Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 9: ----------- „Versteh doch, der Palast ist das bestbewachte Gebäude von Galdoria. Es gibt dort jede Menge Wachen, die Palastgarde, viele verschlossene Tore…“ All diese Dinge zählte er auf und machte dabei ein Gesicht, als wartete er darauf, dass ihm noch ein Dutzend Hindernisse einfallen mochte. „Gerade das macht es ja interessant.“ Ein verschmitztes Lächeln breitete sich wieder auf ihrem Gesicht aus. Dorian blickte sie an, und mit diesem Gesicht traute er ihr wahrhaftig alles zu. „Was würdest denn du mit dem Maleficium anfangen, solltest du es tatsächlich ‚in deinen Besitz bringen‘?“ Diese letzte Formulierung sprach er gewählt und bedacht aus: er imitierte ein bisschen die Adeligen, die sie auf den Straßen vor den nobleren Läden schon belauscht hatten. Diese Redensweise würde ihren leicht kränkbaren Stolz am wenigsten anrühren, dachte er sich, und würde ihr auch den wenigsten Zweifel seinerseits an diesem für ihn unsinnigen Ziel vermitteln. „Ich weiß nicht genau…“, erwiderte sie zögernd. „Ich würde meine Heimatstadt damit beschützen, wahrscheinlich.“ „Dieses Ding hat den großen Krieg vor zwanzig Jahren entschieden, erzählt man sich“, begann er in einem nachdenklichen Tonfall, „große Feldherrn, oder was weiß ich, können damit etwas anfangen; aber nicht so unwichtige Leute wie wir“, sagte er kopfschüttelnd. Iria blickte wieder in die Tiefen unter ihnen, wo das geschäftige Leben des Tages allmählich zum Erliegen kam. Wie jeden Tag machten sich auch jetzt, bei Anbruch der Dämmerung, die Ladeninhaber daran, ihre Läden und Buden zu schließen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würden die Gaslaternen in den Straßen eine nach der anderen entflammen und wie jede Nacht den aussichtslosen Kampf gegen die Dunkelheit antreten, die aufs Neue die Stadt in ihren schwarzen Mantel einhüllte. „Vielleicht“, sagte sie so leise, dass Dorian sich fragte, ob dieses Wort überhaupt an ihn gerichtet war. „He, ihr da oben! Ihr Turteltäubchen“, rief Nikodemus zu ihnen hinauf. Dorian konnte das unterdrückte Lachen der anderen hören. „Kommt dann halt mal runter. Außer, ihr wollt dort oben übernachten.“ „Wir sollten gehen“, sagte Iria eilig und schwang sich vom Sims des brüchigen Mauerwerks. Behände landete sie in der Tiefe und schloss sich den anderen an, die sich bereits anschickten, den Turm über die umliegenden Dächer zu verlassen. „Ich komm‘ gleich nach“, rief er ihnen hinterher. Dann wandte er sich noch einmal dem Anblick der Stadt unter ihm zu. Die Sonne war bereits zur Hälfte im Meer versunken; das Wasser glänzte an der Stelle, als würde das schimmernde Gold eines versunkenen Schatzes unter der Oberfläche leuchten und nur darauf warten, dass ein wagemutiger Schatzsucher danach seine Hand ausstreckte. Ein wagemutiger Schatzsucher, wie er einer so oft schon in seinen Tagträumen gewesen war. Der mehr als nur eine Handvoll Kleingeld oder mal eine Uhr erbeutete, und das auch auf eine wesentlich ruhmvollere Weise. Er schüttelte über sich selbst den Kopf, über sich und seine Feigheit, die ihm nun wie ein Stachel im Selbstbewusstsein steckte. Immer schon träumte er von fernen Ländern und aufregenden Abenteuern; doch angesichts des nahenden Krieges wollte er nicht mehr als sein Zuhause bewahren, das ihm all die Jahre über Zuflucht gewährt hatte. Und auch dem abenteuerlichen, eigentlich schon kindischen Plan von Iria, im Palast einzubrechen, gelang es nicht, seine Fantasie zu beflügeln. Vielmehr machte er sich stattdessen Sorgen um seine Sicherheit. Ein schöner Abenteurer bist du, dachte er sich betrübt. Eine Bitterkeit, wie er sie selten verspürte, breitete sich über seine Gedanken aus, und nicht einmal der Anblick der im Meer versinkenden Sonne konnte sein Gemüt aufhellen. Den Schatten des heraufziehenden Krieges konnte er nicht verdrängen, ebensowenig das Gefühl, ein unbedeutendes, winziges Zahnrad im Räderwerk der Geschichte zu sein. So sehr er sich nach einem abenteuerlichen Leben voller Ruhm sehnte, so sehr wollte er in Wahrheit sein ärmliches, aber doch zufriedenes Leben davor bewahren, vom Sturm der Geschichte weggeblasen zu werden wie vertrocknetes Laub an einem windigen Herbsttag. Wenn ich nur ein großer Kämpfer wäre, dachte er, und eine quälende Bitterkeit schnürte ihm einen Moment lang die Kehle zu. Dann könnte ich für meine Heimat kämpfen. Dann könnte ich… etwas ändern. Schließlich wandte er sich vom Anblick der Stadt und der sinkenden Sonne ab und folgte seinen Kameraden, die schon unterwegs zum Bucket-Weg waren. Der volle Mond stand am nächtlichen Firmament über Galdoria. Seine bleichen Strahlen durchfluteten so manche Gasse und Straße mit seinem elfenbeinernen Licht; andere hingegen tauchte er in tiefe Schatten, schwärzer als die Nacht. Kaum Menschen waren auf den Straßen zu dieser Zeit. Zumeist waren dies Betrunkene, oder Bürger, deren Beruf sie schon in den frühesten Morgenstunden zur Pflicht rief, wie beispielsweise die Bäcker dieser Stadt. Oder es waren die Stadtwachen, die mit behäbigen Schritten durch die Straßen patrouillierten. Ihre Wege führten sie bevorzugt durch die gut beleuchteten Straßenzüge und nur selten in die weniger vornehmen Viertel dieser Stadt; als ob sie samt ihren Rüstungen, den Waffen und ihren glimmenden Escutcheons die besonders tiefen Schatten dieser Stadt mieden. Und so zogen sie ihre Runden mit langsamen, schweren Schritten, aus deren Geräuschen die Gedanken an das Dienstende und dem darauffolgenden friedlichen Schlummer klangen. Doch nicht alle Schritte waren schwer von der Erwartung weicher Federkissen; einige wenige Schritte waren schnell, nahezu lautlos, und kündeten zugleich von einer Energie wie der einer gespannten Armbrustsehne. Diese Schritte ließen kaum Raum zwischen ihren Berührungen des steinernen Pflasters, der Ziegeldächer, der mit Marmorplatten ausgelegten Innenhöfe und der weißen Steinplatten vor dem kaiserlichen Palast. Diese Schritte hatten keine Zeit zu verlieren, sondern fühlten sich gedrängt, getrieben, einem Ziel entgegen. Für diese Schritte war die Nacht keine Zeit der Ruhe, für diese Schritte war die Nacht ihr Element, ihre wahre Heimat. Ein Gebäude, am Rande des Platzes vor dem Kaiserpalast. Das Mondlicht fiel darauf und bildete an seinen Kanten tiefe Schatten. Es war etwa ein Steinwurf bis zum Palast und seinen Nebengebäuden, um die in regelmäßigen Abständen die Palastgarde ihre Kreise zog. In einem besonders düsteren Schatten stand eine Gestalt. Eine vorbeigehende Person hätte sie übersehen. Der lange, graue und von schwarzen Flecken überzogene Mantel hing fast bis zum Boden und verhüllte so die Konturen seines Trägers weitgehend. Eine Kapuze hing herab, verhüllte die obere Hälfte des Gesichts, und ließ nur eine feingeschnittene Nase und schimmernde Lippen erahnen. Der weite Mantel war um die Hüfte zusammengebunden und gerafft. Ein vorbeigehender Bürger hätte die Gestalt nicht erblickt, die eins war mit dem Schatten, die verschmolzen war mit der Finsternis. Sie hätte die Reihe an kurzen Dolchen am breiten Gurt, der unter dem Mantel saß, ebenso wenig gesehen wie die mit Leder und Metall umbundenen Unterarme, an denen geheimnisvolle Gerätschaften saßen, die ihren düsteren Verwendungszweck nur ahnen ließen. Ein derartiger Beobachter hätte nur mit größter Aufmerksamkeit gemerkt, wie die Gestalt, gleich einem lebendig gewordenen Schatten, sich von ihrer Stelle löste und loslief. Mit Grazie und Eleganz lief die Gestalt; ihre weichen Stiefel berührten den Boden mit der Sanftheit und der Geschwindigkeit einer Katzenpfote. Sie näherte sich dem Palast, und der Kopf unter der Kapuze schnellte nach links und rechts, als wollte sie der geduldig abgewarteten Gelegenheit nicht recht trauen. So überwand sie die freie Fläche mit größtmöglicher Geschwindigkeit, und ihr Mantel flatterte wie ein entflohener Schatten über den Platz aus weißen Steinplatten. Die Gestalt erreichte ein Nebengebäude des Palasts und suchte augenblicklich Schutz zwischen den Säulen, die das Dach stützten. Sie schmiegte sich in den Zwischenraum, und einem freien Auge wäre es so vorgekommen, dass die Umrisse des schwarzgrau gefleckten Mantels sich ihrem Hintergrund angepasst hätten. Diese Illusion wurde von der nun eintretenden völligen Regungslosigkeit der Gestalt noch verstärkt. Die Zeit verstrich, und eine Patrouille der Palastgarde ging vorbei. Erst als das leise Gespräch zwischen den beiden Soldaten in der Dunkelheit verklungen war, bewegte sich die Gestalt wieder. Die Wache stand neben dem Tor, und ihre Müdigkeit schien noch stärker an ihrem Leib zu zerren als das Gewicht der schweren Stahlrüstung. Von Zeit zu Zeit schloss sie kurz ihre Augenlider. Hinter diesen erblickte sie wohl bereits ein verlockendes Schlafquartier. Ein leises Pfeifen erklang und schreckte sie aus ihrem Wachtraum. Ihr Blick wandte sich von links nach rechts, doch in der Nähe der Pforte, die sie bewachte, sah sie niemanden. Die Lichtkegel der Glühdrahtlampen an der Außenmauer des Palasts drangen nicht weit in die Dunkelheit vor; nicht viele Meter entfernt herrschte die Finsternis, die die Stadt Galdoria umklammert hielt und die der Mond nur schwach erhellte. Wieder erklang das leise Pfeifen. Am schwarzen Himmel konnte man keine Vögel entdecken und auch am Boden waren keine zu sehen, die zu dieser Nachtstunde hätten zwitschern können. Die Palastwache legte ihre gepanzerte rechte Hand an das Schwert, das an ihrer Seite hing. Die grün glühenden Scheiben auf dem Escutcheon leuchteten auf, als sie auf die Quelle des Geräuschs zu ging. Die Wache ging ein paar Schritte, woraufhin das Pfeifen verstummte. Bis hierher reichte das Licht der Glühdrahtlampen gerade noch, und die an dieses Licht gewöhnten Augen der Wache sahen nichts außer einer anderen Wache, die ein gutes Stück weiter ihre ruhigen Bahnen entlang der Fassade zog. Die Wache blinzelte, gähnte kurz und drehte sich um- als sich ein Kampfdom zischend um sie herum aufspannte. In einer fahrigen Bewegung riss sie ihr Schwert aus der Scheide. Eine sich langsam drehende Kuppel aus blauen, glühenden Linien hüllte sie ein. Der Blick der Wache glitt am Rande des Kreises entlang, auf der Suche nach dem Kontrahenten. Hinter den geometrischen blauen Linien erschienen alle Einzelheiten der Umgebung wie hinter einem dunklen Schleier, das Innere der Arena war dafür in einen ätherischen Schein getaucht, der jedes Detail der weißen Pflastersteine betonte und der seinem suchenden Blick nun seinen Kontrahenten offenbarte. Der Mantel der Gestalt flatterte auf, als sie auf die Wache zustürmte. Diese hob schreiend ihr Schwert und holte aus. Der Hieb der wuchtigen Klinge ging an der schnellen Ausweichbewegung des Angreifers jedoch vorbei und dessen Hand schob seinen Schwertarm zur Seite. In derselben Bewegung, die so schnell war, dass die Wache nur einen kurzen Blick auf das Gesicht unter der Kapuze erhaschen konnte, ging die Gestalt zum Gegenangriff über. Die eine Hand blockierte immer noch den Schwertarm der Wache. An der anderen glitt eine schmale Klinge aus der ledernen Umhüllung des linken Arms und schnellte vor wie eine giftige Schlange. Zielsicher fand sie in einen Spalt zwischen den Rüstungsplatten der Palastwache, und ein gequältes Stöhnen entwich deren verzerrtem Mund. Der Angreifer umfasste die Palastwache und trieb die Klinge noch tiefer in ihren Leib, dann ließ sie sie zu Boden sinken. Er dämpfte noch den Fall des zuckenden Körpers; der Kreis der Konfrontation erlosch, ebenso wie das Leben der Palastwache. Die blauen Linien, die ihre Arena eingegrenzt hatten, verschwanden, und ließen die vom Mond schwach erhellte Dunkelheit wieder auf die Szene fallen, in der der unbekannte Angreifer den Körper seines besiegten Gegners in den Zwischenraum zweier Säulen zerrte. Geduckt wie ein flüchtendes Raubtier lief die Gestalt zur Pforte, die die Wache hätte schützen sollen. Aus dem breiten Gurt um ihre Hüfte zog sie verschiedene Werkzeuge, die sie im Licht der Glühdrahtlampen musterte. Einmal noch bewegte sich die Kapuze nach links und rechts, dann machte sie sich ans Werk. Ein Metallstift stocherte kratzend im Schloss der schweren Holztür. Die Gestalt arbeitete schnell und konzentriert; einige Momente später erntete sie den Lohn ihrer Mühen und das Schloss gab nach. Die Gestalt zog die schwere Holztür hinter sich zu und entfernte sich so schnell wie möglich von ihr und dem gut beleuchteten Raum um sie herum. Sie suchte Deckung hinter einem an der Wand stehenden Turnierharnisch, in dessen Schatten sie in die Hocke ging. Das Augenpaar unter der Kapuze glitt konzentriert über den sich ihnen darbietenden Korridor. Ein dicker Samtteppich lag auf den Steinplatten und führte an mehreren weiteren Türen vorbei. Massive Anrichten standen an den Seiten des Korridors, und über ihnen hingen Gemälde vergangener Fürstengeschlechter. Glühdrahtlampen hingen in kurzen Abständen und tauchten alles in ihr Licht. Hier gab es wenig Schatten und praktisch keine Dunkelheit. Ab hier wurde es wirklich gefährlich, begriff die Gestalt, und schob ihre Kapuze zurück. Zum Vorschein kam der Kopf einer Frau. Dichtes, schwarzes Haar hing, zu einem kurzen Zopf zusammengeflochten, aus ihrem Kragen. Die braunen, wachsamen Augen ließen den Korridor keinen Moment unbeobachtet, die kleinen Falten um sie herum zeugten von ihrer Anspannung. Ihre Haut war dunkel, fast olivfarben, wie die der Bauern, die bei jedem Wetter im Freien arbeiteten. Sie hatte nichts von der noblen Blässe, die all die Gemälde königlicher Damen in dem Korridor zeigten, sie war gealtert und gegerbt, weniger von den Lebensjahren, sondern mehr vom Wetter, von Sonne, Kälte und Sturm. Von den Stürmen des Herbstes wie auch des Lebens, so schien es. Die Frau betastete ihren linken Arm, an dem ihr Escutcheon saß. Er war eingehüllt in Leder, so dass die grün glühenden Scheiben in tiefer Dunkelheit keinen Verrat an ihrer Trägerin begehen konnten. Sie betrachtete kurz den Stachel, der aus der umgestalteten Armschiene ragte. Dabei ballte sie die Faust ihrer feingliedrigen Hand. Das Leder um die Armschiene knirschte leise, und sie atmete tief durch. Sie wartete noch mehrere Momente, lauschte nochmal auf Schritte, auf sich öffnende Türen oder andere Anzeichen gefahrverheißender Gegenwart, dann trat sie den Weg an durch die Korridore des kaiserlichen Palastes, um mit der bisher gefährlichsten Aufgabe ihres Lebens zu beginnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)