Irgendwo in dieser Welt von Flordelis ================================================================================ Kapitel 33: Familie ------------------- Mit Zetsu schien alles, selbst die normalsten Dinge, aufregend und ungewöhnlich zu werden. Selbst das Einkaufen. Mit einem leicht verträumten Lächeln hing er mit dem Oberkörper über dem Einkaufswagen, dessen Lenkung er übernommen hatte. In dem Moment erschien er mir erneut wie ein Kind. Zum Glück hatte er auch Augenblicke, in denen er reif wirkte, sonst müsste ich mir Gedanken machen, was ich eigentlich an ihm fand – abgesehen von seinem Aussehen. Das war auch der Grund, warum viele Leute im Supermarkt ihm hinterhersahen. Teilweise war es mir peinlich, aber andererseits war es auch ziemlich interessant, da ich mich damit auch im Mittelpunkt des Interesses befand, immerhin stand Zetsu die ganze Zeit hindurch auffallend dicht neben mir. Zumindest bis es darum ging, Nudeln zu holen. Ich wies Zetsu an, einen Gang weiter nach Spülmittel zu suchen, während ich die richtigen Nudeln heraussuchte. Isolde war da erstaunlich anspruchsvoll, im Gegensatz zu vielen anderen Dingen, wie zum Beispiel ihrem Spülmittel. Zetsu nickte zustimmend und tat, wie ihm geheißen, während ich mich in den Gang mit den Nudeln begab. Eine junge Frau stand bereits ebenfalls vor dem Regal und betrachtete es tief in Gedanken vertieft mit gerunzelter Stirn. Ich beachtete sie erst einmal nicht weiter – bis sie plötzlich leise zu murmeln begann: „Mah, ich geh nie wieder für Yorulein einkaufen... warum kann sie nicht einfach Reis essen, wie vernünftige Leute auch?“ „Ja, das Problem kenne ich“, entfuhr es mir mit einem Seufzen. Natürlich war es nicht mein Problem, aber Isolde gab immerhin jede Menge Geld für diese ganz tollen Markennudeln aus. Bei Gelegenheit musste ich wirklich herausfinden, was sie eigentlich verdiente und ob sie nicht möglicherweise weit über ihre Verhältnisse lebte. Nur weil sie so erwachsen wirkte, hieß das ja nicht, dass sie es auch war. Die Frau zuckte zusammen und blickte mich entschuldigend an. Dabei lächelte sie, was fast schon kindlich süß aussah. „Manche Leute sind einfach übermäßig anspruchsvoll, nicht wahr?“ In einer verlegenen Geste warf sie ihr schwarzes Haar zurück und lachte leise. „Aber manchmal sollte man nicht meckern, nicht? Ich wünschte nur, ich würde nicht immer alles vergessen.“ Mit diesen Worten legte sie einen Finger an ihr Kinn und blickte nachdenklich wieder auf das Regal. Ich fand es fast schon lustig, dass ich mir denken konnte, dass sie nicht nur die Nudelmarke, sondern auch ihren Einkaufszettel vergessen hatte – und so ratlos wie ihr Blick von oben nach unten und wieder unten nach oben wanderte, wusste sie offenbar nicht einmal mehr was für Nudeln genau es waren, die sie suchte. Wer immer diese Yorulein war, sie würde mit Sicherheit das vollkommen Falsche bekommen. „Warum vergesse ich auch immer mein Handy?“, seufzte sie leise. Ich war so fasziniert von dieser Frau, dass ich Zetsu erst bemerkte, als er direkt neben mir etwas sagte: „Das, was Isolde an Spülmittel einspart, gibt sie für ihre Nudeln aus, kann das sein?“ Gerade als ich ihm lachend zustimmen wollte, wandte die Frau sich ihm mit leuchtenden blauen Augen zu, was mich wieder aus dem Konzept brachte. Es wirkte nicht so als ob sie ihn das erste Mal sehen würde, sondern eher als ob sie ihn wiedererkannte – das wusste ich spätestens, als sie ihn ansprach: „Oh, Zetsu. Gut, dass ich dich hier treffe. Wie heißen diese Nudeln nochmal, die deine Mutter so gern isst?“ Er zuckte augenblicklich zusammen und wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu. Bislang hatte er ihr offenbar keine Beachtung geschenkt, was mir ziemlich schmeichelte. Aber im nächsten Moment wurde mir auch bewusst, warum er so erschrocken war: Wenn diese Person ihn kannte und offenbar für seine Mutter einkaufte, müsste sie auch wissen, dass er eigentlich nicht hier sein dürfte – und ihr wurde das ebenfalls bewusst. Sie neigte den Kopf. „Was machst du eigentlich hier? Geht euer Krankenhaus nun schon mit euch einkaufen?“ „Nicht wirklich“, antwortete er ausweichend. Sie sah wieder mich an und lächelte unvermindert. Ich musste zugeben, dass sie mir recht sympathisch war, zumindest auf den ersten Blick. „Und wer bist du?“, fragte sie. Zetsu ließ mich gar nicht zum Antworten kommen: „Du solltest dir endlich merken, Einkaufszettel mitzunehmen. Leg sie doch neben deine Schlüssel.“ Die Frau hob einen Mundwinkel, was wohl sagen sollte, dass sie nicht einmal an ihre Schlüssel gedacht hatte – zumindest seufzte Zetsu. „Tante Hinome... wie soll das nur mit dir weitergehen?“ Vor Erstaunen weiteten sich meine Augen. Diese Frau war also... aber sie dürfte doch gar nicht mehr in der Gegend wohnen. Oder hatte er noch mehr Tanten? Statt ihm zu antworten, wies sie ihn schmunzelnd zurecht: „Du hast verhindert, dass dieses Mädchen mir eine Antwort geben konnte.“ Trotzig blickte er zur Seite, während ich ihr meinen Namen nannte. „Zetsu wohnt für ein paar Tage bei mir und meiner Schwester.“ „Weiß das Krankenhaus davon?“, fragte Hinome nachdenklich. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass man dort bei seiner Familie angerufen hätte – aber offenbar wollte man Ärger lieber aus dem Weg gehen und hatte es vermieden, ihnen etwas zu sagen. Zetsu nickte. „Leanas Schwester hat dort angerufen.“ „Und du kamst nicht auf die Idee, bei deiner dich liebenden Familie Bescheid zu sagen?“ Hinome klang äußerst verletzt, weswegen es mir schon fast wieder Leid tat, dass ich auch nicht daran gedacht hatte. Zetsu traf es ebenfalls. Zerknirscht senkte er den Blick. „Aber ihr hättet mich nur gleich wieder ins Krankenhaus geschickt. Deswegen darfst du Papa nichts davon sagen.“ „Das muss sie auch nicht.“ Wir zuckten gleichermaßen zusammen und fuhren herum. Als ich den Mann erblickte, der da stand, blieb mir erneut die Luft weg. Das weißsilberne lange Haar und das fein geschnittene Gesicht sagte mir deutlich, mit wem er verwandt war und die honigfarbenen Augen blickten genauso prüfend wie jene von Zetsu, der neben mir gerade zu schrumpfen schien. „Papa...“ Ich sog die Luft ein. Bis gerade eben war das hier noch ein normaler Einkauf gewesen und nun traf ich hier nicht nur auf Zetsus Tante, sondern auch auf seinen Vater. Mein Leben mit ihm war wirklich eine Telenovela. Es fehlten nur noch die intriganten Gegenspieler, die dramatische Musik und die Cliffhanger am Ende einer Episode. „Ah, Hidaka“, sagte Hinome erfreut. „Du hast mit Sicherheit meinen Einkaufszettel und meinen Schlüssel, oder?“ Er lief an uns vorbei, wobei ich den dezenten Geruch seines Deodorants mitbekam. Er erinnerte mich an Zetsu, der diesen Duft offenbar in sein Inneres aufgenommen hatte und ihn nun nach und nach, in angenehm kleinen Dosierungen, wieder abgab. Neben Hinome angekommen, griff Hidaka in seine Tasche und zog mehrere Dinge heraus. „Und dein Handy auch. Mal wirklich, nur weil du bei uns wohnst, heißt das nicht, dass du deine Gehirntätigkeiten einstellen musst.“ Erst als sie sich reumütig entschuldigt hatte, wandte er sich wieder Zetsu zu. „Und du... mit dir hätte ich hier nicht gerechnet.“ Ich hätte mit keinem von beiden gerechnet. Hatte er nicht erwähnt, dass seine Tante und sein Onkel weggezogen waren? Warum trafen wir dann hier auf seine Tante und seinen Vater? „Ich auch nicht mit dir.“ Trotz der oberflächlichen Kälte in ihren Worten, konnte ich spüren, dass beide sehr an dem anderen hingen – ich hatte immerhin Erfahrung in echter Kälte bei meinen Eltern. Hidaka lächelte ein wenig und genau wie bei seinem Sohn wäre ich am Liebsten dahingeschmolzen. „Aber es ist schön, dich zu sehen – gerade wenn es so unerwartet kommt.“ Zetsu erwiderte das Lächeln. „Ja, finde ich auch. Aber was macht ihr hier?“ „Ich geh lieber hier einkaufen“, antwortete Hinome. „Gekkyu arbeitet noch immer um die Ecke, da kann ich ihn später während seiner Pause besuchen.“ „Und ich bin ihr gefolgt, weil sie wieder alles vergessen hat“, erklärte Zetsus Vater. „Außerdem habe ich in der Gegend noch einen Termin bei meinem Anwalt.“ Ich fragte mich, was er wohl bei diesem wollte, aber Zetsu schien es nicht weiter zu interessieren. Der Blick des Mannes richtete sich auf mich. „Du bist Leana, ja?“ Ich nickte sofort wortlos, da es mir absolut die Sprache verschlagen hatte – ungewöhnlich für mich, ja. „Vielen Dank, dass du dich für ein paar Tage um meinen Sohn kümmerst. Tut mir Leid für die Umstände, die er dir bereitet.“ „O-oh nein“, erwiderte ich hastig. „Das sind keine Umstände.“ „Du wirst sichergehen, dass er am Montag wieder ins Krankenhaus geht, ja?“ Ich nickte zustimmend, worauf er zufrieden lächelte. „Gut, dann ist ja alles bestens.“ Zetsu atmete sichtlich erleichtert auf. Offenbar hatte er befürchtet, dass sein Vater ihn schnappen und wieder ins Krankenhaus zurückbringen würde – aber stattdessen war er damit einverstanden, dass er bei uns bleiben durfte. Ja, er war wirklich mit Zetsu verwandt, eindeutig. Hidaka warf einen Blick in den Einkaufswagen, den sein Sohn vor sich herschob, dann hob er wieder den Kopf. „Darf ich dafür euren Einkauf bezahlen?“ Er bemerkte, dass ich abwehren wollte, doch ließ er das erst gar nicht zu. „Ich will mich nicht aufdrängen, aber es wäre mir wirklich eine Freude.“ Na ja, es war nicht mein Geld, das ich hier unbedingt ausgeben wollte, also warum sollte ich es nicht einfach annehmen? Ich legte die von Isolde verlangten Nudeln noch in den Wagen, dann nickte ich. „In Ordnung, vielen Dank.“ Hidaka bat Zetsu und Hinome zur Kasse vorzugehen, was diese auch sofort taten. Beide plauderten dabei vergnügt als wäre die Begegnung zu Anfang nicht unangenehm gewesen. „Leana...“ Erschrocken sah ich wieder Hidaka an. Er war überraschend ernst geworden. „Du kennst ihn aus dem Krankenhaus, nicht?“ „Ja, genau. Sind Sie... nicht sauer, dass er Ihnen nicht Bescheid gesagt hat?“ „Das sollte ich vielleicht sein. Aber... eigentlich freut es mich eher.“ Irritiert neigte ich den Kopf, er lächelte wieder. „Dass du ihn bei dir wohnen lässt heißt wohl, dass du ihn in irgendeiner Art und Weise magst. Zetsu war nie gut darin, Freundschaften zu schließen. Nozomu und Satsuki waren bislang die einzigen. Darum freut es mich umso mehr, dass er nun eine weitere Person hat, die auch ein wenig auf ihn achtet.“ Ein wenig verlegen senkte ich den Blick, worauf er mir auf die Schulter klopfte. „Ich persönlich vertraue auf Zetsus Einschätzung, wem er vertrauen kann – und wenn er das bei dir kann, tue ich es auch.“ „Uhm, danke...“ Ich war regelrecht gerührt. Dieser mir absolut fremde Mann vertraute mir, in einem solchen Maß, dass er sogar das Leben seines Sohnes quasi in meine Hände legte. Er schien mir mehr verwandt zu sein als meine eigenen Eltern, die mir nicht mal die Aufsicht über ihr Haus anvertrauen wollten. „Dann komm, folgen wir ihnen lieber. So wie ich meinen Sohn kenne, zahle ich sonst ein Vermögen für Schokolade.“ Lächelnd lief ich mit Hidaka los, um die anderen beiden wieder einzuholen – und da war auch bei mir das unangenehme Gefühl vom Anfang verflogen, stattdessen fühlte ich mich eher als würde ich gerade mit einem eigenen Verwandten den Gang entlanglaufen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)