Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 52: ------------ Dorian, der mit ansah, wie seine verbliebenen Begleiter sich gegenseitig an die Gurgel gingen, hob die Arme. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, warf er sich dazwischen und hielt die beiden aufeinanderprallenden Kontrahenten mit bloßen Händen auf. Doch die Kraft ihrer Schritte drückten seine Arme zusammen. Dicht neben sich spürte er ihre beiden Gesichter, aus denen entfachte Wut leuchtete, vor allem bei Brynja. Mit seiner verbliebenen Kraft drückte er sie auseinander und ächzte dabei. „Hört endlich auf damit!“ schrie er fast. Im nächsten Augenblick wunderte er sich selbst über den Klang seiner Stimme, von der er sich nicht erinnern konnte, sie schon einmal so befehlend gehört zu haben. Tatsächlich taten sie beide einen Schritt zurück. „Was soll das, verdammt“, flüsterte er jetzt. Der Blick seiner traurigen Augen wechselte zwischen den beiden hin und her, und sie senkten ihre Waffen. „Wir müssen zusammenhalten, sonst sind wir verloren“, sagte er leise und blickte dabei nur mehr zu Boden. Sarik und auch Brynja steckten beide ihre Waffen weg. Sie vermieden es, sich anzusehen und betrachteten stattdessen den grauen Felsboden des Minenschachts. Betretene Stille herrschte für einige Momente, in denen nur das Mahlen des Berges im Hintergrund flüsterte. „Ich nehme das zurück“, sagte schließlich Sarik. „Es war nicht meine Absicht, Sie zu verdächtigen.“ Brynja, deren Blick unruhig umherwanderte, traf für einen Moment Sarik, bevor sie kehrt machte und weiterging. Dorian blickte ihr hinterher, dann wandte er sich Sarik zu. Dieser begegnete seinem verwirrten Blick einen Moment lang, bevor er ebenso weiterging. Schließlich blieb Dorian in dem Schacht zurück und beobachtete, wie seine beiden Begleiter mit stoischer Ruhe, als wäre nichts passiert, den Weg ins Ungewisse fortsetzten. Er folgte ihnen in geringer Entfernung, um ihre Reaktionen beobachten zu können: es kamen jedoch keine mehr, die auf eine neuerliche Eskalation hindeuteten. Darüber erleichtert, lenkte er sein Augenmerk wieder auf seine gleichmäßigen Schritte und genoss die Stille, die keine weitergehenden Gedanken von ihm verlangte. Alles um ihn herum, sein unglaubliches Erlebnis mit dem Ungeheuer, das Verschwinden von Iria, Nadim und nun auch Hargfried, traten in den Hintergrund und bescherten ihm Momente erholsamer Gedankenleere. Bis sie zu einer Gabelung kamen. „Das habe ich befürchtet“, sagte Sarik in einem gelassenen Tonfall, der nicht so ganz zu seiner Aussage passte. Brynja lief voraus, ging immer wieder in die Hocke und betrachtete den Steinboden eingehend. Dorian beobachtete sie fasziniert dabei und tat es ihr gleich, obwohl er keine Ahnung hatte, auf was er dabei achten sollte. „So ein Mist“, murmelte Brynja und erhob sich dabei. Ihr Blick wechselte zwischen den Schächten. Dorian, der neben ihr stand, folgte ihr mit seinen Augen, als hätte Brynja schon etwas entdeckt. „Dieser Boden lässt keine Spuren zurück“, hörte er Sarik sagen. Dieser blickte auf seinen Escutcheon, dabei schwenkte er langsam den Arm von einer Seite zur anderen. „Zumindest die Richtung ist aber klar.“ Brynja warf ihm einen ärgerlichen Blick zu angesichts dieser selbstredenden Bemerkung, sagte aber nichts. Dann deutete sie auf den linken Schacht der drei, die sich vor ihnen öffneten. „Ich bin für diese Richtung“, sagte sie mit einer Entschlossenheit, die angesichts der Tatsache, dass alle drei Gänge gleich gut waren, hilflos wirkte. Dann ging sie los. Sarik beging nicht den Fehler, ihr zu widersprechen und folgte ihr. Dabei kam er an Dorian vorbei und flüsterte im Vorbeigehen etwas, das sich wie Tja, Frauen anhörte. Vorsichtig tat er einen Schritt zurück, nachdem er sich gedankenlos an den Rand des Grates herangewagt hatte. Angesichts des jähen Abbruchs und des Windes, der hier im Freien an ihm zerrte, hielt er lieber Abstand. Nicht lange, nachdem sie an der Gabelung gestanden waren, hatte sie der Berg wieder ans Tageslicht gelassen, und nun fanden sie sich auf einem schmalen Felsband wieder, das über die benachbarten Gipfel führte. Sein unsicherer Blick suchte immer wieder die Flanken, die entlang des Grates in die Tiefe fielen, obgleich sie ihm Schwindel bereiteten. Brynja und Sarik waren schon ein Stück voraus. Das Licht des Tages schmerzte ihn immer noch in den Augen, doch zugleich verspürte er kein Verlangen, in die düstere Öffnung, die sie freigegeben hatte, wieder zurückzukehren. So folgte er den beiden über den schmalen Felsgrat, auf den sie gelangt waren. Es bereitete ihm Mühe, mit seinen Begleitern Schritt zu halten, die sich hier mit erstaunlicher Leichtigkeit fortbewegten. Zusätzlich brachten die Tiefblicke links und rechts ihres Weges Unsicherheit in seine Schritte. Von Zeit zu Zeit trieb der kalte Wind Nebelschwaden durch die Felswände, die unter ihnen abfielen, und verdeckten die Abgründe neben ihrem Weg. Dann aber öffnete sich wieder die Sicht, und jene Tiefblicke, die ihn von der Gondelführe aus fasziniert hatten, erfüllten seine Bewegungen mit Verzagtheit. Mehrmals musste er gegen den Drang ankämpfen, sich hinzusetzen und die Augen zu schließen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf Sarik und Brynja zu konzentrieren, die auf dem nur schlecht erkennbaren Pfad vor ihm gingen, der genau den Grat entlang führte. „Ich kann das nicht… Ich kann das nicht…“, jammerte Nadim. Seine Füße waren wie einzementiert, seine Finger krallten sich in den Fels. Er hielt die Augenlider zusammengepresst, um so dem Anblick der gähnenden Tiefe vor ihm zu entgehen. „Jetzt komm schon, es ist doch nur ein Schritt.“ Iria stand auf der anderen Seite des Spalts, und sie war im Begriff, die Geduld zu verlieren. Das schmale Sims, das sie an der abweisenden Felswand entlangführte, war an dieser Stelle durch einen etwa einen halben Schritt breiten Spalt unterbrochen. Schon vorhin war Nadim nur im Schneckentempo vorangekommen, doch dieser Spalt, den es mit einem entschlossenen Spreizschritt zu überwinden galt, schien sich zu einem unüberwindlichen Hindernis für Nadim zu entwickeln. Eine halbe Ewigkeit stand sie nun da und redete ihm gut zu. Mehrmals hatte sie versucht, ihn an der Hand zu nehmen, doch seine unkontrollierten Bewegungen hatten sie letztendlich alle beide in Gefahr gebracht. Und so versuchte sie es mit guten Worten, die aber auch nicht allzu viel bewirkten. „Komm schon, Nadim, es kann nichts passieren“, sagte sie mit erzwungener Geduld. „Du brauchst nur einen Schritt zu tun. Dann hast du es hinter dir. Und schau, danach wird der Weg einfacher, siehst du?“ fügte sie mühsam lächelnd hinzu und deutete hinter sich, wo das Sims noch schmaler zu werden drohte. Doch Nadim wagte es gar nicht, die Augen zu öffnen, und schüttelte nur den Kopf. „Das ist so verdammt hoch… Es ist so verdammt- “ Zuerst erschrak Iria, die ihn kommen gesehen hatte, dann erst Nadim, der die Augen öffnete, jetzt, wo er seine Hände spürte. Hargfried stand hinter ihm auf dem Sims und hielt ihn fest. „Keine Angst, junger Knappe. Ich helfe dir.“ Nadim starrte ihm ins Gesicht, und die Furcht vor dem Ritter mit den langen Haaren und dem verwirrt-fröhlichen Gesicht überstieg für diesen Moment sogar noch seine Angst vor dem Abgrund. Bevor er aber noch schreien konnte, hoben ihn zwei starke Hände über den Spalt. Nadim sog krampfhaft die Luft ein, die er vorhin angehalten hatte. Dann blinzelte er fassungslos Hargfried an, der lächelnd den Spalt überwand und vor ihm und Iria stand. „War doch nicht so schwer, oder?“ Kaiser Modestus der Dritte stand am Vorhang zu dem Balkon, von dem aus man den weitläufigen Platz vor dem Palast überblicken konnte. Eine große Menschenmenge hatte sich hier eingefunden, und auch wenn er sie durch den Spalt im Vorhang nicht sehen konnte, so hörte er deutlich den vielstimmigen Chor aus Rufen und Fragen, das breite Gemurmel verunsicherter Stimmen. Einer seiner Adjutanten stand draußen auf dem Balkon und verlas einen Text. Die Lautsprecher auf dem Platz trugen diese Rede aus wohlklingenden Phrasen und ausweichenden Formulierungen über die Menge hinweg, und Modestus sah förmlich, wie das einfache Volk sich unter diesen Worten duckte. Von ihm war auch die Rede, und zwar dass er nicht in der Hauptstadt weilte, sondern an der Front nach dem Rechten sehe, die „nicht wanken und nicht stürzen soll“, wie seine Sekretäre in der Ansprache so gelungen gedichtet hatten. Jene Kriegsfront, die schon so nahe am Stadtgebiet war, dass man in stillen Nächten den Lärm der Schlacht zu hören glaubte. „Keine Angst, liebes Volk, bald wird alles gut. Ich werde euch und unser Land retten, wie ich es versprochen habe“, flüsterte er hinter den Vorhängen, zwischen dessen Hälften er hindurch spionierte. Einen Moment lang empfand er ein kindliches Vergnügen dabei, auf diese Weise Zeuge seiner offiziell verkündeten Abwesenheit zu sein. Dann verdrängte er diesen übermütigen Gedanken und trat von dem Vorhang zurück. Hinter ihm, neben der Tür zu dem Raum, wartete Major Bruckstein, der das Kommando der Palastwache in Gildensterns Abwesenheit inne hatte. Der Soldat stand da, mit durchgestrecktem Kreuz, die Hände an den Beinschienen und einem Blick, der die Stuckverzierungen an der Decke zu zählen schien. „Ist alles vorbereitet, Major Bruckstein?“ fragte Modestus in einem freundlichen, beinahe schon kameradschaftlichen Ton. „J-jawohl, euer Hoheit“, antwortete Bruckstein und behielt dabei den Stuck aufmerksam im Auge. „Dann lass uns keine Zeit verlieren“, erwiderte Modestus mit fröhlichem Gesicht und ging auf die Tür zu. Vor lauter Strammstehen hätte Bruckstein um ein Haar vergessen, ihm die Tür zu öffnen. Eilig folgte er dann seinem Kaiser und schloss sie hinter sich, während der Adjutant auf dem Balkon weiterhin ein Märchen von Galdorias militärischen Erfolgen in diesem Krieg ausbreitete. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)