Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Kapitel 22: Anabelle -------------------- Sie beeilten sich, zurück zu Leonas Taverne zu kommen. Zu Jowys Erstaunen waren die zwei Stunden schon vergangen und außerdem hatte er nicht unbedingt das Bedürfnis, wegen des Vorfalls mit den beiden Schützen verhört zu werden. Nicht, dass sich nachher noch herausstellte, dass sie einer steckbrieflich gesuchten Verbrecherin geholfen hatten… „Ist mir dir alles in Ordnung?“, erkundigte er sich bei Riou, während sie in die Straße einbogen, die zum Eichenblatt führte. „Ich denke schon“, antwortete dieser. Nur langsam kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. „Aber ich glaube, es ist besser, wenn wir Nanami nichts davon erzählen…“ Damit war Jowy völlig einverstanden. Als sie die Taverne betraten, hörten sie auch schon Leonas Stimme, die aus irgendeinem Grund irgendwo zwischen genervt und ungläubig rangierte: „… und ich will dich nie wieder da drin sehen, hast du mich verstanden?“ „Ja…“ Leona, Nanami und Pilika standen neben einem der Tische im linken Teil des großen Raumes und die Barfrau fixierte das ältere Mädchen mit verschränkten Armen. „Ich kann nicht glauben, dass man dich in die Küche gelassen hat…“, seufzte Leona und schüttelte den Kopf. Dann kehrte sie leise murmelnd hinter ihren Tresen zurück, eine zerknirschte Nanami und Pilika zurücklassend. Jowy fiel auf, dass Nanami eine Schürze trug. Riou schnupperte und fragte dann laut: „Hast du etwa Eintopf gekocht, Nanami?“ Seine Schwester wandte sich schmollend zu ihm um und rief: „Ja, habe ich! Und? Ich kann kochen!“ „Das habe ich gesehen“, brummte Leona jenseits des Tresens. „Der arme Mann ist deinetwegen ohnmächtig umgefallen!“ „Du hast es geschafft, jemanden mit deinem Essen außer Gefecht zu setzen?“, wiederholte Jowy weniger ungläubig als eher fasziniert. Er hatte ja gewusst, dass man Nanami lieber nicht in die Nähe einer Küche ließ – obwohl Riou schwor, dass zumindest ihr Eintopf essbar war (wenn man einen starken Magen hatte) – aber bisher war noch niemand davon umgefallen. „Da kann ich nichts für!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich demonstrativ beleidigt ab. Riou unterdrückte ein Lachen und zog es vor, das Thema zu wechseln. Er sah zu Pilika und fragte: „Hattest du Spaß beim Einkaufen?“ Das kleine Mädchen nickte, doch diesmal öffnete sie nicht einmal mehr den Mund, um zu probieren, ob ein Ton hervorkommen würde. Stattdessen drehte sie sich einmal im Kreis und präsentierte stolz das Kleid, das sie trug. Erst jetzt fiel Jowy auf, dass es ein anderes war – der Schnitt unterschied sich vom alten und es hatte auch eine etwas andere Farbe. „Sehr hübsch“, kommentierte er und lächelte Pilika zu. Sie strahlte ihn an, als wenn einzig seine Meinung gezählt hätte, dann lachte sie lautlos. Jowy ignorierte den Stich in seinem Herzen und blickte zu Leona. „Wir sollen Viktor im Rathaus treffen. Kannst du vielleicht solange auf Pilika aufpassen?“ Die Barfrau sah ihn einen Moment lang skeptisch an, nickte dann jedoch und erwiderte: „Kein Problem. Aber ihr solltet euch jetzt beeilen… Ihr wollt den Kerl nicht warten lassen, oder?“ Sie verabschiedeten sich von Pilika und versicherten ihr, dass sie bald wieder kommen würden, dann ließen sie sich von Leona den Weg beschreiben. Anschließend verließen sie die Taverne und gingen im Eilschritt die Hauptstraße hinunter, die sie Leona zufolge direkt zum Rathaus führen würde. Und tatsächlich – schon bald hob sich das riesige Gebäude aus weißem Stein deutlich von den anderen Häusern der Stadt ab. Eine Treppe führte hinauf zu der großen Eingangstür, die von Marmorsäulen flankiert und erstaunlicherweise unbewacht war. Beeindruckt betraten die drei das Rathaus und fanden sich in einer gewaltigen Eingangshalle wieder, deren Marmorboden so sauber war, dass Jowy sein Spiegelbild darin erkennen konnte. Durch die Halle hetzten wichtig aussehende Menschen und die Jugendlichen beeilten sich, einem Mann auszuweichen, der sie in seiner Eile beinahe umrannte. Er hatte kurzes, dunkles Haar, das von einem roten Stirnband eher nachlässig aus seiner Stirn gehalten wurde, einen Dreitagebart und trug ein kurzärmeliges, hellgrünes Hemd mit einer dunkelgrünen Überwurf darüber, den er um die Hüfte mit einem roten Stoffgürtel fixiert hatte, und eine graue Leinenhose. „Oh, tut mir leid, Kinder“, entschuldigte der Mann sich hastig und fuhr sich durch das ohnehin zu allen Seiten abstehende Haar. „Aber ich bin leider etwas spät dran. Oh, er wird mich umbringen…“ Mit diesen Worten lief er auch schon davon, die gewaltige Marmortreppe am anderen Ende des Raumes hoch, und verschwand aus ihrer Sicht. „Vorgesetzte scheinen überall gleich zu sein“, murmelte Nanami nachdenklich, doch bevor Riou oder Jowy etwas dazu sagen konnten, ertönte auch schon Viktors Bass neben ihnen: „Da seid ihr ja!“ Jowy sah zur Seite und entdeckte den Söldneranführer sofort. Selbst wenn die Halle zum Bersten gefüllt gewesen wäre, hätte man ihn wohl immer noch über allen anderen erkannt… Er kannte keinen anderen Mann, der so groß war. „Ihr seid ein bisschen spät, aber das macht nichts“, fuhr Viktor ungerührt fort, nachdem er bei ihnen angekommen war und bedeutete, ihm zu folgen. „Sie ist immerhin eine sehr beschäftigte Lady.“ Diese Erklärung erschloss sich dem Aristokraten nicht unbedingt. „Wen werden wir denn treffen?“, fragte er verblüfft. „Das seht ihr noch früh genug!“, lautete Viktors kryptische Antwort. „Gehen wir.“ Er führte sie die Treppe hinauf und einen langen Gang entlang, in dem ein teuer aussehender, langer Teppich den Marmorboden vor Dreck schützte. Insgeheim wunderte sich Jowy ja, woher jemand wie Viktor jemanden kennen konnte, der im Rathaus von Muse arbeitete. Sicher, der Bär konnte charmant sein, wenn er wollte – auf eine eigentümliche Art zwar, aber immerhin – aber eine wichtige politische Bekanntschaft traute er ihm irgendwie nicht zu. Denn politisch musste diese Bekanntschaft auf jeden Fall sein, da sicher nur Beamte in der Regierung von Muse tätig waren… Oder? War es letztendlich vielleicht Flik gewesen, der diese Beziehung gepflegt hatte? Der Blaue Blitz erschien Jowy auf jeden Fall geeigneter für so etwas und außerdem… „Da sind wir auch schon!“, verkündete Viktor plötzlich und Jowy verfluchte sich wieder einmal dafür, dass er sich zu sehr von seinen Gedanken hatte ablenken lassen. Er sah sich um und stellte fest, dass sie vor einem etwas gelangweilt aussehenden Soldaten angehalten hatten, der sie eher milde interessiert fixierte. „Viktor, nicht wahr?“, sagte er und wies dann hinter sich. „Geht durch.“ Der Söldneranführer ließ sich das nicht zwei Mal sagen und ging an dem Soldaten vorbei, geradewegs auf eine Tür zu, durch die er ohne anzuklopfen trat. Die Jugendlichen tauschten einen Blick und folgten ihm schnell. Sie fanden sich in einem Vorzimmer wieder, das durch teuer aussehende Vorhänge von dem eigentlichen Raum getrennt wurde. An der rechten Wand stand ein Sofa, auf das sich Wartende wahrscheinlich setzen sollten, an der gegenüberliegenden hing das Portrait eines grimmigen Mannes. Die Gravur darunter wies ihn als Bürgermeister Darrel von Muse aus. Jenseits der Vorhänge ertönte eine leicht genervt klingende, tiefe Frauenstimme: „Dann sagt ihnen, dass sie sich mit der Entscheidung beeilen sollen. Diese Leute aus Tinto sind doch alle gleich…“ Ein Seufzen. „Entsendet Fitcher als Boten, er wird uns nicht enttäuschen.“ „J-Ja, natürlich“, erwiderte eine Männerstimme, die Jowy auf Anhieb als unsympathisch empfand. „Wie immer ist Euer Urteil über alles Andere erhaben, Lady A-“ „Ich habe keinerlei Lust, mir dieses Geschleime weiter anzuhören!“, unterbrach die Frauenstimme den Sprecher. „Geht jetzt. Ich habe keine Zeit für Menschen, deren Mund schneller ist als ihre Füße.“ „Na-Natürlich, Mylady!“ Schritte, dann schob ein Mann der Marke Beamter die Vorhänge beiseite und eilte an ihnen vorbei durch die Tür. Viktor lachte und rief, noch während er durch die Vorhänge trat: „Ich habe dich schon Hunderte Male bei der Arbeit gesehen, aber du erstaunst mich immer wieder!“ Als Jowy, Riou und Nanami ebenfalls ins eigentliche Büro getreten waren, sahen sie eine große, rothaarige Frau hinter dem robusten Eichentisch, der direkt vor einem der riesigen Fenster stand, die den Raum in ein angenehm warmes Licht tauchten. Die Frau wandte den Kopf und schien drauf und dran zu sein, eine unfreundliche Antwort zu geben, doch als sie Viktor erkannte, schlich sich ein sanfter Ausdruck in ihre grün-braunen Augen. „Viktor“, sagte sie lächelnd und erhob sich, „du bist ja wirklich gekommen!“ Damit ihr die langen, gelockten Haare nicht ins Gesicht fielen, hatte sie ein blaues Tuch als Bandana umgebunden. Sie trug ein ebenso blaues Oberteil ohne Ärmel mit einer orangen Weste mit Fellbesatz am Kragen und eine enganliegende, sandfarbene Hose, die gemeinsam mit den Stiefeln auf hohem Absatz ihre langen Beine noch mehr betonte. Die Frau kam hinter ihrem Tisch hervor und umarmte Viktor unter dem grimmigen Blick des Mannes, der noch immer neben ihrem Schreibtisch stand. Jowy fiel auf, dass sie fast so groß wie Viktor war. „Dann ist es also wahr?“, fragte die Frau, während sie den Söldner wieder losließ. „Ich habe gehört, dass du dein Fort verloren hast…“ „Das und einiges mehr“, nickte der Bär ein bisschen düster, grinste sie dann jedoch aufmunternd an. Die Frau seufzte, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich halb von ihren Besuchern ab. „Sie haben ja nicht lange gebraucht, um den Friedensvertrag zu brechen. Dieser Luca Blight ist ein wahres Monster…“ Sie schüttelte den Kopf und warf Viktor ein bitteres Lächeln zu. „Ich fürchte, dieser Krieg wird erst dann endgültig vorbei sein, wenn entweder der Staatenbund oder das Königreich Highland in Schutt und Asche liegen.“ „Er ist völlig wahnsinnig“, stimmte Viktor ihr zu. „Ein Wolf, der mit dem Geruch von Feuer und dem Geschmack von Blut großgeworden ist… Dass man ihm nicht trauen kann, steht außer Frage.“ Die Frau seufzte erneut, diesmal schwerer, dann lehnte sie sich gegen die Kante ihres Schreibtisches und ließ ihren Blick über die Jugendlichen schweifen. Der sanfte Ausdruck in ihren Augen war verschwunden. „Was sind das für Kinder?“, fragte sie interessiert. Irgendwie konnte Jowy diese Frau gut leiden, obwohl er sie gerade erst getroffen hatte – aber irgendwie schienen Freunde von Viktor automatisch sympathisch zu sein. „Das sind Riou und Jowy“, stellte der Bär die Jungen vor. Dann grinste er etwas und fuhr fort: „Und dieser kleine Wildfang hier ist-“ „Ich heiße Nanami!“, unterbrach Nanami ihn empört und Viktor lachte. „Ja, ja. Das ist Nanami.“ Die Frau grinste breit und nickte ihnen zu. „Mein Name ist Anabelle“, sagte sie. „Freut mich, euch kennen zu lernen.“ Jowy hatte nicht gedacht, dass eine Frau so wenig mütterlich sein konnte. Sogar Hanna hatte eine Schwäche für Kinder, von Leona, Hilda und Joanna ganz zu schweigen. Aber… Anabelle? Wie die Bürgermeisterin von Muse? Das Oberhaupt des Stadt-Staatenbunds von Jowston?! Oh. Er schluckte und zwang sich, sich zusammenzureißen und die Bürgermeisterin nicht mit offenem Mund anzustarren. „Gleichfalls“, sagte Riou indes und lächelte. „Diese drei und noch ein kleines Mädchen namens Pilika“, erzählte Viktor weiter. „Kannst du noch vier unterbringen? Ich würde sie ja bei mir behalten, aber du weißt wie das ist – man weiß nicht, wann der Krieg ruft…“ „Du kannst sie schlecht mit dir nehmen, ja…“, nickte Anabelle abwesend. Sie betrachtete Jowy nachdenklich und er spürte, wie er unter ihrem Blick etwas zusammenschrumpfte. „Jowy… Atreides?“, fragte sie dann und beim Klang seines Nachnamens zuckte er zusammen. Das hatte er nicht erwartet. „Woher kennt Ihr meinen Namen…?“ „Es gibt einen Landadligen in Highland, der so heißt“, erklärte die Bürgermeisterin. „Und so weit ich weiß, hat er einen Sohn mit diesem Namen. Nicht wahr, Jess?“ Sie blickte zu dem grimmig dreinblickenden Mann herüber, der sofort ein freundlicheres Gesicht machte, als Anabelle ihn ansah. Er hatte dunkelbraunes Haar, das ihm in die Stirn fiel, und braune Augen, doch im Gegensatz zu Rious suchte man dort vergebens nach Wärme. Er trug ein weißes Hemd mit einer grauen Weste mit dunklen Nadelstreifen darauf, eine beige Krawatte und eine sandgelbe Hose – und selbst ohne den etwas feindseligen Ausdruck in den Augen, mit denen er die Jugendlichen bedachte, wusste Jowy, dass er diesen Kerl nicht ein bisschen leiden konnte. „Der ältere von zwei Söhnen“, bestätigte Jess mit einem leichten Nicken in Anabelles Richtung. „Momentan ist er ein Flüchtiger, der in Highland des Hochverrats angeklagt und zum Tode verurteilt ist. Es heißt, Marcel Atreides habe ihn enterbt.“ Einen Moment lang bekam Jowy keine Luft mehr. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus und er ballte hilflos die rechte Hand zur Faust. Jedes Wort hatte ihm einen weiteren Stich ins Herz versetzt… „Jess“, tadelte Anabelle ihren Assistenten halblaut und Jowy spürte ihren mitleidigen Blick auf sich. Seine Fingernägel gruben sich tief ins Fleisch seiner Hand und er spürte, wie er zitterte. Seine Hand tat weh. Er sah wieder das Gesicht seiner Mutter vor sich, die Enttäuschung in ihren Augen. „Ab heute bist du kein Atreides mehr“, klang die Stimme seines Stiefvaters in seinen Ohren und er bemerkte plötzlich, dass ihm unglaublich schlecht war. Oh, bei den Runen… wenn er sich nicht sofort zusammenriss, würde er sich hier und jetzt übergeben! Mühsam zwang sich Jowy, in die Gegenwart zurückzukehren. Meister Genkaku hatte Recht – ein Mann sollte nicht im Schatten seiner Vergangenheit leben. Er durfte sich nicht davon beherrschen lassen… sondern musste nach vorn sehen. Anabelle hatte inzwischen ihre Aufmerksamkeit den Geschwistern zugewandt und konzentriert die Stirn gerunzelt. „Ihr beiden… Heißt euer Adoptivvater Genkaku?“, fragte sie. Jowy vertrieb sein eigenes Unwohlsein aus seinem Kopf und sah zwischen der Bürgermeisterin und seinen Freunden hin und her. Viktor gab ein seltsames Geräusch von sich, als ob er sich verschluckt hätte. Was im Namen der 27 Wahren Runen war hier los…? „Woher wisst Ihr das?“, fragte Nanami verblüfft. „Kennt Ihr Großvater?“ „So würde ich das nicht sagen“, entgegnete Anabelle ausweichend. „Aber ich habe gehört, dass Meister Genkaku zwei Kinder adoptiert hat… und wenn ich mich richtig erinnere, waren ihre Namen Riou und Nanami. Also stimmt es?“ „Nun, ja…“, nickte Riou verwirrt. „Aber was…?“ „’Meister’ Genkaku?“, wurde er von Nanami unterbrochen. Sie warf Jowy einen Blick zu; nur er hatte ihren verstorbenen Lehrmeister so genannt. „Du meinst doch nicht…“, begann Viktor, ließ die Frage jedoch offen. Er betrachtete die Jugendlichen ungläubig. Anabelle sah zu ihm und schüttelte den Kopf, kurz blitzte wieder der sanfte Ausdruck in ihren Augen auf. „Nicht, Viktor. Ich erzähle es ihnen selbst, wenn ich Gelegenheit dazu habe. Bis dahin…“ Sie unterbrach sich und lächelte. „Geht es Meister Genkaku gut?“ Jowy biss sich auf die Lippe. Noch eine unerfreuliche Erinnerung… Allmählich verspürte er das Bedürfnis, in sein Bett in Leonas Taverne zu kriechen und die nächsten paar Tage nicht mehr rauszukommen. „Großvater Genkaku… ist letztes Jahr gestorben…“, flüsterte Nanami betrübt. „Das tut mir leid“, sagte Anabelle leise und seufzte. „Dann konnten wir also die Verbrechen gegen ihn nicht wieder gut machen…“ „Verbrechen wieder gut machen?“ Riou hatte die Stirn gerunzelt und sah die Bürgermeisterin durchdringend an. Eines musste Jowy ihr lassen – sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen. Er hätte unter diesem Blick längst nachgegeben und seinem Freund alles erzählt, was dieser hören wollte… Aber wahrscheinlich war es die tägliche Arbeit mit Politikern, die Anabelle abgehärtet hatte. „Lasst uns darüber reden, wenn wir mehr Zeit haben“, schlug sie vor. „Momentan muss ich mich um die Highland-Armee kümmern, die direkt vor unserer Grenze campiert…“ Sie atmete durch und blickte zu ihrem Assistenten herüber. „Jess, ich lasse die drei in deiner Obhut.“ Irgendwie hatte Jowy das Gefühl, dass Jess jeden anderen, der ihm befohlen hätte, auf sie aufzupassen, wohl nur mit einem herablassenden Blick bedacht hätte. So jedoch neigte er den Kopf und erwiderte: „Wie Ihr wünscht, Mylady.“ Er ging zu den Jugendlichen herüber und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Widerwillig tat Jowy wie geheißen; viel lieber wäre er hier bei Anabelle geblieben. Er wollte wissen, wovon sie und Viktor gesprochen hatten… beziehungsweise was sie ihnen verschwiegen. Jess führte sie hinaus in den Gang vor Anabelles Büro und Jowy fiel auf, dass sich sein Gesichtsausdruck verdüsterte, als er an Viktor vorbei ging. Da hatte er Söldner anscheinend keinen Freund in dem Beamten gefunden… Doch als sie draußen auf dem Gang standen, wirkte Jess nicht mehr ganz so feindselig – was nicht hieß, dass Jowy ihn dadurch lieber mochte. „Ihr habt völlige Bewegungsfreiheit hier im Rathaus“, erklärte der Assistent. „Das heißt, ihr könnt in die Stadtbibliothek und auch hier ins Museum. Solange ihr niemanden bei der Arbeit behindert, geht das völlig in Ordnung. Aber bitte stört Lady Anabelle nicht, sie hat zurzeit viel um die Ohren…“ Er warf einen Blick zurück zu der Tür, durch die sie soeben getreten waren, und schüttelte irgendwie missbilligend den Kopf. Dann sah er wieder zu den Jugendlichen. „Wenn ihr etwas braucht, fragt einfach. Entschuldigt mich jetzt, ich muss noch ein paar Dinge erledigen.“ Jess entfernte sich schnell und an der Art, wie er ging, erkannte Jowy ohne Mühe, dass er froh war, sie losgeworden zu sein. Warum auch nicht, sie waren ja nur Kinder, die man nicht mit in den Krieg nahm… Noch im Söldnerfort hatte Viktor ganz anders geklungen. Aber andererseits war das Fort gefallen und mit ihm alles, was der Bär sich aufgebaut hatte… „Was für ein unfreundlicher Kerl“, schnaufte Nanami und streckte Jess’ Rücken, der soeben hinter einer Biegung verschwand, demonstrativ die Zunge raus. Riou wandte sich besorgt zu Jowy um und fragte: „Ist mit dir alles in Ordnung?“ In Ordnung? Wohl kaum. Aber wenn er sich seinen verdrängten unangenehmen Erinnerungen jetzt hingab, würde er hier und jetzt einen Heulkrampf bekommen… „Mhh…“ Seine Antwort war in dem Sinne keine, aber Riou ließ es dabei bewenden. „Und was jetzt?“, fragte der braunhaarige Junge stattdessen. „Warum schauen wir uns nicht etwas um?“, schlug Nanami vor, die der Richtung, in der Jess verschwunden war, noch einmal einen bösen Blick zuwarf. „Umschauen? Du bringst uns doch nur wieder in Schwierigkeiten…“, bemerkte Jowy stirnrunzelnd. „Überhaupt nicht! Und außerdem hat er doch gesagt, dass wir völlige Bewegungsfreiheit haben.“ Riou unterbrach das Geplänkel, indem er lachte und dann erwiderte: „Er hat doch etwas von einer Bibliothek gesagt. Ehrlich gesagt, gibt es da ein paar Dinge, die ich nachlesen möchte…“ Er begegnete Jowys Blick und der Aristokrat verstand. Sie gingen auf direktem Weg zur riesigen Bibliothek, die sich mit im Rathausgebäude befand, ohne auf Nanamis Proteste zu hören, dass Bücher langweilig waren und es sicher zehntausend andere Dinge gab, die man sich hätte anschauen können. Aber es ging nicht darum, ob ein Besuch in der Stadtbibliothek von Muse langweilig war – sondern viel eher darum, dass sie noch immer nicht wussten, was es wirklich mit den Runen auf sich hatte. Irgendwie wünschte sich Jowy sehr, sehr dringend Leknaat herbei, um sie darüber ausfragen zu können… aber natürlich würde die Hüterin der Torrune nicht einfach so erscheinen, nicht wahr? Als sie die Bücherei betraten, blieb Jowy der Mund offen stehen; eine so riesige Ansammlung von Büchern hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Sicher, die Atreides-Familie verfügte selbst über eine ganz passable Sammlung an antiken Schriften und seltenen Büchern, aber damit konnte sie sich beileibe nicht messen. Selbst Nanami schien es die Sprache verschlagen zu haben! „Kann ich euch helfen?“ Eine junge Frau war an sie herangetreten und lächelte die drei freundlich an. Sie hatte strahlendrotes Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war, trug ein dunkles Kleid und eine Brille, die ihre blauen Augen irgendwie größer erscheinen ließ. „Äh“, begann Jowy etwas überrumpelt von ihrem plötzlichen Erscheinen. „Wir suchen ein paar Bücher…“ „Das habe ich mir schon fast gedacht“, lachte die Frau vergnügt. „Irgendetwas Bestimmtes?“ „Hier gibt es nicht zufällig Bücher über… Wahre Runen?“, fragte Riou zögernd, als ob er fürchtete, dass die Bibliothekarin ihnen sofort auf die Schliche kam. Diese machte zuerst ein überraschtes Gesicht, grinste dann jedoch. „Oh, seid ihr Studenten aus Greenhill?“ „Was?“ Nanami hob irritiert eine Augenbraue. „Was für Studenten?“ „Ach, tut mir leid“, entschuldigte sich die junge Frau. „Es kommen oft Studenten aus der Akademie von Greenhill hierher, um sich über alles Mögliche zu informieren. Ihr habt das richtige Alter, da dachte ich, ihr wärt auch welche…“ „Nein, wir… sind nur neugierig“, winkte Jowy ab. „Dann sucht euch einen freien Tisch, ich schaue, was ich finden kann!“, rief ihnen die Bibliothekarin über die Schulter hinweg zu, während sie schon auf dem Weg zu einem der unzähligen Bücherregale war. „Setzen wir uns“, nickte Riou, nachdem die junge Frau außer Sicht verschwunden und die Jugendlichen allein zurückgeblieben waren, umgeben von Tischen, an denen über dicke Wälzer gebeugte Personen saßen, und hohen Bücherregalen. „Scheint, als könnte das eine Weile dauern.“ „Das ist so öde!“ Aber Nanamis Proteste blieben unbeachtet und sie nahmen an einem leeren Tisch Platz. Vielleicht war es ja doch möglich einen Nutzen daraus zu schlagen, dass man sie wie kleine Kinder zurücklassen wollte… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)