Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Kapitel 15: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn --------------------------------------------------- Als sie Toto erreichten, fühlte sich Jowy, als ob er jeden Moment umkippen würde. Inzwischen trug er Pilika nicht mehr, seine Arme hielten die Anstrengung einfach nicht mehr aus. Stattdessen hielt er ihre kleine, rechte Hand mit seiner linken umklammert und hoffte, dass sie bald stehen bleiben und rasten konnten. Das Dorf lag noch immer in Trümmern, aber wenigstens die Leichname der getöteten Dorfbewohner waren auf dem Dorfplatz begraben worden. Lediglich kleine Hügel deuteten nur darauf hin, dass hier ein Massaker statt gefunden hatte… Plötzlich ließ Pilika Jowys Hand los und lief davon. „Pilika, wo willst du hin?“, fragte Nanami. „Es ist zu gefährlich, allein zu gehen! Pilika!“, rief Jowy ihr hinterher, doch die Kleine blieb nicht stehen. „Wir müssen ihr folgen!“ Riou nickte und Hanna seufzte ergeben, dann eilten sie hinter Pilika her. Erst am anderen Ende der zerstörten Siedlung holten sie sie ein. Pilika stand vor einem kleinen, zerstörten Häuschen, das vor einem Höhleneingang gebaut worden war. „Da bist du ja, Pilika…“ Jowy trat zu ihr und ging vor ihr in die Knie. „Du darfst nicht einfach so weglaufen, es ist gefährlich“, erklärte er ihr müde und das Mädchen sah ihn an, ehe sie fordernd auf den Höhleneingang zeigte. Er runzelte die Stirn. „Was ist denn…?“ Und dann ergriff Pilika ihn und Riou an den Händen und zog sie in die kleine Höhle hinein. „Was ist das?“, fragte Riou verwirrt und sah sich im Inneren um. Jowy tat es ihm gleich. Es war nur ein kleiner Hohlraum im Fels und vor ihnen an der Wand stand eine Marmorplatte, in die etwas eingeritzt war. Davor befand sich ein kleiner Altar, mehr gab es hier nicht. „Marx, Pilikas Vater, war… Wächter des Schreins in diesem Dorf“, antwortete er leise. „Das muss der Ort sein, aber…“ Aber warum hatte Pilika sie hierher geschleppt? „Kommt da raus“, drang Hannas Stimme von außen an seine Ohren, „wir müssen hier weg.“ „Ja, einen Moment…“ Jowy hatte die Marmorplatte angesehen und die Schriftzeichen betrachtet, die darauf eingeritzt waren. Seine Augen folgten der Schrift und er runzelte die Stirn. Mein Freund und ich versiegeln unsere Gedanken hier, stand da, Wir bedauern zutiefst, dass wir sie nicht vereinen konnten. –Han, Genkaku. „Riou“, sagte Jowy und wies auf die Schrift, „sieh dir das an. Genkaku… Ist das… Könnte das…?“ Der Jüngere beugte sich vor, um im spärlichen Licht besser sehen zu können, und schüttelte dann langsam den Kopf. „Das kann doch nicht sein, oder…?“ Aber wahrscheinlich war es nur die Müdigkeit, die ihnen einen Streich spielte. Wie lange waren sie jetzt auf den Beinen? Jowy sah zu Pilika hinunter und fragte dann: „Wolltest du für deine Eltern beten, Pilika?“ Das Mädchen nickte und er spürte seine Mundwinkel in dem schwachen Versuch, ein Lächeln zustande zu kriegen, nach oben zucken. „Dann schnell“, bat Riou sie. „Wir können leider nicht lange hier bleiben. Okay?“ Pilika nickte wieder und faltete dann ihre Hände zum Gebet, ehe sie den Kopf neigte und die Augen schloss. Jowy stieß die angehaltene Luft aus seinen Lungen und betrachtete noch einmal die Marmorplatte. Genkaku… War es möglich? Konnte es Meister Genkaku sein, Rious und Nanamis Adoptivvater, sein Lehrmeister? Und Han… Wer war das? Meister Genkaku hatte nie viel über seine Vergangenheit gesprochen. Jowy erinnerte sich nur daran, wie der alte Einsiedler sie getröstet hatte, als eine Gruppe Kinder ihn und Riou wieder einmal geärgert hatte. Sohn eines Feiglings, hatten sie Riou genannt. Aber als Jowy sich getraut hatte zu fragen, was das bedeutete, hatte Genkaku ihn nur angelächelt und erwidert: „Ein Mann sollte nicht im Schatten seiner Vergangenheit leben.“ Bis heute hatte er nicht verstanden, was das eigentlich bedeuten sollte… Jowy realisierte plötzlich, dass er mit den Fingern abwesend über den Marmor gestrichen hatte. Eine behandschuhte Hand, die natürlich zu Riou gehörte, lag ebenfalls auf dem Stein; der Jüngere hatte sich noch weiter vorgelehnt, um die Schrift genauer zu inspizieren… Plötzlich spürte der Aristokrat ein leichtes Ziehen in der Brust. Ein Lichtblitz blendete ihn… und dann standen er und Riou auf einmal allein in einem engen Gang, der von zahlreichen Fackeln, die an der Wand hingen, erleuchtet wurde. Das allein war schon eigenartig genug – aber die Flammen der Fackeln waren blau. „Was…?“ Riou sah ihn erschrocken an und Jowy runzelte die Stirn, als er sich umdrehte und nur eine massive Felswand hinter sich entdeckte. Er befühlte die Steinwand, drückte dagegen, doch sie rührte sich nicht. Aber wie waren sie dann hierher gekommen? „Das muss das Innere des Schreins sein“, sagte er langsam. „Aber wie…?“ „Ich habe nicht die leiseste Ahnung…“, murmelte Riou und hob eine Hand, um die fein gearbeitete Halterung einer Fackel zu berühren. „Ihr, die ihr dem Pfad des Schicksals folgt…“ Beide zuckten zusammen, als eine Stimme ertönte. Die Jungen fuhren herum und starrten die Frau an, die wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen erschienen war. Sie war schön. Hochgewachsen und blass, das schmale Gesicht von langem, schwarzen Haar umrahmt und in fließende, weiße Gewänder und einen Überwurf mit roten und goldenen Verzierungen gekleidet, die ihr das Aussehen einer ätherischen Gestalt verliehen. Sie schien alterslos zu sein… der Ausdruck in ihren seltsam weißen Augen war der einer Greisin, die in ihrem Leben zu viel gesehen hatte, doch ihre fast weiße Haut wies keinerlei Falten auf. „Wer…?“ „Boten, die ihr die Sterne der Vorsehung anruft… Geht weiter. Um Macht zu erhalten und euer Schicksal selbst zu weben, müsst ihr sie versammeln.“ In einem bläulichen Glühen, das ihren Körper umgab, verschwand die Frau ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. „Warte!“, rief Riou verblüfft, doch der Gang lag bereits genau so ausgestorben vor ihnen, wie er gewesen war. Die Freunde tauschten einen Blick. „Sollen wir… weiter gehen?“, fragte Jowy unsicher. Riou zögerte kurz… und nickte dann. Der Aristokrat warf einen letzten Blick zurück auf die Felswand, dann setzten sie sich in Bewegung, den erleuchteten Gang hinunter. Er schwebte. Lebte er? War er tot? Er wusste es nicht. Er spürte seinen Körper nicht… Eine Stimme hallte durch seine Gedanken. Wem gehörte sie…? Macht? Suche ich nach Macht? Es war seine eigene. Und gleichzeitig nicht… Riou. Es klang nach Riou. War er hier? Hier. Wo war hier? Eine Erinnerung stieg aus den Tiefen seines Geistes nach oben und breitete sich langsam aus, fast wie ein Farbklecks in dieser weißen, ruhigen Welt. Er sah ein Dojo, das auf einer Klippe stand, umgeben von ein paar Bäumen und mit einem großen Innenhof. Er war umzäunt von einem niedrigen Lattenzaun aus dunklem Holz und vor den Stufen, die ins Haus führten, standen drei Personen. Zwei davon waren Kinder, ein Junge und ein Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Die andere Person war ein Mann, dessen ehemals blondes Haar bereits langsam ergraute. Er stand mit dem Rücken zum Gartentor und korrigierte gelegentlich die Haltung der beiden Kinder, die offensichtlich trainierten. Ein anderer Junge mit aschblondem Haar stand am Zaun, umklammerte schüchtern eines der Bretter und beobachtete die drei im Innenhof mit einem sehnsüchtigen Ausdruck in den Augen. Ja, richtig… Er erinnerte sich. Der Junge am Zaun war er. Er hatte gehört, dass der Einsiedler, der im Westen von Kyaro lebte, zwei Kriegswaisen adoptiert hatte, deshalb war er hingegangen, um sich die Kinder selbst anzusehen. Vom ersten Augenblick an hatte er gesehen, dass diese drei Menschen, die nicht blutsverwandt waren, herzlicher miteinander umgingen als seine Familie zu Hause. Er hatte sie ansprechen wollen, aber sich nicht getraut… „Wer bist du?“ Der kleine Junge im Hof war auf den Jungen am Zaun zugetreten und lächelte ihn breit an. Sein jüngeres Ich schien vor Schreck zu erstarren, dann stotterte er: „Ich… Ich bin Jowy.“ Das war ihr erstes Treffen gewesen. Es war so lange her…! Und dennoch… Seit dem Tag, an dem ich dich zum ersten Mal sah… Da war wieder die Stimme, die in seinen Gedanken erklang, ihm gehörte und doch wieder nicht. Das Bild der zwei Jungen, die sich schüchtern über den Zaun hinweg angrinsten, wich einer anderen Erinnerung. Diesmal befanden sich die Jungen auf der Straße, ganz in der Nähe der Atreides-Villa. Sie waren umringt von ein paar anderen Kindern. „Adoptiertes Weichei!“, rief eines der Kinder abfällig und stieß Rious jüngeres Ich von sich weg. „Sohn eines Feiglings! Das Dojo deines Vaters ist eine Müllhalde!“ Rious Augen füllten sich mit Tränen und er wich zurück, außer Reichweite der Jungen und Mädchen, die ihn umzingelt hatten. „Bleib bloß weg von uns, Riou!“, höhnte ein Mädchen und kicherte. „Sonst steckst du uns noch mit der Feiglingsseuche an!“ Das war ein paar Wochen nach ihrem ersten Zusammentreffen geschehen… Die Kinder hatten sie abgefangen, als Riou ihn von Zuhause abgeholt hatte. Er erinnerte sich daran, wie viel Angst er gehabt hatte… „Hört auf damit! Wenn ihr euch über Riou lustig machen wollt, müsst ihr an mir vorbei!“ Aber das hatte ihn nicht daran gehindert, sich vor seinen besten – und einzigen – Freund zu stellen, mit dem festen Vorhaben, ihn zu beschützen. Natürlich war die Aktion kläglich gescheitert… sie hatten gegen die anderen Kinder nichts ausrichten können und waren verhauen worden. „Große Klappe und nichts dahinter!“, rief ein anderes Kind. „Sohn eines Feiglings und verwöhnter Bengel!“ Die Kinder brachen in Gelächter aus. Ausgelacht hatten sie sie und noch einmal nachgetreten, während er und Riou am Boden gelegen hatten. Dann war Nanami aufgetaucht und hatte die Kinder verjagt… War das der Moment gewesen, in dem sie wirklich und wahrhaftig Freundschaft geschlossen hatten…? Er wusste es nicht. … wusste ich irgendwie, dass wir Freunde werden. Woher kamen diese Gedanken…? Eine andere Erinnerung dehnte sich in seinem Geist aus. Diesmal sah er sich selbst und Riou etwa ein Jahr später… Jowy, schon damals ein ganzes Stück größer als Riou, hatte für den Jüngeren eine Räuberleiter gemacht. Sie standen an einer Mauer, an die er sich sehr gut erinnerte. Es war die Mauer, die das Ferienhaus der Königsfamilie umgab. Er hatte ein Mädchen im Garten hinter dem riesigen, gusseisernen Tor gesehen und hatte sie Riou unbedingt zeigen wollen… „Beeil dich!“, brummte sein jüngeres Ich angestrengt, dessen Arme zitterten. „Meine Arme ermüden!“ „Nur… nur ein bisschen höher!“, bat Riou, der sich streckte und reckte, aber wohl immer noch zu klein war, um über die Mauer lugen zu können. „Kannst du sie sehen?“, fragte Jowy, während er seinen besten Freund noch etwas höher hievte. „Ist sie nicht niedlich?“ „Hey, was treibt ihr Gören da? Verschwindet!“ Ein Wachmann hatte die Jungen entdeckt und schließlich fortgejagt, quer durch die Stadt. Und das war nur eines von zahlreichen Abenteuern gewesen, die sie gemeinsam erlebt hatten. Einmal war Riou im Wald nördlich von Kyaro beim Spielen verloren gegangen und Jowy hatte sich solche Sorgen gemacht, dass er in Tränen ausgebrochen war… Ich war niemals allein, weil du bei mir warst. Und noch eine Erinnerung stieg in ihm hoch, fast wie ein Drachen im Wind. Zwangsläufig fragte er sich, warum er sich gerade jetzt an all das erinnerte. Er sollte nicht hier sein, er musste… Was musste er tun? Er wusste es nicht. Irgendetwas nagte in seinem Hinterkopf – hatte er überhaupt einen? Er wusste ja nicht einmal, ob er noch einen Körper hatte… – doch er kam einfach nicht darauf, was es war. Seine Aufmerksamkeit wandte sich dem Bild zu, dass vor seinem inneren Auge entstanden war. Die Jungen, wiederum ein oder zwei Jahre älter, knieten im halbhohen Gras hinter Rious Haus unter der Eiche, die dort stand, seit er sich erinnern konnte. Sie vergruben etwas in der Erde… „Okay!“, rief sein jüngeres Abbild, stand auf und wischte sich die dreckigen Hände an der Hose ab. „Vergiss nicht, es ist ein Geheimnis.“ Der sieben Jahre alte Riou nickte heftig und säuberte seine Hände an der viel zu großen Tunika, die er trug. Ja… er war immer klein und zierlich gewesen, sodass Genkaku Schwierigkeiten gehabt hatte, etwas Passendes zum Anziehen für seinen Adoptivsohn zu finden. „Hey, was macht ihr da?“ Eine achtjährige Nanami kam herbeigelaufen, blieb vor den Jungen stehen und stemmte die Hände in die Hüfte. „Los, sagt schon!“ Sie hatte immer diesen fordernden Ton gehabt… wahrscheinlich, weil sie als einziges Mädchen in ihrer kleinen Gruppe oft auf der Strecke blieb. Womöglich war das der Grund, warum Nanami so ein Wildfang war… „Na, weißt du…“ Vielleicht hätte Riou weitergesprochen, doch Jowy rammte ihm den Ellenbogen in die Seite. „Hey, du darfst das nicht verraten!“ Nanamis Gesichtsausdruck verdüsterte sich arg. „Was?“, fragte sie mit zusammengekniffenen Augenbrauen, ergriff ihren Bruder am Kragen und schüttelte ihn durch. „Sag’s mir!“ „Nein!“, erwiderte Jowy bestimmt und sah Nanami ernst an. „Es ist ein Geheimnis zwischen Jungen!“ Nanami schnaubte beleidigt und schubste Riou so heftig von sich weg, dass er gegen Jowy prallte. „Dann eben nicht!“ Was hatten sie eigentlich vergraben? Er wusste es nicht mehr… Aber er erinnerte sich nur zu gut daran, wie beleidigt Nanami gewesen war. Es schien, als würden diese Tage nie enden… Ja, so war es gewesen… Wiederum entstand ein neues Bild. Diesmal waren er und Riou älter, seit der letzten Erinnerung waren nahezu acht Jahre vergangen. Sie standen mit zahlreichen anderen Jungen im Hof der Kaserne von Kyaro und trugen ihre Uniformen der Jugendbrigade. Das war gar nicht lange her… „Von heute an seid ihr alle ein Teil der Einhorn-Brigade der Königlichen Armee von Highland!“, schallte Rowds Stimme über den Platz, während die Jungen nacheinander vortraten und ihre Abzeichen in Empfang nahmen, die sie sich an die Uniform pinnten. „Tragt euren Kopf stets hoch erhoben und seid stolz!“ Natürlich, ja… er war auf Drängen seines Vaters in die Jugendbrigade eingetreten und Riou hatte es ihm gleich getan. Das war kurz nach Genkakus Tod gewesen und er hatte versucht, es dem Jüngeren auszureden, weil Nanami allein zurückblieb. Aber Riou hatte sich nicht überzeugen lassen. Sie hatten gemeinsam ihre Ausbildung absolviert und waren eingezogen worden… Und an diesem Tag hatten die unbeschwerten Tage ihrer Kindheit ein Ende gefunden. Wir gingen den gleichen Weg, weil… Auch die nächste Erinnerung war noch gar nicht so lange her. Nur etwa anderthalb Monate waren vergangen, seit er und Riou auf der Klippe im Tenzaan-Gebirge gewesen waren… „Okay. Hör zu, wenn wir es schaffen… aber irgendwie getrennt werden…“ Er sah sich selbst Riou einen flehenden Blick zuwerfen, das Messer, mit dem er die Kerbe in den Fels geschlagen hatte, noch fest in seiner Hand. „Dann lass uns hierher zurückkehren. Dann können wir einander wiederfinden. Versprich es mir, ja?“ Ihm war schlecht vor Angst gewesen… Hinter ihnen Rowd und die Soldaten, vor ihnen der tosende Wasserfall, der in bodenlose Schwärze stürzte. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie überlebt hatten… Aber hatten sie das wirklich? Vielleicht war er auch längst tot und träumte alles nur… Er wusste es nicht. „Ich verspreche es“, sagte Riou, lächelte schwach und durchkreuzte die von Jowy in den Fels geschlagene Kerbe mit einer zweiten. Sie sahen sich an, dann nahm Jowy das Messer wieder an sich und ließ es in seinem Stiefel verschwinden. „Danke.“ Es war nicht bloß eine Floskel gewesen, als er das gesagt hatte. Tiefe, ehrliche Dankbarkeit hatte ihn durchflutet, als Riou es geschafft hatte, ihn mit ein paar Worten zu beruhigen. Natürlich hatte er trotzdem Angst gehabt, aber es war keine blinde Panik mehr gewesen… „Also los.“ Sie ergriffen einander bei der Hand und sprangen. Ja, so hatte alles angefangen… Alles. Alles was? Was ging überhaupt vor? Wo war er? Hier. Wo war hier…? Seine Gedanken schienen im Kreis zu laufen. … wir Leben und Tod gemeinsam wählten. Das hatten sie getan… „Riou! Bist du hier? Riou!“ Er hatte versucht, Riou aus dem Fort zu befreien. Damals, als sie noch gedacht hatten, dass alles in Ordnung sein würde, wenn sie nur nach Hause kommen und die Wahrheit erzählen würden… Er sah sich selbst, wie er im Keller des Forts stand und in den Zellen spähte, um seinen Freund aus den Klauen der vermeintlichen Feinde zu reißen. Aber letztendlich waren nicht die Söldner die Bösen gewesen, sondern sein eigenes Vaterland… „Jowy?!“ Riou musste aus allen Wolken gefallen sein. Viktor und Flik hatten gesagt, dass sie Jowy im Fluss verloren hatten… als er plötzlich wieder aufgetaucht war, war Riou bestimmt erstaunt gewesen sein. Mehr als das. Entsetzt, geschockt… Erleichtert? So wie er erleichtert gewesen war, Riou zu sehen? „Ich bin hier!“ Aber Riou hatte geantwortet, so wie er es immer machte, wenn Jowy mit ihm sprach. Selbst Nanami ignorierte ihn manchmal, wenn er etwas vor sich hinmurmelte, aber nicht Riou. Er schien immer ein offenes Ohr für alles zu haben, was Jowy zu sagen hatte. Ich habe an dich geglaubt… immer… Etwas Anderes war ihm gar nicht übrig geblieben. Riou und Nanami waren alles, was er hatte… Die Erinnerung, die sich jetzt vor ihm ausbreitete, war mit Abstand die schmerzhafteste. Er wollte sie nicht sehen, sträubte sich mit aller Macht dagegen, aber konnte doch nichts tun, um sie nicht wieder zu durchleben, genau wie all die anderen zuvor. Er, Riou und Nanami blickten zurück auf die Stadt Kyaro, von der nicht mehr in der Dunkelheit zu erkennen war, als kleine Lichter in der Ferne. „Meint ihr… Meint ihr, wir werden jemals zurückkommen…?“ Insgeheim hatte er sich genau so verloren gefühlt wie Nanami. Sie hatten alle drei den Boden unter den Füßen verloren und befanden sich im freien Fall, einer unsicheren Zukunft entgegen. In Kyaro war alles so einfach gewesen – selbst nachdem Meister Genkaku gestorben war, waren sie sich einig gewesen, das Dojo wieder zu eröffnen, das war ihr Plan für das weitere Leben gewesen. Aber nun, da ihr Vaterland sich gegen sie gewandt hatte… „Eines Tages kommen wir bestimmt wieder zurück.“ Und dann war da Riou gewesen, mit seiner ruhigen Selbstsicherheit, die es immer wieder schaffte, ihn zu beruhigen. Und eigentlich… ja, eigentlich war es eine Lüge gewesen, als er beschlossen hatte, dass er nicht zurück nach Hause wollte. Bei den Runen, er wollte eigentlich nichts Anderes. Und er hoffte, dass Riou Recht behalten würde… mehr als jemals zuvor. … weil wir so viel teilten. Als ihm bewusst wurde, dass er festen Boden unter den Füßen hatte, zuckte Jowy zusammen. Was war passiert? Sein Kopf fühlte sich an, als wenn er jeden Moment explodieren würde… und übel war ihm auch, als wenn jemand seine Seele, seinen Geist, sein innerstes Ich gewaltsam nach etwas durchsucht hätte und ihn dabei nach links gekehrt zurückgelassen hätte. Müde wischte Jowy sich über die Augen, blinzelte dann und bemerkte Riou neben sich, der sich an die Wand lehnte und das Gesicht in den Händen vergraben hatte. „Alles in Ordnung?“, fragte Jowy besorgt und der Jüngere hob den Blick. „Ich… denke schon.“ „War das eben… eine Halluzination? Hast du es auch gesehen?“ Riou nickte langsam und rieb sich die Schläfen. Jowy massierte seine Nasenwurzel und sah sich dann im Gang um. Hatten sie dich überhaupt vom Fleck gerührt, seit sie losgegangen waren? Er wandte den Kopf und entdeckte die Felswand, vor der sie sich wiedergefunden hatten, in nicht allzu weiter Entfernung. „Ich frage mich, was das war“, murmelte Riou nachdenklich, stieß sich von der Wand ab und sah den Gang hinunter. „Ich auch.“ In stummem Einverständnis gingen sie weiter, etwas Anderes konnten sie immer nicht tun. Ziemlich bald erreichten die Jungen einen runden Raum, aus dem zwei weitere Gänge herausführten. Auch er wurde von den Fackeln mit dem geheimnisvollen, blauen Feuer erleuchtet. Aber bevor sie sich entscheiden konnten, welchen Gang sie gehen würden, erhellte ein blaues Glühen eine menschliche Silhouette und die weißgekleidete Frau, die ihnen – wann eigentlich? – begegnet war, erschien plötzlich direkt vor ihnen. „Ihr, die ihr dem Schicksal folgt…“, sagte die Frau und bedachte die Jungen mit einem Blick aus ihren weißen Augen, die Jowy irgendwie unheimlich waren. Vielleicht, weil ihr Blick direkt zwischen ihnen stehen blieb, als würde sie die beiden gar nicht sehen. „Wir haben in eure Herzen geblickt und eure Persönlichkeiten erkannt.“ „Wer bist du?“, verlangte Jowy zu wissen. Diese Frau war ihm nicht geheuer… tauchte auf und ging, wie es ihr beliebte. „Ich bin die Erbin der Tor-Rune“, antwortete die Frau und wandte den Kopf, um Jowy anzusehen. Oder eben nicht – denn ihm wurde schlagartig klar, dass sie sie wirklich nicht sehen konnte. Sie war blind. „Die Hüterin des Tores zwischen den Welten… Sie, die die Waagschale der Vorsehung beobachtet. Mein Name ist Leknaat.“ Riou und Jowy sahen einander an und blickten dann zurück zu der blinden Frau, die vor ihnen stand und sie zu beobachten schien. Wie sie das schaffte, war ihm schleierhaft… „Wir sind…“, begann er unsicher, doch Leknaat unterbrach ihn sanft: „Mir ist bekannt, wer ihr seid.“ Sie lächelte. „Denn hier beginnt die Zusammenkunft der Sterne der Vorsehung.“ Sterne der Vorsehung? „Ihr müsst verwirrt sein, verzeiht“, fuhr sie fort, neigte leicht ihr Haupt. „Aber das Schicksal ist flatterhaft und die Zukunft undurchsichtig… Eine der 27 Wahren Runen hat euch erkannt. Der Pfad hat sich nun für euch geöffnet.“ Von all den Fragen, die Jowy bei diesen Worten herumgingen, äußerte er jedoch nur eine. Er fühlte sich maßlos überfordert. „Uns erkannt…? War das diese Vision?“ War es tatsächlich eine der 27 Wahren Runen gewesen, die seinen Geist umgekrempelt hatte, eine der Runen, welche das Schicksal dieser Welt schrieben? „Ja“, bestätigte Leknaat und schenkte ihnen wiederum ein Lächeln, doch diesmal hatte es etwas Trauriges. „Die Rune des Anfangs, die an diesem Ort ruht, hat euch erkannt und wird euer Vorsehung vollenden. Diese Rune wird euch die Macht verleihen, das Schicksal selbst zu ändern.“ Jowy fuhr zusammen, als er diese Worte hörte. Das Schicksal ändern? Würde er… die Macht haben, Dinge zu verändern, die er bisher nicht hatte ändern können? „Aber ich muss euch warnen“, drang Leknaats sanfte Stimme durch das plötzlich entstandene Chaos in seinem Kopf, „denn Macht garantiert keinen Frieden. Die Stürme des Schicksals, die das Annehmen dieser Rune mit sich bringt, werden viel Unglück und Not schaffen und nur wenige sind bisher in der Lage gewesen, sie zu beruhigen, nachdem sie einmal anfingen zu toben.“ Ihr blinder Blick fixierte die Jungen durchdringend. Schweigen breitete sich aus und Jowy spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Erst jetzt bemerkte er die seltsame Aura, die von der Hüterin der Tor-Rune ausging. Sie schien nach ihm zu greifen, ihn abzutasten… Wieder stieg Übelkeit in ihm hoch. Für seinen Geschmack war sein Innerstes genug durchsucht worden. „Denkt darüber nach und entscheidet dann“, sagte Leknaat und wirkte plötzlich uralt. „Wenn ihr diese Macht nicht haben wollt, kehrt jetzt in die Außenwelt zurück.“ Macht. Er… brauchte Macht, nicht wahr? Seine Gedanken wanderten zu all den Menschen, die er nicht hatte beschützen können, weil er zu schwach gewesen war. So konnte es doch nicht weitergehen…! „Was wirst du tun, Riou?“, hörte er seine eigene, unsichere Stimme. Nachdenklich kaute der Jüngere auf seiner Lippe herum, dann murmelte er leise: „Ich… glaube nicht, dass ich diese Macht möchte. Und du, Jowy?“ Einen Moment lang starrte er noch in die braunen Augen, dann seufzte er leise. „Als… Pilika ihre Stimme verloren hat“, flüsterte er, weil seine Stimme plötzlich ihren Dienst verweigerte, „da… da habe ich begriffen, dass ich sie nicht beschützen kann. Ich habe es mir selbst und ihren Eltern versprochen, aber…“ Er brach ab und holte tief Luft. „Es gibt einige Menschen in meinem Leben, die ich beschützen möchte. Die ich beschützen muss. Du, Nanami, Pilika, Mutter…“ Jowy räusperte sich leise, um den Kloß in seinem Hals zu vertreiben und sah Riou direkt an. „Deswegen… Riou, ich brauche diese Macht.“ Eine Ewigkeit schien zu vergehen, ehe sein bester Freund langsam nickte und verständnisvoll lächelte. „Dann nehmen wir die Macht“, sagte Riou und Jowy spürte, wie ihm ein ganzer Berg vom Herzen fiel. „Danke… Es tut mir leid.“ „Schon gut.“ Riou drehte sich zu Leknaat um, die das Gespräch der Jungen stumm verfolgt hatte, und sagte: „Wir haben uns entschieden. Wir wollen diese Macht… und die Rune.“ Vielleicht bildete Jowy es sich ein, aber die Erbin der Tor-Rune wirkte nicht allzu glücklich über diese Entscheidung, sondern eher traurig, als ob sie mit ihren nichts sehenden Augen in eine Zukunft blicken konnte, die wegen diesem Entschluss nicht allzu rosig aussah. „Dann geht weiter, Günstlinge der Vorsehung“, nickte Leknaat und zu den beiden Gängen, die aus dem Raum, in dem sie sich befanden, herausführten. Der Aristokrat dachte kurz nach. Wenn es zwei Gänge gab, musste er zwangsläufig einen von ihnen wählen, nicht wahr? Plötzlich wurde ihm klar, dass aus beiden Richtungen eine eigenartige Kraft ausging. Während von links eine stille, ruhige Präsenz kam, die friedlich darauf zu warten schien, dass jemand nach ihr griff, schien von rechts etwas Großes, Mächtiges die Hand nach ihm auszustrecken. Er konnte es nicht benennen, aber er spürte die Berührung der seltsamen Kraft und wusste plötzlich, dass sie nach ihm rief. „Ich nehme den rechten Gang“, hörte er sich selbst sagen. Aus den Augenwinkeln sah er Riou nicken, dann setzten sie sich wortlos in Bewegung. Je weiter Jowy in den Gang vordrang, desto stärker wurde das eigenartige Gefühl, dass ihn etwas rief, und als er schließlich eine Sackgasse erreichte, wurde die Empfindung so stark, dass sie ihn zu überwältigen drohte. An der Felswand vor ihm prangte das Mal einer Rune. Von dem schwertartigen Umriss ging eine solche Kraft aus, dass er nach Luft schnappen musste – er fühlte sich, als wenn ihn die Präsenz der Rune erdrücken würde. Aber das war es. Diese Rune würde ihm Macht geben. Die Macht, die er brauchte, um alle die, die ihm am Herzen legen, zu beschützen. „Riou!“, rief er und warf einen Blick zurück über die Schulter. „Bist du bereit?“ „Ja!“, ertönte die entschlossene Antwort und Jowy atmete tief durch. Dann hob er instinktiv seine rechte Hand – und öffnete seinen Geist der Präsenz der Rune. Bilder flackerten vor seinem inneren Auge auf, viel zu schnell, um etwas zu erkennen, Erinnerungen, die nicht ihm gehörten, prasselten auf ihn ein, nahmen ihm die Luft zum Atmen, blendeten, lähmten ihn… Und dann war alles genau so plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte. Schwer atmend fand sich Jowy in dem Gang wieder, doch das Mal der Rune an der Wand war verschwunden. Stattdessen fühlte er die Macht, die ihn angezogen hatte, in seinem Inneren pulsieren und ihn bis zu den Fingerspitzen ausfüllen. Langsam ließ er die Hand sinken und starrte die dunkle Silhouette eines flammenden Schwerts an, das auf seinem Handrücken erschienen war, fast wie ein Brandmal. Seine Fingerspitzen kribbelten und er merkte, dass er zitterte. Zögernd wandte Jowy sich um und ging zurück zu dem Raum, in dem Leknaat auf sie wartete. Er wollte sie fragen, was für eine Rune das war, die er erhalten hatte – denn die Rune des Anfangs konnte es nicht sein. Nicht so. Nicht, wenn es zwei Träger gab… Oder? Doch bevor er die Trägerin der Tor-Rune fragen konnte, kam Riou, der ein wenig blass wirkte, aus dem linken Gang. „Ihr habt nun die Macht erhalten“, sprach Leknaat, „die Macht der Rune des Anfangs. Riou“, sie wandte den Kopf in die Richtung des Jungen, „du trägst nun die Rune des Hellen Schilds. Und du, Jowy“, nun wanderten ihre Augen in seine Richtung und als er ihrem Blick begegnete, wurde ihm erneut mulmig, „besitzt die Rune des Schwarzen Schwerts. Diese Runen sind die zwei Aspekte der Rune des Anfangs, ihre zwei Seiten…“ Jowy senkte den Blick auf die Rune auf seiner Hand. Die Rune des Schwarzen Schwerts… Würde sie ausreichen? „Geht nun“, fuhr Leknaat fort und wirkte erneut seltsam traurig, „geht und schreibt euer eigenes Schicksal nieder.“ Jemand berührte ihn am Arm und Jowy öffnete erschrocken die Augen. Einen Moment lang wusste er nicht, was passiert war und wo er sich befand, dann aber sah er hinunter zu Pilika, die seinen Blick fragend erwiderte. Verwirrt nahm er seine Umgebung in Augenschein und stellte fest, dass er sich noch immer in der kleinen Höhle befand, in die Pilika ihn und Riou geführt hatte, in genau der gleichen Haltung, die linke Hand auf der Marmorplatte. Ein Traum? Hatte sein völlig übermüdeter Geist ihm eine Streich gespielt? „Riou“, sagte er und sah zur Seite, zu seinem besten Freund, der erstaunt den Kopf hob, „zeig mir deine rechte Hand!“ Kurz zögerte der Jüngere noch, dann zog er den Handschuh ab und streckte dem Blonden seinen Handrücken hin, auf dem gut sichtbar das dunkle Mal der Rune des Hellen Schildes prangte. Erst dann senkte Jowy den Blick auf seine eigene Rechte, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht alles eingebildet hatte. Aber die Rune des Schwarzen Schwerts war noch immer da… und jetzt spürte er auch wieder ihre Anwesenheit in seinem Inneren, die mächtige, wärmende Präsenz, die ihn ausfüllte. Wie hatte er sie nicht bemerken können? „Es war also doch kein Traum…“ „Seid ihr in Ordnung?“ Nanami tauchte in der schmalen Öffnung des Höhleneingangs auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Führt ihr etwa Selbstgespräche hier drin?“ „Nein“, beruhigte Riou sie schnell und lächelte ihr zu, „alles okay.“ „Lasst uns gehen!“, rief Hanna von draußen. Sie klang angespannt… wer konnte es ihr verübeln? „Die Highlander könnten uns bereits im Nacken sitzen.“ Ja… Ja, das taten sie wahrscheinlich. Widerwillig wandte sich Jowy von der Marmorplatte und den hineingeritzten Worten ab und folgte Nanami, Riou und Pilika hinaus. Jetzt hatte er also Macht. Aber würde er sie auch richtig einsetzen können? Jowy blickte in den Morgenhimmel hinauf, doch der gab ihm keine Antwort. Natürlich nicht… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)