Cruel Nature von Rhyo ================================================================================ Kapitel 22: Der perfekte Abend ------------------------------ Der perfekte Abend „So, ich bin fertig.“ Desmond packt sein Werkzeug zurück in seinen Beutel. Die Alarmanlage hat er bei der Haustür installiert. „Vielen Dank“, sagt Miho, die ihm gerade ein Glas Wasser gebracht hat. Desmond trinkt das Glas leer, und sie lobt ihn: „Du hast das ja unglaublich schnell geschafft.“ Er lacht: „Wenn man es einmal verstanden hat, ist es sehr einfach. All diese Drähte und Schaltkreise, die für andere so komplex wirken – sind ein Klacks für mich.“ Er rückt seine Brille zurecht. „Hm, dann kommen wir jetzt wohl zur Bezahlung... Wie viel war das noch gleich?“ Miho ist nervös. Desmond schaut ihr kurz in die Augen und zuckt grinsend mit den Schultern: „Weißt du was, Miho, vergiss es, es ist dieses mal gratis. Nur dieses eine Mal“, fügt er hinzu. Dass Desmond eine Gelegenheit auslässt, Geld zu verdienen, macht Miho stutzig. Überrascht will sie wissen: „Aber... Bist du sicher? Bist du irgendwie an viel Geld gekommen?“ „Früher oder später sicherlich, aber eigentlich habe ich nur gute Laune!“, antwortet er. „Darf ich wissen, wie das kommt?“, fragt Miho höflich, aber interessiert. Desmond nickt: „Morgen besucht mich meine Freundin nach langer Zeit mal wieder!“ „Oh, herzlichen Glückwunsch. Sie wohnt in Kanada, wenn ich mich richtig erinnere...“ „Ja“ Desmond strahlt; „Morgen mittag wird sie hier sein, ich hole sie am Flughafen ab. Und dann bleibt sie eine Woche und wohnt bei mir.“ Da kommt Miho eine Idee. „Das ist ja toll, habt ihr auch schon Ideen, was ihr machen wollt?“ „Ähm, nicht direkt, vielleicht gehe ich mit ihr ins Elektronik-Museum.“ Miho kann sich nicht vorstellen, dass sich dafür wirklich eine Frau interessieren würde, aber sie möchte darüber jetzt auch nicht nachdenken. Stattdessen fragt sie: „Ähm, ja, schöne Idee, ich meinte aber, vielleicht eher etwas Romantisches? Da würde sie sich bestimmt drüber freuen.“ Desmonds Lächeln erstirbt sogleich: „Romantisch?“ Er schaut Miho an, als hätte sie einen unheilbringenden Fluch ausgesprochen. „Romantik ist nichts, wofür man Geld ausgeben sollte. Wir können genauso gut in eine Imbissbude gehen, da gibt es das Essen schneller und billiger. Auch wenn es ungesund ist.“ Enttäuscht schaut sie ihn an: „Meinst du das ernst? Was sagt deine Freundin dazu?“ Desmond seufzt: „Ach Miho, ich habe grundsätzlich ja nichts dagegen. Aber ich will eben kein Geld dafür ausgeben, das ist doch nachvollziehbar.“ Miho lächelt: „Wenn nur das dein Problem ist... Ich mache einen Vorschlag. Morgen Abend gebe ich um acht Uhr ein Dinner, eigentlich war es nur für mich und Stephan gedacht, aber warum kommen du und deine Freundin nicht auch, und wir essen zu viert?“ Gespannt wartet sie auf seine Antwort. „Hm, okay, ich seh' das einfach als Bezahlung für die Installation der Alarmanlage“, lächelt er; „Natürlich frage ich meine Freundin vorher noch. Aber grundsätzlich gerne.“ Miho freut sich über seine Zusage. Ein Doppel-Date, das hat sie sich schon erträumt, seit sie klein war. Und schon morgen Abend wird sie eins haben! Nicht zu glauben... „Ich weiß nicht, woran es liegt, aber eure Hausaufgaben sind alle falsch!“, ruft Herr Umbala, der Mathematiklehrer, entsetzt: „Ich schreibe den richtigen Weg, an die Lösungen der Gleichungen zu kommen, nochmal an die Tafel. Bitte übertragt es in euer Heft.“ Keisuke gähnt. Es ist bereits die dritte Stunde, aber er ist immer noch müde. Shizuka, die neben ihm sitzt, sieht dagegen aus wie das blühende Leben. Während alle von der Tafel abschreiben, fragt er sie: „Hast du schon eine Idee, was wir machen wollen? Wir dürfen den ganzen Abend nicht zu Hause sein.“ Shizuka überlegt kurz: „Ich würde sagen, wir gehen in die Stadt, shoppen ein bisschen, oder ins Einkaufszentrum. Was sagst du dazu?“ Von der Idee hält er nichts, denn mit Shizuka shoppen zu gehen wäre wohl für jeden Jungen eine Höllenqual. Sie lässt nie ein Geschäft aus, und auch wenn sie schon vorher weiß, dass sie nichts kaufen wird, geht sie trotzdem rein und schaut sich alles stundenlang an. Darauf kann Keisuke wirklich verzichten. „Worüber redet ihr?“, mischt sich Yuri in das Gespräch ein. Das rotäugige Fuchsmädchen sitzt auch neben Keisuke. Dieser antwortet: „Meine Schwester hat ein Date, deswegen dürfen wir heute von acht bis zehn nicht zu Hause sein und müssen uns eine Beschäftigung solange suchen.“ Yuri lächelt: „Dann kommt doch zu mir ins Café 'Lexy'! Das hat sogar noch länger auf.“ Keisuke und Shizuka schauen sich an. Die Vorstellung, zwei Stunden lang in einem Café voller Senioren zu hocken scheint beiden nicht sehr zu gefallen. Erstmal einigen sie sich darauf, noch weiter zu überlegen, was sie machen könnten. Bis ihnen in der fünften Stunde die Entscheidung abgenommen wird. Herr Oaking, der alte Geschichtslehrer, möchte, dass die Schüler sich in Gruppen zusammentun und etwas über bestimmte Personen in Erfahrung bringen. „Ihr drei hier vorne“, sagt er, und deutet auf Shizuka, Keisuke und Yuri; „Ihr recherchiert über Franklin Delano Roosevelt, verstanden? Ihr seid dann morgen die erste Gruppe, die vorträgt.“ Widerwillig stimmen die drei zu. In der Pause schlägt Yuri vor: „Also gehen wir in die Bibliothek?“ Keisuke seufzt: „Wir könnten doch auch im Internet nachschauen.“ Yuri schüttelt den Kopf: „Bis morgen? Ganz bestimmt nicht! Denk daran, dass ich meinen Eltern nach der Schule noch im Café helfe. Wenn du unbedingt willst, kannst du ja heute nachmittag im Internet gucken, oder wir recherchieren heute Abend in der Bibliothek zusammen!“ Keisuke sieht das ein. Sie verabreden sich um halb acht im Café 'Lexy', um von dort aus zur Bibliothek zu gehen. Jetzt ist es sieben Uhr, und Miho hat den Tisch bereits fertig gedeckt, vier Teller und eine dunkelrote, glatte Tischdecke darunter. In der Mitte des Tisches steht eine gläserne Blumenvase, gefüllt mit roten Rosen, und drumherum vier Kerzen, ebenfalls rot. Miho selbst hat ihre Haare obligatorisch zusammengebunden, damit sie sie nicht bei der Arbeit in der Küche stören. Weder das Essen, noch sie selbst sind fertig, und es ist nur noch eine Stunde Zeit! „Miho, warum hetzt du so?“, fragt Keisuke, der gerade seine Schultasche gepackt hat, die er gleich mitnehmen will. „Das letzte Dinner was ich gegeben habe war eine totale Katastrophe!“, ruft Miho gestresst; „Luna war schon eine halbe Stunde da, bevor ich das Essen fertig hatte! Und dann ist es auch noch angebrannt!“ Keisuke unterdrückt ein Lachen. „Was macht ihr denn gleich?“, fragt Miho beiläufig, während sie ein Soufflé in den Ofen schiebt. „Wir gehen in die Bibliothek und machen etwas für die Schule.“ Miho dreht sich um. „Oh“, sagt sie verwundert; „Ihr geht wohl in die Lilienfeld-Bibliothek?“ Keisuke versteht nicht, was sie damit meint, eigentlich wollten sie ja in die Stadtbücherei gehen. „Die Lilienfeld-Bibliothek ist die einzige Bücherei in der Stadt, die so spät noch geöffnet ist. Sie schließt glaube ich erst um Mitternacht.“ Keisuke fragt Miho vorsichtshalber, wie man da hinkommt, und sie erklärt ihm den Weg. „Achja“, sagt Miho noch; „Bitte pass auf dich auf, wenn du so spät noch draußen unterwegs bist.“ Er versichert ihr, dass er Acht geben wird, und schon ein paar Minuten später gehen er und Shizuka los. Miho sieht den beiden noch nach und arbeitet danach weiter am Dessert. Nach gut einer halben Stunde ist sie mit der Vorspeise und dem Dessert fertig, und das Hauptgericht muss nur noch in den Backofen. Miho nimmt das Soufflé heraus und stellt das Lamm rein. Jetzt sollte sie sich langsam beeilen, sich für das Essen fertigzumachen, und sie läuft ins Badezimmer. Nachdem sie zehn Minuten geduscht hat, trocknet sie sich ab und föhnt und kämmt ihre Haare. Dann zieht sie das hellblaue Abendkleid an, das sie sich vorher zurecht gelegt hat. Ein Blick in den Spiegel verrät ihr, dass sie fast fertig ist. Auf Lidschatten verzichtet sie, dafür trägt sie leichtes Make up auf, um einen helleren Teint zu bekommen. Jetzt fehlt nur noch der richtige Lippenstift. Welchen soll sie nehmen...? Hellrot, blassrosa oder blutrot? Hellrot passt eigentlich immer, blassrosa wirkt nicht so aufdringlich und blutrot lässt sie erfahrener aussehen. Also, welchen soll sie nehmen, welchen? Sie hat sich noch nicht entschieden, da klingelt es an der Tür. Oh nein, entweder ist das Stephan oder es ist Desmond mit seiner Freundin... Hektisch verlässt Miho das Badezimmer um die Haustür zu öffnen – ohne sich für einen Lippenstift entschieden zu haben. Sie macht die Tür auf und vor ihr steht Desmond, in Begleitung einer Frau. „Guten Abend“, grüßt Miho und schüttelt den Beiden die Hand. Desmonds Freundin hat dunkelrote, fast braune Haare, braune Augen und trägt ein schwarzes, enges Kleid. Sie ist sehr schlank und hübsch, aber ihr Blick ist eher genervt als freundlich. Desmond trägt einen simplen, dunklen Anzug über einem weißen Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. „Darf ich meine Freundin vorstellen?“, fragt der Herr fröhlich, aber seine Begleiterin erledigt das schon alleine: „Ich bin Shou Cassel.“ „Schön, dich kennenzulernen, Shou. Ich bin Miho.“ Sie führt die Gäste ins Haus und nimmt ihre Mäntel an sich, die sie schnell im Flur aufhängt. „Nehmt doch schon im Wohnzimmer Platz! Der Tisch ist gedeckt!“, ruft sie, und läuft ins Badezimmer, um die schmutzige Wäsche, die immer noch dort liegt, zügig nach oben zu bringen. Was für einen Eindruck würde das machen, wenn die beiden hier auf Toilette gehen wollen, überlegt sich Miho. Sie geht wieder hinunter, und gerade will sie das Wohnzimmer betreten, da hält sie inne, weil sie hört, dass Shou gerade ihren Namen gesagt hat. Reden sie etwa schon über sie? Miho entschließt, an der Tür zu lauschen. „... Also seid ihr nur Freunde?“, hört sie Shous Stimme. „Aber klar, mehr ist da nicht!“, antwortet Desmond erschüttert. „Aha, und wie seid ihr Freunde geworden? Du hast vorher NIE von ihr erzählt!“ „Das ist der falsche Zeitpunkt dafür! Miho kommt bestimmt gleich zurück.“ Diese Shou denkt doch nicht wirklich, dass zwischen Miho und Desmond etwas ist? Sie merkt, dass sie sauer wird, reißt sich aber zusammen. „Ach...“ Shou seufzt: „Wenn sie wenigstens nicht so hübsch wäre, dann wäre es wahrscheinlich nicht so ein Problem. Ich muss mir Sorgen machen, wenn du mit so schönen Frauen befreundet bist.“ Miho läuft purpurrot an, was zum Glück niemand sieht. Shou findet sie also hübsch? Normalerweise tut Miho nicht viel für ihr Äußeres, nur an diesem Abend hat sie sich etwas herausgeputzt. Sie atmet einmal tief durch und geht zu den anderen ins Wohnzimmer zurück. „Ich wollte euch nicht warten lassen“, entschuldigt sie sich. „Macht nichts“, sagt Shou gleichgültig. „Hast du nicht noch jemanden eingeladen? Deinen Freund?“, fragt Desmond, der sich im Gegensatz zu Shou schon an den Tisch gesetzt hat. „Naja, er ist nicht wirklich mein Freund... Noch nicht, zumindest. Aber eigentlich müsste er jeden Moment hier sein...“ Shou hustet: „Wer weiß, ob es diesen Freund überhaupt gibt...“ „Wie bitte?!“, ruft Miho sauer. Desmond steht blitzschnell auf, nimmt seine Freundin am Arm und lässt sie sich neben ihn setzen: „Ähm, vergiss es einfach, Shou ist ein wenig verstimmt wegen dem Jet Lag. Sie ist müde.“ Miho fängt sich wieder, und Shou erwidert gelangweilt: „Wenn du meinst...“ Es läutet an der Tür. Das muss Stephan sein! Miho geht in den Flur und macht mit Herzklopfen die Tür auf: „Stephan!“ Stephan steht davor und verneigt sich, dabei hält er Miho eine dunkelrote Rose hin. Er ist so charmant! Sie nimmt ihm die Rose ab und bittet ihn ebenfalls herein. Er trägt einen schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte, und es steht ihm unglaublich gut. Im Wohnzimmer stellt sich Stephan höflich vor: „Guten Abend, ich bin Stephan. Du musst Desmond sein.“ „Richtig“, sagt Desmond kurz; „Guten Abend. Das hier ist meine Freundin Shou.“ Stephan verneigt sich leicht und nimmt ihr gegenüber Platz. „Dann ist er also doch nicht erfunden“, flüstert Shou, und Desmond wirft ihr einen ermahnenden Blick zu. Miho geht zum Tisch und schüttet jedem etwas Rotwein ein, dann geht sie in die Küche, um die Vorspeise zu holen. Sie ist ziemlich nervös. Jetzt sind alle da, hoffentlich läuft es gut. Inzwischen sitzen Keisuke, Yuri und Shizuka in der Lilienfeld-Bücherei. Die Bibliothek ist sehr geräumig, und hat scheinbar endlos viele Regale voller Bücher. Die Decke ziert ein majestätischer Kronleuchter, und die antiken Möbel wirken alle recht staubig. Aber die drei haben keine Zeit, auf die unheimliche, stille Atmosphäre zu achten, denn sie sind mit Recherchen über F. D. Roosevelt beschäftigt. „Aaaalso!“ Yuri klappt ihr Buch zu und fasst zusammen: „Franklin Delano Roosevelt war US-Amerikanischer Präsident von 1933 – 1945. Er ist 1882 geboren und 1945 gestorben, am 12. April. Er war als Präsident insgesamt vier Mal im Amt, obwohl es eine Beschränkung gibt, die sagt, dass man nur höchstens zwei Mal amtieren kann. Studiert hat er in der Harvard-University und wurde im Jahre 1928 Gouverneur von New York. So, was noch...“ Shizuka kichert: „Du hast vergessen, dass er die Präsidentschaftswahl 1932 gewonnen hat.“ Keisuke seufzt: „Sich diese ganzen Daten zu merken, ist schwer...“ Die beiden Mädchen nicken. „Ihr arbeitet aber nicht sauber“, sagt eine unbekannte Stimme. Verwirrt schauen sich alle um. Zwischen den Regalen kommt eine Frau mit Brille hervor, vielleicht dreißig Jahre alt. Ihre nicht sehr langen, braunen Haare hat sie zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Mit beiden Händen trägt sie einen Stapel Bücher. „Diese Bücher, die ihr da habt, geben viel mehr her. Wie könnt ihr das Wissen nur ablehnen, wenn es so bereitwillig vor euch liegt?“ Shizuka und Keisuke sagen lieber nichts, da sie die Frau nicht kennen, aber Yuri nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wir haben uns nur das Wichtigste herausgesucht! An einer Biographie haben wir kein Interesse.“ „Biographie?“ Die Frau schmunzelt. Sie legt ihre Bücher ab und stellt sich mit verschränkten Armen vor die drei verwirrten Schüler. „Ich habe von euch noch kein Wort gehört, über die Frau von Franklin D. Roosevelt.“ „Seine Frau?“, wiederholt Shizuka. Die Unbekannte seufzt: „Eleanor Roosevelt. Ihre Rolle wird in der amerikanischen Geschichte immer unterschätzt.“ Alle hören ihr gespannt zu. „Anna Eleanor Roosevelt war die Ehefrau von Franklin D. Roosevelt, eine Diplomatin, die sich für Menschenrechte einsetzte. Ehrenamtlich hat sie sich in vielen Bereichen sozial engagiert. Damals hat sie für die Rechte der Frauen gekämpft, wenn es darum ging, sich politisch zu betätigen. Wirklich eine großartige Person. Ihr solltet auf keinen Fall vergessen, sie zu erwähnen.“ Shizuka nickt hastig und schreibt alles mit. Überrascht darüber, was die Frau spontan weiß, fragt Keisuke: „Danke, aber wer sind Sie?“ Die Frau lächelt jetzt und hebt ihre Hand: „Ich bin Frau Lilienfeld. Mir gehört diese Bibliothek.“ „Oh!“, rufen die drei gleichzeitig, und Frau Lilienfeld nimmt ihre Bücher wieder an sich. „Wenn etwas ist, könnt ihr mich gerne fragen. Ich weiß fast alles, was in den Büchern dieser Etage steht. Entschuldigt mich bitte...“ Und sie zieht von dannen. „Das war eindrucksvoll!“, lacht Yuri, und Shizuka nickt. Plötzlich fällt Yuris Blick auf eine Kerze, die auf dem Tisch steht, an dem die drei die ganze Zeit gearbeitet haben. „Von euch hat niemand Feuer dabei, oder? Wir könnten ja die Atmosphäre verschönern.“ Shizuka schüttelt den Kopf, aber Keisuke öffnet seinen Rucksack und holt eine Packung Streichhölzer heraus. Seiner Meinung nach sollte man sowas immer dabei haben. Er gibt die Packung Yuri und diese zündet die Kerze an. „Ist das eine Duftkerze?“, fragt Shizuka. „Nein, bestimmt nicht“, sagt Yuri; „Oder findest du, dass der Qualm gut riecht?“ Shizuka überlegt kurz: „Nein, eigentlich nicht... Eigentlich können wir die Schulsachen ja wieder einpacken.“ Keisuke reicht ihr seine Tasche, in die sie die Notizen reintun möchte, aber sie bemerkt nicht, dass die Kerze auf den Notizen steht und sogleich umfällt. Das Papier fängt Feuer, und aus Reflex gehen alle einen Schritt zurück. „Oh... Oh nein!“, ruft Shizuka ängstlich: „Das war soviel Arbeit!“ Das Feuer breitet sich langsam über den gesamten Tisch aus, und der stickige Rauch steigt ihnen in die Nase, sodass sie husten müssen. „Was... machen wir... jetzt?!“, hustet Keisuke, und Shizuka schreit: „Wir müssen jemanden holen!“ „Dafür ist keine Zeit!“, ruft Yuri panisch, schnappt sich Shizukas Jacke und erstickt damit das Feuer. Der Rauch verzieht sich, und beruhigt setzen sich die drei wieder hin. „Warum hast du ausgerechnet meine Jacke genommen?!“, schimpft Shizuka. Yuri erwidert: „Ich und Keisuke haben keine dabei! Außerdem war deine gerade zur Hand. Sei doch froh, dass ich das Feuer gelöscht habe.“ Shizuka untersucht traurig ihre Jacke, die durch das Feuer ganz schönen Schaden genommen hat. Die Oberfläche des Tisches sieht aber auch nicht besser aus. Sie ist beinahe ganz schwarz gebrannt und viel Asche liegt darauf. „Hm, wir müssen Bescheid sagen, dass wir hier so einen Schaden angerichtet haben“, stellt Yuri fest; „Wer von euch beiden geht?“ Keisuke und Shizuka rufen fast gleichzeitig: „Ich nicht!“ „Also einer muss schon gehen!“, faucht Yuri; „Keisuke, gehst du, wenn ich mitkomme?“ „Ähm, okay“, sagt Keisuke immer noch ein bisschen ängstlich. Shizuka steht auf: „Dann möchte ich auch mitkommen“ „Nein, DU bleibst hier!!“, ruft Yuri sauer; „Einer muss ja auch erklären, was passiert ist, falls hier jetzt zufällig jemand vorbeikommt. Ich und Keisuke suchen die Frau von eben.“ Miho entspannt sich mit einem Schluck Rotwein. Das Hauptgericht ist gerade im Gange, und das Lamm scheint allen zu schmecken. Es hat sich auch noch niemand richtig gestritten oder ähnliches. Also bisher keinerlei Probleme... Ach, wenn es doch bitte so bleiben würde, denkt sie. „Also Miho, das Essen schmeckt echt großartig. Woher nimmst du die Rezepte?“, fragt Shou. „Ähm, aus einem Kochbuch“, antwortet Miho und lächelt. „Wie lange bleibst du hier in Logaly, Shou?“, fragt Stephan interessiert. Shou seufzt: „Wohl nicht länger als eine Woche. Ich kann mein Studium in Kanada nicht sehr viel länger warten lassen.“ Stephan schaut sie beeindruckt an: „Ich habe es immer bereut, nicht studiert zu haben, aber meine Noten waren damals zu schlecht. Was studierst du denn?“ Shou trinkt einen Schluck: „Geschichte und allgemeine Mythologie.“ „Mythologie?“, fragt Miho überrascht. „Hört sich ja interessant an!“, ruft Stephan. Desmond beteiligt sich nicht am Gespräch sondern isst gemütlich. „Interessant ist es wirklich“, erzählt Shou; „Da gibt es soviel zu entdecken. Und man wird nie alles darüber wissen können, denn im Laufe der Jahrhunderte hatten die Menschen so viel Fantasie, dass man sie nicht in einem Leben zusammentragen kann.“ Stephan nickt. „Aber von all den Mythen und Legenden der alten Zeit hat es mir eine besonders angetan. Die des Vampirs!“ Als sie das letzte Wort gesprochen hat, verschluckt sich Desmond an seinem Essen und Miho erschrickt und hält sich die Hand vor dem Mund. Stephan scheint zwar ein bisschen verwundert zu sein, lässt sich aber nicht ablenken: „Warum gerade dieser Mythos?“ Shou lächelt: „Er wurde so oft abgewandelt, es ist spannend. Untote, die ewig leben, und deren Biss andere Menschen in ihresgleichen verwandelt. Sie fürchten sich vor Knoblauch, Kruzifix und Sonnenlicht. Dargestellt werden sie entweder als blutsaugende Monster, oder als schöne Kreaturen der Nacht.“ „Aber, aber Shou...“, fängt Miho an; „Du glaubst doch nicht, das sie wirklich existieren, oder?“ Shou lacht laut: „Hahaha, natürlich nicht. Diese Legende hat sich abhängig von Zeit und Gebiet so verändert, dass niemand mehr sagen kann, was daran nun stimmt und was nicht.“ Miho atmet erleichtert aus. Jeder, der von der Existenz der Vampire weiß, ist in Gefahr. Es war gut von Desmond, seiner Freundin nichts von ihnen zu erzählen. Dabei fällt Miho auf, dass Keisuke Shizuka ja auch nicht sagen will, dass es Vampire gibt, beziehungsweise, dass er selbst einer ist. Vielleicht tut er das, um sie zu schützen? Shou bedient sich am Rotwein, während Desmond nach dem Nachtisch verlangt. Miho steht auf und geht in die Küche. Beim Bananensoufflé hat sie sich die meiste Mühe gegeben, also trägt sie das Dessert ins Wohnzimmer. Es wird ihnen schon schmecken. Keisuke und Yuri durchsuchen derweil die gesamte Bibliothek nach Frau Lilienfeld, aber ohne Erfolg. Es sind so gut wie gar keine Menschen im Haus. Schließlich finden sie eine Tür im Erdgeschoss, auf der 'Privat' steht. „Wenn sie nicht nach Hause gefahren ist, muss sie da drin sein!“, ruft Yuri und klopft. Aber niemand öffnet die Tür. „Lass uns lieber wieder gehen, wir können da ja nicht einfach reingehen.“ Yuri öffnet die Tür und man sieht, dass eine Treppe nach unten führt. „Eigentlich hast du recht, aber was sollen wir sonst machen! Wir haben den Tisch ja auch beschädigt. Du hast mir die Streichhölzer gegeben, ich habe die Kerze angemacht und Shizuka hat sie umgeworfen. Ich glaube, das wir Bescheid sagen ist wichtiger, als dass auf der Tür 'Privat' steht.“ Keisuke gibt ihr im Stillen recht, antwortet aber nicht. Die beiden gehen die knarrende Treppe langsam hinunter, Yuri dicht hinter Keisuke. Der Gang wird durch Lampen an den Wänden schwach beleuchtet. Nach fast einer Minute kommen sie unten an, und stehen in einem schmalen Gang, der sehr alt und unheimlich wirkt. Mutig gehen die beiden weiter, bis nach einer Zeit plötzlich Stimmen zu hören sind. „Ich habe alle Bücher über Vampire durchforstet, ohne etwas zu finden.“ Eine andere Stimme sagt: „Alle? Bist du da sicher, Alexa?“ „Ja, natürlich. Aber ich verstehe sowieso nicht, warum du noch danach suchst, Raito! Ich dachte das Mädchen ist tot. Auch wenn es ihr größter Wunsch war, wieder zum Menschen zu werden, tot bringt ihr das ja nicht viel.“ Keisuke stockt der Atem. Wenn er sich nicht irrt, sprechen da Raito und Frau Lilienfeld. Sie reden über Verena, und die beiden kommen direkt auf sie zu. „Wer ist da?“, ruft Alexa Lilienfeld schrill. „Ähm, es sind nur wir!“, antwortet Keisuke. Raito geht ein paar Schritte vor und ist sichtlich erstaunt: „Keisuke! Was machst du hier?“ „Ihr kennt euch?“, fragt Frau Lilienfeld. „Ja“, sagt Raito. „Ähm, wir wollten sagen, dass uns...“, fängt Keisuke an, aber Frau Lilienfeld unterbricht ihn: „Dass ihr einen Tisch beschädigt habt? Oder dass ihr fast die Bibliothek abgebrannt habt?“ „Woher wissen Sie das?“, fragt Yuri, und Frau Lilienfeld lacht auf: „Ich weiß alles, was in dieser Bücherei vorgeht! Ich habe stets alles im Blick!“ Sie putzt ihre Brille und strahlt eine unheimliche, mysteriöse Aura aus. „Den Schaden werdet ihr mir natürlich bezahlen“, sagt sie kurz. Jetzt mischt Raito sich wieder ein: „Schüler sollten ihren Geldbeutel mit sowas nicht belasten müssen, ich bezahle das schon.“ Frau Lilienfeld zuckt mit den Schultern, und Keisuke und Yuri schauen ihn dankbar an. „Machen wir das aber oben. Ich mag die feuchte Luft hier unten nicht.“ Sie gehen zurück ins Erdgeschoss, und während Raito Frau Lilienfeld das Geld gibt, fragt Yuri Keisuke: „Woher kennst du den Mann? Er ist ein Vampir, oder?“ Keisuke nickt: „Er hat mich in einen Vampir verwandelt... Es ist wirklich ein Zufall, dass ich ihn hier treffe.“ „Ähm, Shizuka wartet glaube ich immer noch irgendwo dahinten...“ „Es ist wichtig, dass sie Raito nicht sieht!“, sagt Keisuke, und Yuri kichert: „Um dein Geheimnis zu hüten, stimmt's? Ich werde sie ein wenig ablenken.“ Sie rennt zu Shizuka und verschwindet zwischen den Regalen. Raito wendet sich jetzt Keisuke zu, der am Eingang wartet. „Bei der Beerdigung bist du so schnell verschwunden“, sagt Keisuke traurig. „Ich muss eine Menge vorbereiten. Die Cursers werden bald wieder angreifen. Und ohne Verena sind wir extrem geschwächt worden.“ Keisuke sagt nichts. Frau Lilienfeld sortiert gerade einige Unterlagen an der Rezeption, und Keisuke fragt Raito, was es mit ihr überhaupt auf sich habe. „Ich kenne sie schon eine Weile. Sie ist eine Verbündete gegen die Cursers. Diese Bibliothek ist schon seit Generationen im Besitz ihrer Familie.“ „Aber sie ist doch ein Mensch, oder?“ „Ja“, erwidert Raito; „Sie sagte mir, dass sie sich noch überlegen muss, ob sie Vampir sein will oder nicht. Es ist ja wahr, dass es sowohl Vor- als auch Nachteile bringt.“ Es ist kurz vor zehn, Miho geleitet Desmond und Shou zur Haustür. „Es war ein schöner Abend, das können wir gerne mal wiederholen“, verabschiedet sich Shou. Sie wünscht den beiden noch eine gute Nacht, ehe sie gehen. Stephan geht auch zur Tür. „Das hast du wirklich alles gut hinbekommen“, sagt er, nimmt sie in den Arm und gibt ihr einen kurzen Kuss auf den Mund. „Oh mein Gott“, denkt Miho; „Dieser Abend ist einfach perfekt!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)