Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 30: ------------ Die in hellen Blautönen gestrichenen Waggons ratterten an ihnen vorbei, und schließlich kam der Zug zum Stehen. Der Zugvorsteher, ein älterer Mann in einer dunklen Uniform des kaiserlichen Verwaltungsapparates, stieg die Metallstufen herab und sah sich seufzend um. Einerseits war er erleichtert, dass der größte Teil der Flüchtlinge den Zug schon kurz hinter der Grenze verlassen hatte und dass nur noch jene Flüchtlinge, die wohlhabend genug waren, um die Grenzkontrollen zu bestechen, den weiteren Weg ins Landesinnere antreten konnten. Andererseits war es ihm immer noch zuwider. Den Leuten, die von jenseits der Grenze kamen, aus jenen Gebieten, in welchen bereits gekämpft wurde, haftete eine unangenehme Ausstrahlung an, die seine Laune verdarb. Wie gehetzte Tiere saßen sie in den endlich nicht mehr so eng befüllten Waggons und klammerten sich an ihre Besitztümer, die sie hatten retten können. Horatius Puck war seit vielen Jahren Zugvorsteher. Er war es schon vor dem großen Krieg gewesen, als das Schienennetz noch bedeutend kleiner war. Doch er konnte sich an die Gesichter der Flüchtenden erinnern, die damals schon eine säuerliche Ausstrahlung der Orientierungslosigkeit an sich gehabt hatten. Horatius Puck mochte keine Orientierungslosigkeit. Der Zug, dem er vorstand, folgte seinen Schienen, und über den Weg gab es nie Zweifel. Sicher, manchmal hatte er Mitleid mit den Menschen, die ihre Heimat und einen großen Teil ihres Besitzes verloren hatten. Aber mussten sie unbedingt seinen Zug nehmen? Er machte ihnen ja keinen Vorwurf, dass sie vor diesem seltsamen Krieg flohen, doch er erinnerte sich an die Zeit vorher, als nur anständige, ihres Zieles bewusste Leute mit seinem Zug fuhren, und nicht diese… diese Leute aus Mosarria, wie er sie für sich selbst nannte. Sollen sie doch sonstwie aus ihrem Land fliehen, das diesen Krieg begonnen hat, dachte er sich, als er den staubigen Bahnsteig dieses gottverlassenen Kaffs betrat. Seufzend blickte er auf seine Taschenuhr, um ja keine Sekunde zu spät das Signal zum Weiterfahren aus diesem Dorf zu geben, in dem fast nie jemand einstieg. Er verstand selbst nicht, warum dieses Loch namens Brimora eine Haltestelle bekommen hatte. Wahrscheinlich, um den Fortschritt in dieses Bauernkaff zu bringen, dachte er verächtlich, aber das ist bei diesen Hinterwäldlern ja doch vergebens. Er wollte schon nach seiner Pfeife langen, als sich ein Mann vor ihm aufbaute. Sein Blick wanderte an ihm hoch. Der Mann trug einen rötlichen Umhang, hatte ein Schwert an der Seite hängen sowie eine Brille auf der Nase, hinter der er ein erblindetes Auge erkannte. „Der Herr wünschen eine Fahrkarte zu erwerben?“ fragte Horatius Puck pflichtbewusst und hoffte insgeheim, die Antwort möge ablehnend sein. Es waren bereits genügend unangenehme Leute in seinem Zug, und dieser hier würde die Situation kaum verbessern. „Nein“, war seine knappe Antwort. Horatius Puck, der Zugvorsteher, atmete auf. „Ich möchte nicht eine, ich möchte sechs Karten.“ Die Erleichterung blieb ihm nun in der Kehle stecken. „Se-sechs Karten, der Herr?“ fragte Horatius Puck unsicher. Der Mann mit der Brille und dem blinden Auge nickte langsam. „Ja. Für mich und meine Begleiter.“ Es kamen weitere Personen zum Vorschein, die Horatius Puck zuerst gar nicht beachtet hatte. Zwei Burschen und ein Mädchen, eine etwas ältere Frau und ein junger Mann in einem Ritterharnisch und einem ziemlich wirren Ausdruck im Gesicht. „Se-sechs Personen, das- das macht dann… 240 Heller, der Herr. Aber- “ „Was aber?“ fragte Sarik, der das Geld aus einer Tasche zählte und dem verdutzten Zugvorsteher in die Hand drückte. „Sie- Sie tragen Waffen bei sich, und das ist nur mit Ausnahmegenehmigung erlaubt…“ „Das hier ist meine Ausnahmegenehmigung“, erwiderte Sarik und steckte dem Zugvorsteher weitere Geldscheine in die Brusttasche seiner Uniform. Dann klopfte er ihm auf die Schulter und lächelte ihn kalt an, bevor er und seine sonderbaren Begleiter den Waggon betraten. Horatius Puck wollte etwas erwidern, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Als alle neuen Fahrgäste an Bord waren, blickte Horatius Puck sich verstohlen um, ob ihn jemand beobachtete. Dann tastete er nach den Geldscheinen in seiner Brusttasche und zählte sie mit zusammengekniffenen Augen. Schließlich steckte er sie eilig weg und gab das Pfeifsignal zum Weiterfahren. Nun ja, dachte er, als er auf den losfahrenden Waggon aufsprang, viel schlimmer kann es ohnehin nicht werden in meinem Zug. Bei solch… ‚umgänglichen‘ Fahrgästen kann ich wohl ein Auge zudrücken. Nadim Wenzelstein wandte sich nach Brimora um, wobei ihm die Vermutung kam, dass er diesen Ort noch vermissen würde. Kaum, dass er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, war er auch schon mit seinen Begleitern im Zug. Ein gellendes Pfeifen erklang, und die Waggons setzten sich ruckartig in Bewegung. In einer Kolonne schoben sie sich durch die Waggons, bis sie zu einem freien Abteil kamen. Dorian, Iria und Sarik nahmen darin Platz. Brynja ging langsamen Schrittes weiter, ohne ein konkretes Ziel erkennen zu lassen. Hargfried blieb stehen, starrte in das Abteil, als erwarte ihn ein gähnender Abgrund dort, und ging dann eilig weiter. Nadim sah ihm hinterher und war erleichtert, endlich nicht mehr seine Gegenwart erfahren zu müssen. Dann warf er ebenfalls einen Blick in das Abteil. In dem großen Fenster zog die Landschaft in einem sich allmählich erhöhenden Tempo vorbei. Die endlose, flache Graslandschaft versprach nicht gerade eine abwechslungsreiche Aussicht. Iria saß da, die Hände auf ihrem Schoss verschränkt, und wirkte gedanklich abwesend. Sarik blinzelte zeitweise hinter seiner Brille; seine Hände ließen aber keinen Moment die Waffe los, die er jetzt auf dem Schoss vor sich liegen hatte. Dorian kniete auf dem Sitz und presste sich die Nase am Fenster platt. Auf die Gesellschaft dieses vorwitzigen Burschen oder dieses unheimlichen Mannes konnte Nadim gern verzichten, und Iria wirkte im Moment nicht wie jemand, der auf eine Unterhaltung aus war. So machte er sich auf, den Zug zu erkunden. Nadim Wenzelstein schlenderte, die Hände in den Taschen und ein leises Lied auf den Lippen, durch die Waggons und betrachtete die Fahrgäste. Die Mehrzahl von ihnen trug bessere Kleidung, die von nicht geringem Wohlstand kündete. Im Gegensatz dazu standen ihre Gesichter, die allesamt seltsam bedrückt wirkten und von denen kaum eines lächelte. Doch Nadim achtete nicht weiter darauf; seiner Diebesnase stieg der Geruch von Wertgegenständen in die Nase. Die Erinnerung an ihren kurzen Aufenthalt in der Stadt Galdoria kam ihm wieder, ebenso sein Versagen bei der Ausübung seines Handwerkes. Das Lied auf seinen Lippen verstummte, und er wurde traurig. So tragisch die Flucht aus Pielebott für sie war, insgeheim hatte er gehofft, in dieser neuen, wesentlich größeren Stadt zu jenen Diebesehren zu gelangen, die ihm seiner Meinung nach zustanden und die alle seine Vorfahren ausgezeichnet hatten. Diese Stadt war doch nicht das Richtige, dachte er, um mein diebisches Genie zu entfalten. Aber wo dann? fragte er sich. Seine Gedanken wanderten wieder zu den großen Dieben seiner Ahnenreihe, besonders zu Johann Wenzelstein, dem vielleicht größten Dieb aller Zeiten. Sein Blut fließt in meinen Adern, dachte er sich, es braucht nur die richtige Gelegenheit, um eine ähnliche Karriere zu beginnen. Seit Jahren träumte er davon, endlich in die Fußstapfen seiner Vorfahren zu treten, doch immer war er an Kleinigkeiten gescheitert. Manchmal glaubte er, das Schicksal hätte sich gegen ihn verschworen, wenn erneut scheinbar einfache Diebstähle fehlschlugen. Aber irgendwo muss ich doch anfangen, dachte er sich und ließ den Blick über die Fahrgäste gleiten, die alle einen seltsam gehetzten Eindruck auf ihn machten. Ihre Hände klammerten sich um die Gepäckstücke, als hätte jemand gedroht, sie ihnen wegzunehmen. Ihre Blicke fielen bald aus den Fenstern, dann wieder auf ihre unmittelbar Mitreisenden, als bestünde die Gefahr, sie könnten sich in Luft auflösen. Nadims Augen verengten sich, Entschlossenheit entstand auf seinem Gesicht. Hier ist der optimale Platz, ging ihm durch den Kopf, hier beweise ich mein Können, war er sich nun sicher. Seine Schritte verlangsamten sich, seine Hände gingen in Ausgangsposition, und sein Blick sondierte hellwach seine potentiellen Opfer. Sein Augenmerk tastete über Gepäckstücke und Taschen, über Mäntel und Jacken, deren ausgebeulte Säcke reiche Beute versprachen. Bald wurde er fündig, und zwar in einem Pärchen, das alleine in einem Abteil saß. Er, ein dicklicher, pausbäckiger Mann mit schütterem Haar, schnarchte und saß, die Hände auf seinem runden Bauch, schlafend da. Seine Frau, eine hagere Person mit zerfurchten Gesichtszügen, saß ihm gegenüber. Ihr Kopf war zur Seite gelehnt, und ihr gleichmäßiger Atem verriet Nadim, dass sie ebenfalls schlief. Mit einem hastigen Blick versicherte sich Nadim, dass der Gang leer war. Dann schob er so vorsichtig wie möglich die Abteiltür auf und schlich auf Zehenspitzen hinein. Seine Augen pendelten dabei zwischen der Frau, die sich manchmal im Schlaf bewegte, und der prall gefüllten Tasche des dicken Mannes hin und her. Nadims Zunge tastete in seinem Mundwinkel herum, als er seine Hand nach der Manteltasche seines Opfers ausstreckte. Eine Unregelmäßigkeit im Schienenstrang erschütterte den Waggon, und Nadim wäre fast auf sein Opfer, über das er sich beugte, gefallen. Er kreiste mit den Armen und hätte beinahe einen Schrei getan, bevor er sein Gleichgewicht wieder fand. Nadim verdrehte die Augen und seufzte, bevor er seine Nerven zu einem neuen Versuch zusammennahm. Wieder tasteten seine Finger in die Manteltasche des schlafenden Mannes. Schweißperlen traten dabei auf Nadims Stirn. Endlich bekam er einen Gegenstand zu fassen, der sich nach weichem Leder außen sowie nach harten Geldstücken innen anfühlte. „Ja!“ zischte Nadim, um sich darauf sofort den Mund zuzuhalten. Mit einem schnellen Blick versicherte er sich, dass die Frau ihm gegenüber noch schlief, dann begann er an der Börse zu ziehen. Langsam, ganz langsam kam sie zum Vorschein. Nadims Augen wurden immer größer und das Grinsen auf seinem Gesicht immer breiter, als er die Geldtasche zu Gesicht kam. Das Grinsen erstarb aber augenblicklich, als sich der Mann im Schlaf bewegte und seine klobige Hand genau auf Nadims legte. „Verdammt!“ fluchte Nadim tonlos. Seine Miene gefror zu einem Ausdruck des Entsetzens, und der Schweiß auf seiner Stirn fühlte sich nun kalt an. „Das darf doch nicht wahr sein“, flüsterte er und zerrte an seiner Hand. Doch der Griff des Mannes wurde fester, und sein schnaubendes Schnarchen begleitete die Bewegung. Nadim, der sich bereits als erfolgreicher Dieb gesehen hatte, spürte Panik in sich aufsteigen. Einen Moment überlegte er, um Hilfe zu rufen, bis er sich wieder bewusst wurde, dass ja er der Dieb und diese Leute die Bestohlenen war. Nadim erhöhte seine Anstrengungen, aber die Hand des unruhig schnarchenden Mannes schloss sich nur fester um die seine. Schließlich warf er alle Vorsicht über Bord und stemmte seinen Fuß gegen den voluminösen Wanst des Mannes. Nun zerrte er mit aller Kraft, und endlich löste sich seine Hand aus dem Griff des schlafenden Mannes. Nadim purzelte gegen die Abteiltür, und der dicke Mann drehte sich im Schlaf grunzend um. Mit einem nervösen Blick überzeugte Nadim sich, dass die Frau ebenfalls noch schlief, dann betrachtete er die wohlgefüllte Geldtasche in seiner Hand. Mit zitternden Händen und weichen Knie verließ er das Abteil und schob die Tür vorsichtig zu. Sein Herz raste noch immer, als er ans Ende des Waggons und in den Nächsten ging. Das Gefühl des Triumphes erfüllte ihn soweit, dass er gar nicht mehr mit den Schritten eines möglichen Verfolgers rechnete. Das Gewicht der Geldtasche in seiner Hand ließ den erhofften Reichtum bereits vor seinen Augen funkeln, und er fühlte schon die stolzen Blicke seiner Vorfahren auf sich- als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Es durchfuhr ihn wie ein Blitz; fast hätte er die Geldtasche fallen lassen. Nadim schreckte herum und atmete auf, als er das Gesicht von Iria erkannte. „Mein Gott, hast du mich erschreckt“, ächzte er und verdrehte die Augen. „Hast du etwa was gestohlen?“ fragte sie mit ernster Miene. Nadim zuckte mit den Schultern. „Klar“, erwiderte er knapp und bemühte sich, seine nur langsam abflauende Nervosität zu verbergen. „Ich bin ja schließlich Dieb, genau wie du. Und vor allem bin ich ein Wenzelstein“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu. „Du bringst das jetzt sofort- “, sagte sie, stoppte aber mitten im Satz. Iria schaute über seine Schulter hinweg in den Gang des Waggons. Eine Reihe bewaffneter Soldaten drängte sich durch den Korridor und kam genau auf sie zu. Sie alle trugen die Rüstung des Kaiserreichs. Nadim, der das Entsetzen auf Irias Gesicht richtig deutete, drehte sich um und erschrak ebenfalls. Iria zerrte ihn weg, wobei Nadim sich nur langsam aus seiner Erstarrung löste. Beide liefen den Gang hinab zur Tür des nächsten Waggons und zerrten wie verrückt an der Türschnalle. Diese rührte sich jedoch keinen Fußbreit. „Geh auf, verdammte Tür!“ zischte Nadim panisch. Iria drehte sich um. Sie sah sich nun den ernsten Gesichtern der kaiserlichen Soldaten gegenüber. „Tretet bitte zur Seite. Wir sind dienstlich unterwegs“, sagte der Erste von ihnen mit einer Stimme, die trotz ihrer Ruhe nichts an Befehlsgewalt missen ließ. Iria und Nadim drückten sich mit den Rücken an die Wand neben der Tür. Der vorderste der Soldaten öffnete die Tür, die nach außen aufschwang. Die beiden sahen mit blassen Mienen, wie die Soldaten ihren Gang durch den Waggonübergang fortsetzten. Als der Letzte die Tür passiert hatte, rutschte Nadim die Wand hinunter und blieb auf seinem Hosenboden sitzen. „Ich dachte, ich sterbe.“ Auch Iria atmete auf, und die Farbe kehrte nur langsam in ihr Gesicht zurück. „Sie haben nicht uns gesucht“, sagte sie leise und schüttelte langsam den Kopf. Dann half sie Nadim hoch, der sich wie ein nasser Sack an sie hängte. „Und jetzt bringst du die Geldbörse zurück“, sagte sie mit wieder festerer Stimme. „Wie bitte?“ fragte Nadim ungläubig. „Ist das dein Ernst? Hast du etwa unseren Beruf vergessen?“ „Nein, habe ich nicht. Aber das hier sind alles Flüchtlinge aus Mosarria, so wie wir. Sarik hat das gesagt“, fügte sie hinzu, und der leise Widerwille, Sariks Aussage anzuerkennen, klang darin mit. „Tatsächlich? Die besitzen jedenfalls wesentlich mehr, als wir hatten, als wir in dieses Land kamen“, sagte er und hielt die wohlgefüllte Börse mit beiden Händen fest. „Das spielt keine Rolle. Sie sind in derselben Lage wie wir, und solche Leute bestiehlt man nicht“, entgegnete sie und bekräftigte ihre Aussage damit. Nadim ließ den Kopf hängen und seufzte leise. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)