht.

Aya wollte die anderen so wenig wie möglich belasten.

Sie wollte wieder alleine zur Schule gehen, aber letzten Endes war es schon so schlecht um ihre Beinmuskulatur bestellt, dass ihre Eltern sie zur Schule hinfuhren und wieder abholten.

Sie wollte alleine die Treppen hochgehen, doch nachdem sie einmal stürzte und Mari somit ebenfalls in Mitleidenschaft zog, ließ sie sich lieber helfen.

Aya wollte ebenso wenig den Unterricht stören, und verminderte ihre Trinkverhalten, doch führte dies nur zu einem Ohnmachtsunfall, der viel aufwendiger war, als wenn sie weiterhin ganz normal getrunken hätte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sie Asou-kun in Mitleidenschaft gezogen.

Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, sie war einfach auf Hilfe angewiesen!
 

Ayas heutiger Schultag war bereits verfrüht beendet, da sie zu Mizuno-sensei ins Krankenhaus musste, um sich einen Check-Up zu unterziehen. Von Mari und Saki zur Eingangshalle begleitet und verabschiedet, musste Aya allerdings noch einmal kehrt machen: Sie hatte ihre Hefte, welche sie für die Hausaufgaben bräuchte, unter ihrem Pult vergessen.

Mit dem Rollstuhl wendend, in welchem sie sich fortan in den Schulgängen bewegte, rollte sie bis zu den Treppenstufen. Mit etwas zittrigen Beinen stand sie vorsichtig auf, stützte sich am Treppengeländer ab.

Schritt für Schritt ging Aya die Treppe hinauf. Sie wusste nicht, wie lange sie brauchte, doch kam es ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, als sie schließlich den bekannten Flur erreichte. Sich an der Wand abstützend weiterschleppend, erreichte sie das Klassenzimmer, wollte gerade hineingehen, als sie die Stimme Tomita-sans hörte, die wohl das Wort in der Homeromm Stunde erhoben hatte:

„Weder für Ikeuchi noch für uns ist das eine tragbare Situation. Ich denke nicht, dass wir so weitermachen können.“

An der Tür halt machend, lauschte Aya genauer.

„Es ist nicht fair, wenn wir sie so handeln. Lasst uns eben zehn Minuten warten“, erklang es von einem Jungen.

„Ich... fände es zwar auch besser, wenn der Unterricht wieder pünktlich beginnt, aber Ikeuchi zu bitten, sich schneller zu bewegen ist unmöglich!“

„Was denkst du darüber?“, leitete Tomita die Diskussion erneut an,

„Nun... Aya... hat es auch sehr schwer.“

Aufhorchend drückte Aya ihr Ohr noch etwas weiter an die Tür. Mari wurde aufgefordert zu sprechen... und sie konnte genau hören wie deren Stimme leicht schwankte. „Sie versucht jedem so wenig Umstände wie möglich zu machen und strengt sich an. Und wir helfen ihr, weil wir Freunde sind.“

„Ist es aber nicht auch ihre Teilschuld, dass du nicht am Basketballspiel teilnehmen kannst, weil du dir deine Hand bei ihrem Sturz verletzt hast?“

„Das schon, aber...“

„Und was ist mit dir?“

„Wir... holen Aya jeden Morgen vom Schultor ab und begleiten sie ins Gebäude. Wir helfen ihr, ihre Sachen zu tragen oder den Unterrichtsraum zu wechseln. Sie ist sehr nett... und... wir sind Freunde.“ Saki. „Aber manchmal... ist es einfach zu viel und ich habe Angst die Abschlussprüfungen nicht zu schaffen! Ich bin so schlecht im Lernen und ich nehme an verschiedenen Clubs teil. Es bleibt nicht einmal genug Zeit zum Spielen!!“ In einem weinerlichen Ton abbrechend, konnte Aya draußen einfach nur ihre Augen schließen, um die eigenen Tränen zu verbergen.

„Ist gut, ich habe schon verstanden!“, mischte sich nun der Lehrer ein und hob beschwichtigend die Hände, „Ich werde die Meinung der Klasse an Ikeuchis Eltern weiterleiten.“

„Hinterhältig, findet ihr nicht?“ Asou-kun nun also auch noch...? „Wenn sie anwesend ist, tut ihr so freundlich. Und wenn sie sich für ein Missgeschick entschuldigen will, sagt ihr 'Nicht doch, alles in Ordnung' und nun... redet ihr so etwas. Das ist wirklich hinterhältig.“

Der Lehrer wandte sich seinem Schüler zu, versuchte wieder Ruhe zu gewinnen, bevor die Situation eskalieren konnte:

„Asou, ich weiß, was Sie sagen wollen, aber-“

„Wenn ihr so denkt, wäre es besser gewesen, ihr wäret von Anfang an nicht so freundlich gewesen!“, ließ sich Asou nicht ins Wort reden und machte weiter, „Es ist nicht so, dass sie euch nicht versteht. Wenn euch etwas nicht passt, wenn ihr Angst habt mit dem Unterricht nicht hinterher zu kommen, dann sagt es ihr und sie wird versuchen eine möglichst lastarme Lösung zu finden!“

„Asou, es ist gut-“

„Und Sie genauso!“

„W-Was?“

„Warum sagen Sie ihr nicht ebenso direkt, was Sache ist? Dann könnten Sie ihr mit erhobenen Kopf gegenüber treten und Ikeuchi würde sich trauen und Ihnen Antwort geben!“ Stillschweigend nahm es der Lehrer hin. Auch wenn Asou etwas ungestüm und unhöflich gesprochen hatte, hatte der Junge dennoch mit jedem einzelnen Wort recht. Vermutlich war auch dies der Grund, warum niemand anderes etwas im Raum sagte.

Aya konnte sich draußen immer noch nicht bewegen.

Er hatte für sie Partei ergriffen, aber dennoch machte es die Angelegenheit nicht unbedingt besser. Vor der Tür verharrend, bekam sie nicht mit, wie Asou seinen Kopf in ihre Richtung drehte und verwundert aufsah.

„Ikeuchi.“

Augenblicklich flogen alle Köpfe der Klasse herum. Nun gab es kein Zurück. Aya schob vorsichtig die Tür auf.

„Entschuldigung, ich habe etwas vergessen.“ Sich zu ihrem Platz schleppend, vorbei an Mari, die reuevoll den Kopf gesenkt hielt, holte sie schließlich das Heft hervor und ging in dem selben mühevollen Schritt zurück, verließ den Klassenraum.

Jetzt wusste sie also, was über sie gedacht und erzählt wurde. So wie sie es selbst bereits vermutet hatte. Am Treppengeländer stehen bleibend, verschnaufte sie einen kurzen Moment, um sich dann wieder nach unten zu bewegen.

In dem Augenblick hörte sie hallende Schritte. Als sich Aya umdrehte, erblickte sie Asou, der mit regungsloser Miene vor ihr stand. Schließlich um sie herumgehend, hockte er sich am Treppenansatz hin.

„Steig auf.“

Binnen weniger Sekunden hatte er sie huckepack genommen und trug Aya die Etagen runter. Sie konnte einfach nichts sagen, sich nicht einmal bedanken. Zu viele Gedanken und doch kein einziger spukten ihr im Kopf herum.

Sich von Asou ebenso in den Rollstuhl helfen lassend, schob er sie schließlich aus dem Schulgebäude, langsam den Heimweg entlang. Letzten Endes erreichten sie eine Brücke... die, welche ein Knotenpunkt in beider Leben gebildet hatte, denn hier hatten sie sich unter einem unglücklichen Zufall kennen gelernt...

Kaum hatten sie die Überführung erreicht, war es mit Ayas vorgeschobener Ruhe vorbei. Die Augen zusammen kneifend, kullerten auch schon die ersten Tränen über die Wange, die in ein Schluchzen übergingen. Das war einfach zu viel.

Asou blickte einen kurzen Moment zu ihr, bevor er ein Taschentuch aus der Jackentasche zog und es ihr etwas hilflos anbot.

Aya nahm es entgegen, sah dann jedoch zu ihm auf, wie er immer noch stillschweigend dastand und in die Ferne zu starren schien.

„Sag etwas!“, flehte sie ihn an, „Irgendetwas! Rede von Pinguinen... oder Fischen... oder Hunden... Diese Tiere werden irgendwann auch nicht mehr aufwachen können!!“ Wieso schwieg er nur? „Erzähl eine Geschichte... oder eine Lüge!! Ich werde nicht böse sein!!“

Unter diesen Tränen der Verzweiflung war es schließlich auch für Asou zu viel des Guten.

„Ich konnte nichts tun.“, atmete er einmal aus, „Einfach das zu sagen, was ich denke, Anmaßungen zu stellen. Dabei bin ich auch nicht besser als die anderen.... von deiner Krankheit wissend, dich immer von der Seite ansehend und dann solche Sätze von mir zu geben, wie ein Dummkopf.

Es ist genauso wie mein Vater sagte... ich bin immer noch ein Kind.“

Aya wandte langsam ihren Blick von ihm ab. Sie kannte es nicht, dass er so sprach. Auf gewisse Weise... tat es ihr weh...

„Nein, das stimmt nicht.“, setzte sie entgegen und schien nach den richtigen Worten zu suchen, „Du ermutigst mich jedes Mal. Du hörst mir zu, wenn ich Dinge sage, die ich anderen nicht erzählen kann. Auf meinem Weg, weiter zu gehen... stimmst du mich fröhlich. Du bist an meiner Seite. Wenn ich mich deprimiert fühle, leistest du mir immer Gesellschaft.“

Asou sah sie ein klein wenig ungläubig an.

Auf Ayas Lippen bildete sich ein kleines Lächeln. Sie meinte es so, wie sie es gesagt hatte...

Die beiden schwiegen eine Zeit und Aya nutzte diese Chance, um ihre Gedanken erneut ordnen zu können und somit den Schlussstrich zu setzen, den sie setzen musste... ihre Zeit an der Higashikou war vorbei. Sie hatte lange dafür gekämpft, doch irgendwann... hatte sie zumindest diesen Kampf verloren. Es war Zeit voran zu schreiten.

Aya setzte ihre Hände an die Räder des Rollstuhls und schob sich ein paar Meter vor. Asou eilte ihr nach, legte die Hände an die Griffe, doch hallten in diesem Moment zwei andere Worte in seinen Ohren: „Bye bye.“

Das war es also wirklich...

Auf die Knie fallend, hielt er seinen Kopf gesenkt, weinte bittere Tränen.

Er hatte gewusst, dass es irgendwann dazu kommen würde, dass auch er irgendwann nicht weiter wissen würde... und dennoch hatte er versucht, jenen Tag zu verdrängen und zu hoffen.

… Zwar konnte Aya ihm nicht in die Augen sehen, doch wusste sie, dass nun selbst Asou-kun, in gewisser Weise an ihrem Schicksal zerbrochen war.

006. Hours

006. Hours
 

Inzwischen blickte Aya wohl schon zum fünften Mal auf ihren Wecker. Immer noch war es erst sechs Uhr und sie hätte noch eine Stunde Zeit, bis sie aufstehen musste. Ako, Hiroki und ihre Eltern waren schon längst unten im Laden, um diesen für den heutigen Tag vorzubereiten.

Diese Aufgabe wurde ihr ja von ihren Eltern mehr oder weniger untersagt. Sie sollte sich nicht überanstrengen, genügend schlafen...

Die Ärzte hatten ja bisher auch noch keine Diagnose stellen können und ebenso wäre es nun einmal möglich, dass bestimmte Teile der aufgetretenden Symptomatik stressbedingt waren. Die älteste Tochter der Ikeuchis hatte dem sogar zustimmen müssen, schließlich hatte sich das Lernpensum auch nach der bestandenen Aufnahmeprüfung nicht verringert. Jetzt ging es erst recht los, wo sie Schülerin der Higashikou war.

Allerdings brachte diese Art der Schonung nicht unbedingt die gewünschten Erfolge mit sich: Stattdessen quälte sie sich nämlich bereits ganze drei Stunden, um irgendwie wieder einschlafen zu können.

Es war allgemein keine ruhige Nacht gewesen. Um eins ist sie schließlich ins Bett gegangen, hatte die Augen geschlossen, doch dann... Sobald Aya auch nur den leistesten Gedanken daran legte, dass sie nach dem Gesangswettbewerb nun mehr endlich die Ergebnisse der medizinischen Untersuchung erfahren würde, fand sie einfach keine Ruhe.

Sie wusste, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmen musste. Er fühlte sich nicht mehr so an, als würde er zu ihr gehören.

Diese... Selbstverständlichkeit seinen Körper zu lenken wie man es wollte, fehlte.

Ihre Selbstrecherche der Vortage taten ihr Übriges. Wenn es sich tatsächlich um jene progrediente Krankheit handelte, wenn sie tatsächlich unheilbar krank wäre, dann... wäre ihr die jetzige verbliebene Zeit bis zum Urteil vermutlich die letzte, in der sie noch wirklich sie selbst sein konnte.

In der sie etwas vollbringen konnte.

Die Augen schließend, atmete Aya einmal tief ein und aus, bevor sie sich schließlich doch aufsetzte und die Treppenstufen der Leiter vorsichtig hinabstieg.

Langsam zu ihrem Schreibtisch gehend, warf sie einen Blick auf den an der Wand hängenden Kalender.

„Wenn ich über die Zukunft nachdenke, beginnen die Tränen zu fließen. Ich habe Angst vor der Zeit, die vorüberschreitet.“

Das war der letzte Absatz, den sie in ihr Tagebuch geschrieben hatte.

Würde sich tatsächlich so viel verändern, wenn sie die Diagnose gestellt bekäme?

Zu den Fotos in den Bilderrahmen blickend, nahm Aya einen dieser in die Hand und betrachtete ihn genauer.

Würden ihre Freunde weiterhin ihre Freunde bleiben?

Warum konnte sie nicht jetzt schon eine Antwort auf ihre Fragen haben?

Nein, sie musste sich geduldig üben. Die Zeit, bis sie im Krankenhaus bei Dr. Mizuno wäre, würde auch noch irgendwie vergehen.

Und bist dahin... würden sie heute alle ihr Bestes geben, damit die gemeinsame lange Arbeit nicht umsonst gewesen war.

007. Days

007. Days
 

Warum erkannte man den Wert von Dingen immer erst dann, wenn man sie mit einem Mal nicht mehr besaß?

Jeden Tag aufzustehen, ihren Eltern bei der täglichen Geschäftsvorbereitung zu helfen, beim Frühstück ordentlich zuzulangen oder ihrer kleinsten Schwester ein Stückchen zu retten, bevor sich ihr gemeinsamer Bruder Hiroki dieses auch noch schnappen konnte... in der Schule die Treppen hinaufzueilen, weil man sich unerklärlicherweise doch verspätet hatte, im Basketballclub sein Bestes geben, um für die Spiele im Stammkader aufgestellt zu werden...

Aya hatte sich nie große Gedanken darüber gemacht. Es war selbstverständlich gewesen, dass sie zu all dem fähig war und vor allem auch dann machen konnte, wann sie wollte und wie lange sie wollte. Jetzt allerdings merkte sie umso mehr, dass sie diese kleinen Dinge vielleicht etwas besser hätte wertschätzen sollen. Aber welcher Mensch, noch dazu gerade heranwachsend, macht sich darüber schon einen Kopf? Es war doch nur natürlich, dass man seine Gedanken auf andere Sachen legte, die einen zum Nachdenken brachten!

Seit Aya die Schule für Körperbehinderte besuchte, wurde ihr mit jedem Tag klarer, wohin ihre Krankheit sie geführt hatte.

Besonders an Asumi, ihrer Zimmergenossin, konnte sie den weiteren Verlauf erkennen. Sicherlich war Aya dankbar, dass sie jemanden hatte, der in der gleichen Lage wie sie steckte und dennoch den Kopf so weit oben hielt. Dass sie einem freundlichen, aufgeschlossenen Mädchen als Mitbewohnerin zugeteilt wurde, ohne die sie gerade in den ersten Tagen verzweifelt wäre.

Dennoch konnte man nicht leugnen, dass dieses Zusammensein einen bitteren Beigeschmack hinterließ.

Asumis Muskelkraft reichte im Gegensatz zu ihrer schon nicht mehr aus, um sich zu Fuß fortzubewegen. Sie war den ganzen Tag an einem elektrischen Rollstuhl gebunden, während Aya zumindest noch kleinere Strecken selbstständig erlaufen konnte, obwohl dies auch einen großen Zeitaufwand mit sich zog.

Aber nicht nur das, auch waren die allgemeinen motorischen Fähigkeiten ihrer Freundin in Ayas Augen bereits stark zurückgegangen: Asumis Hände zitterten beim Essen, sie verschluckte sich oft und bekam zum Teil keine Luft. Ihr Redefluss war äußerst langsam und die Worte kamen zu dem stockend, Silbe für Silbe, über ihre Lippen.

Trotz allem konnte Asumi immer noch lächeln und sich genauso wie jedes andere Mädchen für Liebe und Schwärmerei, Mode und andere Dinge des Lebens begeistern.

Einerseits brachte es Aya selbst stets rechten Mut und Motivation weiterhin ihr Bestes in dem zu geben, was sie jetzt konnte. Allerdings waren diese Beeinträchtigungen andererseits genau jene, vor welchen sie solche Angst gehabt hatte. In dieser Hinsicht wollte Aya am liebsten immer noch die Augen vor der Wahrheit verschließen. Nun mehr wusste sie, dass sie irgendwann genau das gleiche Schicksal erwartete, dass sie sich... irgendwann ebenso wie Yuka-chans Vater nur noch mit Hilfe einer Schrifttafel verständigen konnte...

Wäre ihre Familie nicht gewesen, die ihr den Rücken stärkte und ebenso Asumi... hätte sie wohl schon längst aufgegeben.

Aber... da war auch noch etwas anderes. Eigentlich nur eine Kleinigkeit, jedoch reichte diese aus, dass Aya jeden Abend mit einem Lächeln einschlafen konnte.

Immer, wenn die beiden Mädchen ihre Hausaufgaben beendet hatten und langsam den Futon vorbereiteten, hatte Aya ihr Handy neben sich zu liegen und zwang sich nicht fortweg auf das Display zu sehen.

Genau um acht Uhr würde es klingeln.

Nicht früher, nicht später... so auch heute.

Mit flinker Hand hatte sie das Handy aufgeklappt, als der schmale Displaystreifen aufleuchtete, und hielt es an ihr Ohr.

„Hallo“, rief Aya beinahe schon hocherfreut und lächelte dabei still vor sich hin.

Asumi horchte auf und konnte sich ein zartes Schmunzeln nicht verkneifen. Aya so fröhlich zu sehen, machte sie selbst auch glücklich. Und außerdem... wusste sie ganz genau, wer da am anderen Ende der Leitung war!

„Hey, wie geht es dir?“, erklang es an Ayas Ohr, „Tut mir leid, aber ich wurde von ein paar hungrigen Fischen im Biologieclub aufgehalten.“

„Lügner. Du rufst nie früher an, weil du genau weißt, dass du mich um diese Zeit ganz sicher erreichst.“

Eigentlich war es zu schade, dass man den Gesprächspartner beim Telefonieren nicht sehen konnte... ansonsten wäre sie Zeugin gewesen, wie überaus amüsiert jener dreinsah, als sie die kleine Flunkerei sofort aufdeckte.

„Stimmt. Ich muss mir nächstes Mal etwas Besseres einfallen lassen, du hast eindeutig dazu gelernt. Wie war dein Tag?“

„Hm“ Aya dachte eine Weile nach und legte dabei etwas den Kopf schief, „Anstrengend, aber okay.“

„Du hältst dich heute ja mal wieder unglaublich kurz.“

„Ja... dem ist wohl so.“

Für einen kurzen Augenblick schwiegen beide, aber selbst diese Stille war ihr nicht unangenehm. Sie wusste, dass sie sich nicht jede Sekunde etwas sagen bräuchten. Das war noch nie nötig gewesen.

„Du hast morgen, bevor du zu deiner Familie fährst, doch sicher noch nichts vor, oder? In diesem Fall würde ich mit dir gerne ins Aquarium gehen. Wenn du möchtest, versteht sich.“

„Eh?“ Verwundert stockte sie ein wenig. Das... war nun doch überraschend.

„Ich hol dich dann morgen um halb drei ab von der Schule ab, in Ordnung?“

„Ja... ehm, in Ordnung.“

Es folgte noch der ein oder andere Wortwechsel, aber letzten Endes kamen sie schließlich zu einem Ende, so dass sich Aya mit einem „Gute Nacht“ verabschiedete.

Immer noch verblüfft und überfahren, aber nun mehr nach und nach wirklich erfreut, nahm sie das Handy wieder vom Ohr und klappte es zu.

Das kleine Gerät eine Weile in ihrer Hand haltend, schien sie auf einen unsichtbaren Punkt zu starren.

Zumindest solange, bis Asumi sie mit neckischem Unterton in der Stimme ansprach und somit aus ihren Gedanken holte:

„War das dein Freund?“, fragte sie ganz unverblühmt und wollte ihre Freundin nur ein wenig ärgern.

„W-Wie?“ Erschrocken aufblickend, wandte Aya schnell ihren Blick ab, „Nein, wie kommst du dadrauf?“

„Du wartest jeden Abend total ungeduldig auf diesen Anruf. Und du flirtest ab und an am Telefon.“

„Nein, das tue ich sicher nicht.“

Aber das leise Auflachen wusste es wohl besser zu verraten.

„Du lächelst richtig glücklich.“

Hm... und das konnte sie nun mehr auch nicht abstreiten, oder?

„Vielleicht.“

Für Asumi war dies Antwort genug und sie wendete sich, ebenso wie nun mehr auch Aya, wieder ihrem Futon zu.

Ein kleines Lächeln hatte sich derweile bereits ganz und gar über Ayas Gesicht ausgebreitet und wäre es jetzt nicht so peinlich gewesen... hätte sie vielleicht sogar angefangen zu kichern.

Asou-kuns Anrufe waren in der Tat Teil der kleinen Dinge, die ihr Leben bereicherten. Die jeden Tag erstrebenswert machen. Der Grund dafür, dass sie jedem Morgen entgegenblicken und auch die schlechten Dinge ein bisschen besser zur Seite schieben konnte.

Weil sie seine Stimme hören durfte.

Jeden Tag.

Und dafür... war Aya wirklich dankbar.

008. Weeks

008. Weeks
 

„Da wir am diesjährigen Chorwettbewerb der Oberschulen teilnehmen, sollten wir uns langsam für ein Lied entscheiden. Gibt es dies bezüglich schon Vorschläge?“

Ein wenig nervös aber dennoch hoffnungsvoll, blickte Aya in die Runde aus der allerdings nur gelangweilte Gesichter sprachen. Keiner der Anwesenden meldete sich oder versuchte zumindest seinen Kopf dazu zu bewegen, nach einer Idee zu kramen. Stattdessen bekam man das typische Verhalten von Schülern zu sehen, die absolut nicht angesprochen werden wollten: die einen versteckten sich hinter ihren Aufzeichnungen, die anderen hatten den Blick von ihrer Klassensprecherin gleich abgewandt, die nächsten fingen auf einmal an, etwas in ihrer Tasche zu suchen oder dergleichen. „Kommt schon. Irgendeine Idee?“

„Warum sollten wir uns darüber den Kopf zerbrechen?“, schaffte es zumindest wenigstens eine Mitschülerin Ayas ihre Meinung kund zu tun – obwohl dies gewiss in die falsche Richtung zielte, „Das ist doch die Arbeit des Klassensprechers!“

„Genau, denk dir doch selbst was aus!“, wurde sie auch sogleich von einem der Jungs unterstützt. Allgemein schienen sich nun die meisten dieser ignoranten Meinung anschließen zu wollen, und sahen das Thema erst recht als beendet an.

Auch wenn Aya noch etwas wartete, kam keine weitere Meldung. Somit musste sie wohl resignieren... Sich wieder zu ihrem Platz begebend, wurde ihr mitfühlend von ihrer Freundin Mari auf die Schulter getippt.

Hätte Mari eine Idee gehabt, dann hätte sie garantiert gesprochen, das wusste Aya, und dementsprechend konnte sie ihr auch nicht böse sein.

Dennoch verstand sie nicht, warum so wenig Einsatz oder überhaupt erst Interesse gezeigt wurde.

Natürlich konnte man nicht erwarten, dass sich alle Schüler nach kurzer Zeit bereits in den Armen lagen, und mitunter gab es sicherlich auch Klassen, bei denen nie ein wirklicher Gruppenverband entstand, aber... zumindest sollte man doch miteinander arbeiten, oder? Vor allem dann, wenn einem vom Lehrer aufgetragen wurde, an solch einen Wettbewerb teilnehmen zu müssen.

Dennoch: Den Ausgang dieser ersten Gesprächslage würde Aya nicht so einfach auf sich sitzen lassen wollen, das stand fest.
 

Innerhalb dieser Woche suchte sie also auf eigene Faust nach einer kleinen Auswahl an Liedern, die sich für einen Chorgesang recht gut eignen würden.

Nun müsste sie diese nur noch ihren Mitschülern nahe bringen...

Allerdings konnte sich Aya denken, dass dies nicht gerade einfach wäre und somit beschloss sie einen anderen Weg einzuschlagen:

„Asou-kun, warte bitte!“, kam sie aus dem Klassenzimmer der 1-A geeilt und holte ihren Mitschüler ein, welcher als erster nach Unterrichtsschluss den Raum verlassen hatte, um nach Hause zu gehen.

„Was ist?“ Mit Händen in den Hosentaschen drehte er sich zu ihr um und schien ganz und gar nicht begeistert zu seinm nun mehr noch einmal aufgehalten zu werden.

Aya ließ sich davon allerdings nicht beirren, sie wusste ja, dass er schweigsam und leicht mürrisch war, und hielt ihm schließlich eine Minidisk entgegen.

„Ich habe mir ein paar Lieder für den Chorwettbewerb überlegt. Vielleicht könntest du einmal reinhören und sagen, welches du-“

„Ist mir egal“, unterbrach er sie da schon forsch mitten im Satz und drehte ihr den Rücken zu, um seinen Weg weiterzugehen, „Nimm einfach irgendeines.“

Oh nein... nicht schon wieder!

Aya atmete hörbar die Luft aus und beeilte sich, um mit ihm Schritt halten zu können.

„Aber du bist Klassensprecher, genau wie ich. Also solltest du zumindest-“

„Ich sagte doch, dass es mir egal ist.“

„Warum?“

„Weil ich Musik hasse! Glaubst du, dass sich auch nur irgendeiner von uns ehrlich für diesen Wettbewerb interessiert?“

Bevor Aya darauf aber überhaupt antworten konnte und die Siuation eventuell sogar zu einem Streit eskalieren konnte, wurden die beiden von einer hellen Mädchenstimme aus ihrer Unterhaltung gerissen:

„Asou-san!“

Aya und Asou drehten sich beide gleichzeitig um und blickten ihrer Mitschülerin Tomita Keiko entgegen, welche auf sie... nein, viel mehr auf Asou Haruto zugelaufen kam. Aya wurde von ihr nicht einmal beachtet. „Asou-san, ich wollte dich fragen, ob wir vielleicht zusammen nach Hause gehen wollen?“

Statt Tomita daraufhin zu antworten, schwieg der Gefragte einfach nur und nahm Aya die MD aus der Hand, um endlich von hier fortzukommen und somit zumindest ein Problem gelöst zu haben. „Sag bloß, du hörst noch MDs?“, amüsierte sich Tomita über seine Reaktion und ging ohne auf eine Antwort zu warten mit ihm mit.

Aya sah den beiden eine kurze Zeit nachdenklich hinterher, ehe sie sich wieder auf den Weg zum Klassenraum machte, um auch ihre Sachen zusammenzupacken.
 

Dass er allerdings tatsächlich in die Musikdateien reinhören würde, hätte sie nicht erwartet...

Ein paar Tage später kam Asou nämlich in der kleinen Pause zu ihrem Platz vor und legte ihr die MD auf die Pultplatte.

„Das dritte ist okay. Ich denke, das geht.“ Mehr sagte er nicht und Aya nickte daraufhin auch einfach nur, aber sobald er ihr den Rücken zugewandt hatte, lächelte sie still vor sich hin.

In jenem Moment betrat auch schon ihr Klassenlehrer das Zimmer, um seine Homeroomstunde abzuhalten.

„Ikeuchi, wie steht es um den Wettbewerb?“, erkundigte sich Nishino-sensei angespannt, da auch er nur gut genug wusste, dass seine Klasse im Gegensatz zu denen anderer Schulen nicht recht voran kam.

Etwas verunsichert erhob sich Aya von ihrem Platz.

„Nun... wir... haben das Lied, was wir vortragen werden, ausgewählt. Allerdings... fehlt uns auf jeden Fall noch eine passende Begleitung am Klavier und ein Dirigent.“

Es reichte aus, damit es wieder großen Tumult in der Schülerrunde gab, da man nun wohl doch nicht an diesem Wettbewerb vorbeikam und sich nun mehr drauf einstellen müsste, ernsthaft zu proben und seine Zeit zu opfern.

Dass ihre Klassensprecherin nun aber auch noch verlangte, dass sie sich einen Pianisten und Dirigenten aus dem Ärmel schütteln, ließ sie gleich wieder in Höchstform auflaufen:

„Warum machst du das denn nicht?“

„Genau, wir haben genug für die vielen Tests zu lernen! Warum sollen wir uns also auch noch mit so etwas abgeben?“

Aya schwieg kurz, um sich ihre Worte genau zu bedenken, während Nishino-sensei versuchte die aufgebrachte Gruppe wieder ruhig zu bekommen.

Im Grunde hatten sie ja recht. Natürlich hatten sie alle wahnsinnig viel zu tun. Die Lehrer gaben ihnen genug Hausaufgaben auf, kündeten Tests ohne absehbares Ende an und schon bald wusste man nicht mehr, wofür man noch lebte, außer um zu lernen... dass der kleine bisschen verbliebene Freiraum nicht unbedingt dafür genutzt werden wollte, um sich mit weiteren „schulischen“ Dingen aufzuhalten, war verständlich. Wenn es daraum ging, fiel ihr keine gute Begründung ein, dass es anders sein sollte, aber... dafür kam Aya etwas in den Sinn, was sie erst neulich von ihrem Vater gesagt bekommen hatte:

„Wisst ihr... mein Vater bertreibt ein Tofugeschäft. Das ist der Job, den er schon immer machen wollte“, begann sie zögerlich und schaffte es nach ein paar Sekunden, dass die Klasse tatsächlich schwieg. Vielmehr lag das aber wohl daran, dass sich alle fragten, warum sie jetzt ausgerechnet von ihrem Vater erzählte, was zu dem doch Niemanden wirklich interessierte? „Allerdings... bis es so weit war, hatte er viele andere Berufe ergriffen. Er arbeitete als Lieferant, gab dies allerdings bald wieder auf. Dann fühlte er sich als Schneider berufen und entwarf vewrschiedene Hemden. Aber da die Kunden ausblieben, merkte er, dass er nicht genug Talent besaß!“ Was dies betraf, musste Aya nun fast schon ein wenig lachen. Das Nähtalent ihres Vaters war wirklich nicht der Rede wert! Dennoch gab er sich immer Mühe, wenn er mal wieder etwas fabrizieren wollte. „Anschließend reparierte er Uhren und baute selbst solche zusammen, und dann-“

„Was willst du uns damit sagen, Ikeuchi?“, wurde ihr mitten im Satz über den Mund gefahren, „Uns interessiert reichlich wenig, was deine Familie bereits alles erlebt hat!“

Aya sah zu dem Störenfried auf, der ihr genervt entgegenblickte, und lächelte sanft. Nein, das würde sie jetzt zu Ende bringen. Sie... hatte das Gefühl, dass es äußerst richtig und wichtig wäre, genau dies zu tun.

„Was ich damit sagen will... Manche Dinge finden wir erst auf eine, langen Weg, und manchmal vergeht deswegen auch sehr, sehr viel Zeit. Allerdings ist diese Zeit, die wir investieren, nicht verschwendet.

Ja, wir haben eine Menge zu lernen und stehen unter Druck, aber was sind schon zwei, drei Wochen? Wir haben im Gegensatz dazu drei ganze Jahre, die wir an dieser Schule verbringen werden! Lernen ist äußerst wichtig, aber... wir sollten doch auch die Zeit hier genießen, nicht? Bevor wir uns versehen, sind die jetzt noch so ewig erscheinenden Jahre vorbei. Ich für meinen Teil... möchte Erinnerungen erschaffen, an die ich später gerne zurückdenke!“

Kaum mehr hatte Aya geendet, füllte sich die Klasse mit Schweigen.

Keiner traute sich nun mehr noch etwas zu sagen, aber keiner wusste auch überhaupt, was er sagen sollte.

Sich nun mehr setzend, hatte Aya das Gefühl, dass sie tatsächlich einige ihrer Mitschüler erreicht hatte.

Vielleicht... war dies zumindest ein Anfang.

009. Months

009. Months
 

Eigentlich fehlte es Aya an nichts.

Seit sie vor einiger Zeit ihr Abschlusszeugnis erhalten hatte, kümmerte sich ihre Familie vollends um sie. Zwar musste sie aus ihrem früheren Zimmer, welches sie sich mit Ako geteilt hatte, ausziehen, doch waren ihre Eltern sehr bemüht gewesen, um das neue Zimmer für sie gemütlich zu gestalten, so dass sich ihre Tochter auch hier heimisch fühlen konnte.

Ein eigenes Zimmer... das war sicher etwas, was sich fast jedes Geschwisterkind wünschte, und nun mehr für sie also endlich wahr wurde.

Natürlich hatte sie sich bei der Einweihung bedankt und sich auch ehrlich darüber gefreut, aber dennoch konnte Aya den Gedanken nicht unterdrücken, dass sie lieber weiterhin das Zimmer mit ihrer Schwester geteilt hätte.

Es war einfach ein ungewohntes Gefühl, nun mehr die Zeit alleine in einem Raum zu verbringen, wenn man es doch sonst anders kannte.

Denn auch an der Kasumi Schule für Körperbehinderte hatte sie eine Zimmergenossin gehabt. Oikawa Asumi war nicht nur ihr Senpai, sondern auch eine sehr gute Freundin für Aya gewesen.

Obwohl sich Ayas Leben vor knapp drei Jahren mit der Aufnahme an der Kasumi High grundlegend geändert hatte, waren ihr dennoch die alten Freunde aus den Higashikou Zeiten geblieben.

Nach ihren Abschlussprüfungen hatte ihre Mutter vorgeschlagen, doch eine Art Wiedersehenstreffen daheim zu veranstalten. Immerhin wären Mari und die anderen nun mehr auch aus der Schule entlassen und würden sich sicherlich freuen, dies mit Aya zusammen feiern zu können.

Tatsächlich hatte jeder von ihnen die Oberschule erfolgreich abgeschlossen und als das Treffen mit Ayas Freunden stattfand, waren inzwischen sogar schon die ersten beiden Collegewochen verflogen.

Mari, Saki und Keita durften sich mit Stolz Studentin beziehungsweise Student und Kouhei... hatte als einziger die Aufnahmeprüfungen verpatzt und musste nun eine Extrarunde drehen und es im neuen Semester noch einmal versuchen. Asou-kun hatte leider keine Zeit gefunden, dem Treffen beizuwohnen und die Fünf grübelten, wo er wohl abgeblieben war?

Aya empfand wirklich Freude, dass ihre Freunde, jeder für sich seinen Weg zu gehen schien, einen Pfad gefunden hatte, den er bestreiten wollte nur... wo war ihr eigener? Wo war Ayas Weg im Leben? Für die Zukunft?
 

„Aya, Mittagessen ist fertig!“ Ihre Mutter steckte den Kopf durch die Tür und lächelte.

Schwach dieses mit einem Nicken erwidernd, ließ sich Aya nun mehr von Shioka beim Aufstehen helfen, um gemeinsam Schritt für Schritt in das Ess- und Wohnzimmer zu gehen, wo sich bereits der Rest der Familie eingefunden hatte und auf sie wartete. „Heute gibt es ein kleines Festessen, weil Ayas Untersuchungsergebnisse so gut ausfielen!“, erklärte ihre Mutter freudig und setzte sich nun ebenso an den Tisch.

„Können wir uns das denn leisten?“, fragte Ako leicht stirnrunzelnd und kassierte dabei von ihrem Vater sogleich eine verbale Kopfnuss:

„Natürlich können wir! Wenn es einen Grund zum Feiern gibt, muss man feiern!“

Dabei war dies Ayas Meinung nach gar nicht nötig gewesen! Wie auch so viele andere Dinge...

Sie wollte gewiss nicht undankbar sein, aber... ab und an wäre es ihr lieber, wenn sich ihre Eltern nicht so viel Mühe gäben. Denn je öfter sie solche Kleinigkeiten feierten, desto mehr wurde Aya bewusst, wie viel Zeit bereits vergangen war. Zeit, die sie nicht zurückdrehen konnte und auch nie wieder außerhalb ihrer Träume erleben würde.

Aber selbst in diesen hatte sich die Realität nun mehr eingestellt. Es war nicht mehr so, dass sie in ihren Träumen rannte, Basketball spielte oder die fröhlichen Schultage aufleben ließ. Inzwischen sah sie sich auch dort in einem Rollstuhl sitzen, aber dennoch das Leben genießen. Aya hoffte, dass sie dies wirklich können würde... zu genießen.

Fast schon wie eine Meute ausgehungerter Tiere stürzten sich die anderen auf die liebevoll zubereiteten Köstlichkeiten Shiokas. Die Kochkünste von ihrer Mutter und Mizuos Frau waren eben nicht zu verachten! Vorsichtig und bedacht nahm sich Aya ein bisschen hiervon und davon und begann daraufhin langsam mit dem Löffel zu essen. Sie hatte den Hang, sich leicht zu verschlucken, also musste sie besonders gut aufpassen.

„Hey Aya-nee, ich habe vor kurzem Asou-san getroffen“, warf Ako mit einem Mal ein, „Er studiert tatsächlich Medizin, kannst du das glauben?“

Verwundert dreinblickend, sagte dies als Antwort wohl genug aus, so dass Ako fortfuhr: „Er meinte zwar, dass es ganz schön knifflig wäre, aber ich denke, dass er es packen wird!“

Asou-kun... studierte Medizin? Das hätte Aya wirklich nicht gedacht! Wie lange... war es nun schon her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten?

Ein Jahr? Oder... beinahe zwei? … Es schien ihm gut zu gehen. Das war das wichtigste. „Ne Aya-nee, was hältst du davon, wenn wir ihn zu uns einladen? In einem Monat sind doch Semesterferien, glaub ich? Und das letzte Mal hatte er ja wohl keine Zeit, als Sugiura-san und die anderen hier waren!“

Die gesamte Familie blickte Ako überrascht an.

„A-Also...“ Shioka wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Es lag nicht daran, dass sich die Familie schlecht mit Asou Haruto verstand, jedoch hatte sie mitbekommen, dass ihre älteste Tochter seit längerer Zeit keinen Kontakt mehr zu ihm pflegte und so war sie sich nicht sicher, ob es eine gute Idee wäre, die beiden miteinander zu konfrontieren?

Sie sah nachdenklich zu Aya, welche allerdings nach längerem Überlegen lächelte und nickte.

War es egoistisch? Sie war damals diejenige gewesen, die es für besser gefunden hatte, den Kontakt zu kappen. Asou-kun jedoch war es, der sie nach ein paar Wochen Funkstille in der Schule aufgesucht hatte und... ihr offenbarte wie er ihr gegenüber fühlte. Sie hatte ihm zu dem Zeitpunkt keine rechte Antwort geben können... nur ein aufrichtiges „Danke“...

Selbst wenn es also egoistisch war... sie wollte ihn wiedersehen! Unbedingt!

Ein klein wenig schien Ayas Herz in die Höhe zu hüpfen und sie erinnerte sich daran, wie aufgeregt es auch damals geschlagen hatte, als er sich mit ihr verabredete. Der Tag, den sie mit ihm im Aquarium verbracht hatte, war einer der schönsten ihres Lebens... wenn auch mit weniger schönem Ende.

„Gut, wenn Aya es so möchte, dann ist er natürlich sehr gerne willkommen, nicht?“, stubste Shioka ihren Mann an, welcher immer noch etwas überrumpelt mit einem Lächeln zustimmte.

Die Familie widmete sich daraufhin wieder dem Mittagessen zu, während Aya allerdings noch eine kleine Weile ihren Gedanken nachhing.

Ein Monat... dann würde sie ihn wiedersehen.

Nur noch... ein Monat.

010. Years

010. Years
 

Die Balance nicht mehr halten können, keine Distanz abschätzen können, nicht mehr richtig gehen können, nicht mehr richtig sprechen können...

Jede einzige Verschlechterung ihres Zustandes war voraussagbar gewesen.

Seit Aya damals mit fünfzehn Jahren die Diagnose „spinozerebelläre Ataxie“ gestellt bekommen hatte, hatte sich die Krankheit schleichend und langsam hingezogen. Zunächst schien es, als könnte man den auftretenden Symptomen mit physiotherapeutischen Übungen und Medikamenten entgegenwirken und eindemmen, allerdings wurde Ayas Familie bald darauf eines Besseren belehrt.

Der erste Krankenhausaufenthalt in den Sommerferien im ersten Jahr an der Highschool hatte nicht der letzte sein sollen. Es hatten weitere folge müssen und auch wenn sich sowohl die Mediziner als auch natürlich Aya größte Mühe gaben, konnte man keinerlei Verbesserungen verzeichnen.

Im Gegenteil... Dr. Mizuno kannte Ayas Krankheitsverlauf besser als jeder andere, und dessen statistische Kurve zeigte in den vergangenen Jahren einen stetigen Abstieg ihrer Gesundheit.

Letzten Endes hatte sich Aya nach all den Jahren dazu entschlossen, endgültig im Krankenhaus zu bleiben. Es war keine leichte Entscheidung gewesen, immerhin war dies ein weiterer Einschnitt in ihrem ohnehin schon von Ärzten bestimmten Leben, aber gleichzeitig war es auch genau das, was sie wollte: Wenn sich ihre Fähigkeiten so zurückbilden wollten, dann hatte sie hier die besten Möglichkeiten mit den verschiedenen Behandlungen dagegen anzukämpfen und einen halbwegs stabilen körperlichen Zustand zu gewinnen.

Noch dazu war es eine untragbare Situation für ihre Familie, wie sie selbst fand.

Aya wollte nicht, dass sich ihre Eltern bis zu dem Lebensende ihrer Tochter so abschufteten. Ebenso wollte sie, dass ihre Geschwister Ako, Hiroki und Rika darunter litten. Sie sollten eine unbeschwerte Kindheit und Jugend erleben dürfen! Sie alle hatten schon so viel für Aya getan, auf so vieles verzichtet... Sie konnte und wollte nicht verlangen, dass dies so weiterging.

Vielleicht konnte sie nicht mehr das tun, was einem gesunden Menschen möglich war, aber zumindest würde sie ihnen auf diese Art und Weise ein Stück zeigen können, wie ernst es ihr war, etwas zu verändern?

Und... es war auch nicht so, als müsste sie die gesamte Zeit über alleine verbringen: Regelmäßig wurde sie von ihrer Familie besucht und ebenso regelmäßig auch von Dr. Mizuno und den ihr zugeteilten Schwestern, welche sich neben ihrer Arbeit wirklich für Aya interessierten.

Und dann war da noch... Asou-kun. Es hatte eine Weile gebraucht, bis sie sich schließlich getraut hatte, ihm wieder gegenüberzustehen.

Vom Dach des Krankenhauses hatte Aya ihn das ein oder andere Mal beobachten können, wie er mit den Medizinkommilitonen zu einen der Hörsäle ging oder den Campus des Jounan Universitätskrankenhauses verließ. Allein die Tatsache, ihn mit den anderen lachen zu sehen, machte sie wirklich glücklich.

Doch dass sie schließlich auch einander wieder begegneten... erfüllte Aya mit einem Gefühl, dass sie nicht beschreiben vermochte. Erleichterung, Freude, Glück... Da gab es vieles.

Letzten Endes... wollte sie sich auch für ihn weiter anstrengen. Er hatte so viel für sie getan, hatte sie immer unterstützt und ihr beigestanden... Auch um ihn ihre Dankbarkeit zu zeigen, und dass seine Bemühungen nicht umsonst gewesen waren, wollte sie nun mehr hier ihr Bestes geben.

Dennoch... manchmal, wenn Aya ihre Tagebucheinträge schrieb, kamen die Erinnerungen daran auf, wie sie vor einiger Zeit gelebt hatte.

Dann musste sie der Versuchung widerstehen eines ihrer alten Notizbücher zu nehmen und sich dieses durchzulesen. Es wäre nicht gut gewesen. Sie hatte gelernt, im Hier und Jetzt zu leben, gelernt, das wertzuschätzen, was sie jetzt hatte. Es hatte lange gebraucht, bis sie sich überhaupt von dem Gedanken hatte loslösen können, ihrem Schicksal zu entfliehen und sich diesem stattdessen zu stellen. Nun mehr, wo sie dazu bereit war... wäre es ein Schritt zurück, diese alte Zeiten wieder aufleben zu lassen.

Die Gegenwart schritt unaufhörlich voran und gerade an ihren Geschwistern konnte sie dies eindeutig sehen: Ako hatte es geschafft, an der Higashikou angenommen zu werden, während Hiroki nun mehr die Mittelschule besuchte, welche auch die seiner beiden älteren Schwestern gewesen ist. Und Rika... sah man es allein schon auf Grund ihrer Größe an, und dass sie ein wenig der kleinkindlichen Züge verlor. Es machte Aya glücklich zu sehen, dass sie alle gesund und munter leben konnte. Wirklich mehr als nur glücklich.

Sicherlich konnte man sagen, dass es traurig war, wie sich ihr Leben gewandelt hatte. Traurig, weil sie mitten ihrer beginnenden Jugendzeit dazu gezwungen worden ist, anders als die anderen zu leben. Traurig, weil sie nun mehr nur noch einen kleinen Teil von dem konnte, was sie zuvor berherrscht hatte.

Aber... die vergangene Zeit hatte nicht nur Schlechtes mit sich gebracht.

Zu sehen, wie ihre Geschwister mitheranwuchsen, zu sehen wie es ihren alten Freunden ging, all diese Dinge... waren dies keine guten Begebenheiten im Leben?

011. Red

011. Red
 

„Aya! Gib ab!“ Aya wandte den Kopf leicht zur Seite, aus der Maris Stimme gekommen war und vernahm aus dem Augenwinkel ihre Freundin, die sich gerade freigelaufen hatte. Ohne weiter zu zögern blieb sie stehen, um ihren Gegner zu überlisten, drehte sich einmal um die Hälfte der eigenen Achse und drückte den Basketball gezielt von sich, so dass Mari keinerlei Probleme hatte, anzunehmen und weiterzulaufen.

Einmal kurz durchatmend, rannte Aya nun mehr diagonal über das Feld nach vorne. Sie kannte die Spielweise ihrer besten Freundin in und auswendig und wusste, worauf sie zielen würde, wenn es soweit war.

Die beiden Mädchen schafften es tatsächlich nach vorne vorzudringen, während ihre Klassenkameraden im gegnerischen Team versuchten, sie aufzuhalten. Doch weder Mari noch Aya ließen sich davon abschrecken und schließlich, kurz vor dem Korb, gab Mari wieder mit einem Dribbeln an Aya ab, welche nun nur noch drei Schritte brauchte, hochsprang und den Ball leichtfühlig in den Korb legte.

Der Pfiff des Lehrers ertönte und ließ somit die zwei erzielten Punkte gelten. Doch nicht nur dass, das Spiel war nun mehr auch beendet.

Aya und Mari liefen auf einander zu und schlugen ab.

„Das war klasse!“, lachte Ayas Freundin und ging mit dieser nun mehr an die Seitenlinie, wo Saki auf die zwei wartete und ihnen Handtücher reichte, damit sie sich den Schweiß abwischen konnten. Für dieses Übungsspiel hatte sie auf der Bank gesessen aber dennoch alles gegeben, um ihre beiden Freundinnen anzufeuern.

„Das war ein gutes Spiel!“, beglückwünschte sie Mari und Aya, welche nun noch mehr lachten.

„Wenn wir weiterhin so spielen, haben wir eventuell Chancen uns für die Oberschulwettkämpfe zu qualifizieren!“, bemerkte Aya ebenso optimistisch und legte sich das Handtuch über die Schultern.

„Aber erst einmal müssen wir den anderen Wettbewerb gut über die Bühne bringen!“, hob Mari fast schon ein wenig neunmalklug den Finger und die drei Mädchen sahen sich wieder an. „Nagarereu kisetsu no mannaka de...“ Während sie nun die Turnhalle verließen, sangen sie ihr Lied für den Chorwettbewerb und brachen schließlich lachend im Gang ab.

„Ikeuchi!“

Wieder fast gleichzeitig blieben sie stehen und drehten sich um. Das war doch... Kawamoto Yuji?!

Mari und Saki tauschten vielsagende Blicke aus, während Aya ihrem Senpai fast schon irritiert entgegenblickte. Nun mehr noch einmal zu ihren Freundinnen sehend, lief sie ihm die paar Schritte entgegen.

Kawamoto lächelte anerkennend und begrüßte sie mit einem Kopfnicken.

„Das eben war ein gutes Spiel! Dein Timing war hervorragend!“

„Oh... Danke“, erwiderte Aya beinahe ein wenig verlegen und konnte es nicht unterdrücken, nun mehr bis über beide Ohren zu lächeln.

Ebenso wenig allerdings, dass sie ihm weiter in die Augen sehen konnte. Kawamoto Yuji war einer der beliebtesten Junge an ihrer Schule und jedes Mädchen schien sich für ihn zu interessieren. Umso überraschender war es für Aya, dass er nun mehr ausgerechnet sie fragte, ob sie mit ihm nicht zusammen nach Hause gehen wollte und dabei noch einen Stopp im Sportgeschäft einlegen könnten.

Aber solch eine Chance... ließ man sich nicht entgehen. Davon einmal abgesehen, dass sie Kawamoto eh nichts hätte abschlagen können.

Somit beeilte sich Aya ein wenig mehr als sonst, um wieder aus der Umkleide zu kommen, nachdem sie zu Ende gesprochen hatten.

Von Mari und Saki war sie natürlich ausgefragt worden, aber mehr als die Information, dass er Aya für eine Einkaufsberatung bräuchte, bekamen sie nicht. Dies reichte für die Mädchen dennoch aus, dass sie kicherten und gackerten und sich ihren Teil dazu dachten.
 

In der Tat war das Einkaufen der Vorwand für Kawamoto gewesen, um sich mit Aya zu verabreden und Zeit mit ihr zu verbringen. Im Gegensatz zu anderen Mädchen war Aya nicht nur eine ausgezeichnete Sportlerin, sondern hatte auch in ihrer Art einfach etwas Interessantes, was nicht jede bieten konnte und von der sich Kawamoto angezogen fühlte.

„Die richtigen Schuhe sind wichtig für einen Basketballspieler. Ohne sie wäre es genauso, als würde ihm die Hand zum Spielen fehlen!“

Aya folgte ihrem Senpai, während sie durch die Abteilung des Sportgeschäfts gingen und lächelte. „Danke, dass du mir bei der Auswahl hilfst!“

„Hm, kein Problem“, nickte sie und richtete ihren Blick nun mehr auf das Sortiement an Schuhe, vor denen sie standen. Sie nahm ein Exemplar in die Hand und begutachtete es. Es war nett, einfach nur miteinander Zeit zu verbringen und jene genießen zu können.

Es verging eine kurze Weile, und schließlich hatte Kawamoto sogar das ein oder andere Paar gefunden, das passen würde. Dennoch hatte man bekanntlich die Qual der Wahl und somit schien er recht unschlüssig, welche der beiden er nehmen sollte. Aya wartete geduldig und beobachtete ihren Senpai, wie er hin- und herüberlegte.

„Hm... die sind auch gut... was nun? Hey... Ikeuchi. Welche gefallen dir besser?“

Aya erwachte mit einem Mal aus ihren Gedanken und sah leicht irritiert drein.

„Eh? Nun...“ Ihre Aufmerksamkeit dieses Mal wirklich auf die Schuhe richtend und nicht auf ihn, brauchte es jedoch nur eine kurze Zeit, bis sie sich entschieden hatte, „Mir gefallen die, die Senpai gerade trägt“, antwortete sie mit einem sanften Lächeln.

Kawamoto nickte und erhob sich von seinem Sitz. Zum Verkäufer hinübersehend, bat er diesen darum, jene Schuhe aus dem Warenbestand einzupacken, die er kaufen wollte. „Okay... Ikeuchi, deine Schuhe sind weiß oder?“

Nun noch verwunderter, nickte Aya nur. Bevor sie sich versah, hatte er sie bereits am Handgelenk ergriffen und zog sie ein paar Meter mit sich. „Dann denke ich... dann sollten die hier gehen!“ Mit einem Mal hatte er ein Paar Schnürsenkel, welche auf dem Regal gelistet waren, in die Hand genommen und hielt sie ihr vor die Nase. Passend zu ihrer Spieluniform der Schule waren diese kräftig rot.

„Eh?“

„Was denn? Rot wirkt kräftig und zeigt den Angriff! Das entspricht doch exakt der Stärke unseres Highschool Teams, nicht?“

Nein, darauf konnte Aya nun wirklich kein Wort der Widerrede von sich geben.

Und noch dazu... war es ein Geschenk von Kawamoto-senpai. Nur eine Kleinigkeit, aber dennoch ließ es Ayas Herz ein wenig höher hüpfen.

012. Orange

012. Orange
 

Ein weiterer Tag, den sie im Krankenhaus verbracht hatte. Ein weiterer Tag mit 24 Stunden, die Routine versprachen, aber das war etwas, was Aya in Kauf nehmen würde, solange ihr Aufenthalt etwas brachte.

Am Morgen wurde früh geweckt, so dass die Patienten Zeit hatten, sich fertig zu machen. Je nachdem fand dann der erste Rundlauf der Ärzte statt, um die morgendlichen Kontrollen durchzuführen und daraufhin gab es Frühstück. Im Gegensatz zu den anderen brauchte Aya für die Essensportion wesentlich länger. Bisher reichte die Zeit genau aus, als dass sie so eine Viertelstunde später mit den ersten Übungen und Therapien begann. Physiotherapie, Sprechtherapie, neurologische Untersuchungen... Zu guter letzt kam sie gegen Mittag wieder in ihrem Zimmer an und schon war es Zeit für das Mittagessen.

Die Mittagspause von ein, zwei Stunden folgte und daraufhin ging es dann bis in den späten Nachmittag weiter.

Sie hatte darum gebeten, so viel Übungen und Therapien wie möglich zu machen und Dr. Mizuno hatte versucht dies so weit es möglich war, umzusetzen, ohne sie zu überfordern.

Nach Therapieschluss hatte Aya etwas Zeit für sich und genau jene nutzte sie, um sich aufs Dach zu begeben. Dieses war für jedermann zugänglich, so dass auch hier oben Bänke zum Sitzen aufgestellt wurden, und außerdem diente es ebenso der Möglichkeit, seine Wäsche aufzuhängen und trocknen zu lassen.

Für Aya hatte das Dach allerdings noch einen ganz anderen Stellenwert gewonnen: Es stellte für sie war die Möglichkeit dar, die Welt aus einem ganz anderen Blickwinkel wahrzunehmen, sie anders zu sehen und selbst auch einmal wortwörtlich andere Luft zu atmen.

Und noch dazu... gab es ihr Gelegenheit beinahe jeden Tag nicht nur einen wunderschönen Sonnenuntergang zu sehen, sondern ebenso einen besonderen Menschen. Er wusste nicht einmal davon, dass sie ihn beobachtete. Er wusste noch nicht einmal, dass sie nach Möglichkeit jeden Tag hier oben verbrachte. Doch das war in Ordnung. Es war vollkommen okay, solange sie ihn einfach nur beobachten durfte, sein Lächeln sehen durfte, ihn in der Nähe wissen durfte.

Es war jedes Mal der Moment, in dem sie selbst aus dem Herzen heraus lächeln musste. In dem Aya die Augen schloss, einfach nur den frühen Abend auf sich wirken ließ und sich vorstellte wie es wohl wäre... würde sie ganz wieder normal mit Asou-kun reden können. Würde sie für ein paar Sekunden seine Stimme hören, wie er mit ihr redete.

013. Yellow

013. Yellow
 

„Das war prima, Rika-chan!“, lobte Shioka mit einem strahlenden Lächeln ihre kleinste Tochter, die allen soeben ein Ständchen gebracht hatte.

Wie jeden Abend handelte es sich hierbei um das Häschenlied, das sie in der Vorschule zusammen mit den anderen Kindern alsbald vor vielen Eltern singen durfte. Man konnte ihr an der Nasenspitze ansehen wie stolz sie darauf war. Entsprechend nutzte sie jede Gelegenheit – also jedes Abendessen – um vor ihrer Familie das Lied zu üben.

Rika war durch und durch der kleine Sonnenschein in der Familie: Immer auf Zack, einfach nur liebenswert und irgendwie ganz genau wissend, wann jemand vielleicht eine kleine Aufmunterung brauchte. Ihre niedliche Art zauberte einen immer wieder ein Lächeln auf die Lippen.

Manchmal bekam man auch einfach aus dem Nichts eine kleine Aufmerksamkeit von ihr geschenkt: zum Beispiel Bonbons, wie in Ayas Fall... Als diese nämlich berichtete, dass sie die Aufnahmeprüfung der Highschool erfolgreich abgeschlossen hatte, war Rika schnell in ihr Zimmer geflitzt und hatte zwei Bonbons aus ihrer Schatztruhe gegriffen. Diese ihrer großen Schwester in die Hand drückend, gratulierte sie ihr breitlächelnd mit den Worten „Herzlichen Glückwunsch, Aya-nee!“ Und auch als Aya das erste Mal für längere Zeit ins Krankenhaus hatte gehen müsste, war Rika diejenige gewesen, die ein Gute-Besserung-Bild gemalt hatte, damit Aya auch schnell wieder nach Hause kam. Damit hatte Aya kein Stück gerechnet und vermutlich hatte sie bis zu diesem Moment ebenso wenig gedacht, wie ein Kind es doch verstand, sein sonniges Gemüt auf seine Umgebung zu übertragen.

Nach Shiokas Lobpreisung fielen nun auch die anderen Familienmitglieder ins Applaudieren ein und Mizuo ließ es sich nicht nehmen, Rika noch einmal ganz besonders mit Worten zu verhätscheln: „Damit wird sie noch ganz groß rauskommen! Der zukünftige Star der Vorschule!“

Während Ako einen ihrer üblich frechen Kommentare daraufhin zum Besten gab und Hiroki seine Augen bereits über das leckere Abendessen wandern ließ, konnte Aya einfach nur über die Situation leise auflachen.

Ein typischer Abend dieser Familie... und Rika hatte wie eh und je dazu beigetragen.

014. Green

14. Green

 

Wenn die trübe graue Winterlandschaft sich endlich von den ersten Knospen vertreiben lässt und nach und nach die Natur wieder zum Leben erwacht, ist für die meisten Menschen die Zeit der Winterdepression vorbei.

Kaum mehr lacht die Sonne, zeigt sich des öfteren ein Lächeln auf den Gesichtern jener, die sonst keines übrig zu haben zu scheinen.

Lebendiger, erfrischter – das Jahr wird nun mehr begonnen.

Und gleichzeitig beginnt für die meisten Schüler der Schritt ins neue Leben.

Der neunte März wurde oft dafür genutzt um Schulabgänger zu feiern, ihnen ihr Zeugnis zu überreichen und eine neue Stufe des Lebens einzuweihen.

Aber gleichzeitig war der März auf der Zeit des neuen Schultrimesters.

Wenn die Kirschblüten zu blühen begannen und eine milde Windbrise sich über jemanden hinweg begab. Für die meisten ein freudiger Tag, aber manchmal... bedeutete es auch der eigentlich Wahrnehmung des Abschiedes.

Schüler, die das Trimester nicht bestanden haben, die den Wohnort wechseln oder aber auch nur die Schule.

Sowohl für Asou Haruto als auch Ikeuchi Aya war jener Frühlingsmorgen mit genau den gleichen gemischten Gefühlen geprägt. Es war ein Schultag wie jeder andere, aber dennoch hatte sich etwas geändert: Fortan besuchte Aya nicht mehr die Higashikou, sondern die Kasumi-Schule für Körperbehinderte.

Haruto hatte sich dies wieder ins Gedächtnis rufen müssen, als er die noch vor der ersten Stunde trainierenden Mädchen der Basketball-AG, in der auch Aya einmal Mitglied gewesen ist, vorbeijoggen sah. Es war nur solch eine kleine Sache, aber sie reichte aus, dass sich in ihrem dieses unbeschreibliche Gefühl der Leere breit machte. Dass etwas fehlte.

Und Aya? Nun... sie näherte sich in ihrem Rollstuhl mit klopfenden Herzen den Schuleingang. Ihre Mutter hatte sie zur Schule gebracht und nun mehr müsste sie selbst noch die wichtigste Hürde überwinden: nämlich überhaupt erst einmal Fuß zu schaffen.

Es... sah von außen nicht wirklich anders aus, als eine normale Regelschule. Allerdings schien es hier zumindest ruhiger zuzugeben. Da die älteren Schüler jedoch allesamt hier auch untergebracht waren, war es wohl nur zu natürlich, dass kein großer Andrang im Schulhof herrschte. Davon einmal abgesehen hatte Aya eh nicht wie gewohnt zur ersten Stunde kommen müssen.

Ihr Tagesplan sah vor, dass sie sich zunächst einmal mit der Schule und dem Wohnheim selbst bekannt machte.

Eine vollkommen neue Welt.

Als sie beide die Eingangshalle erreichten, sah sich Aya neugierig um und entdeckte die vielen Kinder verschiedenen Alters, welche in einer Spielzone mit verschiedenen Schaumstoffbauklötzen spielten oder aber in ihren Rollstühlen zu den Unterrichtsräumen fuhren. Hier wurde doch recht ersichtlich, dass es sich um eine Schule für Körperbehinderte handelte. Die Gänge waren breiter, um in ein höheres Geschoss zu kommen gab es Rampen, aber auch Fahrstühle.

Die Treppen lagen eher versteckt und angepasst für diejenigen, die laufen konnten. Befanden sich an jeder längeren Strecke, Geländer zweier unterschiedlicher Größen an den Wänden und... allgemein wirkte das Gebäude direkt schon familiär. Vielleicht zu familiär? Aya vermisste den Vorraum der Higashikou, wo man sich die Schuhe zu wechseln hatte und seine Sachen einschließen konnte. Sie vermisste die schmalen Gänge und das Treppenhaus.

Und vor allem... vermisste sie ihre Freunde.

Sie war gewiss kein Mensch, der anderen gegenüber nicht offen war, aber... es hätte vermutlich einiges an ihrem gegenwärtigen Auftreten geändert, hätte sie wen gehabt, den sie kannte.

„Ikeuchi-san!“

Aya wandte den Kopf zur Seite und sah eine erwachsene junge Frau auf sich zukommen. Sie wirkte leger gekleidet, aber auch freundlich. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen. Mein Name ist Fujimura Madoka, ich bin die zuständige Lehrerin“, stellte sie sich vor und blickte dann von Shioka zu Aya. „Herzlich Willkommen, du musst Aya sein nicht?“, reichte sie ihr die Hand, welche Aya zaghaft entgegen nahm und mit einem „Es freut mich auch“ leicht schüttelte.

„Dann werde ich dir mal ein paar Dinge unserer Schule zeigen. Den Rest wirst du mit der Zeit natürlich auch selbst herausfinden.“

Wieder nur zustimmend, ereignete sich daraufhin auch schon ein kleiner Rundgang mit unterschiedlichen Erklärungen zu den einzelnen Etagen, Abteilungen und was es nicht alles gab. Schließlich kamen sie in den Hofbereich an, welcher auch Blumenbeete bot, wie Aya bemerkte. Fujimura-sensei leitete Aya in Richtung einer anderen Schülerin, die ebenso im Rollstuhl saß und gerade mit einem Gartenschlauch die Blumen sprengte.

„Das ist deine Zimmergenossin, Asumi-chan. Sie ist dein Senpai und ein Jahr älter, also kannst du dich bei Fragen gerne an sie wenden.“, erklärte Fujimura-sensei.

„Vielen Dank“, nickte Aya ein wenig, woraufhin nur ein freundliches Lächeln Asumis folgte:

„Mhm, ich habe auf dich gewartet.“

„Eh?“

„Du bist Ikeuchi Aya-san, nicht? Ich... habe die gleiche Krankheit.“

„eh?“

„Als dein Senpai... kannst du alles mit mir bereden.“

Sie fuhr etwas näher heran, um Aya die Hand zu reichen.

Daraufhin wandte sie ihren Blick auf die gerade erblühenden Beete.

„Schön, nicht? Dieser Garten. Ich benutze Wasser und Sonnenlicht, damit die Blumen erstrahlen. Das ist meine Lieblingsbeschäftigung.“

In der Tat... Asumi schien ein wirklich liebenswertes Mädchen zu sein.

Und vielleicht... war es somit sogar ein wenig leichter, hier Fuß zu fassen.

015. Blue

Der blaue Himmel. Wie er sich weit über sie erstreckte. Wie er seine Arme ausbreitete und sie sanft zu umhüllen wusste.

Selbst, wenn sich jetzt eine Wolke zeigte, so wusste sie, dass diese nichts bedeutete.

Alles schien unter der Weite des großen, unendlichen Himmelszeltes nichtig zu werden.

Aya schloss die Augen, atmete die kühle Brise ein, die sich auf dem Dach des Krankenhauses bewegte und neigte ihren Kopf dann in Richtung ihrer Schwester und Mutter, die beide Wäsche aufhingen.

Ihre Familie war genauso wie der Himmel: Sie hielten Aya sanft bei sich, ließen sie sich sicher und geborgen fühlen.

Von klein auf hatte sie sich nie darüber Sorgen machen müssen, ob sie geliebt wurde. Jeden einzelnen Tag hatte sie die bedingungslose Liebe ihrer Eltern und ihrer Geschwister erfahren. Und selbst jetzt, wo sie ihnen doch mehr eine Last als alles andere sein musste, standen sie an ihrer Seite und halfen ihr. Keiner beschwerte sich, für alle war es selbstverständlich, sie zu unterstützen. Ob zu Hause, ob im Krankenhaus.

Wie gerne wollte sie es ihnen sagen, aber das Sprechen fiel ihr immer schwerer und ein Wort bedeutete für sie genauso viel Anstrengung wie für andere einen ganzen Satz zu sagen.

„Dan...ke“, hauchte Aya tonlos, als sie bemerkte, dass Ako mit einem Lächeln zu ihr winkte, während ihre Mutter die letzte Klammer an der Leine befestigte und sich ihrer Tochter dann ebenso herzlichen Gesichtsausdruckes zuwendete.

Ihre Familie, ihr blauer Himmel.

Immer wenn sie diesen sah, wusste sie, warum sie weiterkämpfen musste.

Immer, wenn sie nicht mehr weiter konnte, dachte sie an ihre Familie, und sie konnte weitermachen.

Was war falsch daran hinzufallen?

Sie konnte immer wieder aufstehen.

016. Purple

„Jeder von euch sucht sich jetzt eine Farbe aus. Aya-chan, welches Papier möchtest du?“

Die Lehrerin für Hauswirtschaft und Handarbeit wandte sich ihrer Schülerin mit einem freundlichen Lächeln zu, gewillt, ihr das gewünschte Papier zu reichen, sobald sich diese entschieden hätte.

Ayas Augen durchsuchten die reiche Auswahl. Es gab so viele hübsche Muster und Farben. Eigentlich hätte sie ein sattes Rot oder eines der Blumenmuster gewählt... Stattdessen musste sie aber immer wieder auf die kleine violette Ecke blicken, welche zwischen all den Mustern hervorblitzte. Es war ein simples Blatt, ganz ungemustert, einfach nur unifarben, und trotzdem zog es Aya in seinen Bann.

Sie kannte sich dank Ako ein wenig mit der Farbenlehre aus. Selbst war sie allerdings nicht besonders künstlerisch veranlagt. Seitdem ihre Feinmotorik nachgelassen hatte, war es zudem nur umso schwieriger für sie geworden mit Farben zu arbeiten. Das überließ sie also lieber ihrer Schwester und konzentrierte sich stattdessen auf Worte und Sprache.

Jetzt aber war ihr danach, dass sie unbedingt den violetten Ton nehmen müsste. Er stand für Außergewöhnlichkeit, Magie, Originalität, aber auch für Künstlichkeit. Trotzdem... die positiven Assoziationen überwogen für sie.

Aya hob die Hand und deutete langsam auf das Blatt:

„Ich... möch...te... das... v...vio...lette.“

„Das hier?“ Die Lehrerin zog das quadratische Blatt hervor und lächelte, „Bitte!“ Sie reichte es Aya in die Hände und wartete geduldig, bis diese es genommen hatte.

Die anderen Schüler wählten bunt gemusterte oder jene Farbnuancen mit helleren Tönen. Doch wie immer schien es Aya nicht zu irritieren. Es machte ihr nichts aus, dass sie anders war und sich nach anderen Dingen fühlte als der Rest ihres Kurses. Das war in Ordnung.

Auch ihre Aufsichtspersonen im Schülerinternat wussten, dass sie sich erst dann Sorgen oder Gedanken machte, wenn es darum ging, wie sich andere in ihrer Gegenwart fühlten. Ob sie ihnen Kummer bereitete, Unannehmlichkeiten heraufbeschwor, … Ganz für sich kam Aya mit ihrer Krankheit und den Reaktionen der Gesellschaft auf deren sichtbare Symptome ziemlich gut zurecht.

Vielleicht war auch das der Grund, warum ihre Lehrerin so gelächelt hatte, als sich ihre Schülerin für Violett entschied: Mit ihrer Art, die wichtigen Dinge im Leben zu betrachten, sich nicht von Nichtigkeiten ablenken zu lassen und ihren Weg zu gehen, war sie für viele ein Vorbild, ohne dass sie es merkte. Sie trug jene Magie in sich, die andere mit in ihren Bann zog, ohne dass sie sich verstellte. Sie war einfach nur sie selbst.

„So... ich zeige euch jetzt, wie wir eine Taube falten können. Keine Sorge, ich werde euch helfen!“, erklärte die Lehrerin dann motiviert, und wählte ihr eigenes Blatt Origamipapier, um es dann vor sich zu legen.

017. Brown

Aya war auf dem Heimweg von der Schule, welcher sie durch den örtlichen Park führte. Wie immer zu dieser Zeit war er nur spärlich mit Fußgängern besiedelt. Sie sah sich um, genoss die Ruhe, welche von hier ausging.

War es nicht seltsam, dass es in der Großstadt immer wieder solche Erholungsoasen gab?

Sie hatte schon oft gehört, dass Touristen besonders dieser extreme Gegensatz überraschte. Genau das war es aber, was Aya selbst so sehr an ihre Heimat mochte. Die Verbundenheit zwischen den Extremen.

Auf der einen Seite lebten sie modern mit der neusten Technik, aber auf der anderen Seite waren sie immer noch an ihren Traditionen und Werte gebunden. Viele Schüler in ihrem Alter interessierten sich nicht dafür und verdrehten die Augen, wenn ihre Eltern sich auf irgendwelche Riten beriefen. Sie hingegen war damit großgeworden und beschwerte sich nicht.

Mit einem Lächeln auf den Lippen blickte sie wieder vor sich und hielt dann einen kurzen Moment inne, als sie etwas vor sich sah, dass an Niedlichkeit nicht zu übertreffen war.

"Eh?" Sie eilte zu dem kleinen jaulenden Wesen und kniete sich nieder. Über das kurze borstige Fell streichelnd, beobachtete sie, wie der Hundewelpe an einem Grashalm knabberte. Ein Shiba. "Was ist los? Hast du dich verlaufen?" Doch bevor sie sich zu sehr in den Kleinen vernarren konnte, rannt dieser bereits wieder davon. "Wo willst du hin?" Aya eilte hinterher, um die nächste Ecke und hatte da noch eine ganz andere Begegnung mit jemanden, den sie hier nicht vermutet hätte...

Asou Haruto reckte sich von seinem Liegeplatz auf einer Bank, als das Hündchen neben ihn halt machte. "Asou-kun?"

Verwundert aufsehen, blickte er zu dem Tier, dann wieder zu seiner Klassenkameradin.

"Asou-kun/Ikeuchi, ist das deiner?" So wie sie daraufhin schwiegen, war klar, dass der Hund nicht zu ihnen gehörte.

"Scheint, als wäre er wirklich verloren gegangen." 

"Nein, er wurde ausgesetzt. Er trägt keine Marke", korrigierte Asou nach genauerem Hinsehen.

"Oh..." Aya begann den Fratz wieder zu streicheln, welcher jaulend den nächsten Grashalm zu fressen drohte. Er hatte wohl Hunger?

Auch Asou schien sich dies zu denken und griff neben sich, die weiße Plastiktüte hervorziehend, in der sich etwas Brot befand. Nicht die beste Option, aber der Kleine hungerte. Misstrauisch leckte der Welpe an dem Brotstück, dass ihm der Junge hingeworfen hatte.

"Komm schon, iss. Wir haben immer zusammengegessen."

"Wie meinst du das?", sah Aya fragend auf.

"Man sagt, dass Hunde und Menschen vor 50.000 Jahren begonnen haben miteinander zu leben", erklärte Asou, "Damals, als die Menschen jagten, haben die Hunde bei Gefahr gefährlicher Tiere angeschlagen. Sie konnten sich ausruhen, weil sie beschützt wurden. Im Austausch dafür haben sie die Hunde gefüttert. So begannen sie zusammen zu leben, sich zu vertrauen."

"Verstehe."

Aya nickte, blickte verstohlen zu ihrem Klassenkameraden auf und musste ein wenig lächeln. Eigentlich war er gar nicht so unnahbar, wie man meinte... Er schien sich um Tiere zu sorgen, sich um sie zu kümmern. So jemand konnte kein schlechtes Herz haben.

"Ihr ähnelt euch."

"Eh?"

Komplett aus dem Konzept gerissen, verstand Aya nicht ganz, worum es ging. Asou verzog keine Miene, sah zwar die ganze Zeit zu dem kleinen Hund, musste dann aber doch auch wieder zu Aya schauen.

"Die Haare."

"Eh?" Nun noch verwirrter, fasste sich Aya automatisch an diese.

"Ihr habt dasselbe Braun."

"W-Wie?" Die Augenbrauen zusammenziehend, fragte sich das Mädchen, ob sie gerade richtig gehört hatte und wenn ja, ob Asou Haruto eine Farbschwäche hatte? Wo ähnelten sie sich denn? Der kleine Shiba hatte einen hellbraunen Ton, während ihre eigenen Haare weitaus dunkler waren. Da war überhaupt nichts ähnliches.

"Vergiss es", murmelte ihr Gegenüber daraufhin und erhob sich von seinem Platz, um aufzubrechen. Zuvor aber trennte er noch etwas von dem mitgebrachten Brot ab und gab es dem Hündchen.

Ihm und Aya den Rücken zuwendend, klappte er mit dem Fuß den Ständer des Rads zurück und schob es an. "Bis dann."

"Asou-kun", rief Aya daraufhin, ebenso aufspringend, dann aber leicht zögernd, "Bist du... morgen auch wieder hier?"

"Vielleicht." Er ging weiter, drehte sich nicht noch einmal um. Das war auch gut so, denn ansonsten hätte sie mitbekommen, dass er etwas aus der Bahn geraten war.

Natürlich hatte er nicht ihre Haarfarbe gemeint... eher... die Anspruchslosigkeit. Dem kleinen Hund war es egal, was er bekam - er war dankbar für jeden Bissen. Und Aya... verlangte ebenfalls nicht viel. Als Klassensprecherin nahm sie diese Aufgabe ernst und versuchte ihren Mitschülern noch so viel Arbeit wie möglich abzunehmen. Doch wenn die beiden noch etwas verband... dann war es die Tatsache, dass sie beide Sanftmütigkeit zeigen konnten.

Das war allerdings etwas, was er ihr so auf keinen Fall hätte sagen können. Wie hätte das ausgesehen?

Da sollte sie lieber im Glauben bleiben, dass er an einer Farbschwäche oder ähnliches litt. Das war okay.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nach über drei Jahren veröffentliche ich nun mal wieder ein Kapitel. Komischerweise lag es die ganze Zeit unberührt auf meinen Desktop. :-/ Ich will versuchen, wieder mehr zu schreiben! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
In den Himmel zu blicken, erweckt auch bei mir ähnliche Gefühle... ein blauer oder sternenklarer Himmel, große Höhen. Man bekommt ein ganz anderes Gefühl für die Gewichtung der einzelnen Dinge im Leben. Komplett anzeigen

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