Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 20: ------------ Berührungen streiften sein Gesicht, und ihre Wärme war ein Labsal nach all den kalten Umarmungen, die seine Kleider durchnässt und seine Haut aufgeweicht hatten. Er öffnete die Augen. Sonnenstrahlen, die zwischen sanft rauschenden Baumkronen durchdrangen, stachen ihn wie Glassplitter aus Licht. Er blinzelte und versuchte, sich aufzurichten. Alles drehte sich; Brechreiz, verbunden mit einem schalen Geschmack im Mund, ließ ihn würgen. „Er ist wach, endlich.“ Die Erde brauchte einen Moment, um in die Waage zu kommen. Als es soweit war, blickte Dorian sich um und erfasste seine Umgebung. Iria kniete bei ihm. Ein Stück weiter saß Nadim im Sand. Der bange Ausdruck von Nadim wurde durch die Erleichterung, ihn lebend zu sehen, aufgehellt. Dann hörte er das Rauschen, das die ganze Zeit im Hintergrund schon da gewesen war, das aber erst jetzt durch seine Ohren hindurch und in seinen Verstand eindrang. Er spürte Sand mit grobem Kies durchsetzt unter seinem Gesäß wie auch zwischen den Fingern. Sein trüber Blick traf den Fluss, der an ihnen vorbeirauschte. Er blinzelte, und in seinen brennenden Augen schien das Wasser die Farbe mehrmals zu wechseln, bevor es sich auf ein Graubraun einigen konnte. „Das Wasser… Wir sind vorher- “, begann er, doch seinem noch trägen Verstand gelang es nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. „Wir sind gestürzt“, sagte Iria und half ihm so auf die Sprünge. Dabei machte sie eine Kopfbewegung zur Seite, außerhalb von Dorians Gesichtsfeld. „Wegen ihm“, fügte sie hinzu, und ein leiser Vorwurf mischte sich in ihre Erleichterung. Dorian wollte den Kopf soweit drehen, um zu sehen, was sie meinte, doch augenblicklich befiel ihn wieder das Schwindelgefühl. Ebenso meldete sich der rasende Kopfschmerz zurück, der zuvor nur als verschwommene Erinnerung existiert hatte. „Wo… sind die anderen“, brachte er hervor und versuchte aufzustehen. Iria stützte ihn, denn sonst wäre er wohl gleich wieder auf seinem Hosenboden gelandet. „Nadim war als erster hier“, erklärte sie, während sie ihn bei den ersten Schritten stützte. Nach wenigen Schritten rang er sich aus ihrem Griff frei, machte ein trotziges Gesicht und ging selbstständig auf unsicheren Beinen weiter. „Ja, und dieser Sarik… Er war auch schon hier.“ Dorian sah sich genauer um. Sie standen am Rande eines Flusses, der sich in engen Mäandern durch den Wald wand. Das Laubdach über ihren Köpfen färbte das Licht der schon hoch stehenden Sonne in alle Grüntöne. Der grobe Kies der Sandbank, an der sie sich befanden, ging nach wenigen Metern in Schilf und Brennnesseln über, die schließlich zu Waldboden wurden, auf dem niedrige Gebüsche und Farnsträucher zwischen mächtigen Baumstämmen wuchsen. Schließlich sah er einen Mann, der im Wald zwischen den Bäumen mit dem Rücken zu ihnen stand. Ein paar Schritte entfernt von ihm hing ein Mantel, von dem Wasser herabtropfte, an einem Ast. Der Mann drehte den Kopf zur Seite; da erkannte ihn Dorian. Es war Sarik Metharom, oder eben die Person, die sich ihnen unter diesem Namen vorgestellt hatte. Jetzt, ohne seinen Mantel, sah Dorian das ärmellose Lederwams, das er trug und aus dem sehnige Arme herausragten. An der Seite trug er sein Schwert, und am Unterarm seines rechten Arms erkannte er einen Escutcheon. Dorian blickte an sich herab. Er sah seinen eigenen, der fest und unbewegt an seinem Unterarm saß, und den selbst die Kraft des Flusses, in dem er beinahe ertrunken war, nicht hatte lösen können. Langsam drehte er ihn um und hielt dabei den Atem an. Undeutliche Erinnerungen an die Konfrontation mit der Palastwache stiegen in ihm hoch. Sie fühlten sich an wie vergessene Wunden, die nach langer Zeit erneut schmerzten. Im fahlgrünen Licht der Baumwipfel über ihm erkannte er die Färbung der Glasscheiben zuerst gar nicht. Dann sah er näher hin und bemerkte, dass sie alle zugleich pulsierten, dass in ihnen allen ein schwaches Licht in schwer trennbaren Farben an- und abschwoll. Die Farben wechselten, ebenso wie ihre Intensität; schließlich ließ er den Arm seufzend sinken. „Und wo sind wir hier?“ Seine fragende Stimme übertönte das Rauschen des Flusses nur unerheblich, und sein verwirrter Blick richtete sich auf Iria. Sarik kam, den Mantel über die Schulter geworfen, zu ihnen ans Ufer zurück. Mit weiten Schritten überwand er den Schilfgürtel und gelangte so zu ihnen. Nadim blickte ihn von der Seite skeptisch an, und auch Irias Blick verfinsterte sich. Aus Dorians Augen hingegen leuchtete Neugier sowie die Hoffnung, sie bei diesem Mann stillen zu können. „Auch wieder unter den Lebenden?“ fragte Sarik und brach einen Zweig ab, der aus einer Ansammlung Treibgut am Wasserrand ragte. „Ja, gerademal.“ „Bei dem Sturz hätten wir draufgehen können“, sagte Iria, und das mit nur wenig Verständnis in der Stimme. Sarik blickte sie einen Moment durch seine Brille an, die er bei dem Sturz wohl gerettet hatte, um dann in die Hocke zu gehen und mit dem Stock etwas in den Sand zu zeichnen. „Wären wir geblieben, so wären wir jetzt tot“, sagte er und blickte von seiner Zeichnung im Sand auf. „Oder in den kaiserlichen Folterkammern.“ Er blickte sie nur einen Moment an, um sich dann wieder der Zeichnung im Sand zu widmen. Iria schüttelte ratlos den Kopf, ihre Stimme verriet aufkeimende Verunsicherung. „Aber- Wir haben doch nichts getan. Verfolgen sie uns immer noch?“ fragte sie leicht verschämt. „Mit etwas Glück halten sie uns für ertrunken, was ja wirklich fast geschehen wäre“, antwortete er seufzend und mit müder Stimme, als würde er sich über etwas ganz anderes den Kopf zerbrechen. „Ihr mögt nichts getan haben, aber der Palast sieht dies wohl anders.“ Irias argwöhnischer Blick traf Dorian und auch Nadim, bevor er wieder auf Sarik fiel. „Sie wissen… vom Maleficium?“ fragte sie heimlich und leise, als könnte sie damit ein Geheimnis ausplaudern. „Ja“, antwortete er und erhob sich dabei. „Das Maleficium war der Grund, warum ich in den Palast eingedrungen bin. So wie auch ihr, vermute ich?“ Irias Züge wurden finster und verschlossen. Einen Moment lang mutete sie wie ein Kind an, das sich einer als ungerecht aufgefassten Bestrafung gegenübersah. „Was geht das sie an?“ schnauzte sie ihn an, wandte sich ab und ging mit verschränkten Armen am Flussufer entlang, wobei sie den verdutzt dreinschauenden Nadim passierte. „Wir wollten das Maleficium stehlen, das stimmt“, sagte Dorian an ihrer Stelle, wie um ihr Geständnis zu vollenden. Dabei sah er zu Boden, während Sarik ihn immer noch aufmerksam beobachtete. „Sie hatte die Idee… und ich war einverstanden. Ebenso wie Ludowig, Nikodemus und Gaubert… Haben sie sie vielleicht gesehen?“ Sarik atmete tief ein, um dann den Kopf zu schütteln. Dabei schlüpfte er in seinen nunmehr fast trockenen Mantel. „Nein. Außer euch drei habe ich niemanden mehr gesehen nach dem Sturz.“ Dann wandte er sich wieder der Zeichnung im Sand zu. Dorians Ungewissheit um seine Freunde wurde zu einer bleiernen Schwere in seinem Verstand, die sich wie eine bereits in der Vergangenheit liegende Verwundung anfühlte. Das machte es nicht weniger schmerzhaft, aber zumindest konnte er diesen Schmerz wie etwas schon Gewohntes zur Seite schieben, um sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. „Was tun wir jetzt?“ „Ich werde den Dieb des Maleficium verfolgen“, antwortete Sarik, ohne von der Zeichnung im Sand aufzuschauen. Das Wort ‚Ich‘ betonte er besonders; es klang wie eine unausgesprochene Herausforderung. Danach hob er den Blick wieder auf Dorian, wie um zu sehen, auf welche Weise er reagierte. „Wir können nicht einfach zurück in die Stadt. Sie haben uns gesehen… Sie werden uns suchen“, sagte Dorian, und in seinem Verstand fügten sich die unschönen Steine dieses Mosaiks zu einem bitteren Muster zusammen. „Leicht möglich. Der Dieb ist entwischt, also werden sie sich an uns, die sie für seine Komplizen ansehen, halten.“ „Aber- Wir wissen doch gar nicht, wer er ist!“ entgegnete Dorian mit unbeabsichtigt lauter Stimme. Er sah sich um, wie um nach Hilfe Ausschau zu halten, doch er sah nur Nadim, der immer noch im Sand saß und teilnahmslos in die Fluten starrte, sowie Iria, die nach wie vor mit trotziger Miene auf der Sandbank auf und ab ging. „Die können uns doch nicht verantwortlich machen- “ Er erstarrte mitten im Satz, als ihm dessen Zwecklosigkeit bewusst wurde. Sie waren auf ähnliche Weise in den Strom der Ereignisse geraten wie in den Fluss, an dem sie jetzt standen, der sie jedoch- im Gegensatz zu den Ereignissen- wieder freigegeben hatte. Dem Ertrinken waren sie entronnen, doch die eigentlichen Schwierigkeiten begannen erst. Sarik war immer noch in seine Zeichnung im Sand vertieft, die nun wie eine Landkarte wirkte. „Warum wollten Sie das Maleficium stehlen?“ fragte Dorian nach einigen Momenten; seine eigene Stimme kam ihm dabei unbeabsichtigt forsch vor. „‘Gestohlen‘ haben es die Männer eures Kaisers“, antwortete Sarik mit nachsichtiger Stimme, wie einem Schüler gegenüber, dessen Irrtum unverschuldet war. „Das Maleficium ist das Eigentum von Mosarria. Ich hole es zurück.“ Dorian blinzelte ungläubig. „Sie sind aus Mosarria? Dann… sind Sie unser Feind?“ Der Fluss hinter Dorian spiegelte sich in Sariks Brillengläsern; diese Spiegelung konnte jedoch nicht über den ernsten, fast traurigen Ausdruck in seinem gesunden Auge hinwegtäuschen. „Habe ich versucht, euch zu töten? Die Palastwachen tun das mit jedem, der ihnen dieses Artefakt streitig macht, und sie machen dabei keinen Unterschied nach der Herkunft“, erklärte er, und seine Stimme nahm einen fast schon erheiterten Ausdruck an, der jedoch schnell wieder schwand. „Wir kommen aus verschiedenen Ländern. Siehst du mich deshalb als Feind an?“ Dorian, für den Feinde immer etwas weit Entferntes und unbeschreiblich Böses waren, konnte nichts erwidern. Dieser Mann war weniger Feind für ihn als die Palastwachen, denen sie zuvor entkommen waren, musste er sich eingestehen. „Und wohin gehen Sie jetzt?“ fragte Dorian, um die Stille zu durchbrechen, und auch um sein Gefühl zu vertreiben, etwas Dummes gesagt zu haben. „Ich folge dem Maleficium, wie es mein Auftrag ist“, antwortete er beiläufig und zeigte dabei auf die Zeichnung im Sand. „Das hier ist der Fluss Rhemarn, hier sind wir, vermute ich zumindest, und hier liegt die Ortschaft Brimora. Er ist dort hin.“ „Woher wollen Sie das wissen?“ Ein amüsiertes Lächeln schlich durch die dichten Bartstoppeln um Sariks Mund. „Du hast einen Escutcheon. Ist es dir noch nicht aufgefallen?“ Dorian blickte seine Armschiene an, mit der er nur noch bittere Erinnerungen verband. „Ja. Ich habe gegen eine Palastwache gekämpft. Er war eigentlich ziemlich leer, aber plötzlich nicht mehr, und ich konnte sie… besiegen.“ „Das meine ich nicht“, erwiderte Sarik und schüttelte den Kopf. „Das Maleficium beeinflusst alle Escutcheons im Umkreis, vor allem, wenn es unvorsichtigerweise geöffnet wird. Der Einfluss geht aber noch weiter. Sieh her.“ Unwillkürlich richtete Dorian den Blick auf seinen Unterarm, den Sarik von sich streckte. Er erkannte die vier Glasscheiben auf der Armschiene, die ähnlich wirre Farbenspiele zeigten wie auf seiner eigenen. Dann begann Sarik, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Bei einer ganz bestimmten Himmelsrichtung leuchteten alle Scheiben zugleich. In kräftigen Farben glühten sie auf, wo zuvor nur ein mattes Schimmern gewesen war. „He, das ist- “, rief er verblüfft und deutete auf die Armschiene. „Das funktioniert bei dir sicher auch.“ Dorians Blick heftete sich auf den Escutcheon an seinem Arm. Als müsste er die Reaktion befürchten, so langsam hob er ihn und bewegte ihn den gedachten Horizont entlang, ganz vorsichtig. Und tatsächlich, in derselben Richtung, in der auch Sariks Arm verharrte, erglühte das Farbenspiel mit unvermuteter Heftigkeit. Bewegte er ihn weiter, erstarb es, bewegte er ihn zurück, war es wieder in voller Pracht da. „Wie ist das möglich?“ „Wir waren am nächsten, als dieser Tor das Maleficium öffnete“, sagte er und verbarg seinen Escutcheon unter dem Ärmel seines Mantels. „Unsere Armschienen sind ab nun verbunden mit seiner Macht.“ „Das ist… unheimlich“, sagte Iria, die alles mit an gesehen hatte. „Es wird uns also zu ihm führen?“ fragte sie vorsichtig. Sarik, nach einem Moment des Zögerns, nickte. „Ja, das wird es.“ „Können wir mit Ihnen kommen?“ fragte sie geradeheraus, was Dorian ehrlich erstaunte. Sarik blickte sie einen Moment lang abschätzend an, dann verwischte er mit dem Stiefel die Zeichnung im Sand. „Wenn ihr mir nicht zur Last fallt“, antwortete er knapp. Dann wandte er sich ab und ging los. Nach wenigen Schritten blieb er stehen und drehte den Kopf zur Seite. „Du, mit dem Namen Dorian… Vergiss dein Schwert nicht.“ Dorian sah sich einen Moment lang ratlos um, dann sah er das Schwert der Palastwache einige Schritte entfernt im Sand liegen. Bis hierher hatte er sich daran geklammert, und wie der Fluch seiner Tat schien es ihn verfolgt zu haben. Mit nicht geringem Widerstand hob er es auf und betrachtete es. Der Kampf und das Blut glitten an seiner Erinnerung vorbei wie ein Alptraum, der zwar im Begriff war, vergessen zu werden, der aber auch versprach, einen bleibenden Schimmer seines Grauens zu hinterlassen. „Warum erinnern Sie mich daran?“ fragte er, als ihm bewusst wurde, dass er in ihrer Gruppe der Einzige außer Sarik war, der eine Waffe führen konnte. Auf Sariks Gesicht, das ihnen zur Hälfte zugewandt war, zeigte sich ein verhaltenes, beinahe schon schelmisches Lächeln. „Wie du vorhin gesagt hast… Eigentlich bin ich euer Feind.“ Dann ging er mit weiten Schritten los. Nach einem vielsagenden Blick, den Dorian mit Iria wechselte, bemühten sie sich, mit ihm Schritt zu halten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)