Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Kapitel 21: Zwei glorreiche Halunken ------------------------------------ Der Morgen kam für Jowys Geschmack ein wenig zu schnell; er fühlte sich, als hätte er kaum die Augen zugemacht, da riss ihn die Stimme des Wachmanns auch schon aus dem Schlaf: „Hey, ihr da! Aufstehen, ihr habt Besuch.“ Er fuhr hoch, mit klopfendem Herzen, und rieb sich erst einmal müde über die Augen, ehe er zu Pilika sah, die, den Stoffbären an sich gedrückt, sich zögernd aufrichtete. Irgendwie glänzten ihre Augen verdächtig feucht… Ohne weiter darüber nachzudenken, stand er auf und ging zu ihr, nahm sie auf den Arm und flüsterte ihr beruhigende Banalitäten ins Ohr. Das Mädchen schlang die Arme um seinen Hals und barg das Gesicht an seiner Brust. Erst dann wandte Jowy den Blick zu Riou und Nanami, die so müde aussahen, wie er sich fühlte, sich jedoch bemühten, einen wachen Eindruck zu machen. In diesem Moment klackte das Schloss der Zellentür ein paar Mal, sie öffnete sich – und Viktor und Flik traten ein, gefolgt von dem Wachsoldaten. „Da seid ihr ja!“, rief Viktor, irgendwo zwischen Erleichterung und Belustigung. „Hab mir schon Sorgen gemacht, ihr würdet es nicht reinschaffen.“ „Vielleicht hättest du die Torwache darauf hinweisen sollen, dass wir noch auf Flüchtlinge warten“, brummte Flik. „Dann wären sie gar nicht erst hier drin gelandet.“ Viktor lachte auf, doch Jowy fand das irgendwie weniger lustig. Er war übermüdet, hungrig und deprimiert – sein Sinn für Humor hatte sich fürs Erste verabschiedet. „Na, schaut nicht so grimmig drein, ihr drei“, gluckste Viktor, nicht im Geringsten schuldbewusst. Aber so war er wohl… Trotz des leichten Ärgers, den Jowy verspürte, wusste er, dass er dem Bären nicht lange böse sein konnte, einfach, weil er so war wie er war. „Lass uns hier raus, alter Mann!“, forderte Nanami. „Los, los!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah vorwurfsvoll zu Viktor auf. Flik seufzte und wandte sich an den Wächter: „Ihr wisst, wer sie sind, also lasst sie raus. Und die anderen drei auch, sie gehören zu uns.“ „Ja, Sir“, nickt der Soldat und beeilte sich, die Tür der Nachbarzelle zu öffnen. „Ich brauche meinen Schönheitsschlaf!“, hörte Jowy Zamza stöhnen. „Schlafen kannst du noch genug, wenn du tot bist“, brummte Hannas Stimme zurück und gegen seinen Willen musste der Aristokrat grinsen. „Aber euch geht’s gut, ja?“, fragte Viktor und betrachtete die drei Jugendlichen genau. „Ich hab mir wirklich Sorgen gemacht…“ „Wir haben einen kleinen Umweg gemacht“, erwiderte Jowy, „aber uns geht’s gut.“ Pilika drückte sich ein bisschen enger an ihn und er strich über beruhigend über den Rücken. „Irgendwie… seht ihr alle älter aus“, bemerkte Flik stirnrunzelnd. „Stärker.“ „Kann sein“, sagte Riou ausweichend und zuckte die Achseln. Also erst einmal keine Gespräche mehr über Runen, Fallen und Luca Blight… Gut. Jowy bemühte sich, seine rechte Hand irgendwie so zu halten, dass man seinen Handrücken nicht gut erkennen konnte. Er musste sich dringend irgendwo Verbände besorgen, um die Rune zu verdecken. „Na ja“, ergriff Viktor wieder das Wort, „warum geht ihr nicht erst mal zu Leonas neuer Taverne? Da könnt ihr euch ausruhen und frühstücken, eure Zimmer gehen aufs Haus. Und alle anderen sind auch da.“ Jowy runzelte die Stirn und fragte: „Wir werden also nicht bestraft?“ „Quatsch!“, lachte der Söldneranführer dröhnend. „Ihr seid doch nur Kinder. Und außerdem gehört ihr zu mir, also geht das schon in Ordnung.“ Irgendwie hatte Jowy eine Ahnung, dass der Bär sich des Öfteren auf eher unorthodoxe Weisen Zutritt verschaffte… „Na dann…“ Riou schien ebenfalls etwas verwirrt, aber das störte Viktor wohl nicht weiter. „Ihr könnt die Taverne gar nicht verfehlen, sie ist ganz in der Nähe. Oh, und Riou, Jowy, kommt heute Nachmittag zum Rathaus. Da gibt es jemanden, den ich euch vorstellen will.“ „Nur Riou und ich?“, wunderte sich Jowy, doch bevor Viktor oder Flik noch irgendetwas sagen konnten, rief Nanami dazwischen: „Das ist ja so unfair! Warum nur die beiden? Ich will auch mitkommen!“ Die beiden Söldner wechselten einen Blick, dann hob Viktor abwehrend beide Hände und sagte: „Okay, okay, du kleiner Quälgeist. Dann komm halt auch mit. Wir sehen uns dann heute Nachmittag.“ Er hob zum Abschied eine Hand und grinste, Flik murmelte ein paar Abschiedsworte und folgte dem Bären hinaus. Der Wachmann kam zurück und wies auf die Tür: „Los, Kinder, verschwindet.“ Die Jugendlichen ließen sich das kein zweites Mal sagen und verließen eilig die Zelle, auf dem Gang draußen schlossen sie sich Gengen, Zamza und Hanna an. „Ist mit euch alles in Ordnung?“, fragte Riou besorgt und Gengen nickte. „Gengen nur hungrig“, erklärte der Kobold. „Sehr, sehr hungrig.“ „Ich hoffe für diesen Kerl, dass die Betten in dieser Taverne bequem sind“, schnaubte Zamza und warf sich ein paar Haarlocken aus der Stirn. „Und ich hoffe, dass es in dieser Taverne Bier gibt“, knurrte Hanna, die nicht nur müde, sondern auch noch genervt aussah – was Jowy ihr nicht verdenken konnte, immerhin hatte sie die Nacht in einer Zelle mit Zamza verbracht! „Viel Bier.“ Nanami kicherte, dann nahmen sie ihre Waffen wieder in Empfang und die kleine Gruppe begab sich nach draußen. Im ersten Augenblick wurde Jowy von dem grellen Sonnenlicht geblendet, doch dann erkannte er, dass er mitten in einer belebten Straße der Stadt stand. Das Gefängnis hinter ihnen sah ziemlich klein aus und er vermutete, dass es nicht das einzige war. Menschen hasteten geschäftig an ihnen vorbei und keiner kümmerte sich um die Gefährten. „Und wohin gehen wir jetzt?“, fragte Nanami und sah sich verwirrt um. Hannas aufmerksamer Blick glitt über ein paar ältere Passanten, die sich lauthals darüber unterhielten, dass die Tauben jedes Jahr unverschämter wurden und die Statuen im Stadtpark völlig verunstaltet hatten, zu einem Schild, das an dem großen Gebäude schräg gegenüber von ihnen hing. „Taverne Zum Eichenblatt scheint ein guter Anfang zu sein“, sagte die Kriegerin trocken. Sie setzten sich in Bewegung und betraten das schöne, große Haus, das aus weißem Stein gebaut worden war. Kaum, dass sie die Eingangshalle betreten hatten, stieg Jowy sofort der Duft von Frühstück in die Nase – es roch nach Tee und Rührei, wenn er sich nicht stark irrte. Pilika bewegte sich etwas in seinen Armen und er sah sie an, während sein Magen leise knurrte. „Möchtest du wieder runter, Pilika?“ Das Mädchen nickte und er stellte sie vorsichtig zurück auf den Boden. Zu ihrer Linken standen mehrere Tische, die fast alle besetzt waren, zu ihrer Rechten befand sich ein unbesetzter Empfangstisch und am anderen Ende des Raumes erkannte Jowy Leona hinter einem Tresen, die sich angeregt mit einer jungen Frau unterhielt, die ein violettes Kleid mit weißer Schürze darüber trug. Unschlüssig blieb die Gruppe stehen, da bemerkte Leona sie auch schon und eilte zu ihnen herüber. „Da seid ihr ja“, seufzte sie erleichtert. „Viktor hat mir erzählt, was passiert ist. Geht es euch allen gut?“ Pilika schüttelte den Kopf und deutete demonstrativ zu einem Gast hinüber, der gerade in eine dick mit Honig beschmierte Scheibe Brot biss. Leona folgte dieser Bewegung etwas verwirrt, dann lachte sie und sagte: „Ach, ich verstehe. Ihr habt bestimmt Hunger.“ Pilika nickte zufrieden und nahm ergriff Jowys Hand. „Sucht euch einen Tisch und setzt euch“, forderte die Barfrau die Gefährten auf, „ich bringe euch euer Frühstück sofort.“ Nach dem Frühstück zog sich jeder auf sein Zimmer zurück und Jowy war es ganz recht so – er war noch immer in dieser seltsamen Laune, die ihn in der Nacht befallen hatte, und wusste nicht recht, ob er schon bereit war für den Besuch der Einkaufsstraße, den Nanami mit Pilika plante. „Pilika braucht ein neues Kleid“, hatte sie gesagt, während sie und das kleine Mädchen vor Riou und Jowy die Treppe in den ersten Stock hinaufgegangen waren. „Ihr altes ist völlig verdreckt!“ Jowy hatte beim besten Willen nicht sagen können, dass er das genau so sah – immerhin war Pilika weder durch schlammige Kanäle gewatet, noch war sie von Kopf bis Fuß mit Zyklopenblut bespritzt gewesen. Wie dreckig konnte ein Kleid schon werden? Aber wahrscheinlich hatte er von diesen Dingen einfach keine Ahnung. Er selbst sehnte sich nur nach einem Bad, um endlich den Dreck von sich abzuwaschen, den er seit dem Fall des Söldnerforts mit sich herum schleppte. Sie hatten Hilda und Alex nicht noch weiter belästigen wollen und abgewinkt, als die beiden ihnen vorgeschlagen hatten, ein Bad zu nehmen. Aber jetzt, wo der eingetrocknete Schmutz seine Hosenbeine unangenehm steif machte, wünschte er sich sehnlichst einen Stapel frische Kleidung und eine Möglichkeit, sich zu waschen. Glücklicherweise hatte Leona an dieses Problem gedacht und den Jungen zwei Garnituren der Ersatzwäsche der Söldner mitgegeben. So war die Hose, in die Jowy etwa eine Stunde später schlüpfte, zwar etwas zu lang und das Hemd an den Handgelenken etwas zu kurz, aber wenigstens war beides sauber, genau wie die Bandagen, die er sich von Hanna erbeten hatte, um damit seine rechte Hand zu verbinden. Er krempelte die Ärmel hoch und stieg in seine Stiefel, dann drehte er sich zu Riou um, mit dem er sich das Zimmer teilte. „Und was jetzt?“, fragte er zögernd. Einerseits wollte er nicht den ganzen Tag im Zimmer hocken – warum war er plötzlich so aufgekratzt? – und andererseits waren es noch ein paar Stunden, bis sie Viktor im Rathaus treffen sollten. Riou, der auf seinem Bett gesessen und aus dem Fenster geschaut hatte, während Jowy sich umgezogen hatte, zuckte die Achseln. Auch ihm passte die neue Kleidung nicht perfekt, aber der Aristokrat fand, dass es hätte schlimmer kommen können – zum Beispiel, wenn er so groß wie Rikimaru gewesen wäre und ihm nur Viktors Ersatzhemden gepasst hätten. „Nanami will mit Pilika einkaufen gehen“, überlegte Riou laut, „aber ehrlich gesagt… möchte ich mir lieber die Stadt ansehen. Was sagst du?“ „Ich auch“, nickte Jowy. Allein beim Gedanken daran, mit Nanami von Laden zu Laden zu ziehen, wurde ihm unwohl. Das hatte er schon als Kind mit seiner Mutter verabscheut… es aber trotzdem immer brav mitgemacht, weil er sie sonst kaum gesehen hatte. „Aber können wir die beiden einfach allein lassen?“ Wer wusste schon, was Nanami noch alles einfiel… „Ich denke schon“, erwiderte Riou lächelnd. „Sie wird schon nichts anstellen. Hoffe ich.“ Die Jungen lachten und dann wurde die Tür plötzlich unsanft aufgestoßen. Es war Nanami, die Pilika an der Hand hielt und irgendwie wild entschlossen aussah. Plötzlich hoffte Jowy wirklich, dass sie nichts anstellen würde… „Los, los!“, rief Nanami, die sich offensichtlich ein Kleid von den Bedienungen des Gasthauses geliehen hatte. Es stand ihr zwar, war aber so ungewohnt, dass Jowy sie überrascht anstarrte. Nanami bemerkte seinen Blick und hob fragend die Brauen, schien dann jedoch zu verstehen und sah an sich hinunter. „Es gab nichts Anderes“, erklärte sie achselzuckend und errötete leicht. „Ich weiß, dass es komisch aussieht!“ Sie zupfte am Saum des Kleides herum. „Egal, lasst uns gehen. Sonst kommen wir nachher noch zu spät zum Rathaus.“ „Warum teilen wir uns nicht auf?“, schlug Jowy schnell vor. „Dann kannst du mit Pilika einkaufen gehen… Es reicht doch, wenn wir uns in zwei Stunden wieder hier treffen, dann sind wir immer noch pünktlich da.“ „Hm“, machte Nanami nachdenklich, grinste dann jedoch und nickte. „Das ist eine gute Idee. Du bist wirklich ganz schön clever, Jowy!“ Er verzichtete darauf, ihr zu sagen, warum er diese Idee überhaupt äußerte. Stattdessen wandte er sich an Pilika und fragte: „Ist das okay, wenn du mit Nanami einkaufen gehst?“ Das Mädchen schien kurz hin- und hergerissen zu sein, nickte dann jedoch und sah dabei so fröhlich aus, dass er fast schon erwartete, dass sie anfing zu lachen. Aber nur fast. Sie verließen die Taverne zwar gemeinsam, trennten sich jedoch auf der Straße. „Also, in zwei Stunden wieder hier!“, rief Nanami und winkte den Jungen enthusiastisch zu, ehe sie mit Pilika in der Menschenmenge verschwand. Jowy und Riou sahen ihnen noch einen Moment nach, dann setzten auch sie sich in Bewegung, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Sie spazierten durch den Park, dessen Statuen tatsächlich etwas in Mitleidenschaft gezogen worden waren, und Jowy stellte fest, dass sie bei ihrem letzten Besuch in Muse kaum etwas von der Stadt gesehen hatte. Sie war riesig, noch mehr als er gedacht hatte. Eine Weile hörten sie einem Mädchen zu, das auf einem großen Platz stand und ein paar Lieder sang, während sie von zwei Männern musikalisch begleitet wurde. Jowy verstand nicht unbedingt etwas von Musik, aber er musste dem Mädchen zugestehen, dass sie eine sehr schöne Stimme hatte. Nachdem sie den Park verlassen hatten, betraten sie das Handelsviertel von Muse. Jowy fiel auf, dass die Händler, die noch vor wenigen Wochen teure Stoffe, antike Vasen und erlesenes Essen angepriesen hatten, jetzt Rüstungen und Waffen zu verkaufen schienen. Das war wohl der letzte Beweis, dass der Krieg wieder tobte… Nicht, dass Jowy noch einen Beweis gebraucht hatte; er wusste es, seit das Dorf Toto gefallen war. Sie bogen in eine Seitenstraße ein, um einem besonders aufdringlichen Händler zu entkommen, und waren gerade wieder unterwegs zurück , als jemand hinter ihnen zischte: „Hey, Jungs. Kann ich euch um einen Gefallen bitten?“ Erschrocken fuhr Jowy herum und erkannte eine große, blonde Frau hinter sich, die halb im Schatten stand. Ihre Haare berührten kaum ihre Schultern und verdeckten das linke Auge halb, aber die gewaltige Narbe, die quer über ihre Gesicht zog, konnten sie nicht verbergen. Sie trug einen weiten, weißen Umhang, der einen Großteil ihrer Kleidung bedeckte, aber er erhaschte einen Blick auf ein blaues Oberteil mit tiefem Ausschnitt und eine schwarze Hose. „Äh, was?“, stotterte der Aristokrat irritiert. Wo war sie so plötzlich hergekommen? „Worum geht es?“, fragte Riou stirnrunzelnd, der sich irgendwie schneller fasste als Jowy. Die Frau stieß ein Seufzen aus, dann sah sie sich irgendwie gehetzt um und sagte gepresst: „Ein sehr, sehr böser Mann ist hinter mir her und ich will nicht wissen, was er mir antut, wenn er mich in die Finger bekommt. Könntet ihr auf das hier aufpassen?“ Sie holte zwei verschnürte Päckchen hervor und sah die Jungen flehend an. Riou und Jowy tauschten einen verwirrten Blick, dann nickte der Jüngere und erwiderte: „Natürlich.“ „Vielen Dank“, wisperte die Frau, nun eindeutig erleichtert, und übergab ihnen die beiden Päckchen. „Trefft mich in einer halben Stunde vor den Stadttoren.“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern drehte sich auf dem Absatz um und verschwand mit wehendem Umhang in der Dunkelheit der Gässchen von Muse. „Was war das?“ Jowy betrachtete die zwei Pakete in Rious Armen und runzelte die Stirn. Sein bester Freund zuckte die Achseln und entgegnete: „Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber wir sollten uns beeilen, wenn wir sie in einer halben Stunde treffen sollen…“ Sie setzten sich wieder in Bewegung und kehrten zurück auf die große Straße, wo Jowy die Pakete in seiner Tasche verstaute. Er traute der Frau kein Stück, aber wenn sie Recht hatte und sie wirklich von einem Mann verfolgt wurde, dann gab es wohl einen guten Grund dafür. Waren vielleicht die Pakete…? In jedem Fall fühlte er sich sicherer dabei, wenn er die Päckchen nicht der ganzen Welt zur Schau stellte und sie so schnell wie möglich wieder los wurde. Als sie das Handelsviertel fast wieder verlassen hatten, kam ihnen ein hochgewachsener Mann in einem auffälligen, schwarzen Umhang entgegen. Unter seiner Kapuze blitzten ein paar blonde Haarsträhnen hervor und der Blick seiner braunen Augen war jenseits von grimmig. „Wo sind sie?“, hörte Jowy ihn murmeln, als die Jungen ihn passierten. „Sturm spürt sie, Mond und Stern sind hier irgendwo…“ Der Aristokrat schauderte und wollte gerade seinen Schritt beschleunigen, als der Mann plötzlich rief: „Hey, ihr da!“ Sie hielten inne und wandten sich zögernd zu ihm um. Er kam ihnen unangenehm nah und fragte fordernd: „Habt ihr hier eine große, blonde Frau gesehen?“ Jowy lief es kalt den Rücken runter. War das der Mann, von dem die Fremde gesprochen hatte? Nun, da er ihn selbst gesehen hatte, glaubte er irgendwie sofort, dass er böse war… „Nein, tut mir leid“, antwortete Riou ohne mit der Wimper zu zucken. Die Miene des Mannes verdüsterte sich noch etwas, dann brummte er mehr zu sich selbst denn zu den Jungen: „Nein, wahrscheinlich nicht… Aber diesmal entkommt sie mir nicht!“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich wieder um und eilte durch die Menschenmassen weiter. „Ich kann verstehen, dass sie wegläuft“, bemerkte Jowy kopfschüttelnd. „Lass uns gehen.“ Als sie etwa eine halbe Stunde später die Stadttore erreichten, entdeckten sie die blonde Frau sofort. Sie suchte mit den Augen aufmerksam die Menge ab und als sie die Jungen entdeckte, ging sie zielstrebig auf sie zu. „Danke“, sagte die Fremde, als Jowy ihr die Päckchen übergab. „Ich kann euch nicht viel geben, aber nehmt das.“ Sie reichte ihnen einen kleinen Beutel, in dem Münzen klimperten, und wollte anscheinend gerade gehen, als jemand laut rief: „Ich habe dich gefunden… Elza!“ Riou und Jowy fuhren herum und entdeckten zwischen all den Menschen auf der Hauptstraße den Mann mit dem schwarzen Umhang. Um ihn herum war die Menge zum Stehen gekommen und tuschelte aufgeregt. „Clive…“ All die Gehetztheit fiel schlagartig von der Frau ab. Fast schon gelangweilt sah sie zu dem Mann hinüber und schien abzuwarten, was er als Nächstes tun würde. „Habe ich dich endlich eingeholt“, sagte der Mann, kam jedoch nicht näher; er schien unter seinem Umhang etwas zu umklammern. „Als Offizier der Gilde der Heulenden Stimmen werde ich zusehen, dass du für dein Verbrechen zahlst!“ Und dann wurde Jowy plötzlich zur Seite gestoßen und landete schmerzhaft auf den Pflastersteinen. Als er aufsah, stellte er jedoch entsetzt fest, dass sie Frau die beiden Päckchen aufgerissen hatte und zwei Waffen zutage gefördert hatte, mit denen sie direkt an Rious erstarrtem Körper vorbei auf den Mann zielte. Vor Schreck konnte sich Jowy nicht einmal aufrichten. Gilde der Heulenden Stimmen? Jene geheimnisvolle Organisation aus dem fernen Harmonia, über die es mehr Gerüchte als wahre Geschichten gab? Er wusste selbst auch nicht viel darüber, nur dass es sich um eine Gilde von Scharfschützen handelte… Aber dann bedeutete das ja…! „Kannst du schießen, Schütze?!“, schrie die Frau mit einem gefährlichen Funkeln in ihren Augen. Riou war zu einer Säule erstarrt, während die beiden Pistolen viel zu dicht an seinem Körper lagen und auf den Mann zielten. Diese Elza benutzte ihn als lebenden Schutzschild! Denn ihr Verfolger hatte ebenfalls eine Waffe hervorgeholt und zielte damit direkt auf ihren Kopf, knapp oberhalb von Rious. „Aus dem Weg, Junge!“, brüllte er ihm zu, doch die Frau zischte: „Keine Bewegung, Kleiner.“ Später hätte Jowy nicht mehr sagen können, ob Clive geschossen hatte – Elza hatte es auf jeden Fall getan, da seine Ohren noch Minuten später von dem Geräusch klingelten. Die Menge schrie auf, als der Mann sich zur Seite warf und abrollte, während die Frau triumphierend herumfuhr und durch das Tor schlüpfte, das sich gerade für einen Bauern auf einem Pferdekarren geöffnet hatte. „Diesmal entkommst du mir nicht!“, rief Clive Elza hinterher, sprang auf die Beine und folgte ihr, dann verschwanden beide außer Sicht – gefolgt von einer Gruppe Wachmänner, die die beiden Störenfriede offensichtlich hinter Schloss und Riegel bringen sollte. „Weißt du“, sagte Jowy leise, während er sich aufrichtete und versuchte, sein wild klopfendes Herz zu beruhigen, „manchmal bin ich wirklich froh, auf dem Land großgeworden zu sein.“ Der zu Recht käsebleiche Riou nickte nur. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)