Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Kapitel 19: Bemühungen ---------------------- Das Gefühl, als habe man ihm einen Vorschlaghammer in den Magen gerammt, hatte ihn das letzte Mal ereilt, als er hatte mit ansehen müssen, wie das Tor des Söldnerforts in die Luft flog. Es war eine Empfindung, die irgendwo zwischen Verzweiflung und purer Hilflosigkeit rangierte und damit zu den schlimmsten gehörte, die Jowy kannte. Er konnte nur dastehen und die bewegungslose Hilda anstarren, die tödlich blass im Gesicht war. Eine Strähne hatte sich aus ihrem Haarknoten gelöst und fiel ihr ins Gesicht, was ihr ein unglaublich schwaches und zerbrechliches Äußeres verlieh, so ganz anders als die fröhliche, herzensgute Frau, als die er sie kennen gelernt hatte… „Lasst mich durch!“ Er wurde unsanft von Nanami zur Seite gestoßen, die zielstrebig auf Hilda und Alex zueilte und jeden, der ihr im Weg stand, wegstieß. Sie ließ sich neben Hilda auf die Knie sinken, fühlte ihren Puls und berührte dann ihre Stirn, zog ihre Finger aber fast sofort wieder zurück. „Im Namen aller Runen…“, hörte er sie murmeln, dann rief sie laut: „Bereitet ein Bett vor, sofort! Alex“, sie sah den panischen Wirt an, „bring Hilda irgendwohin, wo sie gemütlich liegen kann! Riou“, sie fuhr herum und fixierte ihren Bruder, „hol etwas Wasser, los! Und Jowy, geh und such einen Arzt! Beeil dich!“ Einen Moment lang starrte er sie nur überrumpelt an. „Ich… äh?“, entwich es ihm hilflos, dann riss er sich zusammen. „Verstanden!“ Er drehte sich auf dem Absatz um und lief hinaus, es den anderen überlassend, sich um Hilda zu kümmern. Wenn er sich beeilte, konnten sie Hilda retten. Sie war nicht tot, sie lebte noch, er war noch nicht zu spät. Was auch immer mit ihr passiert war – sie konnten noch etwas tun. Wohin genau Jowy rannte, wusste er nicht. Er erinnerte sich vage an ein paar kleinere Dörfer rund um Muse, die sie auf ihrem Weg zur Hauptstadt durchquert hatten, und hoffte bloß, dass er in die richtige Richtung lief. Bei dem Gedanken daran, was passieren würde, wenn Hilda seinetwegen starb, wurde ihm ganz übel. Als der Aristokrat die kleine Spelunke am Wegesrand betrat, die sich auf halbem Weg nach Muse befand, schlug ihm ein Geruchsgemisch aus Alkohol und Schweiß entgegen. Unter normalen Umständen hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre nie wieder zurückgekehrt, aber das hier waren keine normalen Umstände – wenn er sich nicht beeilte, würde Hilda womöglich sterben! In der Kneipe befand sich nur eine Hand voll Menschen – und mit Ausnahme des Wirts, der missmutig hinter dem Tresen stand und ein paar Gläser spülte, waren alle hoffnungslos betrunken. Jowy atmete schwer; er war fast den gesamten Weg vom Weißen Hirsch bis hierher gerannt, verzweifelt nach einer kleinen Siedlung oder einem anderen Gasthaus suchend, in dem sich womöglich ein Arzt aufhalten konnte. Als er an den Tresen trat, fixierte der dünne, schmierige Wirt ihn und rief: „Kein Ausschank an Kinder!“ „Ich suche einen Arzt. Es ist wirklich dringend!“, erwiderte Jowy, doch das schien den Mann nicht weiter zu interessieren. „Hier gibt es keine Ärzte, Junge“, brummte der Wirt und stellte das Glas, das er geputzt hatte, klirrend zu den anderen. „Verschwinde!“ „Aber-“, begann er verzweifelt, wurde jedoch von einem der Betrunkenen, die am Tresen saßen, dadurch unterbrochen, dass der Mann, der eine dicke Plattenrüstung trug, seinen riesigen Humpen Bier mit Wucht auf dem Tisch abstellte und blaffte: „Verschwinde, Bengel, und hör auf, mir auf die Nerven zu gehen!“ Erschrocken fuhr Jowy zu dem Mann herum und starrte ihn an, doch der Krieger schien mit dieser Meinung nicht allein zu sein – ein anderer Gast rief: „Genau, oder ich werde dir Beine machen, du halbe Portion!“ Der Rest der Meute brach in röhrendes Gelächter aus. Hilflos ballte der Aristokrat die Fäuste und sah sich in der Kneipe um, dann nickte er langsam und beeilte sich, den Schankraum zu verlassen, bevor die Männer ihre Drohung noch wahr machten. Als die Tür hinter ihm wieder ins Schloss fiel, hörte er noch jemanden murren: „Verdammte Drecksbälger, vermiesen einem den ganzen Tag!“ Jowy biss sich auf die Lippe und lief weiter, die Straße nach Muse entlang. Er hatte nicht viel Zeit… Die Straße führte ihn zu einem kleinen Dorf, das aus kaum mehr als ein paar Häusern bestand und diese Bezeichnung wohl gar nicht verdiente. Er eilte zum erstbesten Gebäude, klopfte an die Tür und hoffte inständig, dass die Bewohner hier freundlicher waren als die Besucher in der Kneipe. Ein kleines Mädchen öffnete ihm die Tür und im ersten Moment glaubte er, Pilika gegenüber zu stehen, bis ihm auffiel dass das Kind nichts mit ihr gemein hatte. „Sind deine Eltern da?“, fragte er völlig außer Atem und das Mädchen kniff die Augen zusammen. „Mama und Papa haben mir gesagt, dass ich nicht mit Fremden reden soll!“, rief es. „Ich will nur…“, keuchte er, da wurde ihm die Tür auch schon vor der Nase zugeschlagen und er blieb mit offenem Mund davor stehen. „Das ist nicht dein Ernst…“, murmelte er, ehe er sich zerrüttet abwandte und zum nächsten Haus ging, um dort anzuklopfen. Diesmal öffnete ihm eine alte Frau, die ihn stirnrunzelnd fixierte. „Was ist denn mit dir passiert, Jungchen?“, fragte sie. „Ich suche einen Arzt“, erklärte Jowy unglücklich. „Sie ist zusammengebrochen und wenn ich nicht schnell einen Arzt hole, wird sie sterben, und es wird meine Schuld sein und ich kann einfach nicht mehr…“ Er redete völlig zusammenhangloses Zeug, das wusste er. Aber vor lauter Stress, Panik und Anspannung war in seinem Kopf kein klarer Gedanke mehr vorhanden. „Oh, aber hier gibt es keine Ärzte, Jungchen“, entgegnete die Frau und sah ihn mitleidig an. „Warum versuchst du es nicht in Muse?“ Beinahe brach er bei diesen Worten in Tränen aus, aber er wusste, dass ihm das auch nicht weiterhelfen würde. „Gibt… gibt es denn niemanden hier, der sich mit Medizin auskennt?“ Er sah sie flehend an, während die Frau überlegte. „Nicht, dass ich wüsste, nein“, sagte sie schließlich. „Aber ich glaube, in den Wäldern hier in der Nähe soll eine Kräuterfrau wohnen, vielleicht kann sie dir helfen?“ Er murmelte seinen Dank, aber ob die Frau es noch hörte, wusste er nicht; es kam ihm vor, als wäre er schon auf halbem Weg aus dem Dorf hinaus. Wälder. Wälder. Was für Wälder?! Die einzigen Wälder, die er gesehen hatte, waren die hinter dem Weißen Hirsch gewesen und die konnte die alte Frau ja unmöglich meinen… Wie viel Zeit war inzwischen vergangen, zehn Minuten, eine halbe Stunde? Er wusste es nicht, er wusste nur, dass er völlig außer Atem war und wenn er so weiter machte, würde er nicht nur kraftlos irgendwo zusammenbrechen, sondern auch jede Chance zunichte machen, noch jemanden zu finden, der Hilda retten konnte. Jowy wünschte sich plötzlich, Tuta bei sich zu haben, aber das brachte ihn kein Stück weiter… Er sah hoch zum Himmel und stellte fest, dass es bereits später Nachmittag war. Wenn das so weiterging… Etwa eine halbe Stunde später hatte er die Tore von Muse erreicht und betete zu den 27 Wahren Runen, dass die Wachleute Verständnis zeigen würden. Vielleicht hatte er ja Glück… „Passierschein“, forderte ihn einer der Soldaten gelangweilt auf. „Ich habe keinen, aber-“ „Kein Passierschein, kein Eintritt“, unterbrach ihn der Mann entnervt. „Wir stehen hier doch nicht, weil uns langweilig ist!“ „Aber ich brauche dringend einen Arzt und-“ „Und ich brauche dringend Urlaub“, sagte der andere Soldat augenverdrehend. „Aber wir kriegen lange nicht alles das, was wir brauchen oder wollen. Also verschwinde, Junge!“ Er wartete nicht erst, bis sie Verstärkung holten, um ihn zu vertreiben, sondern wandte sich ab und beeilte sich, einigen Abstand zwischen die Wachleute und sich zu bringen. Jowy wusste, dass er versagt hatte – im Umkreis von mehreren Meilen würde er keinen Arzt finden und sich auf die Suche nach dieser ominösen Kräuterfrau zu machen würde wahrscheinlich mehr Zeit in Anspruch nehmen, als er zur Verfügung hatte. Aber hatte er überhaupt noch Zeit? Ein Blick in den Himmel verriet ihm, dass die Sonne bereits unterging. War er tatsächlich so lange unterwegs gewesen? Aber vielleicht konnte er Alex’ Passierschein holen und wenn er sich beeilte, konnte er einen Arzt aus Muse holen… Getrieben von diesem Gedanken – seinem letzten Hoffnungsschimmer, an der er sich verzweifelt klammerte – setzte er sich in Bewegung und zwang seinen erschöpften Körper einfach dazu, weiterzulaufen. Die Nacht war bereits hereingebrochen, als er – nun wirklich endgütig erschöpft – wieder beim Gasthaus Zum Weißen Hirsch ankam. Vor seinen Augen tanzten bunte Sterne, aber er durfte nicht so einfach aufgeben. Er würde nicht hilflos mit ansehen, wie ein netter Mensch wie Hilda starb – nicht mehr. Kaum, dass er die Tür aufgestoßen hatte, wurde er fast von Pilika umgerannt, die auf ihn zugelaufen kam und ihn so fest umarmte, dass er beinahe umfiel. „P-Pilika!“, rief Jowy überrascht aus und sah auf das Mädchen hinunter. „Ich habe keine Zeit, ich muss ganz dringend-“ Pilika blickte auf und lächelte ihn an, dann schüttelte sie vehement den Kopf und öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen. Doch als wieder kein Laut daraus hervorkam, zögerte sie kurz, ergriff ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her. „Pilika, bitte…“, protestierte er. „Wir haben wirklich keine Zeit…“ Er brach ab, als er sah, dass das Mädchen ihn zielstrebig zu einem Zimmer jenseits der Küche brachte. Sie öffnete die Tür und er erkannte Alex, Nanami, Riou und den kleinen Pete, die um ein Bett herumstanden. Alle sahen erstaunt zur Tür und Jowy zuckte zusammen, dann setzte er zu einer Erklärung an: „Es… es tut mir so leid! Ich habe überall gesucht, aber es gibt hier keine Ärzte und sie haben mich nicht nach Muse gelassen, also…“ Er verstummte, als er bemerkte, dass Nanami grinste und Riou ihn irgendwie mitleidig lächelnd betrachtete. „Was…?“ Die Geschwister traten etwas zur Seite und gaben den Blick auf Hilda frei, die zwar blass aussah, ansonsten aber kerngesund wirkte. Sie lächelte. Schlagartig fiel alle Anspannung von ihm ab und er spürte, wie seine Beine unter ihm nachgaben, sodass er sich an den Türrahmen lehnen musste, um nicht umzufallen. „Es geht dir besser“, stellte er fest, irgendwo zwischen schierer Erleichterung und Verwirrung, weil er nicht verstand, was passiert war. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und die Welt kippte aus den Fugen. Er war eindeutig zu oft ohnmächtig, beschloss Jowy, während er langsam wieder zu sich kam. Sein Kopf dröhnte, aber immerhin fühlte er sich wieder mehr oder weniger lebendig. „Willkommen zurück“, begrüßte Rious Stimme ihn und er sah auf. Sein bester Freund lehnte am Türrahmen des Zimmers und hielt Pilika an der Hand, die ihn in diesem Moment losließ und zu Jowy hinüberlief. Es war hell im Zimmer… Offensichtlich war er die ganze Nacht über bewusstlos gewesen. „Mir geht es gut“, beruhigte der Aristokrat das Mädchen mit einem Lächeln und sie kletterte erleichtert zu ihm hinauf und umarmte ihn fest. „Jowy!“ Nanami hatte das Zimmer betreten und blieb neben seinem Bett stehen. „Oh, es tut mir so leid… Du hast dich völlig verausgabt…“ „Schon in Ordnung“, winkte Jowy ab. „Aber was ist passiert? Sagt nicht, ihr habt einen Arzt gefunden?“ Riou schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein, das nicht. Aber dafür wissen wir jetzt, dass Hilda lieb und teuer für Alex ist.“ Er grinste. Da dämmerte es dem Blonden. „… Die Heilkräuter?“ „Genau“, nickte Nanami. „Ich hatte sie völlig vergessen…“ Sie lief rot an. Jowy seufzte leise. Natürlich, an das Naheliegendste hatten sie nicht gedacht… „Ich habe mich nur durch einen glücklichen Zufall daran erinnert“, sagte Riou achselzuckend und trat näher. „Aber es hat offensichtlich geholfen.“ „Wisst ihr denn, was eigentlich mit ihr los war?“, erkundigte Jowy sich ehrlich interessiert. Nanami schnaubte und verdrehte die Augen. „Alex glaubt fest an einen Fluch der Sindar und ist der festen Überzeugung, dass es seine Gier war, wegen der Hilda krank geworden ist“, erklärte sie und schüttelte den Kopf. „Aber wenn ihr mich fragt, hat sie sich einfach so viele Sorgen gemacht, dass sie vergessen hat, sich um sich selbst zu kümmern!“ Das sah Jowy zwar nicht so, aber er verzichtete darauf, es ihr zu sagen. Stattdessen nickte er nur und strich Pilika übers Haar. „Na ja“, sagte Nanami schließlich und strich sich ein paar verirrte Ponyfransen aus dem Gesicht, „ich denke, ich gehe nach unten und helfe Hilda mit dem Essen. Sie meint zwar, es würde ihr wieder gut gehen, aber das glaube ich ihr nicht…“ Jowy und Riou tauschten einen alarmierten Blick – wenn Nanami kochte, bedeutete das meistens nichts Gutes für den Magen eines jeden, der davon aß. „Äh“, machte Riou und schien fieberhaft nach einem Grund zu suchen, um seine Schwester von ihrem Vorhaben abzubringen. „Ich glaube, ich habe Gengen vorhin sagen hören, dass er unglaublich gern das Rezept für deine Karottensuppe haben möchte…“ „Huh?“ Nanami blinzelte ihn erstaunt an, dann erhellte sich ihr Gesicht und sie rief: „Ha! Und ihr sagt immer, ich könnte nicht kochen! Banausen!“ „Warum gehst du nicht gleich zu ihm und gibst ihm das Rezept?“, schlug Jowy schnell vor, bevor sie sich nur noch bekräftigt in ihrem Entschluss fühlte. „Ich bin mir sicher, dass er es kaum erwarten kann.“ „Eine wirklich gute Idee“, stimmte Riou ihm zu und nickte bestätigend. Nanami schien kurz zu überlegen, dann grinste sie und rief: „Ja, das ist es wohl wirklich!“ Zufrieden mit sich selbst marschierte sie hinaus und die beiden Jungen hörten sie noch laut nach dem Kobold rufen. „Ich glaube, wir müssen uns später bei Gengen entschuldigen“, murmelte Jowy und schwang die Beine aus dem Bett, ehe er Pilika hinunterhalf. „Und wir sollten Hilda warnen, bevor es noch nicht zu spät ist… Nur für den Fall.“ Riou wollte bereits den Raum verlassen, als der Aristokrat ihn zurückrief: „Riou… Was sagst du zu diesem Fluch, von dem Nanami gesprochen hat?“ Der Jüngere drehte sich halb zu ihm um und zuckte dann leicht die Achseln. „Weiß du“, sagte er langsam. „Ich glaube nicht, dass es ein Zufall war, dass der Schatz der Sindar aus Heilkräutern bestand und Hilda zusammengebrochen ist. Aber wir werden es wohl nicht erfahren…“ Irgendwie glaubte Jowy das auch. „Vielen Dank für eure Hilfe“, sagte Hilda, nachdem sich alle im Speisesaal versammelt und sich etwas von dem köstlichen Eintopf aufgetan hatten, den sie – glücklicherweise ohne Nanamis Hilfe – zubereitet hatte. „Ich weiß nicht, was ich ohne euch gemacht hätte“, fuhr Alex fort, der noch immer so aussah, als könne er nicht fassen, dass alles glimpflich ausgegangen war. „Wahrscheinlich hätten mich diese Wesen in den Ruinen erledigt…“ Er schauderte und beruhigte sich erst, als Hilda ihm lächelnd eine Hand auf die Schulter legte. „Keine Ursache“, erwiderte Riou. „Ihr habt ja auch viel für uns getan.“ „Nein, nein“, widersprach Alex. „Wir können gar nicht genug für euch tun.“ Er kramte in der Tasche seiner Weste und holte eine kleine, zusammengerollte Schriftrolle hervor. „Das ist der Passierschein, wie versprochen. Und ihr seid jederzeit wieder hier willkommen. Kostenlos, versteht sich.“ Er überreichte die Rolle an Riou, der sie behutsam einsteckte. „Immerhin“, brummte Zamza neben Jowy leise. Der Aristokrat verdrehte die Augen und wandte sich dann an Hilda: „Dann geht es dir also wieder gut?“ „Ja, ich fühle mich wunderbar“, bestätigte die Wirtin strahlend. „Dann solltet ihr zusehen, dass ihr nicht allzu lange hier bleibt“, ergriff Hanna mürrisch das Wort, die ihren Teller bereits geleert hatte. Nachdem alle zu ihr schauten, holte sie weiter aus: „Die Highland-Armee wird nicht ewig jenseits des Flusses bleiben, geschweige denn hinter der Grenze. Sie werden kommen und Muse angreifen… Und zu diesem Zeitpunkt solltet ihr drei nicht mehr hier sein.“ Hilda und Alex sahen einander an, dann nickte der Wirt betrübt: „Ja, du hast wahrscheinlich Recht…“ Jowy starrte in seinen Teller hinunter und stellte fest, dass er keinen Hunger mehr hatte. Während der Zeit, die sie hier im Weißen Hirsch verbracht hatten, war die Bedrohung durch Highland irgendwie in den Hintergrund geraten. Ihr nächstes Ziel war es gewesen, nach Muse zu kommen, und er war völlig darauf fixiert gewesen. Dann war Hilda zusammengebrochen und er hatte gar nicht mehr an sein Heimatland gedacht… „Wir sollten gehen“, durchbrach Rious Stimme irgendwann seine Gedanken und Jowy zuckte zusammen. Er war mal wieder völlig weggetreten gewesen… „Bitte passt gut auf euch auf!“, bat Hilda besorgt, während sich die Freunde vom Tisch erhoben und auf die Eingangstür zuhielten. „Wir tun, was wir können“, antwortete Zamza, „aber man weiß ja nie, was diese Wahnsinnigen aus Highland planen…“ Er seufzte. Gengen schnaufte zustimmend und bemerkte: „Highlander böse Menschen. Ihr aufpassen, ja?“ „Wir versuchen es.“ Alex fuhr sich durchs Haar. „Und ich höre wohl besser mit der Schatzsuche auf.“ „Gute Idee“, nickte Nanami und zwinkerte dem Wirt zu. „Nimm es mir nicht übel, aber du bist ein furchtbarer Schatzsucher.“ Alex grinste gequält, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Sie verabschiedeten sich von der kleinen Familie – Pilika schien Pete inzwischen richtig gern zu haben – und machten sich endgültig auf den Weg nach Muse. Und Jowy hoffte inständig, dass Alex und Hilda nicht genau so enden würden wie Marx und Joanna… Denn irgendwie erinnerte ihn dieser Abschied viel zu sehr daran, dass Pilikas Eltern nicht mehr am Leben waren. „Okay“, sagte Nanami, als die Tore von Muse gegen Mittag in Sicht kamen, „hört mal alle zu.“ Die Gruppe blieb stehen und sah sie erwartungsvoll an, doch irgendwie hatte Jowy ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Riou hatte beim Gehen den Passierschein studiert, den Alex ihnen gegeben hatte, und Nanami zog es ihm ohne viel Federlesen aus der Hand. „Mit diesem Passierschein kommen wir alle nach Muse!“, verkündete sie und hielt ihn den Gefährten hin. „Das ist auch Sinn der Sache“, bemerkte Zamza spitz. Nanami knurrte feindselig und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, das mit Sicherheit kein Lob war, doch Jowy fragte schnell: „Bist du dir ganz sicher, dass das so funktionieren wird? Immerhin ist der Schein doch auf Alex ausgestellt, oder?“ „Wir werden es nicht wissen, bis wir es nicht probiert haben!“, rief Nanami. „Ich werde Hilda sein, Riou ist Alex und… Jowy, du spielst Pete. Und der Rest von euch verhält sich einfach ruhig, dann passt das schon.“ „Oh, bei den Runen…“, stöhnte Hanna und massierte ihre Nasenwurzel. Gengen bedeckte seine Augen mit einer Pfote und jaulte leise und auch Riou schien von dieser Idee eher mäßig begeistert zu sein. „Warte mal“, zügelte Jowy Nanamis Eifer. „Pete ist Alex und Hildas Sohn. Wie soll ich denn…?“ Er schüttelte den Kopf. „Warum macht Pilika es nicht?“ Nanami schnalzte genervt mit der Zunge und entgegnete: „Pilika ist ein Mädchen, du Ei. Etwas unglaubwürdig, meinst du nicht?“ „Oh ja, es ist natürlich sehr viel glaubwürdiger, dass ich dein Sohn bin“, erwiderte Jowy sarkastisch. „Genau.“ „Wird schon schief gehen!“ Offensichtlich war Nanami nicht in der Laune, weiter darüber zu diskutieren, denn sie wandte sich ab und marschierte zielstrebig auf die Stadttore von Muse zu. „Genau das befürchte ich auch“, seufzte Hanna. „Das kann doch nur in einer Katastrophe enden…“ „Riou“, sagte Jowy empört und sah zu seinem Freund. „Sag doch auch mal etwas!“ Riou würde ihn natürlich unterstützen und sie würden Nanami diesen schwachsinnigen Plan ausreden. Natürlich! „Lass uns gehen… Pete“, forderte Riou ihn jedoch ergeben mit den Schultern zuckend auf und beeilte sich, seine Schwester einzuholen. Mit offenem Mund starrte Jowy den Geschwistern hinterher, bis Hanna ihm nicht gerade motiviert auf die Schulter schlug und brummte: „Na los… bevor sie sich noch irgendetwas ausdenkt.“ Widerwillig tat er wie geheißen und rechnete schon mit dem Schlimmsten, als sie den einsamen Wächter erreichten, der gelangweilt vor den Toren stand, rief: „Was wollt ihr? Kein Eintritt ohne Passierschein!“ Immerhin hatten sie genug Glück und der Mann gehörte nicht zu den drei Wachleuten, die Jowy bereits kennen gelernt hatte. Nanami lachte sehr laut und sehr schrill auf und schaffte es irgendwie, den Mann von oben herab anzuschauen, obwohl sie einen ganzen Kopf kleiner war als er. „Unseren Passierschein?“, fragte sie in einer sehr, sehr schlechten Imitation von Hildas Stimme. „Wie lustig… Schau dir das an!“ Sie hielt ihm triumphierend die kleine Schriftrolle hin und erntete dafür den skeptischen Blick des Soldaten. Jowy widerstand nur schwer dem Bedürfnis, sofort umzudrehen und sich nie wieder blicken zu lassen. Er hatte sich in seinem Leben noch nie so sehr für jemanden geschämt wie für Nanami, deren Schauspielkünste praktisch nicht vorhanden waren. „Dann schauen wir mal…“, murmelte der Wächter, nahm dem Mädchen den Passierschein ab und entrollte ihn. Seine Augen glitten über das Geschriebene, dann hob er den Blick und fixierte die kleine Gruppe. „Also gut, wer von euch ist Alex?“ Einen Moment lang sagte keiner etwas, dann räusperte sich Riou leise und hob mit einem völlig neutralen Gesichtsausdruck eine Hand. „Ich.“ Nun, immerhin hatte Riou etwas Talent als Schauspieler… das den Wachmann nicht im Geringsten zu beeindrucken schien. „Na dann“, bemerkte er mit hochgezogener Augenbraue. „Und wer ist Hilda?“ Seine Augen wanderten bereits in Hannas Richtung – die Jowy gemeinsam mit Zamza irgendwie geeigneter für die Rolle eines Ehepaars vorkam, da sie wenigstens entfernt das richtige Alter hatte – da lachte Nanami wieder schrill auf: „Ich bin Hilda, junger Mann.“ Der Aristokrat biss sich auf die Lippe, um nicht laut aufzustöhnen. Konnte man es überhaupt noch mehr übertreiben?! Im Gesicht des Wachmanns zuckte ein Muskel bei dieser Behauptung. Dann fragte er: „Und wo ist Pete?“ Er wirkte in etwa genau so überzeugt von Nanamis Auftritt wie Jowy es war. Oh, das würde ganz schlecht enden, vielleicht war es besser, wenn sie einfach die Wahrheit sagten und… Er schrie auf, als Nanami ihm unsanft auf den Fuß trat, und stammelte, völlig aus dem Konzept gebracht: „Äh, ähm… Ich, äh… Ich bin Pete.“ Oh, verdammt… „Und ich bin der Hohepriester von Harmonia!“, schnauzte der Wächter wütend. „Ihr glaubt ja wohl nicht, dass ich euch diesen Schwachsinn abkaufe? Wache!!“ Eine kleine Tür neben den Toren öffnete sich und ein Dutzend Soldaten stürzte hinaus, die die Gruppe sofort umstellten. „Nehmt sie fest!“, befahl der Soldat. „A-Aber wieso?!“, rief Nanami ungläubig, als man sie unsanft am Oberarm ergriff und nicht gerade sanft mit sich zerrte. Jowy verdrehte nur die Augen und nahm Pilika eilig auf den Arm, bevor auch er mitgeschleppt wurde. Nun… immerhin waren sie jetzt in der Stadt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)