Cruel Nature von Rhyo ================================================================================ Kapitel 20: Mihos Schwur ------------------------ Mihos Schwur „Was sollte das?! Warum hast du mich festgehalten???“, schreit Keisuke Samuel wutentbrannt an. „Du hättest sie auch nicht retten können“, erwidert dieser abfällig; „Wahrscheinlich wärst du auch noch getötet worden.“ Raito ist in der Zwischenzeit aufgestanden um sich einen neuen Verband umzulegen. Verena, deren lebloser Körper auf dem Bett liegt, wurde mit der Bettdecke verhüllt. Das ist ganz gut so, denn ihren toten Anblick kann Keisuke kaum ertragen. „Warum habt ihr nichts gemacht?!“, ruft er verzweifelt; „Ihr hättet diese verrückte Frau bestimmt aufhalten können!“ Samuel schüttelt den Kopf: „Bis ich da gewesen wäre, wäre es auch zu spät gewesen. Und von Raito kannst du mit seiner Verletzung auch nichts erwarten.“ Keisuke schaut ihn zornig an: „Ihr habt es nicht einmal versucht!“ Raito macht einen Schritt auf ihn zu: „Keisuke, beruhige dich jetzt.“ Diese Aufforderung macht ihn noch wütender: „Seid ihr eigentlich verrückt?! Verena ist tot, verdammt nochmal, habt ihr das nicht begriffen, oder seid ihr so kaltherzig, dass es euch einfach egal ist?!“ Ohne damit zu rechnen fühlt Keisuke Raitos flache Hand auf seiner Wange, und Keisuke zuckt erschrocken zurück. Raito hat ihm eine Ohrfeige gegeben. Keisuke wartet nicht, bis der Schmerz verschwindet, sondern sieht Raito direkt in die Augen und merkt, dass sie mit Verachtung und Zorn gefüllt sind. „Behaupte das nie wieder...“, flüstert er mit herrschender Stimme. Schon wieder laufen Keisuke Tränen die Wangen herunter, wie schon so oft am heutigen Tag, und er nickt stumm. Samuel, der sich die Szene ruhig angesehen hat, fragt Raito halbwegs besorgt, wie es seiner Wunde gehe. „Das ist jetzt nicht weiter von Belang, ich bin nicht mehr in Lebensgefahr“, antwortet er und bindet den Verband weiter um seinen Arm. Keisuke will einfach raus hier, er will alleine sein. Wen interessiert es jetzt, was die anderen denken, er geht. Ohne den beiden Vampiren noch einen Blick zuzuwerfen verlässt er den Raum. Er läuft durch das Wohnzimmer, in dem immer noch die Scherben von Verenas fallengelassender Tasse auf den Boden herumliegen. Nur weg, einfach nur weg... Als er draußen ist hat er keine Ahnung, wo er hingehen soll, immerhin kennt er diese Umgebung nicht. Schließlich entscheidet er kurzerhand, einfach die Straße entlangzugehen, ist doch egal, wo er am Ende auskommt. Die Nacht ist sehr ruhig. Es fahren so gut wie keine Autos, und die meisten Menschen schlafen wohl schon. Keisuke kann die Ruhe der Nacht nicht genießen, denn seine Gedanken sind immer noch bei Verena. Was für einen brutalen Tod sie sterben musste... Warum ausgerechnet sie? Sie wollte niemals jemandem etwas böses, im Gegenteil, sie war stets nett und hat sich sogar geweigert, Menschen auszusaugen. Sie hätte Emily mit der Nadelpfeile töten können, als diese am Boden lag, aber sie hat es nicht getan. Das hätte sie nie getan, erstmal war ihr wichtig, dass es Raito gut geht. Ob Verena wohl in Raito verliebt war? Keisuke bereut, dass er keine Taschentücher dabei hat, aber wenigstens ist niemand auf den Straßen, der ihn weinen sehen könnte. Er hat sich mit Verena immer so verbunden gefühlt, dass ihm beim Gedanken, sie nie wieder zu sehen, übel wird. Sie wollte nur wieder ein Mensch werden, sie wollte dieses untote Leben überhaupt nicht. Nur erwachsen werden, ein glückliches Leben führen, und dann sterben. Das ist alles, was sie wollte! Diese Frau... Emily... Keisuke spürt, wie wieder Wut in ihm aufkommt. Dafür wird er sie töten. Er wird sie dafür büßen lassen, ihr einen qualvollen Tod bescheren. Er hasst sie! Sie ist ein Untier, eine Bestie, die man auslöschen sollte, bevor sie noch mehr Unheil anrichtet. Sie wird seine Rache zu spüren bekommen. Im nächsten Moment erinnert er sich an das Versprechen, das er Verena gegeben hat, nie jemanden zu töten. Das wäre das letzte, was sie gewollt hätte. Keisuke fällt mitten auf der Straße auf die Knie. Wie konnte er an sowas nur denken? Er wird sein Versprechen niemals brechen. Jedoch kann er den tiefen Hass, den er Emily Halo gegenüber bringt, nicht leugnen. Plötzlich hört Keisuke, wie ein Auto mit voller Kraft bremst. „Hey, du Idiot! Was sitzt du mitten auf der Straße?!“, ruft der Autofahrer aus dem Wagen. Keisuke sieht sich um. Er hat gar nicht bemerkt, dass er in den letzten Minuten nur auf der Straße gelaufen ist, als wäre es der Weg für die Fußgänger. Er steht auf und wischt sich die Tränen aus den Augen. „Keisuke?!“ Die Tür des Autos öffnet sich, und ein junger Mann mit blonden Haaren und Brille kommt heraus. „Hallo Desmond“, sagt Keisuke leise und versucht zu lächeln. Der Wissenschaftler schaut ihn skeptisch an: „Es geht mich zwar nichts an, aber trotzdem würde mich interessieren, was du hier suchst?“ Er wundert sich bestimmt, Keisuke hier zu treffen, aber dieser kann jetzt nicht die Kraft aufbringen, ihm von all den Dingen, die heute passiert sind, zu erzählen. Und erst recht nicht von ihr... Eigentlich will er einfach nur seine Ruhe, alleine sein. Aber wenn er Desmond schon mal zufällig hier trifft... „Fährst du mich nach Hause?“, fragt Keisuke ihn. Desmond schnaubt: „Warum sollte ich? Ich weiß nicht mal, was du hier eigentlich machst.“ „Das ist eine lange Geschichte...“, antwortet Keisuke mit zittriger Stimme. Lächelnd rückt der Wissenschaftler seine Brille zurecht, dann setzt er sich wieder in das Auto. „Steig ein!“, ruft er Keisuke zu. Die Fahrt verläuft soweit sehr ruhig. Desmond erzählt Keisuke, dass er immer diesen Weg entlang fährt, wenn er von seinem Labor nach Hause will. Er hat wieder bis in die tiefe Nacht dort gearbeitet und war gerade auf dem Weg nach Hause. Interessiert versucht er, Keisuke darüber auszufragen, was er denn da gemacht habe, aber dieser weicht ihm immer wieder aus. „Ich erzähle es dir später, nicht heute...“, sagt er traurig. Einige Minuten später sind sie schon bei Keisukes Haus angekommen. Er bedankt sich bei Desmond und steigt aus. Bei Betrachten des Hauses fällt ihm auf, dass alle Lichter aus sind, also werden Sakito, Shizuka und Miho wohl schon schlafen. Wie spät ist es überhaupt? Keisuke hat sein Zeitgefühl vollkommen verloren. Er schließt die Tür auf und läuft geradewegs hoch in sein Zimmer, in sein Bett. Dieser Abend hätte so schön werden können... Ob er jemals wieder einen schönen Abend haben wird? Nach vielen unruhigen, verzweifelten Gedanken schläft er schließlich ein. Den Samstag verbringt Keisuke alleine in seinem Zimmer. Er will jetzt niemanden sehen, deswegen verhält er sich Shizuka und seinen Geschwistern gegenüber abweisend. Miho hat ihn auch nicht gefragt, wann er diese Nacht nach Hause kam, denn anscheinend ist sie selbst bis in die tiefe Nacht weg gewesen und kam todmüde zurück. Keisuke macht sich keine weiteren Gedanken darüber. Still arbeitet er an seinen Hausaufgaben. Mathe. Keisuke hasst Mathe, aber er will diese Qualen jetzt möglichst schnell hinter sich bringen. Und wenigstens kann er die Hausaufgaben nutzen, um sich abzulenken. Etwas Zeit vergeht, und ein Klopfen an der Tür unterbricht Keisukes nicht vorhandene Konzentration: „Kann ich reinkommen?“ Ohne seine Antwort abzuwarten wird die Tür geöffnet, und Miho kommt hinein. In ihrer Hand hält sie ein hohes Glas voll mit Blut. Keisuke schaut sie fragend an. „Du sieht nicht gut aus...“, sagt Miho fürsorglich; „Wann hast du das letzte Mal was getrunken?“ Gestern, überlegt Keisuke, das letzte Blut, was er getrunken hat, hat Verena ihm gebracht. In der Teetasse... „Stell's dahin...“, erwidert er schlicht und zeigt auf den Schreibtisch. Miho nickt, stellt das Glas hin und geht wieder. Sie scheint zu ahnen, dass etwas mit ihm nicht stimmt, aber mit ihr kann Keisuke nicht darüber reden. Sie weiß ja noch nicht mal was von den Cursers... Etwas angewidert betrachtet er das Blut im Glas. Er nimmt es in die Hand und nimmt einen Schluck. Ja... Wir Vampire sind schon ekelhaft, denkt sich Keisuke traurig. Gestärkt durch die Kraft des Blutes beschließt er, sich wieder an seinen Hausaufgaben zu versuchen, aber schon ein paar Minuten später stört Miho ihn schon wieder. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, fährt Keisuke sie genervt an. „Es ist jemand für dich am Telefon“, antwortet sie gleichgültig, und geht wieder. Das war ja komisch, denkt er. Vielleicht hätte er nicht so grob sein sollen... Aber er kann sich ja später auch noch entschuldigen. Wer ist wohl am Telefon? Eigentlich möchte er mit niemandem sprechen, aber ihn würde schon interessieren, wer schon Keisuke anruft? So viele Freunde hat er ja nicht. Yuri vielleicht? Er läuft die Treppe hinunter bis ins Wohnzimmer, das glücklicherweise leer ist. Keisuke geht zum Telefon und nimmt den Hörer ab: „Hallo?“ „Keisuke, bist du alleine?“ Es ist Samuels Stimme. Warum ruft ausgerechnet er ihn an? Ob etwas passiert ist? „Ähm, ja...“, sagt Keisuke unsicher; „Was ist denn...?“ „Keine Sorge, das Telefon wird nicht abgehört. Ich habe das schon nachprüfen lassen. Raito hat mich darum gebeten, dich anzurufen, und dich zu informieren.“ „Aha...“, erwidert Keisuke gelangweilt. Ihm ist ziemlich egal, was es jetzt schon wieder für Neuigkeiten gibt. Wenn es Verena nicht zurückbringt, interessiert es ihn nicht. „Raito musste sich ein neues Versteck suchen, jetzt, da das alte von den Cursers gefunden wurde. Ich habe ihm angeboten, in meinem Haus zu wohnen, aber das will er nicht.“ „Warum nicht?“, fragt Keisuke. Samuel räuspert sich: „Geht dich eigentlich nichts an, aber wenn du meinst, es unbedingt wissen zu müssen... Er verträgt sich nicht sonderlich gut mit meiner Familie.“ Also wohnt er bei seiner Familie? Keisuke bohrt nicht weiter. „Morgen ist Verenas Beerdigung. Raito möchte, dass du auch kommst.“ Jetzt wird Keisuke aber hellhörig: Verenas Beerdigung? „Sie ist doch erst gestern gestorben! Und schon morgen beerdigt?“, fragt er erstaunt. Samuel lacht leise: „Ja, das haben wir meinen Fähigkeiten zu verdanken. Menschen sind so leicht zu manipulieren, nicht zu glauben.“ In diesem Moment wird Samuel ihm immer unsympathischer, aber Keisuke sagt nichts. „Also, morgen früh um zehn Uhr. Der St. Johanna Friedhof.“ „Und wo genau?“, fragt Keisuke, aber Samuel hat schon aufgelegt. So ein Blödmann, aber da kann man jetzt nichts machen. Er fragt Miho nach dem Stadtplan. „Was willst du damit?“, möchte sie wissen. „Ich suche den St. Johanna Friedhof. Das ist nicht der, wo auch Mama und Papa liegen, oder?“ Miho schüttelt den Kopf: „Nein, ihr Friedhof ist der andere. Aber was willst du da?“ Jetzt hätte Keisuke sich irgendeine Lüge, eine Ausrede einfallen lassen können, aber er hat es satt, das alles geheimzuhalten: „Miho, kannst du dir kurz Zeit für mich nehmen?“ Sie stimmt zu und nimmt sich eine Tasse Kaffee. Im Wohnzimmer setzt sie sich mit ihrem Bruder auf das Sofa und schaut ihn besorgt an: „Also, was ist los?“ Und dann fängt Keisuke an, ihr von den Cursers zu erzählen, und davon, was damals auf Shizukas Party in Wirklichkeit passiert ist. Er erzählt ihr, dass er den Mörder ihrer Eltern sogar persönlich kennt, und er spricht über Raito und Verena. Auch daraus, dass er von Vampirjägern fast getötet worden wäre, macht er kein Geheimnis mehr. Kurz gesagt erzählt er ihr alles. Miho starrt ihn entsetzt an: „Du treibst doch Witze mit mir, oder?“ Keisuke schüttelt den Kopf: „Wenn du mir nicht glaubst, frag Desmond und Luna. Die können dir das meiste davon bestätigen.“ „Keisuke!“ Miho steht auf: „Sag mir, warum du mir das verschwiegen hast? Du wärst doch beinahe umgekommen!“ Er schweigt. Er wollte ihr einfach keine Sorgen bereiten, sie steht immer so unter Stress, da hätte sie das nicht auch noch gebrauchen können. Sie packt ihren Bruder am Arm: „Bitte, hör mir mal zu. Wir haben unsere Eltern verloren. Ich habe mir geschworen, mich um euch zu kümmern, für euch da zu sein, damit wir ein normales Leben führen können, so normal, wie es eben geht. Wir sind doch schon auf den besten Weg dahin. Aber dann möchte ich, dass du mir sowas erzählst... Du vertraust mir doch?“ Keisuke nickt schuldbewusst. „Du hast ja auch nicht gezögert, mir zu sagen, dass du ein Vampir bist, oder?“ Sie lächelt wieder und geht zum Telefon. „Was machst du?“, fragt der immer noch auf dem Sofa sitzende Keisuke. Miho nimmt den Hörer in die Hand: „Ich rufe Desmond an. Wir haben nicht einmal eine Alarmanlage. Vielleicht bringt er uns eine gute an.“ Sie wählt die Nummer. Keisuke fragt zweifelnd: „Können wir uns überhaupt eine Alarmanlage leisten? Und ich weiß auch nicht, ob sie etwas bringen würde...“ „Das mit dem Geld lass mal meine Sorge sein“, antwortet Miho gleichgültig; „Außerdem ist es besser, als nichts zu tun...“ Sie lässt sich nicht weiter von ihrem Bruder ablenken und fängt ein Telefongespräch mit Desmond an. Keisuke fühlt sich etwas besser, nachdem er ihr alles erzählt hat. Da er von Mihos Gespräch nur die Hälfte mitbekommt, wartet er geduldig, bis sie fertig ist. Seufzend legt sie auf. „Und?“, fragt der jüngere Bruder erwartungsvoll. „Er installiert uns morgen nachmittag eine Alarmanlage. Ich habe ihn auch noch gefragt, ob er dich morgen früh zum St. Johanna Friedhof bringt, aber da hat er abgelehnt. Er ist ja soooo beschäftigt.“ „Und wie soll ich jetzt dahin kommen?“, fragt Keisuke bedrückt. „Zu Fuß gehen würde ich nicht, dafür ist er zu weit weg. Logaly ist eben eine Großstadt...“, überlegt Miho laut; „Luna können wir auch nicht fragen, Sonntags kümmert sie sich immer um ihr Pferd. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als ein Taxi zu bestellen.“ Und ein weiteres Mal nimmt Miho den Hörer in die Hand. Keisuke reicht ihr das Telefonbuch aus dem kleinen Schrank, damit Miho darin die Nummer eines Taxiunternehmens nachschlagen kann. „Um zehn Uhr muss ich da sein“, bittet Keisuke. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)