Die Kinder der Schatten ihrer Selbst von Queen_Of_Wands ================================================================================ Kapitel 3: Nowhere to run ------------------------- Endlich einmal alleine sein in dem dunklen, warmen Nest, dass sie sich in ihrem Inneren geschaffen hatte. Einmal, ein einziges Mal, wollte sie eine Stille genießen können, die nicht voller Angst war. Angst davor, unfreiwillig mit sich selbst konfrontiert zu werden. Mehr wünschte sie sich doch gar nicht. Doch wirkliche, absolute Einsamkeit war etwas, das sie schon viel zu lange nicht mehr kannte. Sie würde sie auch jetzt nicht finden. Sie würde heute Abend gar keine Ruhe mehr finden. Das war ihr spätestens bei Bens schallender Ohrfeige klar geworden. Sie hatte den Ausdruck in seinen Augen gesehen, der ihr eindeutig gezeigt hatte, dass sie es noch bereuen würde, vor ihm geflohen zu sein. Vielleicht nicht heute, hatte er doch erst vor einigen Stunden seine Wut an ihr ausgelassen in dem er sie auf seine Art und Weise gedemütigt hatte. Aber vielleicht morgen…oder übermorgen. Sie starrte in den großen Spiegel, der fast die gesamte Rückwand des großen, dunklen Zimmers einnahm. Die schweren, schwarzen Vorhänge waren diesmal nicht zugezogen. Früher hatte sie nicht in den Spiegel sehen können, ohne dass sich die Stimmen sofort bemerkbar gehabt hätten. Auch wenn die Stimmen immer vorwurfsvoller geworden waren, konnte sie ihnen nun mehr entgegen setzen… zumindest versuchte sie sich das in diesem Moment einzureden. Sie war nicht stärker geworden und die Stimmen auch nicht schwächer. Sie hatte einfach nur aufgehört, sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen ihr Schicksal aufzulehnen. Sie hatte in Wirklichkeit aufgegeben und ging nun einen einfacheren Weg. Sie führte den Kampf nicht mehr gegen etwas, auf das sie keinen Einfluss hatte sondern nur noch gegen sich selbst. Sie versuchte, die Augenblicke des Schmerzes erträglicher zumachen und hatte sich dabei doch nur selbst in eine masochistische, innerlich zerbrochene Hülle verwandelt, der ihr Leben eigentlich egal war. Obwohl sie atmete und ihr Herz schlug, war das, was man Menschlichkeit und Sozialverhalten nannte, in ihrem Herzen schon längst gestorben. Es gab nur eine einzige Person, die diese Dinge und das Gefühl der Geborgenheit wieder in ihr wachrief und wie eine schwache, schon bald wieder erlöschende Flamme zumindest für diesen einen Moment in ihr aufgewühltes Herz setzte-und diese Person war ganz sicher nicht Ben. Haru drehte die Rasierklinge zwischen ihren bleichen Fingern. Tränen rollten ihr nun über die Wangen und sie hatte Angst. Angst vor ihrem Leben und Angst vor den tiefen, dunklen Weiten ihres eigenen Geistes. Schon jetzt bemerkte sie das leise Flüstern, mit dem sich die Stimmen ankündigten. Sie schluckte, dann setzte sie die scharfe Klinge an ihre blasse Haut. Fast augenblicklich lief ihr hellrotes, warmes Blut über den Unterarm- für sie eine der wenigen Dinge, die ihr unumstößlich zeigten, dass sie wirklich noch am Leben war. Immer und immer wieder zog sie das scharfe Metall durch das weiche Fleisch. Der Schmerz war erlösend, aber nur für einen kurzen Moment. Jemand, der ihre zerschnittenen und vernarbten Arme gesehen hätte, hätte sich wohl gefragt, wie sie überhaupt noch eine unversehrte Stelle fand, die sie mit ihrem Angriff gegen sich selbst verunstalten konnte, fand. Doch sie tat es. Viel zu oft, immer wieder. Ihr Kopf lehnte an der Spiegelscheibe. Das Blut lief ihr über die Unterrame aber auch über ihre Hände und die Finger. Die Rasierklinge fiel zu Boden, als sie unkontrolliert zu zittern begann. Vorsichtig, unsicher, hob Haru die Hand. Mit ihrem Zeigefinger schrieb sie ihren Namen in blutigen Lettern auf den Spiegel. Sie starrte ihr „Werk“ aus ausdruckslosen Augen an und wieder stellten sich ihr die immer wiederkehrenden Fragen: Wer war sie eigentlich? Was machte sie hier noch? Warum war sie überhaupt noch am Leben und nicht schon tot, obwohl sie das mehr als alles andere herbeisehnte? Sie zuckte mit den Achseln. Sie würde schon noch früh genug sterben. Das einzige, dessen sie sich noch sicher sein konnte. Ein Versprechen der Welt und das einzige, das ihr diese Gesellschaft gab. Ein Versprechen, dessen Erfüllung so sicher war, wie das Amen in der Kirche. Jener Kirche, die so mitleidig auf die „Sünder“ ihrer Welt blickt, den Wunsch ihnen zu helfen vorheuchelt und sie in Wirklichkeit in aller Öffentlichkeit verflucht. Doch das ist nicht nur ein Problem der Kirche, sondern der ganzen zerrütteten, verfaulten und stumpf gewordenen Menschheit unserer Zeit. Im nächsten Moment öffnete sich die Zimmertür mit einem leisen Klacken. Ben trat herein, ging einige Schritte in den Raum hinein, bevor er stehen blieb. Seine Nasenlöcher weiteten sich kaum merklich, er starrte unbewegt auf Haru runter. Dann schüttelte er bedauernd und verständnislos den Kopf. Zwar hätte sie es vorhersehen können, doch in ihrem Zustand konnte sie kaum einen Schritt weit denken. So zuckte sie noch heftiger zusammen, als der Schmerz hervorgerufen hatte, als sein Fuß sie in die Seite traf. Als sie aufblickte stand er direkt über ihr. Dann bückte er sich, griff ihr unter die Arme und zog sie in die Höhe. „Du hast mal wieder maßlos übertrieben“ Ein schwaches Schulterzucken war ihre einzige Antwort. „Komm mit“ meinte Ben knapp und bestimmend. Mit diesen Worten zog er die zitternde, stolpernde Schwarzhaarige hinter sich her. Zuerst wusste Haru gar nicht, was er jetzt mit ihr vorhatte, bis sie realisierte, dass er sie ins Bad schleppte. Kaum dort angekommen, drückte er sie auf den Rand der Badewanne. Dann holte er Watte aus dem Schrank und tränkte diese mit lauwarmem Wasser. Dann setzte er sich neben sie, nahm ihren linken Arm in die Hand und begann ihn abzutupfen. Die Sechzehnjährige machte große Augen, als sie zuerst auf seine Finger und dann in sein Gesicht sah. So besorgt um sie war er nur selten. Doch dann sah sie die wahre Fürsorge in seinen Augen, die nicht geheuchelt war und nicht auf etwas hinauslief, was ihr gar nicht gefiel. Doch es war ihr eigentlich egal. Er hielt sie doch nur am Leben, weil sie zu so etwas wie seiner persönlichen Mätresse geworden war, die er für seine Zwecke missbrauchen konnte, wie er es wollte, weil sie von ihm abhängig war. Kaum hatte das Blut aufgehört zu laufen, hatte er sich noch einmal abgewandt und war nun dabei ihr saubere Verbände um den linken Unterarm zu legen. Auf den rechten, an dem sie sich nur einen einzigen Schnitt zugefügt hatte, der aber trotzdem stark geblutet hatte, klebte er ohne ein weiteres Wort einfach nur ein Pflaster. Haru starrte auf die verarzteten Gliedmaßen hinab, doch sie fühlte nichts dabei, als eine seltsame Leere, die langsam aber sicher von ihr Besitz ergriff. Die in jeden Winkel ihres Körpers kroch und sie fast vollkommen ausfüllte. Verzweifelt klammerte sie sich an den einzigen Halt, der ihr in diesem Moment zur Seite stand. Ihre Finger krallten sich so fest in Bens Hemd, dass der Verband an ihrem linken Arm sich augenblicklich rot färbte, da der Druck, den sie damit aufbaute, das Blut wieder aus den Wunden presste. Ein Zucken ging durch ihren Körper, gefolgt von einem Schluchzen. Dann brach die Schwarzhaarige in unkontrolliertes Schluchzen aus. Sie hatte schon wieder verloren. Wieder war ihr die ganze Situation aus den Händen geglitten. Sie hatte es schon wieder nicht geschafft, ihr Leben, das wie eine Glasstatuette auseinander gebrochen war, wieder zusammenzusetzen. Nicht einmal in kleinen Teilen. Ben fuhr ihr langsam mit den Fingern über den Rücken, seine andere Hand lag in ihren Haaren-und diesmal ließ sie seine Berührungen zu, auch wenn sie fast immer auf mehr hinausliefen. Sie ließ es zu, dass er ihr so nahe kam wie sonst eigentlich niemand und das, obwohl sie es eigentlich nicht wollte. Doch das war ihr jetzt egal, sie würde alles zulassen, solange es ihr zumindest eine kurze Erlösung von ihrem jetzigen Zustand versprach… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)