Finera - New Adventures von Kalliope ================================================================================ Kapitel 31: 100 Kommentare Special: Itsuki ------------------------------------------ Lautlos fiel der Schnee auf die ohnehin schon kniehohe, weiße Decke, die den Berg wie in Watte hüllte. Die Augen des kleinen Jungen folgten einzelnen Schneeflocken, konnten sie aber nie länger als ein paar Sekunden halten. Er war traurig, schloss seine Trauer jedoch in seinem Herzen weg und betrachtete einfach die vom Vollmond angeleuchteten Flocken und Eiskristalle. Als sechsjähriges Kind verstand man nicht, warum sich die eigenen Eltern ständig streiten mussten, obwohl sie sich doch immer ihre gegenseitige Liebe beteuerten. Es war wie ein Fluch, der auf der Familie der Tempelwächter lastete. Irgendwann fraß die Einsamkeit des stets von Schnee bedeckten Berges auch den letzten Funken warmen Gefühls aus den Herzen. Itsuki seufzte und stemmte sein Kinn auf die Handflächen, die Ellbogen hatte er auf dem Fensterbrett zwischen zwei kleinen Veilchen aufgesetzt. Noch immer folgten seine eisblauen Augen den Flocken. Er brauchte nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass es schon spät in der Nacht war. Er musste nicht sehen, wo der Neuschnee die Fußspuren seiner Mutter überdeckte, um zu wissen, wo jeder einzelner ihrer Schritte beim Verlassen des Nebeltempels gewesen war. Ihr roter Mantel war hektisch zugeknöpft und der schwarze Schal wehte ihr um den Körper. „Bitte, dann gehe ich eben!“ Ihre Stimme klang erbost und zitterte, als sie ihre schwarze Reisetasche nahm und durch den Schnee stapfte. „Schatz, jetzt warte doch!“ Itsukis Vater rannte hinter ihr her, nur mit Hausschuhen an den Füßen und einem einfachen Pullover und Jeans bekleidet. In seinem Gesicht stand Verzweiflung und er raufte sich durch die hellblonden Haare. „Lass mich dich wenigstens nach Eisbergen fahren, es ist ein Schneesturm angesagt!“ „Itsuki…“ Mit einem leisen Knirschen öffnete seine neunjährige Schwester seine Zimmertüre und ihre hellblonden Haare fielen ihr in einem geschmeidigen, geflochtenen Zopf über die Schulter. Minami zögerte kurz, dann trat sie ganz ein und stellte sich hinter ihren kleinen Bruder. „Ich vermisse sie auch.“ Selbst Minami, die sonst der kleine Wirbelwind der drei Ito-Geschwister war, litt unter der Trennung ihrer Eltern und konnte keine Fröhlichkeit mehr zeigen. „Denkst du, dass Mama wiederkommen wird?“ Itsuki löste sich von dem Fensterbrett, drehte sich um und schlang die Arme um seine große Schwester, wobei seine kleinen Kinderfinger sich tief in ihren grünen Schlafanzug bohrten. Beruhigend tätschelte Minami seinen Rücken, als er zu weinen begann und schluchzend an ihr hing. „Mama und Papa haben sich doch noch immer lieb. Ich kann auch nicht verstehen, warum Großmutter immer so böse Sachen zu ihr sagen muss.“ „Natürlich wird alles wieder gut werden.“ Nun trat auch Minako, die älteste von ihnen, in Itsukis Kinderzimmer und hatte ein aufmunterndes Lächeln für ihre beiden jüngeren Geschwister auf den Lippen. Mit elf Jahren war sie zwar immer noch ein Kind, besaß aber schon den klaren Verstand einer Erwachsenen. Sie seufzte und legte ihre Arme um die beiden jüngeren. „Auch wenn Mama gegangen ist, hat sie uns doch noch immer lieb und wird immer für uns da sein. Sie kann nicht bei uns wohnen, aber das bedeutet doch nicht, dass sie einfach weg ist.“ Minako gelang es ihre Geschwister ein wenig zu trösten und ließ sie nach einer Weile wieder los. Ihre smaragdgrünen Augen leuchteten liebevoll, als sie Itsuki eine Träne aus dem Gesicht strich. „Ich kann nicht verstehen, warum sie immer streiten müssen…“ Noch immer jammerte Itsuki, aber er war schon sein Leben lang jemand gewesen, der seine Schwäche nicht zeigen wollte, weshalb er auch jetzt die Tränen herunterschluckte und die Unterlippe vorschob. „Das machen Erwachsene manchmal“, mischte sich schnell Minami ein und seufzte. „Erwachsene sind manchmal echt dämlich.“ „Es ist schon spät, wir sollten jetzt schlafen gehen. Morgen früh haben sie sich bestimmt wieder alle beruhigt, ihr werdet schon sehen. Es wird alles in Ordnung kommen.“ Lächelnd tätschelte Minako Itsukis Kopf und zog eine der silberblonden Haarsträhnen aus ihrem Schlafanzugkragen heraus. Sie wandte sich noch einmal kurz zu den beiden um, dann knipste sie das Licht auf dem Flur aus und ging mit leisen Schritten zurück in ihr Zimmer. „Du hast sie gehört“, flüsterte Minami und knuffte ihren kleinen Bruder in die Seite. „Minako hat doch immer Recht, sie kann die Erwachsenen viel besser einschätzen als wir. Wenn sie sagt, dass Mama und Papa sich wieder vertragen, dann ist das auch so. Sei nicht traurig, kleiner Bruder.“ „Mhm, gut.“ Itsuki nickte und rang sich ein tapferes Lächeln ab, dann sah er auch seiner zweiten Schwester hinterher und drehte sich wieder zum Fenster um, als seine Zimmertür ins Schloss gefallen war. „Seit wann kümmert es dich, ob es mir gut geht oder nicht?“ Seine Mutter fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen, über die heiße Tränen liefen. „Und hör auf mich anzusehen, als wüsstest du nicht ganz genau, wovon ich spreche. Ich weiß schon gar nicht mehr, wann du das letzte Mal wirklich für mich Partei ergriffen hast. Ich bin deine Ehefrau verdammt, ist dir das denn gar nichts wert!“ Er schluckte und blieb stehen, es war als wäre eine eisige Wand zwischen ihnen, die beiden die Brust zuschnürte. „Du übertreibst.“ Seine Stimme war trocken von der Lüge, sie beide wussten es besser. Sie lachte auf, verzweifelt, resigniert, hoffnungslos. „Deine Mutter hat mich doch noch nie akzeptieren wollen. Ich bin ein Schandfleck im Familienstammbaum, schon vergessen? Nimm es wenigstens einmal in deinem Leben wie ein Mann und steh zu mir. Nur dieses eine verdammte Mal.“ Der Schnee wurde wieder stärker, dicke Flocken wurden vom Wind umhergetragen und tanzten in wilden Reigen. Dicke Wolken verdunkelten den Mond und schon bald konnte man nur noch eine weiße Masse vor dem Fenster sehen. Itsukis Augen fielen fast zu, so müde war er, aber die Hoffnung, dass Minako Recht hatte und seine Mutter zurückkehren würde, brannte wie ein letzter, verzweifelter Funke in ihm. „Mama, komm zurück…“ Seine rechte Hand drückte erschöpft gegen das kühle Glas, der sonst so strahlende Blick seiner eisblauen Augen wurde dumpfer und kälter. Er konnte nicht verstehen, warum sie gegangen war. Liebte sie ihn etwa nicht mehr? Warum ließ sie ihn zurück? Ihr Blick war starr auf ihn gerichtet, dann schlug sie voller Schmerz die Augenlider nieder. „Ich wusste, dass du es nicht kannst. Ich dachte immer, dass du der Mann bist, den ich liebe und der der Vater meiner drei Kinder ist, aber jetzt muss ich wohl erkennen, dass du im Grunde genommen auch nur wie sie bist – wie deine Mutter.“ „Sag sowas doch nicht…“ Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und machte einige Schritte auf sie zu, erste Schneeflocken fielen auf seinen Pullover und begannen seine Haare zu befeuchten. „Wir wussten beide, dass es nicht einfach sein wird. Ich liebe dich und ich werde nie eine andere Frau wollen als dich. Bitte bleib hier.“ Wut zuckte über ihre feinen Gesichtszüge und sie blickte zu ihm empor, krallte noch stärker die Finger um die Trageschlaufe der Reisetasche. „Um mir weiterhin anzuhören, dass ich nicht gut genug für den Sohn der Tempelwächterin bin? Verstehst du es denn nicht? Ich kann einfach nicht mehr! Ich habe keine Kraft mehr dazu, um mich jeden Tag vor ihr für meine Existenz rechtfertigen zu müssen!“ „Und stattdessen willst du einfach so verschwinden?“ Sie zuckte zusammen, schloss die Augen und machte einen Schritt nach hinten. „Wage es nicht mir nach all den Jahren, die ich immer an deiner Seite war, jetzt vorzuwerfen, dass ich mich nicht um meine Kinder kümmern würde. Sie sind das Wichtigste auf der Welt für mich.“ Eine einzelne Träne lief ihre Wange herunter, ihr Atem gefror vor ihr zu einer nebligen Wolke in der Luft. „Das hier ist ihr Zuhause und sie sind auch deine Kinder. Lass nicht zu, dass deine Mutter auch noch ihr Leben zerstört.“ „Schatz…“ Er griff nach ihrem Arm, doch sie entzog sich ihm und lief mit schnellen Schritten den Weg vom Nebeltempel fort. Ihre Silhouette verschwand im Schnee und immer mehr der feinen Eiskristalle fielen zur Erde nieder wie tausende winzige Nadeln, die sich mit der Zeit in die Herzen der Familie der Tempelwächter bohrten. Wie ein Fluch. Es würde alles wieder in Ordnung kommen, am nächsten Morgen würde wieder alles beim Alten sein. Minako hatte immer Recht. Aber heute hatte sie sich geirrt. Der Schnee hatte nicht nur die Liebe erstarren lassen, er hatte auch die Silhouette der Mutter geschluckt wie einen winzigen Eiskristall unter Millionen. Es war das letzte Mal, dass Itsuki sie gesehen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)