Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 27: ------------ Dorian fragte sich einen Moment, ob dieser junge Mann wirklich verrückt war, wie Sarik behauptet hatte, und ob er sich vielleicht nicht doch als Gefahr für sie alle erweisen würde. Doch die Erschöpfung in seinen Gedanken spülte diese Befürchtung hinweg, und die Aussicht auf eine weiche Liegestatt ließ ihm alle Bedrohungen dieser Welt klein und nichtig erscheinen. Brynja, die neben Hargfried saß, lehnte mit den Ellbögen auf dem Tisch und sah sich konzentriert um. Dorian war sich sicher, ihre Augen tasteten die Umgebung nach möglichen Fluchtwegen oder nahenden Gefahren ab. Ihr Gesicht wirkte nervös und wachsam, wenngleich es ihr ebenfalls schwer fiel, ihre körperliche Erschöpfung zu verbergen. Dorian kam diese Wachsamkeit in diesem Moment lächerlich vor. Selbst eine ganze Kohorte kaiserlicher Soldaten hätte ihn im jetzigen Moment nicht schrecken können, gäbe es nur die Möglichkeit, sich vor der Begegnung mit ihnen auszuschlafen. Abermals schreckte er aus seinem Dämmerzustand hoch, als Sariks Stimme, der neben ihm saß, an sein Gehör drang. Er unterhielt sich mit dem alten Benero, der ihm verschiedene harmlose Fragen über ihre Herkunft und ihr Ziel stellte. Mit seinem schläfrigen Verstand war es Dorian nahezu unmöglich, den genauen Sinn ihrer Unterredung zu erfassen. Er bekam aber mit, dass Sarik behauptete, sie wären alle- mit Hargfrieds Ausnahme- aus der Stadt Galdoria, und dass sie im Auftrag des kaiserlichen Gerichts einen Verbrecher verfolgen würden. Dorian lachte innerlich über diese Ironie, bewunderte aber zugleich, mit welcher Überzeugungskraft Sarik dem alten Mann und seiner Familie diesen angeblichen Sachverhalt darlegte. Er benutzte dabei eine Menge wichtig und amtlich klingender Worte. Obwohl es für Dorian, der durch seine Diebestätigkeit ein bisschen Ahnung vom Vorgehen der kaiserlichen Gerichtsdiener hatte, wenig glaubwürdig klang, so hing die Familie Cinna doch an Sariks Lippen. Ihr Respekt vor ihnen als Gesandte des kaiserlichen Gerichts wuchs mit jedem bedeutungsvollen Wort aus seinem Mund. Einen Moment ärgerte sich Dorian über die Kaltblütigkeit, mit der Sarik die Lügengeschichte diesen einfachen Menschen auftischte. Der Gedanke an das ihn erwartende Bett verscheuchte aber alle Skrupel aus seinem Verstand. Er schloss die Augen und sah sich bereits alle Glieder von sich strecken; für diese Wonne, so war er sich sicher, hätte er sich auch als Sohn des Kaiser Modestus ausgegeben. Gerade kam das Gespräch von dem Kampf bei den Obstbäumen hin zu ihrer Begegnung mit dem Giganteninsekt im naheliegenden Wald, wie Dorian aufschnappte. Mit sachlichen Worten schilderte Sarik ihre Auseinandersetzung und wie sie dieses riesenhafte Tier, das laut Beneros Worten in der Vergangenheit schon öfters für Schrecken in ihrer Stadt gesorgt hatte, schließlich unschädlich gemacht hatten. Seine Frau und seine Schwiegertochter lauschten mit geweiteten Augen und völlig sprachlos, während Benero nicht müde wurde, ihre Tat zu loben. „Das ist ganz prächtig, jawohl, ganz prächtig! Diesem Ungeheuer hätte ja schon längst der Garaus gemacht gehört, ja, ja! Aber die kaiserlichen Truppen, die haben sich nie darum geschert, schlimm ist das!“ rief er aus und schlug mit seiner faltigen Faust auf den Tisch. „Gedrückt haben sie sich, jawohl!“ „Sicher hattet Ihr Unannehmlichkeiten mit diesem Tier, und im Namen des Kaisers entschuldige ich mich dafür, dass erst jetzt eine Lösung erzielt wurde“, erwiderte Sarik mit sanfter, diplomatischer Stimme. „Aber Sie müssen auch verstehen, dass in Zeiten wie diesen jeder Mann der galdorianischen Armee gebraucht wird.“ „Ja, ja…“, gab Benero mit nun nicht mehr zornig erregter, sondern müder Stimme zurück. „Sie haben ja recht. Wenn dieser unheilvolle Krieg nur bald vorüber ist, ja, ja, ich muss oft an meinen Rothgar denken, und dass- dass ihm nur nichts passiert- “ Seine Stimme geriet ins Stocken. Die beiden Frauen senkten ihre Blicke und verbargen ihre Augen vor den Gästen. Betretene Stille hielt Einzug, und Dorian glaubte ein unterdrücktes Schluchzen aus der Kehle von Gauri Cinna zu hören. „Ich versichere Ihnen, der Kaiser tut alles, um diesen Krieg baldestmöglich zu beenden“, sagte Sarik mit fester Stimme und brach die Stille damit. „Ihr Sohn wird unversehrt zurückkehren, daran habe ich keinen Zweifel.“ Dorian, dessen Müdigkeit für einen Moment zurückwich, beobachtete die Reaktion ihrer Gastgeber. Benero sah Sarik unverwandt an, und die Blicke seiner Gemahlin wie seiner Schwiegertochter hoben sich. Zenon und Gyriakus, die bis jetzt in einem harmlosen Streit gezankt hatten, horchten ebenfalls auf, als wäre etwas Bedeutsames geschehen. Das Gesicht des alten Mannes erhellte sich, ein hoffnungsvolles Lächeln warf sein Gesicht in Falten. Ebenso war es bei seiner Frau, und Gauri Cinna lief eine zaghafte Träne über das Gesicht. Dorian schämte und freute sich zugleich. Er schämte sich, weil Sarik diese Leute für Narren hielt und haltlose Hoffnungen machte. Und er freute sich, dass diese Menschen, die in Angst um eine geliebte Person lebten, nun wieder einen Schimmer der Zuversicht hatten, an den sie sich klammern konnten. Sie wollten dieses haltlose Versprechen glauben, mit aller Macht, und Sarik, aus dessen gewandtem Mund sie alles glaubten, lieferte ihnen genau das, was sie sich tief in ihrem Herzen wünschten. Dorian schüttelte langsam den Kopf, sein Blick verschwamm, und abermals driftete er in das Reich zwischen Schlafen und Wachen ab, während die Stimmen um ihn herum wieder erklangen- „Bist du auch ein großer Kämpfer?“ hörte er plötzlich eine kindliche Stimme, die ihn aus dem Halbschlaf riss. Er wandte sich um und sah das runde, rosige Gesicht eines der beiden Kinder. Das zweite drückte sich in den Rücken seines Brüderchens und lugte scheu hervor. „Ich? Na ja…“, antwortete Dorian, der im Gegensatz zu Sarik zu müde war, um zu lügen. „Nicht wirklich. Wieso fragst du?“ „Du hast ein großes Schwert, also musst du ein großer Kämpfer sein“, sagte der geringfügig Größere von den beiden und nickte dabei mit dem Kopf. Sein kleinerer Bruder gluckste vergnügt bei dieser Feststellung, und Dorian lächelte müde zurück. „Nun ja, das alleine macht es- “ „Zeig uns, wie man damit umgeht!“ platzte es aus dem Kleineren heraus, der ihn damit unterbrach und vorwitzig grinste. Sein Bruder klatschte vergnügt in die Hände, als wäre dies schon beschlossen. Dorian sah sich nach der Mutter der beiden um. Sie lauschte immer noch den ausweichenden Erläuterungen Sariks, und ihr bedrücktes Gesicht zeigte, dass sie in Gedanken bei ihrem Mann war, dem all ihr banges Hoffen galt. „Das kann ich machen… aber erst zeigt ihr mir, wo wir heute schlafen werden“, sagte Dorian schließlich. „Sonst bin ich viiiel zu müde, mein Schwert auch nur aufzuheben.“ Wie auf Kommando umringten ihn die beiden. Der Größere von ihnen- er überlegte seinen Namen- ergriff seine Hand und zog ihn mit sich. Dorian folgte ihnen bereitwillig. Der Größere- es war wohl Zenon- führte ihn an der Hand durchs Haus. Dorian sah an seinem runden, rosigen Gesicht, wie stolz es ihn machte, diesem in seinen Augen so großen Krieger das Haus zeigen zu können. Sein kleinerer Bruder, Gyriakus, lief vor ihnen her und wandte sich manchmal um, um ihnen ein glucksendes Lachen zu schenken. Die beiden waren glücklich, dachte Dorian, und dass, obwohl ihr Vater weit weg und vielleicht schon tot war. Mit kindlichem Überschwang führten sie ihn durch die Küche, in die Vorratsräume, in eine kleine Werkstatt, und schließlich eine steile Treppe hinauf, die in den Bereich unter dem Dach führte. Überall verweilten sie dabei kurz, erklärten ihm die jeweiligen Räume, schrien dabei durcheinander, um dann lachend das nächste Ziel anzusteuern. So gelangten sie in den Schlafraum der Knechte. Dorian bückte sich unter den massiven Balken, die das niedrige Dach stützten. Der Dielenboden war rissig, wie er im Licht einer einzelnen Glühdrahtlampe sah, und knirschte bei jedem Schritt. Spinnweben bewegten sich leicht bei ihrem Eintreten, und sein Blick glitt über eine Reihe von Lagern aus grob gezimmerten Holz. Beim Anblick der Decken und Polster wäre er um ein Haar an Ort und Stelle niedergesunken, um endlich seiner drängenden Müdigkeit nachzugeben, die mit Bleigewichten an seinen Augenlidern hing. Doch er nahm sich zusammen, um seinen übermütigen Gastgebern den Gefallen seiner Aufmerksamkeit zu machen. „Hier werdet ihr schlafen, es ist unheimlich, aber schön warm, manchmal verstecken wir uns hier!“ sprudelte es aus Gyriakus hervor, während er die Reihe einfacher Lager entlang lief. Zenon ließ Dorians Hand los und verfolgte seinen Bruder. Die beiden rangelten quietschend, als würde sie die Anwesenheit ihres Gastes noch zusätzlich dazu aufstacheln. Schließlich riss sich Zenon von seinem Bruder los und zeigte Dorian jedes einzelne Bett. „Hier schläft Aulus, und hier schläft Nephelo, und hier schläft Kleio, und hier…“, zählte er mit einer Gewissenhaftigkeit auf, die Dorian unwillkürlich lächeln ließ. Gyriakus, um seinen Raufgesellen beraubt, stellte sich vor Dorian und blickte ihn mit großen, erwartungsvollen Augen an. „Zeigst du uns jetzt, wie man mit einem Schwert kämpft?“ Der spielerische Ernst hinter diesen Worten machte Dorian nachdenklich; er setzte sich auf eines der Lager. „Morgen, heute nicht mehr. Ich bin sehr müde, weißt du?“ Der kleine Junge machte ein trauriges Gesicht, schaute einen Moment zu Boden, um den Blick dann wieder auf Dorian zu richten. Er nickte, und die eben noch deutlich sichtbare Bekümmertheit wurde von einem unschuldigen Lächeln vertrieben. „Na gut!“ sagte er, dann setzte er sich mit einer schwungvollen Bewegung neben Dorian und lachte vergnügt. Dorian sah, wie Zenon vor einem der Lager stand und über den Namen seines ehemaligen Inhabers nachgrübelte. Wieder musste er lächeln über die Ernsthaftigkeit, mit der der Junge diese sinnlose Tätigkeit durchführte. „Euer Vater, Rothgar… wie lange ist er schon weg?“ fragte Dorian, dessen Gedanken zu dem Gespräch von vorhin zurückwanderten. Gyriakus runzelte bei dieser Frage die Stirn, und Dorian ahnte, wie es dahinter zu rumoren begann. Er begann zu vermuten, dass diese Frage für dieses noch kleine Kind zu abstrakt war. „Seit der ersten Saat!“ verkündete er nach mehreren schweigenden Momenten. „Aha… Und warum willst du, dass ich euch das Kämpfen zeige?“ fragte Dorian, der das Bedürfnis empfand, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Damit ich ein großer Kämpfer werde!“ gab der Junge schlagartig zur Antwort, sein Gesicht strahlte dabei. „Dann kann ich meinem Vater helfen, und er ist dann stolz auf mich!“ Dorian nickte langsam und hörte die begeisterten Worte dieses Kindes, das nicht wusste, von was es sprach. Er erinnerte sich, dass er mit einem Kind redete; ein Kind, das von den Zeiträumen des Erwachsenwerdens und von dem Zeitraum, den dieser Krieg womöglich noch dauern würde, keine Vorstellung hatte. „Jetzt weiß ich es!“ verkündete Zenon vom anderen Ende des Raumes. Dorian und Gyriakus wandten sich unwillkürlich in seine Richtung. „Das ist das Bett von Platon!“ Dann lief er zu ihnen und setzte sich mit sichtbarem Respekt, aber ebenso mit unübersehbarer Neugier, auf das andere Ende des Betts, auf dem Dorian und Gyriakus saßen. „Morgen zeigt er uns, wie man kämpft!“ rief der Kleinere der beiden Brüder aus. Zenons Gesicht strahlte auf. „Wirklich?“ fragte er hoffnungsvoll. Dorian, dem jeden Moment die Augen zuzufallen drohten, nickte geduldig. „Ja, aber vorher muss ich mich ausschlafen“, sagte er, unfähig, das Gähnen zu unterdrücken. Die beiden sprangen auf, als wäre dieses Versprechen durch ihre bloße Anwesenheit in Gefahr. „Wir gehen jetzt, dann bis morgen!“ riefen sie im Chor, bevor sie die Treppe hinunterliefen. Dorian streckte sich mitsamt seiner Kleidung auf dem Lager aus. Das Lachen der Kinder verklang währenddessen im Treppenhaus. Jeder Körperteil Dorians fühlte sich zentnerschwer an. Einen Moment lang wunderte er sich über die Unbeschwertheit, mit der diese Kinder ihr Geschick hinnahmen. Er entsann sich seiner eigenen Kindheit, damals, kurz nach dem Krieg, an die er nur wenige klare Erinnerungen hatte. Dabei fragte er sich, ob ihn der Zauber der Kindheit ebenso bewahrt hatte vor dem Schrecken, der damals über dem Land gelegen hatte. Er fragte sich auch, ob dieser Schrecken nun zurückkehren würde, bevor die Erschöpfung alle bewusst formulierten Gedanken zu einem Brei aus Erinnerungsfetzen gerinnen ließ. Ein Rauschen lärmte in seinen Ohren, und die niedrige Decke schien sich auf ihn herabzusenken. Er schloss die Augen, woraufhin die Eindrücke dieses Tages in wirrer Reihenfolge an ihm vorbeiflogen. Am deutlichsten sah er die beiden Kinder vor sich, Zenon und Gyriakus. Er sah ihr unbefangenes Verhalten ihm gegenüber und den Eifer, den sie angesichts ihrer Fantasie vom Kriegertum entwickelten. Er sah auch sich selbst, in etwa ihrem Alter, und die Träume, die dieselben gewesen waren wie jene dieser Kinder. Jene Träume, deren Schilderung nun eine unangenehme Bedrückung in ihm hinterließ. Ein weiterer Fetzen drängte sich in den Vordergrund. Es war der Soldat der Palastwache, der, von seinem Schwert durchbohrt, zu Boden sank. Die Erinnerung war undeutlich und an den Rändern ausgefranst, doch das von Todesangst erfüllte Gesicht war scharf und klar. Und er fragte sich, ob dieser Mann auch Kinder gehabt hatte, Kinder wie Zenon und Gyriakus. Er fragte sich einen kurzen Moment lang, ob es vielleicht tatsächlich ihr Vater gewesen war, und ob er jetzt sein Mörder war. Sei nicht so dumm, tadelte er sich selbst, um diesen verstörenden Gedanken zu vertreiben. Du hattest keine Wahl, sagte er zu sich selbst. Du oder er, das war die Wahl, sagte er weiter, und du hast jedenfalls keine Kinder, die mit dir ihren Vater verlieren. Aber es gibt andere Leute, die sich um mich sorgen, und um die ich mich kümmern muss, so ging der innere Zwist weiter. Dorian drehte sich um, zog die Beine an und vergrub sein Gesicht in dem Kissen, das nach Stroh und Staub roch. Das Rauschen in seinen Ohren wurde allmählich leiser, und die bleierne Schwere erfüllte nach und nach seinen ganzen Körper, um ihn in die Tiefe eines traumlosen Schlafs zu ziehen. Dorian schreckte hoch. Sein Herz schlug heftig und schmerzhaft. Er atmete langsam und konzentriert, um das Rasen in seiner Brust zu beruhigen. Es war dunkel um ihn herum; jemand musste das Licht ausgemacht haben. Mit seinen an die Dunkelheit angepassten Augen erkannte er die Umrisse mehrerer Personen in den Lagern links und rechts neben sich. Jähe Furcht stieg in ihm auf, bevor die Erinnerung an seine Begleiter zurückkehrte, die nun seinen Weg teilten. Er erkannte Iria und auch Nadim, die in benachbarten Betten schliefen. Am Ende des Raumes lag eine weitere Person. Sie drehte sich regelmäßig von einer Seite auf die andere. Dorian hörte tonlose Worte aus ihrer Richtung. Von Zeit zu Zeit zuckte der Körper im Schlaf, als würde ihn eine unsichtbare Hand schütteln. An den langen Haaren, die über das schlafende Gesicht hingen, erkannte er in der Person Hargfried, den jungen Ritter aus dem Herzogtum Lichtenfels. Dorian rieb sich das Gesicht. Trotz seiner Müdigkeit verspürte er einen Widerstand, sich wieder hinzulegen und in jenen Schlaf zurückzukehren, aus dem ihn dieser Alptraum gerissen hatte, an den mit dem Erwachen jede Erinnerung zerfallen war. Sein Mund war staubtrocken, woraufhin er beschloss, einen Krug Wasser zu suchen. Er stellte die Füße auf den Boden, und die Berührung seiner wunden Füße, die immer noch in den Stiefeln steckten, schmerzte ihn. Als er sie auszog, erfüllte im selben Moment spürbare Erleichterung seine Füße. Ohne Schuhe ging er die Treppe hinab. Seine bloßen Füße verursachten keine Geräusche auf dem Holz, und so gelangte er in den Raum, in dem sie zuvor gespeist hatten. Eine einzelne Glühdrahtlampe brannte am Ende des Raums und schmerzte ihn einen Moment in seinen an die Dunkelheit angepassten Augen. Langsam stellten sie sich auf diese Lichtquelle ein, und schnell fand er einen Krug mit Wasser, aus dem er begierig trank. Seufzend setzte er den Krug ab. Obwohl das Wasser schon etwas abgestanden war, fühlte es sich in seiner ausgetrockneten Kehle wie reinster Balsam an. Er genoss dieses Gefühl der Frische und horchte in die Stille, die über dem Haus lag. Alle seine Bewohner schliefen jetzt wohl, dachte er, bis ihm einfiel, dass er weder Sarik noch Brynja in der Dachkammer gesehen hatte. Einem spontanen Impuls folgend ging er zur Tür, hob den Riegel und trat ins Freie. Die kalte Nachtluft fühlte sich prickelnd auf seinem erhitzten Gesicht an, und der Boden unter seinen bloßen Füßen kühlte seine Haut so angenehm, dass er beschloss, ein paar Schritte zu tun. Er wusste nicht, wie spät es war, ob er nur kurz geschlafen hatte, oder ob die Nacht sich schon ihrem Ende näherte. Aber die Luft vertrieb seine Müdigkeit auf so unerwartete Weise, dass es ihm nicht viel ausgemacht hätte, bald wieder aufzubrechen. Dorian wunderte sich über dieses seltsame Gefühl, das so ganz im Widerspruch zu seiner Erschöpfung stand, die es ihm kurze Zeit zuvor so schwer gemacht hatte, auch nur die Augen offen zu halten. Da drangen Stimmen an seine Ohren. Er sah sich um, erblickte aber in der Nähe niemanden. Das Gatter mit den Hühnern war leer, auf dem Weg zu den anderen Häusern war keine Menschenseele, und unter den in Dunkelheit liegenden Bäumen abseits der Wirtschaft war ebenfalls nichts zu sehen. Er erinnerte sich an Brynja und Sarik, und er fragte sich, ob sie vielleicht schon ohne sie aufgebrochen waren, um das Maleficium zu suchen. Abermals hörte er flüsternde Stimmen, die zugleich etwas Strenges an sich hatten, als würden sie eine hitzige Diskussion führen. Er erkannte die Stimme von Sarik und schließlich auch die Richtung, aus der sie kam. Seine bloßen Füße verursachten keinerlei Geräusch, als er in die Richtung, aus der er die Stimmen hörte, um das Haus schlich. An einer Mauerecke blieb er stehen, und nun erkannte er auch Brynjas Stimme. „Das ist keine gute Idee; das ist viel zu riskant.“ Diese leisen, beinahe flüsternden Worte konnten nur von Brynja stammen, war er sich sicher. Obwohl sie ihre Stimme bewusst leise hielt, enthielt sie doch eine Schärfe und Angriffslust, die er schon am Tag zuvor bei ihr gehört hatte. Die zweite Stimme war wesentlich sanfter, hatte aber zugleich eine gewisse Festigkeit, welche die Gewohnheit, Befehle zu erteilen, verriet. „Auf diese Weise brauchen wir viel zu lange. Wir haben keine Zeit zu verlieren“, hörte er Sarik von jenseits der Mauerecke sprechen. „Der Kaiser lässt sicher schon nach dem Dieb suchen, und wenn er es zurückbekommt, wird es diesmal nicht mehr so leicht, es zu entwenden.“ Dorian lehnte an der Mauerecke und hörte die beiden Stimmen, die nur wenige Schritte entfernt ihre Argumente wechselten. Einen Moment lang war er fast enttäuscht, die beiden hier vorzufinden. Er ertappte sich bei der insgeheimen Hoffnung, die beiden würden ohne sie aufbrechen, was Iria dann überzeugen könnte, diese Suche aufzugeben. Bevor er sich aber über diesen Gedanken wundern konnte, ging das Gespräch weiter, und so lauschte er gespannt. „Die Bahnlinie Richtung Norden wird von kaiserlichen Truppen streng bewacht“, hörte er Brynja sagen. „Sie wird immer wieder von den Rebellen angegriffen. Dort droht uns also nicht nur von der Armee Gefahr, sondern auch von den Revolutionären“, sprach sie leise, aber deshalb nicht weniger eindringlich. „Und gerade dort werden sie uns am wenigsten vermuten“, antwortete Sarik. „Es sind massive Flüchtlingsströme auf dieser Route unterwegs. Ideale Bedingungen, um unterzutauchen. Unter den vielen Flüchtlingen werden wir weniger auffallen, als wenn wir uns als einzelne Reisende durchs Land bewegen.“ Dorian sah nichts von den beiden, aber er glaubte die Anspannung auf Brynjas Gesicht förmlich zu hören, als sie mit seinen Einwänden rang. Es herrschte wieder Stille; erst einige Momente später hörte er erneut Sariks Stimme. „Sie können aber auch ihren eigenen Weg antreten; ich werde Sie nicht hindern. Es besteht für mich kein Grund zur Feindschaft Ihnen gegenüber“, sagte Sarik in derselben sanften, diplomatischen Stimme, mit der er am Abend zuvor zu der Familie Cinna gesprochen hatte. Wieder vergingen einige wortlose Momente, in denen nur der Wind, der über die Dächer strich, zu hören war. Dorian bildete sich ein, Brynjas Fingergelenke zu hören, die sich zu Fäusten anspannten. Doch er schrieb dies eher seiner Vorstellung zu, und schließlich hörte er sie wieder sprechen. „Sie haben nicht unrecht. Es ist vielleicht wirklich die kleinere Gefahr. Für diese Jagd bleibe ich bei Ihnen und Ihrer… Gruppe. Angreifen können wir uns eh nicht, also können wir genauso gut gemeinsame Sache machen. Zumindest, bis wir das Maleficium gefunden haben. Danach kann ich für nichts garantieren.“ Dorian hörte ihre Schritte, die sich nun von Sarik entfernten. Sie näherten sich seiner Position, und mit einem Male wurde ihm bewusst, dass er sie ohne ihr Einverständnis belauschte; der Impuls zu fliehen erwachte in ihm. „So soll es also sein“, hörte er Sarik sagen, und Brynjas Schritte stoppten. „Nur eines noch: Wir mögen den Träger des Maleficium nun jagen, aber wir müssen trotzdem auf der Hut bleiben. Niemand kennt die Macht des Maleficium genau, und ein Jäger kann sehr schnell zum Gejagten werden.“ Momente des Schweigens vergingen, und Dorian bildete sich ein, Sariks Lächeln hören zu können. Dann lief er lautlos auf ein Versteck zu. Im nächsten Moment hörte er Brynjas Schritte, die sich wieder in Bewegung setzten und an seinem Versteck, einem offenen Verschlag für Brennholz, vorbeibewegten. Ebenso wie Sariks, die den ihren ein paar Augenblicke später folgten. Als er sicher war, dass beide das Haus betreten hatten, kam er aus dem Verschlag hervor. Er lauschte der Stille, die wieder herrschte, und atmete die frische Nachtluft ein. Seine Gedanken waren so klar wie seit dem gestrigen Tage nicht mehr; er wunderte sich darüber, dass sein Bedürfnis zu schlafen im Moment völlig weg war. Dorian blickte zum Himmel empor, an dem einzelne Sterne zwischen den Wolken glänzten, und seine Gedanken nahmen den Faden auf, den sie vorher, als er auf das heimliche Gespräch der beiden aufmerksam geworden war, verloren hatte. Er hatte in der Tiefe seiner Seele gehofft, Brynja und Sarik hätten sich in dieser Nacht einen Vorsprung verschafft, den Iria bei ihrer Suche nicht mehr aufholen würde können. Selbst mit den beiden würde es schwierig genug werden, wenngleich Dorian ahnte, dass er von den eigentlichen Gefahren dieser Suche noch gar nichts wusste. Einerseits war diese Ahnungslosigkeit beruhigend; andererseits wurde ihm klar, dass sie ohne die Begleitung dieser beiden erfahrenen Abenteurer praktisch keine Chance hatten, etwas zu finden, über das sie beinahe nichts wussten. Er, der mehr durch Glück und die rätselhafte Beeinflussung seines Escutcheons bis jetzt überlebt hatte. Iria, die zwar ein mutiges Herz und den unverrückbaren Willen hatte, ihre Heimatstadt zu retten; die aber außer ihrem Dickkopf nichts vorweisen konnte, das die Soldaten des Kaisers beeindrucken würde. Und dieser Hargfried, von dem Dorian nicht sicher war, ob er in seinem schleichenden Wahnsinn nicht eine größere Gefahr war als die sie verfolgenden kaiserlichen Soldaten. Und natürlich Nadim, der zwar der Nachfahre großartiger Diebe war, dem aber stets bei der ersten Gelegenheit das Herz in die Hose rutschte. Dorians Gedanken wanderten weiter, zurück in seine Heimatstadt, zu Gaubert, Nikodemus und Ludowig, von denen sie auf ihrer Flucht getrennt worden waren. Die Angst um seine Freunde, die bisher unter einer Schicht aus unmittelbaren Gefahren und der Sorge um grundlegende Bedürfnisse verborgen gewesen war, brach jäh hervor. Er sah Gauberts Gesicht vor sich, das durch Gitterstäbe von ihm getrennt war, und auf dem das Ringen des Willens, seinem besten Freund zu helfen, und dem Instinkt, die eigene Haut zu retten, unübersehbar war. Und er sah sie davonlaufen in die Düsternis der Gewölbe, in denen sie jede Spur von ihnen verloren hatten. Diese Angst schnürte ihm die Kehle zu, und es fröstelte ihn an der kühlen Nachtluft. Jede Müdigkeit war nun fortgeweht. Gleichzeitig reifte die Absicht in ihm, auf der Stelle aufzubrechen, nach Galdoria zurückzukehren und seine Freunde zu finden. Dieser reichlich unvernünftige Gedanke wurde übermächtig in ihm, und er lief rastlos vor dem Haus auf und ab, als könnte er auf diese Weise seine Füße beruhigen. Dann fielen ihm Iria und Nadim ein, denen gegenüber er eine ähnliche Verantwortung spürte. Dazu gesellte sich die Furcht, sich den kaiserlichen Soldaten, die wahrscheinlich schon die ganze Stadt nach ihnen durchkämmten, zu stellen. Diese Angst flüsterte ihm ein, dass er allein nichts ausrichten könne, selbst mit seinem widersinnig funktionierenden Escutcheon nicht, der ihn sowieso im falschen Moment im Stich lassen würde. Dorian schämte sich, und der Wille, seinen Freunden zur Hilfe zu eilen, prallte an einer Wand ab. Einer Wand aus Angst um sich selbst, um Iria und Nadim, die er auf ihrer Suche weder mit den auf sie lauernden Soldaten des Kaisers allein lassen wollte, und schon gar nicht mit den zwielichtigen Personen, die jetzt ihre Gruppe bildeten. Und daraus, mit leeren Händen in jene Stadt zurückzukehren, in der er vom Tod seiner Freunde erfahren würde, die ihre Flucht aus dem Kaiserpalast womöglich mit dem Leben bezahlt hatten. Dazu kam noch die alles übersteigende Bangigkeit, seinem Meister Yannick unter die Augen zu treten, dessen Obdach er aus reinem Leichtsinn verlassen hatte, und das er dann wieder betreten würde müssen mit der Gewissheit, am Tod seiner Freunde und am Verschwinden von Iria und Nadim die Mitschuld zu tragen. Mehr als alle Prügel und Bestrafungen dieser Welt fürchtete er das Gesicht von Meister Yannick, der durch ihn ein weiteres Male seiner Familie beraubt worden war. „Nein… das darf nicht passieren…“, flüsterte er und sank zu Boden. Er umklammerte seine Beine und kämpfte gegen das Schluchzen in seiner Brust. All diese Sorgen schlugen wie schäumende Wogen über ihm zusammen, bis er glaubte, in ihren Fluten zu ertrinken. So saß er da, und die Zeit verging; sein Gram verebbte aber schließlich. Ein Wille reifte in ihm und schlug Wurzeln, die nichts würde ausreißen können. Von allen Möglichkeiten schien es ihm der einzige Ausweg, und die Idee wurde zur ehernen Überzeugung. „Ich werde das Maleficium finden“, murmelte er, während er aufstand und sich die Nase abwischte. „Ich werde es finden, und damit werde ich Gaubert und Nikodemus und Ludowig retten, ja, das werde ich“, sagte er sich vor. „Ich werde sie retten, mit dem Maleficium“, hallte es in seinen wieder klaren Gedanken wieder, als er das Haus betrat. Ich werde es finden, und damit Gaubert und die anderen retten, war sein letzter Gedanke, als er auf seiner Lagerstatt lag und an die Decke über ihm starrte. Dieser Gedanke wiederholte sich noch oft in seinem erschöpften Verstand, bis die Müdigkeit endgültig siegte und ihm den erlösenden Schlaf brachte. Ein bezaubernder Ausblick über die Stadt Galdoria bot sich von den hohen Fenstern aus, die den Raum mit dem Licht dieses Frühlingstages überfluteten. Doch keiner der Anwesenden schenkte der Aussicht Beachtung. Der Raum war wie alle Wohnräume des Palasts gediegen eingerichtet. Wandtäfelungen und Stuckarbeiten, mit Gold überzogene Glühdrahtlampen und edle Teppiche, alles hier war prachtvoll und erhaben. Wie auch die Uniformen der versammelten Generäle, die um eine tischförmige Landkarte im Kreis standen. Kaiser Modestus wirkte mit seiner einfachen Uniform, die jegliche Rang- oder Ehrenzeichen vermissen ließ, beinahe deplatziert in ihrer Mitte. Gildenstern stand in einiger Entfernung an der Tür mit verschränkten Händen und wartete. Sein abwesender Blick ging zu Boden, während er den Ausführungen der Generäle lauschte, die ihrem Kaiser mit beschönigenden Worten den Kriegsverlauf erklärten. Dabei sprachen sie mit ihm wie mit jemanden, der nie in einer Armee gedient und somit keine Ahnung von all diesen Begriffen hatte. Dabei hatte Modestus wie alle seine Vorfahren in jungen Jahren das Offizierspatent erworben, bevor er in die Regierungsgeschäfte eingewiesen worden war. Jan Gildenstern wartete geduldig. Alles, was die Generäle zu berichten hatten, hatte er schon in schonungsloserer Form gehört, und auch der Kaiser würde nicht so naiv sein, den Ernst der Lage nicht zu erkennen, war er sich sicher. Geduld war eine der Eigenschaften gewesen, mit denen Jan Gildenstern sich seinen Platz am kaiserlichen Hof erarbeitet hatte, und die wandte er nun wieder an. Er war überzeugt, dass sein Anliegen wichtiger war als das verharmlosende Gerede der Generäle, die mit dem Kaiser auf eine Weise sprachen, als fürchteten sie seine Amtsgewalt nur insofern, als dass er den Ablauf ‚ihres‘ Krieges stören könnte. Die Trennung zwischen der Staatsgewalt und dem Oberbefehl der Armee bestand seit Generationen in Galdoria, doch Gildenstern hätte nicht gezögert, die Macht dieser in seinen Augen aufgeblasenen Ordensträger drastisch zu beschneiden. Doch dazu ist noch Zeit, dachte er sich, und hörte mit an, wie der Kaiser sie nach Details des Frontverlaufs fragte, der auf der Karte in komplizierten Linienmustern eingezeichnet war. Die Hoffnung der Generäle, diese unnötig komplizierte Zeichnung möge ihn soweit beeindrucken, dass er es nicht mehr wagte, näheres Interesse zu äußern, wurde enttäuscht. Und so hörte Gildenstern, wie die Mitglieder des Generalstabes ihrem Herrscher ebenso ausweichende wie auch gefällige Auskünfte erteilten. Jan Gildenstern knirschte mit den Zähnen, was man seinem nach außen hin ruhigem Gesicht aber nicht ansah; seine Fassade, über die Jahre hin perfektioniert, ließ nichts von seinem Ärger durch. „Nun gut, meine Herren. Den nächsten Bericht erwarte ich mit Ende der Woche. Sollte es überraschende Änderungen geben, so erwarte ich, unverzüglich davon unterrichtet zu werden“, ordnete der Kaiser an. Der Unwillen der Generäle, ihm eine nähere Auskunft, als sie es für nötig erachteten, zu erteilen, war wie bisher offensichtlich. Seine gefasste Miene sagte aber deutlich, dass er sich damit zufrieden gab. Einer nach dem anderen verließen sie das Konferenzzimmer und gingen an einem zu Boden blickenden Gildenstern vorbei. Dieser deutete jedem von ihnen eine Verneigung an, die über seine Verachtung für sie kaum hinwegtäuschte. Sein Blick war immer noch zu Boden gerichtet, doch die von leisem Argwohn erfüllten Gesichter der Generäle entgingen ihm nicht. Endlich hatte der Letzte den Raum verlassen und schloss die Tür leise hinter sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)