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Verflochtene Schicksale

Gemeinschafts-FF mit selena12
von

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Steinzeit

Connichi wa, lieber Leser!
 

Diese Fanfic, die du hier gleich lesen wirst, ist eine Gemeinschaftsarbeit mit selena12.
 

Wir beide wünschen viel Vergnügen mit unserem Werk querbeet durch die Geschichte unserer Welt.
 

______________________________________________________________________________________________
 

Prolog
 

Ein Leben ist etwas Kostbares. Es beginnt mit Liebe und es endet in Frieden.

So sollte er zumindest sein...
 

Ich war schon immer anders. Doch ich hatte es nie bemerkt. Es war schmerzvoll, es zu erfahren.

Ich wuchs auf wie andere Kinder auch. Wir waren etwa zehn Kinder in unserem Stamm.Unter der Aufsicht der Frauen spielten wir wie wilde kleine Löwen in unserer Höhle, sprangen und schnappten nacheinander, rissen uns die Haare aus und erprobten unsere Stärke. Laut fauchend und lachend rollten wir über den rauen Stein und scheuerten uns dabei alles blutig. So wurden wir gemeinsam groß. Bis die Mädchen den halben Tag über mit ihren Müttern loszogen, um zu lernen, welche Pflanzen essbar waren und welche nicht, und die Jungs von ihren Vätern die Kunst des Jagens erklärt bekamen.

Mir war zuvor nie aufgefallen, dass ich als einziger keine Eltern hatte, die mich auf die Jagd hätten mitnehmen können. Bisher waren wir immer eine große Gruppe gewesen. Viele Kinder, viele Eltern, und jeder kümmerte sich um uns. Doch plötzlich war es nicht mehr so. Auf einmal löste sich die zuvor große Gruppe in viele kleine Grüppchen auf.

Sonst hatte ich mich in den Nächten einfach zu jemandem dazugelegt, mich an eine Mutter oder einen Vater gekuschelt, an einen Spielkameraden der auch mal ein Mädchen. Damals war das normal. Es war in Ordnung.

Es war eine ganz neue Erfahrung für mich, plötzlich allein zu Hause zu bleiben, während die anderen Kinder weit außerhalb unseres Heimes erwachsen wurden. Wenn sie abends nach getaner Arbeit heimkamen, gab es zu essen, was sie mitbrachten. Es wurde geschwiegen und dann geschlafen. Keiner wollte mehr mit mir raufen. Mitnehmen in die große weite Welt wollte mich auch niemand. Auch war ich der Einzige von uns, der noch quiekte oder überhaupt spielen wollte. Der Rest beschränkte sich wie die Erwachsenen auf Knurren und Schreien. Mir war furchtbar langweilig. Meine Freunde hatten keine Zeit mehr für mich und der neue Nachwuchs wollte nicht mit mir spielen, da ich zu groß und zu kräftig für sie war. Ich hatte keine Aufgabe mehr in der Gruppe, keinen Rang und keinen Wert. Oftmals sahen mich meine ehemaligen Gefährten an wie ein dummes Junges. Als seien sie jetzt die Eltern und ich der Einzige, der nicht mitgereift war. So war es ja auch. Heute weiß ich das .Schon bald bemerkte ich zudem, dass ich nicht mehr wuchs. Doch mein Spiegelbild auf dem Fluss zeigte nach wie vor ein Kind. Ein Kind, das bereits seinen vierzehnten Schnee zählte. Aber wie konnte das sein? Meine Altersgenossen wuchsen weiter und weiter, wurden alt und erwachsen. Mein Körper zeigte keinerlei Veränderungen.

Eines Abends kam eine meiner früheren Spielkameradinnen zu mir, setzte sich neben mich und gab mir einen Apfel. Dabei war es schon lange nach Essenszeit. Verwundert betrachtete ich den Apfel in meinen Händen, drehte das frische, rote Bällchen nachdenklich und biss hinein. Er war süß und lecker. Freudig saugte ich den Saft heraus und biss sogleich wieder zu. Während ich so kaute fiel mir auch ein, woher mir diese Szene bekannt vorkam. Ich hatte, wenn ich des nachts nicht schlafen konnte und mich an die erloschene Feuerstelle hockte, um noch etwas Wärme zu ergattern, schon öfter gesehen, wie Frauen einem Mann Obst brachten. Kurz darauf hörte ich immer so komische Laute, dass mir manchmal richtig Angst kam. Ich hatte bisher nicht herausgefunden, was das für Geräusche waren.

Nachdenklich aß ich meinen Apfel zuende und schnippte die übriggebliebenen Kerne ins Feuer. Freundlich lächelnd drehte ich mich zu ihr um und gab ein kurzes, dankbares Schnaufen von mir.

Sie stierte mich mit ihren grünen Augen auf ganz merkwürdige Weise an. Fragend legte ich den Kopf schief. Ihr Blick war so erwartungsvoll... Aber ich wusste nicht, was sie von mir erwartete. Jedenfalls noch nicht. Das sollte sich gleich darauf ändern.

Ungeduldig grunzte sie mich an und rückte näher an mich heran. Sollte das ein neues Spiel sein? Sah jedenfalls interessant aus.Also rückte auch ich ein Stück näher zu ihr heran und wartete gespannt auf den Fortgang des neuen Spiels. Sie kam ihrerseits wieder näher, so dass sie nun direkt vor mir saß und beugte sich zu mir vor. Verständnislos blickte ich sie an, als sie ihre Lippen stumm auf die meinen legte. Das war ein komisches Spiel. Ob das wohl noch lustiger wurde?

Plötzlich und ganz unerwartet packte ihre Hand mich zwischen den Beinen, woraufhin ich erbost aufschrie, auf meine Füße sprang und mich mit einem großen Satz in die andere Ecke der Höhle flüchtete.

Wütend schrie sie mich an, ich schrie zurück und so weiter. Was wollte die überhaupt von mir? Eine Frechheit, mich einfach so zu packen! Und dann noch die Hand, die dabei über meine Brust wanderte.

Natürlich weckte unser lautes Gezeter die ganze restliche Sippe ,die sich auch gleich um sie gruppierte. Es brauchte nur einen kurzen Fingerzeig von ihr auf mich und einen der Kerne, die nicht im Feuer gelandet waren, und alle Augen ruhten böse dreinschauend auf mir. Was hatten sie denn nur?

Ich war es, der hier angegriffen wurde! Mit einem langen missgelaunten Quietschen verlieh ich meinem Unmut über die vorherrschende Situation Ausdruck und hoffte auf Unterstützung, aber Fehlanzeige.

Ich verstand gar nicht, was ich falsch gemacht hatte, aber was immer es auch war, es führte dazu, dass ich aus der Sippe verbannt wurde. Völlig überrumpelt zog ich als Ausgestoßener durch die Wälder.

Ich war zuvor nie viel draußen und wusste daher gar nicht, wie schön es hier ist.

Meine Ernährung bestimmten die Pflanzen, die ich von zu Hause wiedererkannte und gelegentlich auch das Fleisch toter Tiere, die ich hier und da mal fand. Ich selbst wurde zum Glück nicht angegriffen, weder von Jägern noch von Raubtieren.

Ich weiß gar nicht, wie lange ich so umherstreifte, doch irgendwann traf ich auf meinesgleichen. Zumindest hielt ich sie für Meinesgleichen. Sie sahen ja schon irgendwie aus wie meine Familie. Nur, dass diese Wesen nicht nackt, sondern in Fell gehüllt waren und bemalte Gesichter hatten. Unsicher, ob ich Anschluss suchen sollte, harrte ich in meinem Versteck, einer üppig belaubten Hecke, aus und beobachtete sie. Ihr Verhalten war anders als das mir bekannte von daheim. Meine Angst vor ihnen wuchs und wuchs, mit jedem Mal, dass ich sie erblickte. Sie trugen unheimliche Dinge bei sich. Lange Stöcke mit steinernen Spitzen, kleine keilförmige Dinger oder manchmal auch große Gesteinsbrocken.

Doch über kurz oder lang – ich musste aus meinem Versteck kommen. Mein Magen verlangte schon seit Tagen nach Füllung und die da hatten garantiert Nahrung.Aber würden sie mich denn aufnehmen?

Vorsichtig kroch ich aus dem Busch und vernahm sogleich ein alarmiertes Rufen.

Es dauerte nicht lange, da war ich umstellt von hochgewachsenen Männern, die ihre Speere auf mich richteten. Ängstlich wimmernd rollte ich mich zusammen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Ich hatte furchtbare Panik. Es war dumm, herauszukommen! Warum war ich nur so dumm?

Der Mann vor mir, er schien der Stammesfürst zu sein, rief mir etwas zu, woraufhin ich verwirrt meinen Blick hob und ihn anstarrte. Er gab so viele Laute von sich. Mehr als nur Grunzen oder Fauchen. Und diese Laute schienen zusammenzugehören.
 

Dies war meine erste Begegnung mit der Sprache. Bis heute habe ich so gut wie alle Sprachen gelernt, die jemals auf diesem Planeten gesprochen wurden, und ich beherrsche sie noch heute. So wie ich auch jede Kultur gesehen habe, sie erlebt und gefühlt habe.
 

Eine Weile geschah nichts, dann teilten sich die Reihen und ein schlanker, gut gebauter junger Mann baute sich vor mir auf. Er schien nicht viel älter zu sein als ich, doch war seine Erscheinung in diesem Moment so furchteinflößend für mich, dass ich mich hastig wieder einrollte und den Kopf schützend unter meinen Armen vergrub.

Der junge Mann beugte sich zu mir herab und strich mir kurz durchs Haar, dann stand er wieder auf und sagte etwas. Heute weiß ich, was er damals rief. »Ein Junges einer anderen Sippe.Wir werden ihn aufnehmen.«

Obwohl ich ihn damals nicht verstand, merkte ich doch deutlich, wie die gespannte Atmosphäre wich und man mich aufhob und hereintrug.

Ich wehrte mich nicht gegen die Hände, die mich aufhoben. Ich hielt mir noch immer die Augen zu. Doch als ich abgesetzt wurde, packte mich trotz aller Furcht die Neugier. Ich nahm die Hände vom Gesicht und blickte mich um.

Die Höhle war groß – größer als mein altes Zuhause. Aber auch heller und wärmer. Statt eines großen Feuers brannten an verschiedenen Stellen innerhalb der Höhle mehrere kleine Feuer. Verwirrt sah ich genauer hin. Die Feuer lagen in kleinen Steinkreisen. Heute weiß ich natürlich, dass das eine Schutzmaßnahme war, damit die Felle kein Feuer fingen, die überall in der Höhle herumlagen.

Der braunhaarige Junge von eben kam wieder auf mich zu. Mit großen hilflosen Augen beobachtete ich, wie er sich vor mich hockte und mir ein mir unbekanntes Obst anbot.

Ich zögerte, da ich mich plötzlich an den Zwischenfall damals – war das wirklich schon so lange her? – erinnert fühlte. Vielleicht flog ich ja wieder raus, wenn ich die Frucht aß? Aber hier drin war es doch so schön warm. Sie hatten mich nahe eines Feuers abgesetzt.

Ich schüttelte also den Kopf, um die Frucht abzulehnen. Dann musterte ich den Jungen wieder. Er war ziemlich groß und hübsch, hatte wildes, ungebändigtes Haar, dass ihm in die Augen fiel, die leuchteten wie der Sommerhimmel und seine Haut war ganz blass. Aber nett sah er nicht gerade aus. Eher mürrisch und genervt. Ob das meine Schuld war?

„Vhas schnah debru gha?“

Ich blickte ihn verständnislos an. Er hob eine Augenbraue.

„Vhas gha?“

Wieder starrte ich ihn nur an wie eine Kuh auf der Weide. Diese merkwürdigen Laute... Wie machte er das?

Der brünette Schönling seufzte ungläubig.

Nachdem er sich die Haare aus der Stirn gestrichen hatte, die sogleich wieder zurückkamen, sah er mir mit einem todernsten Blick in die Augen, hielt mir seine ausgestreckte Hand vors Geicht, legte sie danach auf seine Brust und sagte laut und deutlich „Schnarrg!“

Er ließ seine Ernsthaftigkeit eine Weile auf mich wirken, dann piekte er mir mit einem Finger in die Brust. Perplex sah ich auf den langen weißen Finger herunter. Ich verstand nicht.

Wieder ein entnervtes Seufzen.

„Schnarrg!“, er zeigte auf sich.

„...?“, er zeigte auf mich.

Ich wimmerte hilflos.Was wollte er von mir?

Nun nahm er meine Hand und legte sie auf seine Brust.

„Schnarrg.“

Seine Stimme war sanfter geworden. Dadurch ermutigt, versuchte ich, die Laute zu immitieren.

„Sssss-.... shh hhh .... ksch.. chsch....aaaaa...g-kk?“

Ich scheiterte grandios.
 

In den folgenden Wochen und Monaten übte Schnarrg beinahe jeden Tag mit mir das Sprechen. So langsam begann ich simple Zusammenhänge zu begreifen, ja konnte mich sogar mehr und mehr an den abendlichen Gesprächen beteiligen. Ich war gut aufgenommen worden. Und ich stellte fest, dass ich Schnarrg mochte. Er war weit netter, als er aussah.

Nun verstand ich seine Fragen auch viel besser.

Meine Schlafstadt lag direkt neben seiner und wenn wir abends wachlagen, pflegte er mich nach meiner Herkunft zu fragen. Er wollte absolut alles über mich wissen. Wo ich herkam, wie alt ich war, warum ich von meiner Familie getrennt worden war... Doch Antworten, die konnte ich ihm leider kaum geben.
 

Zu Beginn des nächsten Sommers wollte Schnarrg mich sogar mit auf die Jagd nehmen.

Ich freute mich wie ein Schneekönig und rannte schon in den späten Wintermonaten mit meinem kleinen Keil durch das Gebüsch vor der Höhle, um kleine Vögel aufzuschrecken.
 

Doch als der Tag dann kam, wünschte ich mir, er hätte mich niemals mitgenommen. Denn am Tag meiner ersten Jadg wurde ich mit dem Begriff der Liebe konfrontiert. Und ich verlor meinen wichtigsten Freund.
 

Noch im Morgenrot rüttelte Schnarrg mich wach. Wir mussten los.

Ich saß sofort aufrecht auf meinem Lager, strahlte ihn an und hüpfte aus den noch kuschelig warmen Fellen, um ihm zu folgen.

Wir entfernten uns nicht weit von der Höhle. Unser Ausflug führte uns zum nahe gelegenen Tümpel.

Schnarrg war ein erfahrener Jäger.

Auf leisen Sohlen folgte ich ihm durch das dichte Gestrüpp, immer darauf bedacht, leise zu sein.
 

Nun, was soll ich sagen?

Trotz aller Bemühungen war ich in den raschelnden Ästen in etwa so still wie eine Mücke an einem lauen Sommerabend. Nicht laut, aber kaum zu überhören. Der Jagderfolg hielt sich in äußerst überschaubaren Grenzen.

Immerhin hatten wir eine Ente gefangen.... Nagut, die war schon to gewesen, aber wir hatten sie eingesammelt.

...

Der gute Wille zählt.
 

Der Tag neigte sich dem Ende. Erschöpft und geschafft ließen wir uns am Ufer nieder und tranken ein paar Schlucke. Mit einem melancholischen Lächeln auf den Lippen stieß Schnarrg die tote Ente, die ich die ganze Zeit in der Hand hielt, mit dem Fuß an. Er hoffte, sie sei nicht krank. Und es sei an der Zeit, zurückzukehren.

Ich bat ihn, doch noch etwas zu bleiben. Der Tag war noch nicht vorbei und ich wollte doch so gerne meine erste eigene Beute mit nach Hause bringen. Dafür musste ich nur erstmal etwas erbeuten.
 

Meine Wahl fiel auf einen kleinen braunen Hasen, der in der Nähe auf dem Rasen saß und sich sonnte. Mit hoch erhobenem Speer rannte ich auf diesen zu, ein lautes Brüllen ausstoßend.

Der Hase sprang weg, ich fiel hin, Schnarrg lachte herzlich... Das Leben war ungerecht.

Und mein toller Freund, der amüsierte sich köstlich.

So einfach gab ich aber nicht auf!

Schnell sprang ich wieder auf die Füße und wetzte dem Vieh hinterher. Das war ganz schön anstrengend. Aufhören konnte ich jedoch auch nicht einfach. Das wäre zu peinlich gewesen. Ich musste diesen Hasen jetzt erwischen!

So verfolgte ich das Biest weiter, begleitet von Schnarrgs ständigem Hohn, und verfolgte das kleine Biest bis in eine Felsscharte. Jetzt hatte ich ihn!

Hastig lief ich auf ihn zu, um ihn zu packen, als ich ein tiefes Knurren hinter mir hörte.

Ich erstarrte.

Auch Schnarrgs Gelächter konnte ich nicht mehr hören.

Der Augenblick schien stillzustehen.

Langsam, ganz langsam drehte ich mich um. Und erstarrte erneut.

Vor mir stand ein Rieseneber und scharrte angriffsbereit mit dem Huf im Dreck.

Schluck schwere Not! Ich war geliefert.
 

Ich rede nicht gerne über das, was damals war.
 

Das Riesenvieh preschte auf mich zu, Schnarrg ging dazwischen und....
 

Er war schwer verletzt.

Ich kniete neben ihm und hielt seine Hand.

Er sah mich an. Er blutete.
 

Und was er damals zu mir sagte, habe ich niemals vergessen.
 

„Ich liebe dich.“

Und „Ich habe endlich einen Namen für dich.“

Die Sonne ging gerade unter.

Das letzte Wort, das er sagte, war „Atemu.“

Dann war er tot.
 

Atemu – Sonnenuntergang.
 

Bis tief in die Nacht saß ich bei ihm und weinte.

Ich hatte nicht verstanden, was er zu mir sagte. Ich kannte das Wort Liebe nicht.

Aber ich hatte einen Namen. Einen Namen von ihm. Und er war tot. Und es tat weh.
 

Erst viel später kehrte ich zu seinem Stamm zurück.

Sie begruben ihn. Auch das verstand ich nicht.
 

Die Dinge, die ich damals nicht verstand, lernte ich in den Folgejahren zu verstehen. Der Schmerz über Schnarrgs Verlust ließ mit der Zeit nach. Ich dachte noch oft über seine letzten Worte nach.

Auch jetzt noch.

Lange bin ich nicht bei meinem neuen Stamm geblieben. Das Leben wandelte sich, ich aber tat es nicht. Ich wurde nicht alt und ich starb nicht.

Aber ich musste viele Menschen sterben sehen.

Ich brach auf und zog weiter, immer Richtung Süden.
 

So beginnt meine Geschichte.

Willst du sie hören?

Dann lausche. Denn sie ist lang und voller Abgründe.
 

Ende des Prologs

Kemet

Ägypten, ca. 3000 Jahre vor Christus.

Ein junger Mann rannte hastig durch die zahllosen Stände des belebten Marktplatzes, auf dem eifrige Händler ihre mehr oder minder kostbaren Waren feilboten. Wie ein Schwarm aufgebrachter Insekten schwirrten die Massen von einem Stand zum nächsten, immer auf der Suche nach edlen Stoffen, frischen Früchten und kunstvoll gearbeitetem Schmuck. Der junge Mann fand dabei keine Beachtung, wurde nur hin und wieder zur Seite geschubst oder kollidierte mit einem besonders muskelbepackten Exemplar der Gattung Mensch, das sich beharrlich weigerte ihm Platz zu machen. Der junge Mann verzog das Gesicht. „Gut gemacht, Atemu. Sich heimlich wegschleichen, nur um ihn zu sehen und dann ist er nicht einmal da. Einfach wunderbar gelaufen“, maßregelte er sich selbst und unterdrückte einen derben Fluch. Zumindest war ihm noch keiner auf die Schliche gekommen.
 

Eilig nahm Atemu die nächste Biegung, als er plötzlich rüde an seinem Mantel nach hinten gezogen wurde und mit dem Gesicht voraus an eine breite Brust prallte. „Loslassen!“, befahl er erschrocken, doch seinen Worten zum Trotz packte ihn jemand, zweifellos der Besitzer der breiten Brust, grob am Kinn und schnalzte abschätzend mit der Zunge. Auch Atemu nahm den Unbekannten nun genauer ins Visier. Der Mann war groß, ungeschlacht und eine tiefe Narbe lief quer über seine nackte Brust. An seinem Lendenschurz befestigt baumelte ein Krummsäbel, auf dessen Griff Hieroglyphen eingeritzt waren, die den Mann als Diener des Pharaos auswiesen.

„Nur eine Wache“, erkannte Atemu beruhigt. Wenn er schon wem ungebeten in die Arme laufen musste, dann war ihm eine Wache zumindest wesentlich lieber als das sonstige Gesindel, was sich in den Straßen Memphis herumtrieb und auf leichte Beute hoffte.
 

„Sososo. Was ist mir denn hier Verdächtiges in die Arme gelaufen?“, bemerkte die Wache zwischenzeitlich und betrachtete argwöhnisch den braunen, zerfetzten Mantel, dessen bessere Tage sich nicht mal mehr erahnen ließen sowie den zu kurz geratenen Träger des Ganzen, dessen…bessere Tage, der verschmutzten Haut nach zu urteilen, wohl auch schon länger her waren. Anklagend zeigte der Wächter auf Atemus umhangbedecktes Gesicht, von dem man außer einer feinen Nase und reserviert blickenden Augen nicht mehr viel erkennen konnte.

„Leute wie du haben normalerweise etwas zu verbergen“, murmelte der Mann wie im Selbstgespräch, ließ Atemus Kinn los und griff stattdessen nach seinem Arm. „Wollen nicht erkannt werden…was ist? Wirst du gesucht? Habe ich hier eine kleine Ratte erwischt?“ Seine Finger krallten sich in Atemus Fleisch, der leise vor Schmerz stöhnte. „Einen hinterhältigen Dieb?“ Abschätzend musterte er Atemu von oben bis unten, wohl in dem Versuch herauszufinden, was und wo dieser in dem Ungetüm eines Kleidungsstücks etwas versteckt haben könnte.
 

„Ihr irrt Euch“, keuchte Atemu und widerstand tapfer der Versuchung, sich loszureißen und zu fliehen – wahlweise auch, der Wache für ihre grobe Behandlung einen Tritt in die Weichteile zu verpassen. „Ich habe nichts gestohlen und mich auch sonst keines Vergehens strafbar gemacht. Das schwöre ich bei allen Göttern! Mein Vater ist ein einfacher Bauer. Bessere Kleidung habe ich daher nicht.“

Angestrengt bemühte er sich um ein fipsiges, klägliches Stimmchen und furchtgeweitete Augen, was der Wache entweder den Eindruck vermitteln musste, er hätte wirklich nichts Gutes im Schilde oder aber wäre die personifizierte Unschuld, die nur aufgrund widriger Umstände (man könnte sie schlichtweg Pech nennen) in die Klauen des Gesetzes geraten war. Er hoffte letzteres, denn wenngleich er sich durchaus wehren konnte, hatte er keine Lust sich mit einer eventuellen Verstärkung des Soldaten herumzuschlagen. Vor allem, da sein Ziel eigentlich ‚Bleib möglichst unauffällig und unerkannt’ gewesen war. Zumindest das ‚unerkannt’ klappte bisher prima, über den Rest hingegen konnte man sich getrost streiten. Sehr zu Atemus Freude spuckte die Wache jedoch nur fluchend auf den Boden und lockerte endlich ihren Mördergriff um Atemus Arm, der sicherlich morgen ein paar hübsche blaue Flecken aufweisen würde – eine angesichts der nahenden Freiheit allerdings vernachlässigbare Tatsache, wie Atemu fand.
 

„Verschwinde“, knurrte die Wache verächtlich und schubste ihn angewidert weg. „So wie du aussiehst, bist du bestimmt voller Läuse und Flöhe. Ich durchsuche dich und bin anschließend genauso verseucht wie du. Das macht meine Frau nicht mit. Eins sage ich dir aber: Lass dich hier nicht noch einmal blicken, sonst werde ich ungemütlich“ Der Mann befingerte warnend das Krummschwert an seiner Hüfte. „Kapiert, Kleiner?“

Atemu vollführte eine demutsvolle Verbeugung und verkniff sich dabei ein zufriedenes Grinsen. „Sehr wohl. Habt vielen Dank für Euren Großmut. Ich weiß ihn zu würdigen.“ Dann machte er flink auf dem Absatz kehrt und rannte weiter in Richtung Ptahtempel, seinem eigentlichen Ziel. Er war vorher schon spät dran gewesen, aber diese Verzögerung hatte seinen Zeitplan völlig über den Haufen geworfen. Das verhieß nichts Gutes.
 

Wie erwartet kam er hoffnungslos zu spät. Einem bösen Omen gleich ragte der prächtige Tempel vor ihm auf, sein Eingang ein klaffendes Maul, in Schatten gehüllt und gänzlich verlassen. Die sonst so eifrig und hin- und her huschenden Tempelpriester mussten bereits in ihre allabendlichen Rituale vertieft sein; nur eine Katze streifte Atemus Weg und fauchte erbost, als sie unwirsch zur Seite geschoben wurde. Mit einem anmutigen Satz sprang sie auf einen Granitsockel und fixierte Atemu aus grünen Augen vorwurfsvoll. Letzte vereinzelte Strahlen der untergehenden Sonne tanzten synchron auf den gigantischen Statuen, die das Tor säumten und ließen die sonst so starr wirkenden Mienen der stillen Wächter bedrohlich funkeln. Atemu schluckte unbehaglich. „Ich mache es wieder gut“, raunte er im Vorbeilaufen, rannte in den Tempel, schlidderte über den polierten Marmorboden, ging gedanklich jede Abkürzung durch, die ihn noch retten könnte und…rannte prompt in einen kleinen, beleibten Mann, der sich gerade noch auf den Beinen halten konnte, während Atemu mit einem „Uff“ zu Boden fiel. Vorsichtig sah er hoch.
 

Da war er. Der Schrecken. Das Antlitz allen Unheils. Atemus persönlicher Horror. Shimon! Sein…Kindermädchen. Atemu seufzte. Shimon auch. Nur bei ihm klang es zunächst wie das kehlige Grummeln eines wütenden Hundes, bis es sich zu einem leidenden Ächzen steigerte, um in einem qualvollen „Prinz Atemu, nicht schon wieder!“ zu enden. Atemu hatte keine Gelegenheit mehr zum Umziehen gehabt. Punkte allerdings an Shimon, dass er ihn trotz des Umhanges gleich erkannte. Ruppig packte Shimon Atemu an den Schultern und besah ihn sich beinahe ungläubig.

„Was für Lumpen tragt Ihr da?!“, schrie er aufgebracht und drehte Atemu einmal um die eigene Achse. „Ihr seid der Kronprinz! Der zukünftige Pharao! Gar ein Gotteskind! Wenn Euch nun jemand so sieht? Und Euer Gesicht. Voller Dreck! Was habt Ihr gemacht? Euch im Nilschlamm gesuhlt?“ Hektisch winkte er einen Diener herbei, der nervös näher trat. „Stell dem Prinzen eine Schüssel Wasser bereit, Kleidung…Öle, einfach alles, was er braucht, aber verlier kein Wort darüber, was du hier gerade gesehen hast. Und lhr…“ Sein Blick durchbohrte Atemu eisern, sein Hut wackelte gefährlich. „Zieht Euch sofort um. Ich werde solange den Gaufürsten in Schach halten. Nur beeilt Euch bitte!“
 

„Beruhig dich“, winkte Atemu ab und lupfte seinen Mantel, den ihm Shimon allerdings sogleich wieder über den Kopf zog. Sicher war sicher. „Ich war vorsichtig und selbst wenn ich erkannt worden wäre, hätte es keiner gewagt, mich ernsthaft infrage zu stellen.“ Bei der aufmerksamen Wache vom Marktplatz würde Atemu dafür zwar nicht die Hand ins Feuer legen, aber das musste Shimon nicht wissen. Der tigerte auch so schon nervös auf und ab.

„Trotzdem hätte sonst was passieren können! Diebe, die Euch auflauern…Mörder. Der Abschaum Kemets, der sich die Gelegenheit, Euch zu schänden, gar zu töten, nicht hätte entgehen lassen. Ihr seid einfach zu unbedacht.“ Er klang resigniert und Atemu spürte tatsächlich den Anflug eines schlechten Gewissens.

Der alte Mann machte den Eindruck, als wäre er einem Herzinfarkt nahe. Zudem war seine Sorge echt und Atemu hasste sich dafür, Shimon immer wieder in diese Situationen zu bringen.
 

„Es wird nicht wieder vorkommen“, murmelte er schließlich leise, wenngleich er genauso gut wie Shimon wusste, dass er sich trotz bester Vorsätze nicht dran halten würde. Er konnte es einfach nicht.

Shimon nickte erschöpft. „Macht Euch fertig. Ihr werdet in der westlichen Audienzhalle erwartet.“ Damit ließ er Atemu allein, der ihm reumütig nachblickte. Normalerweise behandelten ihn die meisten Menschen wie einen Gott. Bei Shimon hingegen kam er sich vor wie ein Kleinkind, dem auf die Finger gehauen gehörte. Schlimm genug, dass er es verdient hätte. „Es tut mir leid, dir immer Kummer zu machen, Shimon. Aber es gibt da jemanden, den ich unbedingt sehen muss und das kann ich nicht, wenn ich nur immer hier oder im Palast festgehalten werde“, dachte Atemu bitter und unterdrückte den Wehmut, den er immer dann verspürte, wenn er sich des Jungen in Memphis Verwaltungsschule erinnerte, nach dem sich Atemu so verzehrte, dass es bereits schmerzte.
 

Es dauerte einige Zeit, bis Atemu neu angekleidet, gewaschen und allgemein das war, was Shimon als ‚vorzeigbar’ zu bezeichnen pflegte. Als er dann endlich in der Audienzhalle ankam, war sein Besuch dementsprechend ungeduldig. Der Gaufürst Iker, dem die Verwaltung Memphis oblag, entrichtete Atemu nur einen knappen, wenig angemessenen Gruß und verbeugte sich auch nur so tief, wie es unbedingt nötig war, damit ihn niemand des mangelnden Respekts beschuldigen konnte. Atemus Interesse fesselte dies jedoch nur mäßig. Er mochte diese Empfänge nicht und den Gaufürsten noch weniger. Iker würde jammern, sich in ein Glanzlicht setzen und versuchen, noch mehr Gelder vom Palast für die Ausübung seines Amtes herauszuschlagen, als er ohnehin schon bekam. Der Gaufürst war zwar einigermaßen fähig, neigte aber zur Verschwendungssucht und Untreue und suchte die Schuld für jegliches Versagen generell immer bei allen anderen, in der Regel seinen Untergebenen, die sich nicht dagegen wehren konnten. Atemu hätte ihn gerne abgesetzt, doch eine so wichtige Entscheidung konnte nur der Pharao selbst treffen, der momentan bereits genug damit zu tun hatte, das Land vor feindlichen Übergriffen zu schützen. Außerdem gab es zurzeit ohnehin keinen geeigneten Nachfolger. Dann fiel Atemu der hochgewachsene Knabe hinter Iker auf, der mit gelangweilter Miene dastand und eine Wachstafel mitsamt gespitzter Binse fest umklammerte. Atemus Augen weiteten sich unmerklich. Es war der Junge, den er heute hatte besuchen wollen. „Seth…Kein Wunder, dass er in der Schule unauffindbar gewesen war. Was macht er hier?“

Gerne hätte er sich sofort mit Seth beschäftigt, aber mit Shimon und Iker in einem Raum galt es den Anschein zu wahren, wenngleich er nicht verhindern konnte, dass sein Herz vor Aufregung laut pochte. Geradezu widerwillig wandte er sich an den Gaufürsten. „Nun, Iker, was verschafft mir die Freude Eures Besuchs? Shimon sagte mir, Ihr hättet auf diese Audienz nachdrücklich bestanden.“
 

„In der Tat, mein Herr. Meine prekäre Finanzlage erlaubte leider keinen weiteren Aufschub.“ Iker drehte sich um und winkte Seth rüde herbei. „Hey, Bengel“, bellte er herrisch. „Schreibe alles mit, was ich…“
 

„Na, na, nicht so schnell“, unterbrach Atemu und zeigte auf den reich gedeckten Tisch in der Mitte des Raumes, um den bereits einige Dienerinnen mit Weinkaraffen abwartend standen. „Erst das Essen, dann die Arbeit.“

Der Gaufürst machte zwar ein säuerliches Gesicht, setzte sich jedoch anstandslos und wurde gleich von Shimon in ein recht einseitiges Gespräch über die gefüllten Wachteln gezogen, was Atemu endlich die Gelegenheit bot, sich Seth zuzuwenden. Der Junge stocherte lustlos in seinem Essen herum. Für Atemu ein ungewohntes Bild, denn von seinen früheren, von Seth unbemerkt gebliebenen Besuchen der Schule war er Seth zwar nicht unbedingt als fröhlich oder gar aufgeschlossen gewohnt, aber zumindest auch nicht als so zurückhaltend und still. Nun jedoch saß er mit schlaffen Schultern und ausdrucksloser Mimik da und machte sich so klein und unauffällig wie nur möglich.

„Muss an Ikers Gegenwart liegen“, befand Atemu im Stillen und überlegte angestrengt, wie er den Gaufürsten möglichst diplomatisch loswerden und gleichzeitig Seth behalten konnte, ohne dass sich Iker gleich beleidigt fühlen würde oder er auf dessen lächerliche Geldforderungen eingehen musste.

Seine Gedanken wurden jedoch unterbrochen, als Iker jäh seinen Becher auf den Tisch knallte und sich so alle Aufmerksamkeit sicherte.
 

„Genug! Ich habe mir endloses Geschwafel über Wachteln und Wein und alle anderen ach so erlesenen Speisen hier anhören dürfen. Kommen wir jetzt endlich zum geschäftlichen Teil, Prinz Atemu.“ Er stieß Seth an, der gleich pflichtschuldig Binse und Tafel zur Hand nahm. „Den Bengel hier habe ich schließlich auch nicht zum Spaß mitgebracht. Der soll sich gefälligst endlich nützlich machen! Dieses untalentierte Pack, mit dem ich mich ständig herumschlagen muss. Und das bei einem Mann mit meinem Status!“

Für Atemu war klar, dass ihn Iker wohl ebenfalls zum ‚untalentierten Pack’ zählte, aber vielmehr beunruhigte ihn Seth, der nur zähneknirschend still dasaß und hin und wieder schwer schluckte. Es war unübersehbar, wie viel Überwindung ihn sein Schweigen kosten musste. Was zu viel war, war zu viel.
 

„Ja, Ihr habt es schon schwer“, entgegnete Atemu gelassen und ließ eine Dienerin Ikers Weinbecher nachfüllen in der schwachen Hoffnung, dass der gute Gaufürst im angetrunkenen Zustand leichter zu ertragen sein würde. „Wenn er denn wirklich dermaßen unfähig ist, frage ich mich, warum Ihr ihn überhaupt mitgebracht habt. Einem Mann mit eurem Status dürfte es doch nicht an Dienern mangeln.“
 

Ikers Augen verengten sich voller Zorn, den er mit einem großzügigen Schluck Wein notdürftig ertränkte. „Das seht Ihr richtig. Nur leider ist mein eigentlicher Schreiber krank“, erklärte er dann bissig und ruckte seinen Kopf Richtung Seth. „Der Junge da ist sein Ersatz. Er wurde mir empfohlen. Keine Ahnung, warum. Wahrscheinlich, weil er im Gegensatz zu den anderen Dummköpfen der Schule wenigstens in der Lage ist, einen Griffel richtig herum zu halten. Ansonsten ein ziemlich unnützer Bursche.“
 

Von Iker unbemerkt, warf ihm Seth einen mörderischen Blick zu, der Atemu schmunzeln ließ. Sein schmales Lächeln gefror jedoch, als ihm Iker unverwandt seine Unterlagen unter die Nase schob und dabei den halben Tisch abräumte. „Wie gesagt, ich habe genug von diesem Vorgeplänkel. Lasst uns endlich meine Finanzlage besprechen, bewilligt mir die zusätzlichen Hilfen und wir können uns alle wieder schöneren Dingen zuwenden.“

Ob des rüden Tonfalls, räusperte sich Shimon vernehmlich. „Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf“, ereiferte er sich. „Ihr sprecht immerhin mit dem Prinzen Ägyptens!“

Iker lächelte zuckersüß. „Verzeiht, ich gelobe Besserung. Also dann, Prinz Atemu, können wir nun anfangen?“
 

„Nun, darauf gibt es selbstverständlich nur eine Antwort, die da lautet: Nein“, antwortete Atemu genauso zuckersüß und beobachtete mit Genugtuung, wie Ikers Gesichtszüge merklich entgleisten. Dafür konnte sich Seth ein zufriedenes Grinsen nicht länger verkneifen.
 

„Aber…!“
 

„Nein.“
 

„Mein Herr, ich muss wirklich darauf bestehen, dass…“
 

„Wisst Ihr, worauf ich bestehe? Auf meine Absage. Ich habe bereits ‚Nein’ gesagt. Was genau an diesem Wort ist es, das Ihr nicht versteht?“
 

Zum ersten Mal an diesem Abend zuckte Iker zusammen. „Prinz Atemu, wenn Ihr Euch nur kurz meine Berichte ansehen würdet, werdet Ihr erkennen, wie gewaltig die Verwaltungskosten in der letzten Zeit angestiegen sind. Ich habe die Berichte selbst angefertigt und überprüft! Sie sind über jeden Zweifel erhaben.“
 

„Und dabei hattet Ihr sicherlich nur die edelsten Interessen im Sinn“, konterte Atemu kopfschüttelnd und gestikulierte mit seiner Gabel. „Ich brauche Belege, und zwar nicht diese fingierten von Euch, sondern eine detaillierte Aufstellung, was Ihr mit dem ganzen Gold eigentlich macht, dass es doch niemals zu reichen scheint. Und glaubt bloß nicht, ich würde sie nicht überprüfen.“
 

„Aber Prinz, die Kosten…“, ereiferte sich der Gaufürst, doch Atemu ging dazwischen.
 

„Nein, und dabei bleibt es. Noch ein Wort in dieser Sache von Euch und ich lasse Euch des Tempels verweisen.“ Dann richtete er sich an Seth, sein Tonfall gleich viel freundlicher. Die Diplomatie war ohnehin bereits in den Tiefen des Nils versunken, da konnte er jetzt alles oder nichts riskieren. „Seth, ich will, dass Ihr mich nach dem Essen in mein Gemach begleitet. Ich möchte mit euch…“
 

„SETH?!“ Der Gaufürst stand so abrupt auf, dass der Tisch wackelte. „Dieser unwichtige Junge?! Dieser Seth?“ Seine Stimme überschlug sich förmlich. „Mir verwehrt Ihr mein gutes Recht, aber dieser kleinen Kröte hier gewährt Ihr eine Privataudienz?! Ich bin es, dem Ihr dieses Privileg gewähren solltet! Nicht einem einfachen Schreiber und Priesterschüler! Schlimm genug, dass Ihr ihn mit uns an einem Tisch sitzen lasst!“
 

Atemu lächelte und hob ruhig einen Becher Wein an seine Lippen. „Dieses Privileg? Was glaubt Ihr denn, was ich mit ihm vorhabe?“
 

Das hätte Seth auch brennend interessiert, aber da es ihm verboten worden war, zu sprechen, presste er nur missmutig die Lippen aufeinander und starrte finster auf seinen kaum angerührten Teller. Doch was auch immer der Pharao von ihm wollte, der Gaufürst würde sich für diese Demütigung an ihm rächen, soviel war Seth klar. Er hoffe nur, dass es bei einem Tadel oder ein paar leichten Schlägen bliebe und ihn nicht noch Schlimmeres erwartete. Gern hätte er Atemu für seinen Befehl (denn nichts anderes war es) verflucht, doch der Prinz grinste ihn so schelmisch und entwaffnend an, dass Seth es nicht über sich brachte, ihm wirklich böse zu sein. Stattdessen merkte er, wie seine Wangen unter Atemus stetiger Aufmerksamkeit immer wärmer wurden. Mühsam riss er sich zusammen.
 

Ikers Stirn derweil legte sich in Falten, seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wisst Ihr eigentlich, wer ich bin? Was für eine Stellung ich in dieser Stadt innehabe?“, fragte er drohend und beugte sich unheilvoll vor. Shimon faltete nervös seine Hände und warf seinem Prinzen einen warnenden Blick zu, den dieser jedoch ignorierte.
 

Atemu stellte seinen Becher ab. „Aber selbstverständlich“, erklärte er dann und verschränkte gelassen seine Arme vor der Brust. „Doch wie sieht es mit Euch aus, Iker? Wisst Ihr denn, mit wem Ihr es hier zu tun habt?“
 

Seine Worte ließen Seth unbehaglich aufsehen. Der Gaufürst war ein mächtiger Mann. Sicher, keineswegs so mächtig wie der Thronerbe, aber Atemu hatte keine Wachen dabei, keine zumindest sichtbaren Waffen, und Ikers Jähzorn war berüchtigt. Und aus einem Grund, den Seth selbst nicht verstand, wollte er nicht, dass dem Prinzen etwas passierte. „Wieso fühle ich nur diese seltsame Verbundenheit zu ihm? Verflucht…was stimmt nicht mit mir?!“

Woran auch immer es lag, Seth war fest entschlossen, es herauszufinden.
 

Seinem Ruf treu knirschte Iker wütend mit den Zähnen und beäugte sehnsüchtig das scharfe Messer vor ihm, das so verführerisch blitzte und nur eine Handbreit entfernt lag. Es wäre so einfach.

„Sie sagen, er sei ein Gott“, spukte es jedoch warnend durch seinen Kopf und wenn er Atemu betrachtete, wie er so ruhig und gelassen dasaß, keine Furcht in seinen Zügen, seinem Tonfall; eine unbeschreibliche Selbstsicherheit und stille Macht ausstrahlend, konnte der Gaufürst zum ersten Mal wirklich daran glauben. Außerdem, so verlockend die Aussicht auf Rache war, sie war es nicht wert, anschließend hingerichtet zu werden, denn nichts Anderes würde ihn erwarten. Seine Kehle war wie zugeschnürt vor unterdrückter Wut und Mordlust, doch schließlich fing er sich zumindest soweit, dass er sich wieder setzen und sein Mahl fortsetzen konnte, ohne Gefahr zu laufen den Prinzen mit seinem Besteck aufspießen zu wollen. Er würgte eine halbherzige Entschuldigung hervor. „Verzeiht, mein Herr. Für einen Moment habe ich mich wohl tatsächlich gehen lassen.“
 

„Das ist milde ausgedrückt. Ich könnte Euch hierfür ernsthaft bestrafen lassen“, gab Atemu müßig zu bedenken. „Mir ist durchaus bewusst, mit was Ihr eben so geliebäugelt habt. Zeugen gibt es auch genug.“ Bei dieser Feststellung wurde Iker sichtlich blass.

„Allerdings…“, Atemu ließ einen Finger über den Rand des Bechers gleiten, „…hätte ich an etwas Anderem bestimmt sehr viel mehr Freude.“
 

So kam es, dass Seth innerhalb nur eines Abends den Besitzer wechselte. Es fühlte sich alles so irreal an. In dem einen Moment dachte er noch über die Strafen nach, die ihm der Gaufürst auferlegen würde, im nächsten schon wurde er von Iker an den Prinzen abgetreten, damit dieser dessen Verhalten nicht dem Pharao meldete! Gut, er kam sich vor wie ein Vieh – nur, dass man ihm vorher nicht ins Maul gesehen hatte – das ohne viel Aufhebens von einem Herrn zum nächsten wanderte, nur, und das war das Bizarrste von allem, dass es sich bei seinem neuen Herrn um niemanden anderen als den zukünftigen Pharao handelte. Und nun stand er hier in Atemus Gemach.

Allein bei dem Gedanken daran fühlte Seth, wie ihm schwindelte und ganz flau im Magen wurde. Was würde der Prinz von ihm erwarten? Was hatte er überhaupt davon, ihn, einen nicht mal vollwertigen Schreiber, in seine Dienerschaft aufzunehmen? Oder ging es dem Prinzen gar nicht darum? Zu viele Fragen, keine Antworten. Er hoffte nur, dass ihn Atemu nicht allzu lange im Unklaren lassen würde, denn diese Unsicherheit brachte Seth schier um den Verstand.

Zu seinem Leidwesen hatte es Atemu allerdings offenbar nicht sehr eilig, ihm überhaupt irgendwas zu erklären, denn der Pharao in spe strich mit den Fingerspitzen erst nachdenklich über einen niedrigen Schrank, bevor er sich der darauf befindlichen Obstschale widmete, deren Inhalt er säuberlich sortierte. Seths Gesicht verzog sich vor Unmut. „Was soll das? Macht er sich über mich lustig?“

Er schnaufe leise.

Was Seth jedoch nicht wissen konnte, war, dass Atemu dies nicht tat, um ihn zu ärgern, sondern weil er die Zeit brauchte, um sich zu sammeln. Er hatte Seth nun bei sich, wie er es immer gewollt hatte. Seth gehörte ihm. Und Atemu hatte keine Ahnung, wie es nun weitergehen sollte.

Er leckte sich nervös die Lippen. „Setz dich doch“, forderte er Seth auf, der nach wie vor wie angewurzelt nahe der Tür stand und sich trotz der Aufforderung nicht vom Fleck rührte. Atemu versuche es nicht persönlich zu nehmen, aber leicht fiel es ihm nicht. Er verschränkte seine Arme, um ihr Zittern zu verbergen. Noch vor kurzem hatte er sich so sicher gefühlt, aber nun…

„Ob er…ob sich Schnarrg an mich erinnert?“ Suchend blickte er in die blauen Augen Seths. Da war Neugierde, eine kühle Zurückhaltung und vielleicht auch eine Spur Unsicherheit, aber kein Erkennen, keine Freude, Atemu nach so vielen Jahrhunderten wieder zu sehen. Plötzlich fühlte sich Atemu wie ein Trottel. Hatte er wirklich gedacht, Seth würde ihm mir nichts dir nichts um den Hals fallen und ihm seine unsterbliche Liebe verkünden? Allein der Gedanke daran war lachhaft. „Na schön, dann muss ich eben ein wenig nachhelfen. So schnell gebe ich nicht auf.“
 

Er atmete einmal tief durch, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf gespielt selbstsicher nieder. Dann sah er Seth unverwandt an, der nur stumm zurückblickte.

Die blauen Augen, das feine, braune Haare, die schlanke Statur…in Seths Aussehen, sogar in jeder einzelnen Bewegung und Geste sah Atemu Schnarrg wieder. Eine Weile, die beiden wie eine Ewigkeit vorkam, schwiegen sie sich nur an. Schließlich wurde es Seth zu viel. Prinz hin oder her, aber er würde sich hier nicht zum Narren halten lassen!
 

„Was genau habt Ihr eigentlich mit mir vor?“, sprudelte es aus ihm heraus, bevor er sich hastig auf die Zunge biss. Er hatte sich nicht als Erstes eine Blöße geben wollen, aber diese Warterei machte ihn kirre. Vor allem aber mochte er nicht mehr länger angestarrt werden. „Ich meine, Ihr müsst doch einen Grund gehabt haben, warum Ihr mich von Iker…“ Er überlegte kurz. ‚Abgekauft oder gar erpresst’ erschien ihm nicht taktvoll genug. „…abgeworben habt.“
 

„Stimmt, den gab es in der Tat.“ Atemu stützte sein Kinn in einer Hand ab und legte den Kopf schief. Er hatte in der Vergangenheit so viel Zeit gehabt. Warum hatte er sich nie vorher die richtigen Worte für dieses delikate Treffen zurechtgelegt?

Er seufzte. „Sag, Seth, glaubst du an Vorsehung? An, ah… Schicksal?“ Atemus Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch Seth verstand dennoch.
 

Seine Augen verengten sich. „Zu meiner Ausbildung gehörte auch die Götterlehre. Daher glaube ich natürlich daran, dass die Götter unseren Lebensweg vorgeben.“ Er straffte sich. „Allerdings glaube ich ebenso, dass wir diesen mit unseren Taten beeinflussen können. Wir stimmen die Götter mit Gaben milde, wir erzürnen sie, wenn wir sie verspotten. Und letzten Endes treffen wir noch immer alle Entscheidungen oder sollten es zumindest. Doch habe ich das Gefühl, dass Ihr mit Eurer Frage nicht die Götter im Sinn hattet.“
 

Ein feines Lächeln umspielte Atemus Lippen. „Da hast du Recht“, schmunzelte er, erhob sich von seinem Stuhl und trat ganz nah an Seth heran, der ihn nicht aus den Augen ließ. „Was mir vorschwebte, wäre zum Beispiel…“, er zögerte, unsicher, wie viel er verraten sollte. Seth würde ihn für verrückt halten, aber andererseits hatten sie bereits genug Zeit getrennt verbracht und Atemu war es leid, noch länger zu warten. „Hm, sagen wir, dass sich zwei Geliebte, die der Tod trennte, unerwartet im nächsten Leben wiedersehen und ihre Leidenschaft füreinander neu entdecken. Sie können nichts dagegen tun, wollen es auch gar nicht. Es ist ihnen einfach bestimmt. So eine Vorsehung meine ich.“
 

„Zwei Geliebte? Was zum…?“ Seths Mund öffnete sich vor Verblüffung. „Wie bitte? Habe ich das gerade richtig verstanden?“, entfuhr es ihm, bevor sich sein Gehirn wieder einschaltete und er sich und seine mangelnde Kontrolle verfluchte. Er musste sich unbedingt daran erinnern, dass der junge Mann, der ihm gegenüberstand, immer noch der zukünftige Pharao war und sein…sein Herr. Trotzdem, als ihn der Prinz nach Ikers Abgang in sein Gemach mitnahm, hatte er damit gerechnet, dass ihm Fragen gestellt werden würden. Eine Aufzählung vergangener Könige und Dynastien vielleicht; ein Test seiner schreiberischen Fähigkeiten, um seine Eignung als Schreiber zu überprüfen, aber doch nicht so was!

Das hier fühlte sich nicht wie ein Test an, mehr wie ein Trick, wenn nicht gar eine Falle. Seth hatte nicht vor, blindlings in sie hineinzustapfen.
 

„Ah, bei allem nötigen Respekt, mein Prinz, aber warum gerade so ein Beispiel?“ Und, das behielt Seth indessen für sich, warum musste ihn Atemu dabei so durchdringend anstarren? Es war nicht einmal unbedingt ein ‚Ich bin neugierig auf deine Antwort’-Starren; vielmehr eines der Sorte, die ein hungriges Krokodil dem Dummkopf zuwerfen mochte, der sich leichtfertigerweise in seine Gewässer begab.
 

„Ich finde es überaus passend“, rechtfertigte sich Atemu milde, stand von seinem Stuhl auf und trat auf Seth zu. Eine schmale Hand legte sich ungebeten auf Seths Brust und strich sachte über sie. „Alles oder nichts“, rief sich Atemu ins Gedächtnis und verdrängte alle Zweifel.

Seth zog scharf einen Schwall Luft ein, trat jedoch weder zurück, noch schlug er die neugierigen Finger Atemus weg. Seinen viel zu schnellen Herzschlag konnte er allerdings nicht verbergen. Der junge Prinz grinste zufrieden. Es war gemein, das wusste Atemu, aber auch einfach zu verlockend. Seth durfte sich ohne Atemus Befehl nicht zurückziehen, die Hand oder das Wort gegen ihn erheben und Atemu nutzte dies schamlos aus. Er durfte es nur nicht zu weit treiben, denn es war fragwürdig, wie lange Seths Selbstbeherrschung wirklich halten würde. Doch für den Moment zumindest hatte er seinen Spaß.

Es war jedoch mehr als das. Vor allem hatte er es vermisst, ihn zu berühren, zu fühlen, dass er lebte, seine Wärme zu spüren. Schnarrg war schon so lange tot, dass Atemu diese Gefühle bereits verloren geglaubt hatte. Nun aber prasselten sie erbarmungslos auf ihn ein, raubten ihm beinahe die Luft. Sein Grinsen gefror. Er schluckte hart. Dieser Mann, Seth, war Schnarrgs Wiedergeburt. Er war sich vollkommen sicher. Und genauso sicher war, dass Seth sich nicht mehr an ihn erinnerte. „Wie auch? Nach all den Jahren…Für Seth bin ich ein Fremder. Der baldige Pharao, ein Gott, aber nicht der Mensch, den er einst liebte und für den er sein Leben gab.“ Es war eine logische Erkenntnis, eine, die Atemu nicht so hart hätte treffen dürfen und es trotzdem tat. Schnarrg war nicht mehr derselbe.
 

Und Atemu? Er mied sein Spiegelbild inzwischen. Es änderte sich ja doch nichts.

Lediglich ein wenig älter war er geworden, ein bisschen größer, seine Gesichtszüge härter und sein Körper durchtrainierter. Doch im Grunde würde er für immer das Aussehen eines jungen Mannes haben, kaum dem Knabenalter entronnen.

Auch den Menschen in seiner Umgebung war dies aufgefallen. Kinder wuchsen mit Atemu auf, wurden zu Erwachsenen und schließlich Greisen und dann, auf dem Totenbett, ihre Haut faltig, ihr Körper verbraucht, erinnerten sie sich an ihn, an seine merkwürdigen Haare und die roten Augen; erinnerten sich an Atemu, an den Jungen, der nicht alterte.

Eines Tages hatte diese Legende, die doch im Grunde keine war, auch den Pharao Akhnamkamon erreicht, der Atemu zu sich rief, um sich selbst ein Bild von ihm zu machen. Atemu war klug, geschickt im Umgang mit Waffen und Magie, gerecht und scharfsinnig. Aknahmkamon, selbst nicht in der Lage, Kinder zu zeugen und mit keinem anderen geeigneten Thronerben in Sicht, ernannte ihn zu seinem Nachfolger. Daraus folgte für Atemu zweierlei: Einerseits Immunität und Schutz. Während man ihn in anderen Epochen als Dämon zu töten versucht hatte, unterstand er nun der Obhut des Pharaos. Aber, und das war der Nachteil, es schränkte ihn auch ungemein ein. Er gehörte nicht mehr länger sich selbst, er gehörte Ägypten und war dem Wohlwollen des Volkes und des Pharaos hilflos ausgeliefert.

Es gab seit jeher nur einen Grund, warum Atemu trotzdem nicht versucht hatte zu fliehen. Und dieser stand nun direkt vor ihm.
 

Seth derweil hatte genug Probleme damit seine viel zu hektische Atmung unter Kontrolle zu bringen, als dass ihm Atemus entrückter Blick aufgefallen wäre. Atemus Hand, die immer noch vorsichtig über ihn strich, fühlte sich überraschend gut an, dennoch ärgerte es Seth maßlos, dass er nicht den Mut aufbrachte mehr zu tun außer tatenlos herumzustehen und Atemu gewähren zu lassen. Schön, dessen Berührung war weniger unangenehm, als Seth vermutet hätte, aber trotzdem. Und…oh, nein, das ging jetzt aber zu weit! Atemus Finger glitten dreist unter Seths Oberteil, massierten ihn geschickt und Seth musste tatsächlich einen wohligen Seufzer herunterschlucken.

Seine Wangen verfärbten sich verräterisch rot. „Will er mich vorführen oder was soll das hier?“, jagte es durch seinen Kopf und es kostete ihn immense Anstrengung, stur geradeaus zu blicken, wenn er doch viel lieber den Prinzen gepackt und so lange geschüttelt hätte, bis der sein eigentümliches Verhalten erklärte. Gut erklärte. Ob er nun sein Vergnügen bei einem Mann oder einer Frau fand, war Seth im Grunde egal, aber er würde von niemandem der willenlose Spielball sein!
 

„Warum tut Ihr das?“ Die Frage kam ungebeten, doch Seth konnte nicht mehr länger schweigen. Er verstand nicht, was Atemu von ihm wollte, warum er Atemu überhaupt ließ, vor allem aber, warum es ihm gefiel. „Wieso fühlt es sich so an, als ob ich mich schon immer nach ihm gesehnt habe? Dabei treffe ich ihn doch heute zum ersten Mal…“

Behutsam nahm er Atemus Hände in seine und stoppte jede weitere Wanderung. „Ihr spracht vorhin von Vorsehung. Ist dies das, was Ihr darunter versteht? Euch mir aufzuzwingen?“
 

In Wahrheit glaubte er nicht, dass dies wirklich Atemus Absicht war. Der Prinz erschien ihm dazu gar nicht in der Lage zu sein. Doch seine Worte reichten, um Atemu erschrocken aufsehen zu lassen. Eine blonde Strähne hing Atemu ins Gesicht, die roten Augen groß und verlangend und doch unsicher und Seth ertappte sich dabei, wie er seinen Herrn doch tatsächlich niedlich fand.

Atemu indes packte das schlechte Gewissen. In Seths Worten war kein Vorwurf mitgeschwungen, eher eine profunde Verwirrtheit, vielleicht sogar unbewusste Verletzlichkeit, die Atemus Magen verknotete.

„Verzeih. Ich bin zu weit gegangen“ Er ging einen kleinen Schritt zurück, um dringend benötigten Abstand zwischen sich und Seth zu bringen. Mit Seth so nah fiel es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, wenn er ihn doch am liebsten nur packen und nie wieder loslassen wollte. „Aber…Schna…Seth, du erinnerst dich nicht, doch wir kennen uns aus…“, Er stockte. Das würde jetzt so verdammt albern klingen. „…aus einem früheren Leben. Wir waren ein…Paar.“

Ein Paar. Ob der Lüge zuckte Atemu zusammen. „Wir wären zumindest eins geworden, wenn Schnarrg nicht gestorben wäre“, rechtfertigte er sich im Stillen und richtete dann seinen Blick auf Seth, damit der sehen konnte, dass es ihm ernst war.
 

Seth blinzelte einmal, zweimal, bis er ein harsches, lautes Lachen ausstieß. „Ach ist das so? In einem früheren Leben? Nun, ich habe zwar gehört, dass Ihr unsterblich sein sollt und demnach viel herumgekommen sein müsstet, aber ich kann Euch versichern, dass sich meine Erinnerungen auf die letzten 15 Jahre hier in Khemet beschränken. Und so was wie ‚war mit dem zukünftigen Pharao liiert’ kommt da nicht drin vor.“
 

„Du hießt damals Schnarrg“, gab Atemu nicht auf und stach vor lauter Frust Seth unsanft mit dem Finger in die Brust. Seth brummte unwirsch.
 

„Ein reichlich bescheuerter Name“, rümpfte er dann die Nase und verschränkte störrisch die Arme. „Kein Wunder, dass ich den vergessen habe. Ich meine, wenn ich Eure Geschichte glauben würde. Was ich nicht tue.“
 

Seths Sturheit ärgerte Atemu fast noch mehr als dessen fehlende Erinnerung. Seine Augen blitzten vor Wut. „Du nahmst mich in deinen Stamm auf und gabst mir ein zu Hause.“
 

„Habe ich das? Faszinierend. Ich muss ein wahrer Wohltäter gewesen sein.“
 

„Das war das erste Mal, dass ich mich heimisch gefühlt habe. Als hätte ich eine richtige Familie!“
 

„Ach nein wie rührselig. Sentimentaler Quatsch. Nichts weiter“. Seth drehte demonstrativ den Kopf weg. Er würde es niemals zugeben, aber Atemus zunehmende Verzweiflung und Worte rührten tatsächlich etwas ihn ihm. Es waren keine Erinnerungen, vielmehr wieder diese Vertrautheit und noch mehr…war es Schmerz? Bedauern? Was es auch war, Seth wollte, dass es aufhörte.
 

„Verdammt Seth! Hör mir gefälligst richtig zu und halte nicht gleich alles für Blödsinn.“
 

Er griff Seths Oberteil und zog ihn grob zu sich herunter. Seth gab einen überrumpelten Laut von sich. Damit hatte er jetzt nicht gerettet, doch obwohl er sich leicht hätte befreien können, riet im sein Gefühl davon ab. „Was stimmt nur nicht mit mir? Warum lasse ich das mit mir machen?!“ Es war ärgerlich, umso mehr, da er allmählich versucht war, Atemu Glauben zu schenken. Aber zumindest würde dies sein Gefühlswirrwarr erklären. „Trotzdem, das ist doch albern. Oder vielleicht…?“

Atemus Stimme, nun wieder ruhig und gefasst, schreckte Seth plötzlich auf.
 

„Meinetwegen, dann ziehe alles ins Lächerliche. Aber eines möchte ich dir noch sagen.“ Er ließ Seth los, streckte zögerlich eine Hand nach ihm aus und als er merkte, dass Seth nicht zurückwich, streichelte er ihm traurig über die Wange. „Du hast mir das Leben gerettet. Nenn mich einen Lügner, es ist mir egal. Aber diese eine Tat von dir für mich werde ich nie vergessen. Danke dafür.“
 

„Danke?“ Unbewusst lehnte sich Seth in die Berührung, seine Augen halb geschlossen, während in seinem Inneren der reinste Tumult wütete. Er hätte dem Prinzen so gerne ein paar gepfefferte Beleidigungen entgegengeschleudert, ihn ausgelacht, doch da war noch ein anderer Drang, ein stärkerer, der ihm sagte, er müsse, nein mehr noch, als könne er Atemu bedingungslos vertrauen.
 

Jetzt, da Seth so still war, konnte Atemu nicht mehr länger widerstehen. Sanft küsste er ihn auf die Lippen; nicht mehr als eine leichte Berührung, doch Seth zuckte dennoch zusammen. Unsicher löste sich Atemu von ihm. Zumindest hatte Seth weder losgebrüllt, noch sich wütend auf ihn gestürzt. Das war doch ein gutes Zeichen, oder nicht?

Er fuhr leise fort. „Du warst auch derjenige, der mir meinen Namen gab. Und ich möchte, dass du ihn sagst.“
 

Wenn Seth etwas die Schuld für seine zeitweise geistige Langsamkeit gab, dann dem Kuss und dem Umstand, dass er mittlerweile mit der ganzen Situation schlichtweg überfordert war. Dementsprechend belief sich seine Erwiderung auf ein konfuses: „Huh?“
 

„Meinen Namen. Du sollst ihn sagen.“
 

„A-aber…warum…?“
 

„Sag ihn. Du hast mich noch kein einziges Mal bei meinem Namen genannt.“
 

Seth verstummte. Er begriff nicht, warum dies dem Prinzen so wichtig war, aber bitte, würde er ihm die Freude eben machen.
 

“Atemu“, sagte er leise, sachte; beobachtete, wie Atemus Augen kurz freudig aufleuchteten, bevor sich sein Gesicht wieder verschloss. „Atemu…“ Es war merkwürdig. Während sich Seths Gefühle vorher in alle Richtungen verstreut hatten, dominierte nun eins: Traurigkeit. Er schüttelte den Kopf. „Was soll das? Wieso…?“
 

„Du erinnerst dich immer noch nicht.“ Es was war keine Frage. Atemu seufzte gekränkt. „Ich wusste, dass ich nichts Anderes erwarten durfte, aber ich hatte trotzdem gehofft…“
 

Er verstummte und Seth presste die Lippen zusammen. Diese Mutlosigkeit passte seiner Meinung nach nicht zu jemandem wie Atemu. Umso schlimmer, dass er dafür verantwortlich war.
 

Doch Atemu überraschte ihn. „Trotzdem, wenn wir schon die Vergangenheit nicht wiederbekommen können, dann bleibt uns wenigstens die Möglichkeit für einen…“, geradezu scheu umarmte er Seth und schmiegte sich an ihn. „…einen Neuanfang?“
 

Was sagte man zu so etwas? Seth jedenfalls hatte keine Ahnung. Es war einfach alles zu viel in zu kurzer Zeit. Er konnte nicht leugnen, dass er etwas für Atemu empfand, aber…so schnell verliebte man sich nicht, oder doch? Waren das überhaupt seine Gefühle oder die von diesem, diesem Schnarrg? Er öffnete den Mund, doch kein Wort kam heraus und Atemu nutzte die Chance und küsste ihn erneut, diesmal länger, leidenschaftlicher. Zu seinem Ärger erwischte sich Seth dabei, wie er den Kuss erwiderte, es gar genoss, als sich Atemus Lippen seinen Hals entlang tasteten, seine Schulterpartie; Atemu sie schließlich Richtung Bett stieß, sie mit fahrigen Bewegungen ihrer Kleidung entledigte, bis nichts mehr zwischen ihnen stand, Seth zufrieden die Augen schloss und einen kehligen, dunklen Laut nicht mehr länger unterdrücken konnte. Verdammt seien sein Stolz und seine Unsicherheit. Er wollte dies hier mindestens genauso sehr wie Atemu. Entschlossen zog er dessen warmen Körper näher an sich heran, strich über seinen Rücken, bevor er sie herumrollte, so dass er nun über Atemu lag. Der Anblick gefiel ihm. Er gefiel ihm sogar sehr. Grinsend nippte er an Atemus Unterlippe.

Kurz, als Atemu und er nackt dalagen und sie einen Kuss lange genug unterbrachen, dass sich Seths Kopf wieder in dieses Chaos einschalten konnte, kamen ihm Zweifel.

Das ging zu schnell, viel zu schnell, so viel war ihm selbst in seinem hormongesteuerten Zustand klar, aber warum dann fühlte es sich einfach so richtig an?

Und dann küsste ihn Atemu erneut, tief und innig und Seth entschied, dass Denken eindeutig überbewertet wurde.

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Sehnsüchtig strich Atemus Hand über den schlichten Sarkophag, bevor sich sein Blick auf die bunten Wandverzierungen richtete; schließlich an den liebevoll ausgesuchten Grabbeigaben hängenblieb. Seth war vom Schreiber zu einem ranghohen Priester an Atemus Seite aufgestiegen und bei ihm geblieben, auch dann noch, als Akhnamkamon, allen Erwartungen zum Trotz, im hohen Greisenalter doch noch einen Thronfolger gezeugt hatte. Atemu war froh darüber gewesen. Er hatte niemals Pharao werden wollen. Ihm genügte es, Seth nahe zu sein. Und jetzt…

Erneut richtete sich seine Aufmerksamkeit auf den Sarg.

Es waren glückliche Jahre gewesen, die er an Seths Seite verbracht hatte, umso schwerer hatte ihn dessen Tod getroffen. Es war abzusehen gewesen, von Anfang an. Atemu mochte unsterblich sein, Seth aber nicht. Atemu lebte schon so lange, hatte so viele Menschen kommen und gehen sehen, doch bei keinem hatte er sich jemals so geborgen gefühlt wie bei Seth. Er wollte ihn wiederhaben.

Mit einem schwachen Lächeln wandte er sich zum Gehen. Früher oder später würden sie sich wiedersehen; das hatte ihm Seth vor seinem Tod versprochen. Und Atemu würde auf ihn warten.

Pompeji

Einen schönen Nachmittag wünsche ich.

Jaa, ich weiß, es hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis dieses Kapitel fertiggeworden ist, aber die hohe Wortzahl möge euch mir verzeihen lassen.

Ohne weiteres Vorgelaber wünsche ich euch jetzt einfach mal viel Vergnügen mit "Pompeji".
 


 


 

Kapitel 2 Pompeji
 

Pompeji, 24.August 79 nach Christus.

Es ist kurz nach Mittag, doch die Stadt ist in tiefe Dunkelheit gehüllt, gleich als wäre es nicht Mittag, sondern Mitternacht. Die Straßen sind verstopft. Voll von Männern, Frauen, Kindern. Von Sklaven und Arbeitern, Müttern, von Wagen, Pferden, Eseln. Die Bewohner versuchen aus der Stadt zu fliehen, der die Götter so offensichtlich zürnen. Doch Panik ist ein schlechter Wegbegleiter. Die Straßen sind unpassierbar, verstaut, voll.

Die Adeligen haben sich in ihren Häusern verbarrikadiert, um nicht vom Ascheregen, der seit gut einer halben Stunde auf Pompeji niedergeht, besudelt zu werden. Sie sind überzeugt, dass es sich lediglich um ein temporäres Naturschauspiel handelt. Nur der Pöbel fürchtet den Zorn der Götter.
 

Mitten im Getümmel versucht ein junger Knabe das Dach einer niedrigen Mietskaserne zu erklimmen. Auf den Gehwegen ist kein Durchkommen, er muss sich einen anderen Weg hinaus suchen.

Gestützt auf eine wacklige Konstruktion aus Fässern und Holzscheiten, die ursprünglich wohl zum Heizen gedacht waren, gelingt es ihm, den Rand des Daches zu greifen und sich hochzuziehen. Nur noch ein kleines Stück… Jetzt ist er oben angelangt.
 

Von seinem Balkon aus beobachtet Gajus Plinius Secundus, berühmtester Naturforscher Misenums, einer Stadt direkt auf der anderen Seite der Bucht, die Katastrophe. Seine Stirn liegt in Falten.

„Sollte es ihm gelingen, von der Insel zu fliehen?“, murmelt der alte Mann zu sich selbst.

„Neffe, schick vorsichtshalber ein paar Schiffe aus!“

Plinius war nicht nur anerkannter Forscher und Denker, er hatte ebenso den Oberbefehl über die misenische Flotte.
 

Unbeholfenen Schrittes stolpert der Junge über die Dächer der Stadt. Einmal wäre er beinahe hinabgefallen. Die leichten, runden Bimsteine machen das Fortkommen schwer. Sie purzeln wie der Regen der Hölle vom Himmel, bedecken Dächer, Gärten, Straßen gleichermaßen, mogeln sich bei jedem Fußtritt unter seine dünnen Sandalen.

Unmut ergreift von ihm Besitz.

„In Luxor hätte es so etwas nie gegeben.“, murrt er, während er über ein weiteres Dach taumelt.

Wenigstens kommt die Stadtmauer bald in erreichbare Nähe. Sollte es ihm gelingen, diese zu überwinden, könnte er es noch von der Insel herunterschaffen, bevor der Zorn der Götter dieses unglückselige Stück Land verschlingt.

Der Zorn der Götter … als er sich noch in Ausbildung zum zukünftigen Herrscher unter Akunumkanon befand – den Göttern sei Dank, dass ihm diese Bürde schlussendlich doch erspart blieb – hatte er viel über diesen Umstand gelesen. Damals hatte er es als Aberglauben abgetan, hatte er doch Zeit seines Lebens – und sein Leben war schließlich lang genug, um das beurteilen zu können, oder zumindest länger als das aller Menschen, die er bisher getroffen hatte – niemals etwas Derartiges erlebt. Sicher, Brände, flutartige Regenfälle, Dürre waren ihm schon oft begegnet, aber gehörten diese schon zum Weltgefüge, als es die Götter noch gar nicht gab. Aber das hier…

Das ist anders. Innerlich verflucht er sich für seine mangelnde Gottesfürchtigkeit. Immerhin muss es Gründe haben, dass es so viele so hoch verehrte Gottheiten gibt!
 

Da!

Vor ihm schlängelt sich die Stadtmauer wie eine schläfrige Schlange durch das Dunkel. Er kann bei den Sichtverhältnissen nur schätzen, doch sollte er sie mit einem Satz erreichen können.

Gleich einem Tiger geht er auf alle Viere, spannt die Sehnen, stürmt voran und springt.
 

„Hältst du es nicht für überflüssig, die Besatzung zweier Schiffe zu gefährden, nur um ein Hirngespinst zu jagen, Onkel?“, Plinius der Jüngere steht neben seinem Onkel und mustert nachdenklich die gigantische schwarze Säule über der benachbarten Stadt.

„Ich meine, selbst wenn dieser ‚Hexenmeister’ dort sein sollte – wie sollte er jetzt noch von der Insel heruntergelangen? Er wird dort sterben.“

Plinius ist seit einigen Wochen der festen Überzeugung, dass ein der Unterwelt entstiegener Dämon dieses Reich verflucht habe.

„Solche Kreaturen sterben nicht einfach!“

Achselzuckend lehnt sich sein Neffe an das metallene Geländer.

„Wenn du das sagst. Dann stirbt er eben nicht, sondern wartet dort, bis sein Werk getan ist. Ruf die Männer zurück.“

„Plinius!!“

Der junge Mann kann nur mit den Augen rollen. Was seinem Onkel fehlt, ist Rationalität. Jetzt erzählt er ihm garantiert gleich wieder, warum er so überzeugt ist, dass es sich um teuflisches Machwerk handelt. Er kann es nicht mehr hören.

„Dieser Dämon wird sicherlich sein Werk aus der Ferne begutachten wollen-“

„Du meinst, so wie wir gerade?“, fällt ihm der Jüngere ins Wort.

„Das vergleicht sich doch gar nicht! Unerhörter Bengel. Geh und warte den Bericht des Kommandanten ab! Sage mir bescheid, wenn sich etwas tut.“

Murrend stößt sich der Jüngling vom Geländer ab, wirft seine braunen Haare nach hinten und marschiert hochmütig an seinem Onkel vorbei.

„Für solch niedere Dienste hast du Personal. Ich gebe dir jedenfalls nicht den Laufburschen.“

Doch noch bevor der Ärger folgen kann, beschleunigt er seine Schritte und ist im Haus verschwunden.
 

„Verdammt verdammt VERDAMMT!“

Ungehalten tritt er ein kleines Bäumchen um, das ihm zufällig im Weg steht.

Dabei entfesselt er ein kleines Staubwölkchen, das sich auf den zarten Blättern niedergelassen hat.

Die Zähne zusammenbeißend läuft er weiter, die rechte Hand fest auf den linken Oberarm gepresst. Darunter quillt dunkles Blut hervor.

Es war ihm zwar gelungen, die Mauer zu erreichen, doch hatte er den Abstand zu weit eingeschätzt. Er hatte keinen Halt mehr finden können, war so auf der anderen Seite direkt hinabgestürzt auf den steinigen Schotterboden, der die Stadt umgab.

Er ärgert sich über sich selbst. Den Sprung hat er ja gerade so noch hinbekommen, doch was nützt all das Jagdtraining mit Seths Vater, wenn er nicht einmal mehr fähig ist, unverletzt aufzukommen?

Moment… Seths Vater?

Nein, es war doch Schnarrghs Vater gewesen.

Ein Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht, als er an seinen Liebsten denkt. Was würde er nur sagen, wenn er ihn so sähe?

Schmutzig, blutend, mit zerschlissenen Gewändern, die am Anfang des Tages einmal weiß gewesen sein mochten?

Er würde ihn schön schelten. Besonders auf seine alten Tage war Seth mäkelig gewesen. Hach, wie sehr er sich doch nach ihm sehnte.

Er hatte versprochen, zurück zu kommen…

Das Lächeln wird traurig.

‚Aber Seth ist tot. Er kann niemals zurückkommen.’

Andererseits war er bereist einmal wiedergekehrt…

Oder war es Zufall, dass er Schnarrgh so geähnelt hatte?

Ein weiteres Bäumchen erzittert in einer aschigen Explosion, als er dagegen tritt.

Wie oft will er denn noch darüber nachgrübeln? Das bringt doch alles nichts.

Trotzdem denkt er an nichts Anderes während er über das graue Gras trottet.

Erst als ihn ein kühler Luftzug zusammenfahren lässt, erwacht er aus seinen Erinnerungen.

Fröstelnd blickt er sich um. Ihm ist gar nicht aufgefallen, wie viel heller es geworden ist. Genauso wenig hat er registriert, wie unnatürlich warm es in der Stadt gewesen ist. Nun friert er beinahe. Dennoch geht er weiter, immer auf das Licht und die Quelle des Windhauches zu.

Seine Schritte beschleunigend stolpert er beinahe, als er ruckartig stehen bleiben muss, wäre er doch glatt ins Wasser gerannt. Erst im letzten Moment hat sich sein Sichtfeld soweit geklärt, dass er die schillernde Wasseroberfläche ausmachen hat können.

Er muss zum Strand gelaufen sein, ohne es zu wissen.

Aber was nun?

Zögerlich dreht er sich um.

Heilige Ibisfeder!!!! Quasi direkt hinter ihm – oder vor ihm, je nachdem – erhebt sich ein gigantischer Berg aus dunkler Asche.

Da ist er eben gerade herausgekommen?

Ihm wird schlecht. Bloß weg von diesem verfluchten Ort!

Suchend geht er am Ufer entlang. Irgendeinen Weg von dieser Insel muss es doch geben.
 


 

Auffällig unauffällig drückt sich Plinius der Jüngere am Pier herum.

Zwar hat er verlauten lassen, nicht den Laufburschen spielen zu wollen, doch ist die Neugier eben manchmal doch stärker als der Stolz. Eines der beiden ausgesandten Schiffe ist gerade dabei, in den Hafen einzulaufen. Offenbar müssen die Matrosen etwas gefunden haben. Etwas oder jemanden.

Ein kleines bisschen neugierig auf den Dämon seines Onkels ist er ja schon, wenngleich er niemals offen zugeben würde, dass dieser wahrlich existiert.

Sein Onkel hat die Ankunft vom Balkon aus mitbekommen und steht bereits am Dock.

Als das Schiff endlich angelegt hat, alles fest vertäut und alle Leinen verknotet sind, senkt sich die Ladeplanke direkt vor den Füßen Plinius’ zu Lande und vor dessen Augen wird ein Junge, von zwei Männern gepackt, hinabgeführt. Das soll er sein?

Plinius der Jüngere kann es sich einfach nicht verkneifen.

„Das soll dein Dämon sein?“, spöttelt er, nachdem er hinter den Alten getreten ist. „Ein kleiner Lump in Fetzen? Dieses Häufchen Elend da soll stark genug sein, eine ganze Stadt auszuradieren? Dass ich nicht lache.“

„Sie haben ihn in einem Fischerboot gefunden, wie er versuchte, von der Insel zu fliehen!“, triumphiert sein Onkel. „Er als Einziger!“

„So ein Quatsch! Als ob ein Dämon ein Fischerboot bräuchte.“

„Woher willst du denn bitte wissen, was ein Dämon braucht, du Gottloser?! Du glaubst doch, du wärst zu schlau, um an solche Monster zu glauben. Sieh her, hier ist der Beweis für ihre Existenz!“

„Das ist ein Fischerbengel, mehr nicht!“

„Pah! Alles nur Tarnung.“

Herablassend mustert der Jüngere den Gefangenen.

„Was starrst du mich denn so blöd an?“
 

In der Tat starrt er den Brünetten an, seitdem dieser herangetreten ist.

Diese Augen, diese Stimme, sie sind für ihn unverkennbar! Eine Welle überschäumenden Glückes rauscht durch seine Blutbahn. Er ist zurück! Er hält sein Versprechen tatsächlich!

„Seth! Seth, du bist zurück! Erkennst du mich denn nicht? Ich bin es, dein Atemu!“

In seinem neu erstarkten Eifer vergisst er völlig, wo er sich befindet und verfällt zurück ins Ägyptische.
 

Keiner der Umstehenden versteht ein Wort.

Alle starren sie ihn perplex an. Vor Allem Plinius der Jüngere, der geradezu schockiert darüber ist, dass ausgerechnet er angesprochen wird. Und das mit solcher Freude, mit solch einem Strahlen auf dem Gesicht. Nun versteht er gar nichts mehr.

Ihm wird unwohl bei der Sache.

Unbewusst weicht er einen Schritt zurück, als der angebliche Dämon versucht, zu ihm zu gelangen, was freilich an den beiden Muskelpaketen links und rechts von ihm scheitert.

Und doch kann auch er nicht umhin, seinen Blick unverwandt auf den seltsamen Jüngling zu richten.

In seiner Brust beginnt sich ungefragt ein sonderbar flaues Gefühl auszubreiten.

Ist es Ekel ob dem Schmutz überall am Körper des Jungen?

Nein.

Gar Angst? Nein, bestimmt nicht. Aber was ist es dann?

Plinius weiß es einfach nicht einzuordnen.
 

„Bringt den Hexer in meinen Keller, schnell! Und knebelt ihn. Mit seinen wirren Beschwörungsformeln versucht er bereits, uns in seinen Bann zu ziehen.“, geht der ältere Plinius dazwischen. Mit einem besorgten Seitenblick auf seinen Neffen fügt er an: „Meinen Neffen hat er bereits hypnotisiert! Fort mit ihm!“
 

Grob zerren die beiden Schergen den wehrhaften Dreckspatz Richtung Haus. Dessen Gegenwehr wird jedoch mit zunehmendem Abstand zu seinem Geliebten größer.

„Nein! Nein! Seth!“

Geradezu brutal wird er fortgeschleift.

Plinius ist noch immer wie versteinert. Sein Blick folgt der um sich tretenden und beißenden Gestalt, bis diese im Haus verschwindet. Erst dann gelingt es ihm endlich, den Kopf zu senken und einmal tief durchzuatmen.

Was ist da gerade mit ihm passiert?

In was für einer Sprache hat der Junge zu ihm gesprochen und warum gerade zu ihm, nicht zu seinem Onkel? Oder zu den Männern, die ihn so eisern festhielten?
 

Den ganzen Abend über lässt es ihn nicht los.

Die Augen des Fremden, die Art, wie sie ihn ansahen; so … freudig, erwartungsvoll.

Was ist nur an diesem Knaben, das ihn so verwirrt?

Geistesabwesend schaut er aus dem Fenster, an dessen Rahmen er lehnt, hinaus ins Dunkel, wo noch immer die Umrisse der schwarzen Wolke erkennbar sind.

Das soll dieser Junge – dieses halbe Kind – bewirkt haben?

Er erscheint ihm viel zu schmächtig, als dass er zu Taten derart zerstörerischen Ausmaßes fähig wäre.

Warum nur lässt es ihn einfach nicht los?

Fragend dreht er sich um, als er hinter sich das leise Klacken der Tür hört. Sein Onkel ist von der Befragung des Dämons zurückgelehrt.

„Warum siehst du mich so missgelaunt an, Onkel?“

Ohne eine Antwort zu geben durchquert Plinius der Ältere den Raum, setzt sich an seinen Schreibtisch und macht sich ein paar Notizen, bevor er die Feder zur Seite legt und seinen Neffen wieder ins Visier nimmt.
 

„Was hat er gesagt?“

Misstrauisch mustert der alte Mann seinen neugierigen Neffen.

Schließlich antwortet er doch.

„Nicht viel. Er wollte … Er wollte dich sehen. Warum will er dich sehen, Plinius?“

Die Beharrlichkeit des Vormundes erregt ihrerseits starkes Missfallen bei Plinius. „Was sollte er von mir wollen?“

„Was hat er vorhin mit dir gemacht?“

Sein Onkel scheint geradezu auf eine Antwort zu lauern, wie der junge Mann zu seinem Unmut feststellt.

Verärgert den Mund verziehend wendet er sich ab.
 

„Plinius! Wende dich nicht ab! Was hat er mit dir gemacht, vorhin am Pier?!“, drängt der Forscher weiter.

Doch Plinius verspürt nicht die geringste Lust, über das, was ihn selbst schon seit geraumer Zeit beschäftigt, zu sprechen. Zumindest nicht mit seinem Gegenüber.

Nach einiger Zeit des Schweigens gibt Plinius der Ältere schließlich doch mit einem schweren Seufzer nach.

„Na schön, Junge. Für heute wollen wir es gut sein lassen.

Morgen aber wirst du mich zur Befragung begleiten. Dann werden wir ja hoffentlich sehen, was er sich von deiner Anwesenheit erhofft. Geh nun zu Bett.“

Ausnahmsweise einmal ohne Widerworte oder schnippische Kommentare geht der Brünette an dem alten Herrn vorbei in seine Räumlichkeiten, um sich tatsächlich schlafen zu legen.
 

Doch an Schlaf ist gar nicht zu denken.

Jedes Mal, wenn er die Augen schließt, erscheint ihm das Gesicht des Gefangenen.

Ihn morgen sehen? In Begleitung seines Onkels? Wenn er selbst noch gar nicht weiß, was es ist, das dieser Bengel in ihm auslöst? Eine mehr als unbefriedigende Vorstellung.

Wenn er den Jungen alleine sprechen will, muss er noch vor Tagesanbruch hinunter in die Kellergewölbe steigen.

Moment mal!

Zieht er jetzt tatsächlich schon in Betracht, mitten in der Nacht zu einem ihm gänzlich unbekannten Fischerssohn, den sein Onkel fälschlicherweise für eine Höllenkreatur hält, zu gehen, um mit diesem über seine Gefühle zu reden??!

Das wäre ein Eingeständnis von Schwäche, welches er ganz sicher nicht machen wird.

Andererseits hätte er ja die Oberhand in diesem Gespräch und wäre natürlich auch nur aus reinem Unterhaltungszweck dort unten.

Genau! Er sähe sich lediglich ein gefangenes Tier an!

Außerdem hat er ein Recht auf Antworten.

Plinius runzelt die Stirn, unsicher, ob er es nun wagen soll oder nicht.

Schlussendlich siegt doch die Neugierde.

Er steht auf, legt sich einen dünnen Morgenmantel um und macht sich auf leisen Sohlen auf den Weg in die Kerker.
 

Zum Glück sind keine Wachen an der kleinen Zelle postiert worden, die als Einzige im Gewölbe verschlossen ist. So muss sich Plinius keine Ausrede einfallen lassen, warum er den Gefangenen zu solch nachtschlafender Zeit zu sehen wünscht. Dennoch bemüht er sich, möglichst leise zu sein, will er doch etwaige Wachtposten, die in angrenzenden Fluren positioniert sein können, nicht auf sich aufmerksam machen.

So vorsichtig wie irgend möglich öffnet er die schwere Holztür, nachdem er das Schloss entriegelt hat und betritt den winzigen, stickigen Raum. Es ist dunkel; lediglich ein Hauch von Mondlicht, das durch eine kleine Fensteröffnung unterhalb der Decke fällt, lässt Konturen erahnen. Das Licht ist ohnedies schwächer als in sonstigen Nächten, da sich die bedrohliche schwarze Wolke, die unaufhörlich über Pompeji schwebt, allmählich über den gesamten Himmel ausweitet.

Noch einmal schlüpft der Brünette aus der Tür, um eine kleine Öllampe zu holen, die in zahlreicher Ausfertigung an den Kellerwänden hängt, und sie wieder mit hinein zu nehmen. Dann zieht er die schwere Tür leise hinter sich zu.

Die sanft glimmende Lampe vor sich auf den Boden stellend nimmt er im Schneidersitz vor dem zusammengerollten Häufchen Platz, das wohl der Junge von vorhin sein muss.

Mit spitzen Fingern stupst er diesem gegen die Schulter.

Keine Reaktion.

Noch einmal schubst er ihn an.

Wieder keine Reaktion.

Entnervt seufzend fährt er sich durch die Haare. Jetzt muss er dieses schmutzige kleine Balg wohl doch anfassen, um es aufzuwecken. Wie lästig.

Schnell rüttelt er an der schmalen Schulter, bevor er noch dazu kommt, sich vorzustellen, was er danach alles an der Hand haben könnte.

Murrend rührt sich das schlafende Bündel. Na endlich!

Deutlich unwillig rappelt sich der Junge auf und sieht ihn an. Und da wieder! Dieser Ausdruck strahlenden Glückes auf seinen Zügen!
 

„Seth!!“

Verwirrt blinzelt Plinius mit den Augen.

„Was ist ‚Seth’?“

Der Junge lacht leise.

„Du bist Seth. Oder viel eher warst…“

Was redet der denn nur für wirres Zeugs?, denkt der Ältere bei sich. Doch Moment mal…

„Du sprichst unsere Sprache?“

Zur Antwort gibt es einen erstaunten Blick.

„Natürlich. Warum sollte ich das nicht tun?“

„Vorhin am Hafen, da hast du nur Kauderwelsch geredet.“

Der Junge errötet.

„Habe ich das?“
 

Noch immer starren sich die beiden an.

Plinius kann einfach nicht ausmachen, was an dem Jungen ihn so fesselt.

„Habe ich etwas im Gesicht?“, fragt der nach einer Weile des Schweigens.

Nun ist es an Plinius zu erröten und sich eiligst abzuwenden.

„N-nein! Wieso?“

„Weil du mich so anstarrst~“

„Du starrst mich doch an!“

Wieder lacht der Junge.

„Da hast du recht, Se- Wie war doch gleich dein Name?“

Irgendwie fühlt der Brünette sich vorgeführt. Und das gefällt ihm gar nicht.

„Mein Name geht keinen dahergelaufenen Fischer etwas an.“, entgegnet er daher hochmütig. „Nicht, dass du dahergekommen bist- Warte doch, bist du – Also was ich meine – Warum rechtfertige ich mich überhaupt vor dir?“
 

Wird er jetzt verrückt? Schwer um Fassung bemüht erhebt sich der braunhaarige Wirrkopf.

„Ich muss jetzt gehen!“

„Kommst du morgen wieder?“

Die hoffnungsvollen großen violetten Kulleräuglein des Jungen ringen dem Größeren ein sanftes Lächeln ab.
 

„Ja.“
 

Sofort, als er dies gesagt hat, verhärtet sich sein Gesichtsausdruck wieder.

Schnurstracks stürmt er aus dem Raum, den Gang entlang, die Treppe hoch und in sein Schlafzimmer.

Das geht doch alles nicht mehr mit rechten Dingen zu!

Wie kann er nur so seine Fassung verlieren?

Peinlich berührt verbuddelt er sich unter seiner Decke.
 

Wenn das morgen auch so läuft, kommt es ihm noch in den Sinn, bevor er in die Welt der Träume abdriftet, Vor den Augen meines Onkels… Nicht auszudenken, wie peinlich das wird.

Dann ist er eingeschlafen.
 

Unruhig verläuft die Nacht, beherrscht von wirren Träumen über den Feuerberg, schreiende Menschen, den schmächtigen Jungen boshaft lachend über hunderten von Leichen schwebend, in seiner Hand Fäden, wie von einem Puppenspieler, denen er mit den Augen folgt, immer näher seinem eigenen Körper entgegen…
 

„Plinius!“
 

Schweißgebadet schreckt der Gerufene aus dem Schlaf.

Mit weit aufgerissenen Augen, keuchend, starrt er in die grauen Augen direkt vor ihm. Es dauert etwas, bis er sie als die seines Onkels ausmachen kann.

„Bist du endlich wach? Es ist bereits Mittag!“, wird er verärgert angefahren.

„Was treibst du denn die ganze Nacht, dass du am nächsten Morgen nicht aus dem Bett kommst, du fauler Lümmel?“

Als er nicht antwortet, fährt sein Onkel ungeduldig fort.

„Hast dich wohl mit Mädchen vergnügt, wie? Die ganze Nacht auf gewesen. Genau wie dein Vater! Jetzt steh endlich auf und wasch dich! In zwanzig Minuten will ich dich an der Tür zum Kellergewölbe sehen, ist das klar?!“

„Bleib mir bloß weg mit ‚Mädchen’“, murmelt der noch immer nicht ganz wache Brünette, während er wie befohlen aufsteht und sich der Schüssel mit kühlem Wasser zuwendet, die auf einer Kommode neben seinem Bett steht.
 

„Wurde ja langsam Zeit.“, meckert es gleich weiter, als Plinius der Jüngere endlich die Treppe zu den Kerkern hinabgestiegen kommt.

Stumm gehen beide den von Öllampen beleuchteten Gang entlang, als plötzlich ein erschreckter Schrei Plinius, der erneut seinen Gedanken nachhängt, aufschrecken lässt.

„Die Tür! Warum ist die Tür nicht verschlossen?“, ruft er aus und spurtet auf diese zu.

„Oh oh…“, entfährt es seinem Neffen leise. Jetzt wird ihm doch leicht mulmig zumute. Die Tür kann nur er offen gelassen haben.

Schnellen Schrittes folgt er dem Älteren, der bereits die Tür aufgerissen hat, und nun wie versteinert im Rahmen steht.

In Erwartung des Schlimmsten stolpert Plinius beinahe über seine Füße, als auch er endlich an der Zelle angekommen ist.

„Du bist noch da?!“
 

„Seth!“, schallt es ihm erfreut entgegen.

„Nenn mich nicht so!“

„Ich nenne dich so lange so, bis du mir sagst, wie du heißt."

„Was geht hier eigentlich vor?!“, schaltet sich Plinius der Ältere ein. „Ihr kennt euch?!“

Zeitgleich bekam er zwei Antworten. „Ja!“ „Nein!“

„Was?! Was behauptest du denn da, du Wurm?“

Der Junge schürzt schmollend die Lippen. Dass sein Liebster ihn so anspricht, ist er nicht gewohnt.

Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen, scheltet er sich innerlich, Seth hat seinerzeit ja ebenso mürrisch reagiert. Ich darf nicht vergessen, dass er sich, anders als ich, an nichts erinnert.

„Kennt ihr euch nun?“ Der alte Forscher will es genau wissen.

Verlegen lenkt der Junge ein: „Nein, das war ein Irrtum meinerseits.“

Plinius der Ältere lässt sich im Schneidersitz vor dem Jungen nieder, sein Neffe bleibt stehen.
 

„Jetzt sag mir, warum du meinen Neffen sehen wolltest, wenn du ihn doch gar nicht kennst.“, verlangt er zu wissen.

„Du hast ihn verhext, gib es zu! Und hofftest, wenn er alleine käme, deine Freiheit zurückzuerlangen, indem du seinen Willen manipulierst!“

Verdutzt sieht der Junge den alten Mann an.

„Rede endlich, Dämon!“

„Ich sagte doch, ich bin kein Dämon!“

„Lüge!! Die Beweise sprechen klar gegen dich!“

„Welche Beweise denn?“

Allmählich verzweifelt der Junge an diesem sturen alten Bock. Gestern erst war er stundenlang mit diesen abstrusen Vorwürfen konfrontiert worden und heute geht es wieder von vorne los.
 

„Warum will er mir nicht glauben, dass ich ein ganz normaler Mensch bin?“, wendet er sich schließlich an seinen Angebeteten, der lässig im Türrahmen lehnt. Dieser zuckt lediglich mit den Schultern, bemüht, nicht durchscheinen zu lassen, wie brennend ihn der Befragte interessiert.
 

„Herr! Herr!!“, erschallt plötzlich die Stimme eines Bediensteten. „Die Flotte, die nach Überlebenden suchen sollte, ist zurück. Der Hauptmann erwartet Euch im Salon.“

Erschöpft bleibt der Diener vor der Tür stehen, verbeugt sich kurz und bittet dann seinen Herren erneut, den Hauptmann möglichst baldig aufzusuchen.

Unerfreut knurrt der alte Mann: „Nun gut. Es wird jawohl nicht lange dauern. Plinius, du bleibst hier und bewachst das Bürschchen, bis ich wieder zurück bin. Möglicherweise bekommst du ja etwas aus diesem Dickschädel heraus.“

Damit ist er auch schon bestimmten Schrittes aus dem Trakt verschwunden, jedoch nicht ohne vorher noch eine Wache am Ende des Gangs zu platzieren. Denn wer weiß schon, ob sein Neffe noch zuverlässig ist nach den gestrigen Ereignissen?
 

„Plinius also.“

Der Angesprochene, der bis eben noch unentschlossen seinem Onkel nachgeblickt hat, dreht sich ruckartig wieder zu dem Gefangenen um, als er seinen Namen hört.

„Ein schöner Name.“, meint der Junge lächelnd.

Über die Nachtstunden hat Atemu Zeit gehabt, über sein weiteres Vorgehen nachzudenken. Wenn der junge Mann vor ihm – Plinius ruft er sich ins Gedächtnis – Seth charakterlich gleich ist, dann, so hat Atemu für sich beschlossen, wird er es diesmal langsamer angehen. Seth wurde nicht gerne überrumpelt, also wird er es bei diesem Plinius langsam und hartnäckig angehen. Seth hatte zwar immer behauptet, Sturheit nerve ihn, einer gewissen Hartnäckigkeit hatte er sich jedoch nie erwehren können.

„Sag mal, warum bist du eigentlich nicht weggelaufen?“, holt der Brünette ihn aus seinen Gedanken.

„Ich wusste doch, dass du wiederkommen würdest.“
 

Plinius geht etwas auf Abstand. „Was genau willst du eigentlich von mir…“

„Atemu.“

„Wie?“, fragt der Brünette leicht verwirrt, da er mit diesem Wort nichts anfangen kann.

„Mein Name.“

„Atemu? Was ist das denn für ein Name? Hast du den schon meinem Onkel verraten? Kein Wunder, dass er dich da für einen Fremdling hält.“

„So?“, blinzelt er überrascht. „Und du meinst, eine Namensänderung brächte mir meine Freiheit zurück?“

Das Schmunzeln Atemus verärgert Plinius.

Warum hilft er ihm überhaupt?

Um schnellstmöglich seine Verlegenheit zu überspielen, lenkt der brünette Schönling die Aufmerksamkeit auf das vorherige Thema zurück.

„Also warum bist du in dieser Zelle geblieben? Doch wohl nicht wirklich, um auf mich zu warten?“

„Doch.“

Ungläubig ob dieser nüchternen Antwort starrten blaue Augen in violette.

„Das ist ein Scherz!“

„Ist es nicht.“

Stille.
 

Plinius, noch verwirrter als zuvor bereits, weiß einfach nichts mehr zu sagen. Stattdessen nutzt er die Zeit, um den kleinen Dämon – achja, Atemu – genauer zu betrachten.
 

So ganz normal sieht er ja zugegebenermaßen nicht aus mit seinen wirr abstehenden Haaren, deren Farbe einfach nicht natürlich sein kann und diesen etwas zu großen, zwischen Violet und Rot changierenden Augen. Außerdem ist er viel zu dünn und schmutzig!

Und doch… wirkt der Junge im Gesamtbild schön.

Mooooooooooooooment!!

Schön?! Habe ich diesen Wicht in Gedanken gerade ernsthaft schön genannt? Ja werde ich denn verrückt?

Ganz bestimmt liegt es an der schlechten Luft hier unten! Ja, das muss es sein.

Also wirklich, schön, pah! Zuallererstmal ist er zu jung. Punktabzug! Und dann noch diese Finger, viel zu dürr!, fällt sein strenger Blick auf die Hand, mit der sich Atemu auf dem Zellenboden aufstützt. Dazu diese viel zu spitze Nase, die Lumpen, der Dreck überall auf seinem Körper, hah, von wegen schön! Voll von getrocknetem Blut ist er auch noch!

Plinius stockt. Blut?
 

Sich vorbeugend greift er vorsichtig nach Atemus linkem Arm, um ihn näher in Augenschein zu nehmen.

„Hast du dich verletzt?“

Behutsam tastet er die Haut ab, bringt den Jungen so zum Schaudern.

„Tut das weh?“, erkundigt er sich besorgt. Dabei blickt er in seine Augen, die ihm nun ganz nahe sind.

Aber Atemu antwortet nicht. Stattdessen sieht er ihn aus diesen großen, violetten Augen geradezu sehnsüchtig an.

Diese Augen, so nahe… Der junge Mann droht in ihnen zu versinken. Am Rande seines Bewusstseins zupft ein kleines warnendes Stimmchen. „Zu nah.“, flüstert es. „Das ist zu nah.“

Eine ganze Weile blicken sie sich stumm an.
 

„Plinius?“

Ruckartig springt besagter auf und macht einen Satz nach hinten, nur Sekundenbruchteile bevor sein Onkel in die kleine Zelle zurückkehrt.

„Konntest du etwas aus dem Bengel herausbekommen?“

Der alte Mann ist sichtlich genervt. Das Gespräch mit dem Hauptmann scheint unerfreulich verlaufen zu sein.

Mechanisch schüttelt sein Neffe den Kopf.

Mit einem Seufzer nimmt der Alte seinen Platz vor Atemu wieder ein.
 

„Also gut, meine Geduld ist am Ende!

Jetzt hör mir mal ganz genau zu, du kleine Hexe! Du gestehst jetzt, dass du ein Dämon bist und verrätst mir augenblicklich, was du mit Pompeji angestellt hast und wie!“, faucht der alte Mann geradezu, während er sein Opfer grob am Kragen seines zerschlissenen Gewandes gepackt hält und schüttelt.

Perplex starrt Atemu den Mann an.

„Hexe?“, fragt er etwas verwirrt. „War ich vorhin nicht noch ein Dämon?“

„Ha!“ In den grauen Augen des alten Plinius leuchtet es auf. „Du gibst es also endlich zu!“

„Ich gebe gar nichts zu!“

„Streite es nicht ab. Ich habe es doch selbst gehört, Dämon! Nun sag mir, warum hast du Pompeji vernichtet?“

Atemu ist verzweifelt.

„Wie oft soll ich es denn noch sagen?“, wiederholt er die Worte, die er bereits am Vortag hunderte Male vorgebetet hat. „Ich bin kein Dämon, sondern ein Mensch, und Pompeji habe ich schon gar nicht vernichtet!“

Einmal tief durchatmend setzt er erneut an: „Ich bin… Juventus! Sohn des… Julius Caligula Virus, der…“

Fassungslos starrt Plinius der Jüngere den Knaben an, der seinen Blick auffängt und direkt die nächste Idee zu haben scheint.
 

„…der Bruder des Cousins der Frau ist, die Plinius vor drei Jahren einmal… die… die Haare geschnitten hat!“
 

„Was?“, ist alles, das der überrumpelte Braunhaarige im Moment hervorbringt.

Schlagartig dreht sein Onkel sich zu ihm um. „Ist das wahr?“

„Ähm…“

Der junge Mann zögert, unwissend, was genau er sagen soll. Nie im Leben hat er damit gerechnet, von diesem merkwürdigen Jungen in diese Sache hineingezogen zu werden. Doch unter den fordernden Blicken seines Onkels kann er dem kleinen Lügner nicht einmal wirklich zürnen.

„Stimmt das, habe ich dich gefragt!“, ertönt die Frage erneut in nicht unbedingt liebenswürdigem Tonfall.

Unsicher wirft Plinius einen Seitenblick auf Atemu.

„Du weißt schon, diese Nette mit den dunklen Haaren und den farbigen Augen.“, versucht Atemu, ihn an das offensichtlich Gelogene zu ‚erinnern’.
 

„… Jaaaa …“
 

Seines Neffen säumige Antwort will den alten Plinius nicht so recht überzeugen. „Tatsächlich?“

Der Alte wendet sich erneut an Atemu.

„Na wenn das so ist! Dann muss ich mich natürlich bei dir entschuldigen, mein Junge. Wie war doch gleich nochmal dein Name?“

„Ääh… Ju- …ventus. Juventus.“

„Natürlich. Und – nur mal so aus reiner Neugierde – wie lautet der Name deiner freundlichen Tante mit den farbigen Augen?“

Wie erwartet erntet er damit betretene Blicke.
 

„Die … heißt … … Jutta.“

Gespielt freundlich lächelt der alte Wissenschaftler den Jungen an, dem ein eisiger Schauer über den Rücken läuft bei der Arglist, die aus den kalten grauen Augen sticht.

„Dann werde ich mich selbstverständlich augenblicklich bei ihr entschuldigen für diese unangenehme Verwechslung.

Solange ich sie noch nicht gefunden habe, bist du selbstverständlich mein Gast.“, spricht er auf den Jungen ein, während er nach seinem Neffen den dämmrigen Raum verlässt und die Tür hinter sich zuschlägt, die nach einigen Minuten allerdings wieder geöffnet wird.
 

„Juventus?!“, erkundigt sich Plinius geradezu vorwurfsvoll.

„Caligula Virus?!!“

Atemu errötet leicht vor Scham.

„Mir fiel auf die Schnelle nichts Besseres ein.“, versucht er, sich zu entschuldigen.

„Dir hätte ja wohl klar sein müssen, dass er das nachprüft, oder?“

Beschämt lässt der Zurechtgewiesene den Kopf sinken.

„Hast du eigentlich auch nur die leiseste Vorstellung, was mein Onkel mit uns beiden anstellt, wenn er erfährt, dass wir ihn angelogen haben?“

Dass der Blauäugige von ihnen gemeinsam spricht veranlasst Atemus Herz dazu, einen kleinen Hüpfer zu machen.

„Erzähl ihm doch einfach, du hättest dich geirrt.“, bietet er seinem Liebsten an.

„Nichts da! Wir hängen da beide drin. Was auch immer mich zu diesem Unfug veranlasst hat.“ Den letzten Teil scheint er mehr zu sich selbst zu sagen als zu seinem Gesprächspartner.

Sollte Atemu auch nur den leisesten Zweifel an der Identität des Größeren gehabt haben, sind diese mit der vorangegangenen Antwort endgültig ausgeräumt.

Die Spur eines Lächelns zieht sich über die schmalen Lippen Atemus, als er an seinen Geliebten zurückdenkt.

Ja, das sieht ihm ähnlich. Er ist einfach zu stolz, eine einmal getroffene Entscheidung zurückzunehmen.
 

Natürlich kommt es, wie es kommen musste.

Gajus Plinius Sekundus, ganz der akribische Wissenschaftler, hat die komplette Stadt nach einer ‚Jutta’ durchforsten lassen. Und – Überraschung! – niemanden mit diesem Namen gefunden. Atemu kommt zusehends in Bedrängnis, ist er sich doch inzwischen sicher, seinen Peiniger nicht mehr von seiner Unschuld überzeugen zu können.

Diesem Umstand, ebenso wie der kargen Nahrungsrationen und dem Entzug von Sonnenlicht, ist es auch zu verdanken, dass sich der Gesundheitszustand des Jungen verschlechtert.

Doch so ausgelaugt er auch wirken mag, erblüht der Violettäugige geradezu in den Folgetagen, sichtbar nur durch ein undefinierbares Funkeln in dessen Augen und ein stetiges, verträumtes Lächeln.

Und in der Tat hat er Grund zur Freude. Sein Plan, es diesmal ein wenig zurückhaltender mit seinem Angebeteten anzugehen trägt bereits erste Früchte. Plinius’ nächtliche Besuche häufen sich, beginnen sogar, allmählich zu einer festen Einrichtung zu werden.

In manchen Nächten steigt der stolze Adelssohn gar dreimal in die unwirtlichen Kerker hinab, da er den unwirschen Jungspund einfach nicht aus seinem Kopf bekommt. Wobei es wahrlich nicht leicht ist, die Wache jedes Mal zu umgehen.
 

„Ich habe dir etwas mitgebracht.“, eröffnet er bei einem dieser Besuche feierlich Atemu und stellt eine Schale klaren Wassers vor diesem ab.

Ganz entgegen seiner sonstigen Art bringt der Brünette gerne kleine Gaben mit zu dem Jungen, seine bevorzugte Weise, seine Affinität diesem gegenüber auszudrücken. Ein kleines Geschenk ist unverbindlich genug, eine leichte Zugeneigtheit preiszugeben, ohne dass man verfängliche Dinge sagen muss – und man wirkt überdies noch großzügig. Zumal Plinius selbst noch nicht genau weiß, welcher Art seine Empfindungen dem Jungen gegenüber sind, oder woher sie so unerhört schnell kommen.
 

Zufrieden beobachtet er Atemu, wie er in großen, genüsslichen Schlucken das kühle Nass seine Kehle hinunterstürzt.

Er weiß noch immer nicht, was genau es ist, das er bei dem Strubbelkopf sucht. Doch was auch immer es sein mag, so schlecht kann es nicht sein.

Auch wenn er es selbstredend niemals zugeben würde, so gibt ihm die Nähe Atemus etwas. Etwas, das er unmöglich definieren kann.

Es muss an seinen Augen liegen, kombiniert er, dabei ebendiese musternd. Wie seltene Edelsteine muten sie an. Man sieht in ihnen sein Spiegelbild und doch in einer wärmeren, vorteilhafteren Farbe. So als ob nur die guten Seiten des Selbst von ihnen reflektiert würden.
 

Schlagartig weiten sich die saphirblauen Augen Plinius’.

Kam dieser Kitsch gerade tatsächlich aus seinem Kopf? Solch ein philosophisches Gefasel seinem Geiste entsprungen?

Verdammt, er tut es erneut; denkt geradezu poetisch.

Wortlos erhebt er sich und verlässt den Kerker.

Atemu, der sich bis dato mit dem äußerst willkommenen Getränk beschäftigt hat, blickt einen Moment verwirrt auf, um im nächsten Augenblick schelmisch zu grinsen.

Was auch immer er an Gedanken in Seth – Plinius, verdammich, so schwer merkt sich das doch nicht – ausgelöst hat, für ihn beginnt sich der Erfolg abzuzeichnen.

Unerwünschte Denkinhalte als Angriff, Rückzug als Verteidigung. Das ist sein stolzer Schatz.

Welcher Gestalt die unerwünschten Gedanken sind, ist ihm kein Rätsel: Zweifelsohne er selbst und Plinius’ sich häufende Besuche in seinem, nennen wir es mal Zimmer.
 

Damit liegt Atemu natürlich haargenau richtig. Kein Wunder, bedenkt man, wie lange er dem Blauäugigen einst Gesellschaft leistete.

„Bald kommt die Zeit in den Angriff überzugehen~“, kündigt der Junge amüsiert dem vollkommen leeren Raum an. Ja, schon ganz bald wird der hochgewachsene blasse Adelssohn wieder ihm allein gehören, davon ist er fest überzeugt.
 

Doch so einfach wie Atemu sich das denkt, wird es nicht, wie sich einige Tage später herausstellt.

Um die Zeit wenigstens ein winziges Bisschen im Blick zu behalten hat er sich angewöhnt, für jeden vergangenen Tag einen Halm des Strohs, das in einer Ecke der Zelle ausliegt, in die gegenüberliegende umzuquartieren. Die nötige Information entnimmt er der Intensität des dämmrigen Lichtes, das durch einen schmalen Spalt knapp unter der Decke hineinfällt.

Nicht, dass die Zeit für ihn von Bedeutung ist, so ist es nicht, aber jeder Tag, der vergeht, bedeutet einen Schritt weiter auf dem Weg zum Herzen eines gewissen hochgewachsenen Schönlings, dessen Nähe er sich mehr alles Andere auf dieser Erdscheibe herbeisehnt. Und genau in diesem Detail liegt das Problem: Die letzten sieben Halme hat er gelegt, ohne zwischenzeitlich auch nur eine Haarsträhne Plinius’ zu Gesicht zu bekommen.

Dabei ist er sich so sicher gewesen, auf dem richtigen Weg zu sein.

Aber vielleicht ist er ja auch nur krank?

Oder nicht mehr an der Wache vorbeigekommen?

Sicher liegt es nicht an Atemu… An diese Hoffnung klammert er sich beinahe verzweifelt.
 

Auf dem Stadtplatz herrscht derzeit reges Treiben.

Wagenladungen der unterschiedlichsten Hölzer sammeln sich seit den letzten drei Tagen auf dem großen Platz an.

Vom südlichen Balkon aus hat man einen herrlichen Blick auf die Stadt. Genau dort steht gerade Plinius und beobachtet den Bau einer gigantischen Holzpyramide.

„Was soll das werden? Kunst?“, spöttelt er, als er leise Schritte hinter sich vernimmt, gewahr, dass es sich nur um seinen Onkel handeln kann.

„Was für eine Verschwendung von Holz! So eine veraltete Architektur mitten in der Stadt… Eine optische Verfehlung, ganz klar.“

Die harten Worte seines Neffen ringen dem älteren Plinius ein kurzes Lachen ab. Bedächtig tritt er neben den jungen Mann, stützt sich leicht auf das niedrige Geländer.

„Du als Architekturstudent hättest es natürlich besser gemacht.“

„Selbstredend!“, folgt die Antwort mit einem Schnauben.

„Jeder hätte das besser machen können!“

Interessiert mustert der alte Mann den großspurigen Jungspund, bevor er weiter spricht: „Wenn ich dir nun sage, dass ich dieses Bauwerk in Auftrag gegeben habe?“

„Dann wird es dadurch auch nicht besser.“, entgegnet der nach kurzem Zögern.

„Was willst du denn mit einem solch nutzlosen Gebäude anfangen, wenn es fertig ist? Die Optik lädt ja wohl kaum ein, darin zu verweilen, von der Bausubstanz ganz zu schweigen. Seien wir mal ehrlich, Holz ist der Baustoff der Armen! Große Häuser sind aus Stein erbaut. Das da ist bestenfalls ein einigermaßen hübsch hergerichteter Haufen Brennholz.“, hagelt es weiter harsche Kritik.

Die schmalen Lippen zu einem kalten Grinsen zusammengepresst lehnt der alte Mann sich vor und hält sein Gesicht ein wenig in die kühle abendliche Brise.

„Damit erfüllt es dann ja auch seinen Zweck.“

„Hu?“
 

Verdutzt dreht der Brünette sich zu seinem Onkel um.

Hat er da gerade richtig gehört?

Sein Blick fällt zurück auf die zu drei Fünfteln abgeschlossene Holzpyramide. Sein Onkel will sie abbrennen?

Wozu soll das denn gut sein? Ein Freudenfeuer, weil er endlich seinen Dämon gefangen hat? Wohl kaum. Sein Onkel ist regelrecht frustriert über die Schweigepolitik des Knaben. Doch was kann es sonst sein?

„Nicht unbedingt die Zeit für ein Lagerfeuer, wenn du mich fragst.“, meint er nach einer Weile. „Nicht so kurz nach dem, was drüben auf Pompeji geschehen ist.“

„Wer spricht denn hier von einem Lagerfeuer?“, stellt der Alte richtig. Fortfahrend: „Ich habe mit den Priestern gesprochen.“

Als sage dieser eine Satz alles, verfällt der alte Mann wieder in Schweigen.

Plinius hasst es, seine Neugier zugeben zu müssen, dennoch hakt er nach: „Wofür bedarf es ihres Rates?“

Viel hat er nicht für diese Leute übrig, das weiß sein Onkel genau so gut wie er selbst es weiß. Plinius als ein Mann der Praktik kann wenig anfangen mit den Ansichten der Theologen. Eine Einstellung, die er auch dem alten Wissenschaftler des Öfteren ans Herz gelegt hat. Wenn diese Quacksalber ihre Hände im Spiel haben, nimmt das selten einen guten Verlauf.

Nichtsdestotrotz war und ist der Alte stets ein gottesfürchtiger Mann gewesen. Solange Plinius bei ihm lebt, hat er ihn niemals anders erlebt. Wie oft schon hat er verächtlich über den geradezu abergläubischen Onkel gelacht? Sein eigener Vater ist da ganz anders gewesen, schweifen seine Gedanken ab. Kühl, rational, logisch. Für den Mann stellten Götter nichts als Erklärungsversuche derer dar, die die Wissenschaften nicht verstanden.

Bestimmt schüttelt er den Kopf. Er will doch nicht mehr daran zurückdenken! Seine Eltern sind tot, das ist eine Tatsache, die er bereits vor Jahren akzeptiert hat. Der Bruder seines Vaters stellt nun seine Familie dar. Das ist das Einzige, was er wissen muss. Der Vergangenheit nachzutrauern bringt ihn nicht voran.
 

Gerade noch rechtzeitig besinnt er sich wieder auf das Gespräch, das er ja eigentlich gerade führt, und kann gerade noch so die letzten Fetzen der Antwort auf seine Nachfrage auffangen.
 

„… sie mir dazu geraten, es möglichst bald zu tun, um zu verhindern, dass auch Misenum dem Flammentod zum Opfer fällt.“
 

Dumm nur, dass dieser Halbsatz alleine keine ausreichende Informationsquelle darstellt, um das Gesagte rekonstruieren zu können. Innerlich schilt der Heranwachsende sich für seine Unaufmerksamkeit.

Zu seinem Glück jedoch fährt sein Onkel nach kurzer Pause unbeirrt fort zu sprechen.

„Ich war in Pompeji, mein Junge.“, erklärt er, wobei seine Stimme einen melancholischen Farbklang annimmt.
 

Überrascht ob solcher Gefühlsregungen mustert der Blauäugige seinen Onkel eingehend, dessen Augen Schmerz und Trauer widerspiegeln. Dass der Alte auf der Insel gewesen ist, weiß er ja noch gar nicht. Wie es dort nach dieser allgewaltigen, alles verschlingenden dunklen Wolke aussieht, interessiert ihn brennend.

„Die Stadt existiert nicht mehr. Alles ist fort. Die Häuser, die Straßen, die Menschen… Eine flache Ebene aus Asche und Stein. Pompeji ist fort, von dieser Welt gerissen auf grausamste Weise.“

Kalt schwebt das eben Gesagte über ihnen beiden.

Plinius muss schlucken.
 

„Sicher haben die Menschen sich in Sicherheit gebracht, bevor es zu spät war.“, versucht er, die Stimmung etwas zu heben.

Vergeblich.

„Keiner hat überlebt, Plinius. Meine Soldaten haben die Bucht Tag und Nacht überwacht, aber niemanden erspäht. Nicht ein einziger hat es von der Insel heruntergeschafft.“ Heiser lacht der Alte auf. „Doch, einer. Ein einziger. Das Monster, das sie alle auf dem Gewissen hat. Nur ihn fand man auf dem Fluss.“

’Das ist in der Tat ein reichlich großer Zufall’, raunt ihm ein kleines Stimmchen in seinem Kopf zu.

Schnell verdrängt er die aufkommenden Zweifel zurück in sein Unterbewusstsein.

Unerwartet schnell stößt der alte Plinius sich vom Geländer ab und bewegt sich Richtung Tür. „Morgen Abend findet Pompeji Frieden. Und wir hoffentlich auch.“

Mit diesen Worten ist er verschwunden, seinen verwirrten Neffen auf der Terrasse zurücklassend und unsicher in Richtung der Insel blickend, deren Sicht ihm durch das Anwesen versperrt ist.
 

’Alle bis auf einen.’

Hat er nicht gerade eben erst dieses nervtötende kleine Fisselstimmchen zurück in sein Unterbewusstsein gesperrt?

Scheinbar nicht erfolgreich genug, denn da taucht es schon wieder auf. ’Warum hat nur Atemu das Unglück von Pompeji überlebt; ein schmächtiger kleiner Knabe? Wohingegen die vielen gestandenen Männer, die sicher in der Nachbarstadt gelebt hatten, den Tod fanden?’

Zufall, tut er harsch ab. Er hatte bestimmt nur Glück, das ist alles.

’Nur Glück? Ist es nicht ein wenig unwahrscheinlich, dass einer von hunderten überlebt, weil er als einziger Glück gehabt hat? Widerspricht das nicht allen Gesetzen der Logik, an die du glaubst?’
 

Mit einem abfälligen Schnauben beendet der Jüngling seinen inneren Dialog. Er will einfach nicht glauben, dass Atemu etwas mit dieser grausigen Angelegenheit zu tun hat.

Zweifel über Zweifel und keine akzeptable Lösung in Sicht.

Er muss einfach noch einmal mit dem Kleinen darüber sprechen. Selbst wenn es noch hell ist, er braucht Antworten. Antworten, die ihm nur Atemu geben kann.

Wenn er so darüber nachdenkt, fällt ihm auf, dass dieser bisher kein einziges Wort über Pompeji verloren hat. Seltsam mutet es ja schon an. Ein solch einschneidendes Erlebnis kann doch niemand so einfach vergessen. ’Es sei denn, er hatte von Anfang an nichts zu befürchten~’
 

Schweig endlich!!
 

Hastigen Schrittes legt der Brünette den Weg durch den nur von Fackeln beleuchteten Gang zurück. Viel Zeit hat er nicht, das weiß er. Die Wache patroulliert hier regelmäßig auf und ab.

So schnell er kann springt er in eine schmale Vertiefung in der Wand, gerade noch rechtzeitig. Um ein Haar hätte die Wache ihn erwischt.

Fest an den kalten Mauerstein gepresst harrt er aus, bis die metallisch klirrenden Schritte nicht mehr auszumachen sind. Welch Segen, dass dieser Trottel von Wachtposten sein Schwert lose an seinem Gürtel hängen hat, so dass es bei jeder Bewegung lautstark gegen seinen Waffenrock schlägt.

Wie einfach es doch ist, an sein Ziel zu gelangen, wenn man es lediglich mit Trotteln zu tun hat, stellt Plinius mal wieder zufrieden fest.
 

Als das metallische Klingen nicht mehr an sein Ohr dringt, schließt er die Augen und zählt leise bis zwölf. Jetzt müsste der Soldat um die Ecke des angrenzenden Ganges gebogen sein.

Zielstrebig schreitet er weiter aus, nach links, links, geradeaus, rechts. Dann steht er vor Atemus Zellentür.

Seltsam.

Die Hand, mit der er nach dem kleinen dunklen Schlüssel greift, der direkt neben der Tür an einem Haken an der Wand baumelt, zittert. Ungläubig fixiert der Jüngling sie mit seinen kalten Augen.

Wenn er nicht irrt ist Zittern ein Zeichen der Angst.

Hat er etwa Angst. Vor Atemu?? Viel eher vor dem, was er sagen könnte…

Nein halt, stopp!

Er hat keine Angst! Streng ruft er sich zur Ordnung. Und tatsächlich, seine Hand hört auf zu zittern.

Ein zufriedenes Lächeln huscht über die schmalen Lippen, bevor er den Schlüssel vom Haken nimmt und leise die Tür öffnet, um zu Atemu zu gelangen.
 

Diesen erwischt er gerade dabei, wie er sorgsam den mittlerweile achtzehnten Strohhalm auf den kleinen Haufen in der rechten hinteren Zellenecke drapiert.

Fragend runzelt er die Stirn.

„Was genau tust du da? Ist dir dermaßen langweilig, dass du Schicht für Schicht das stinkende Heu umplatzierst?“, erkundigt er sich verächtlich.

Sogleich wirbelt der Angesprochene zu ihm herum und schenkt ihm einen Blick, der irgendwo zwischen Wut und Glückseligkeit anzusiedeln ist.

„Was fällt dir eigentlich ein, dich hier sieben Tage lang nicht blicken zu lassen?!“, wird er von Atemu getadelt, nur um sich Sekunden später in einer festen Umklammerung wiederzufinden, mit einem gehauchten „Ich habe dich so vermisst.“ an seiner Brust.

Er spürt seine Wangen unangenehm glühen. Überrumpelt von dieser unerwarteten Attacke, unfähig zu reagieren steht er einfach nur da und… genießt es.

Atemus Körper ist angenehm warm – was Plinius auf Grund der wohnlichen Umstände eher nicht erwartet hätte.

Gut, der Junge ist nebenbei bemerkt auch furchtbar schmutzig und ungewaschen, was seiner reinweißen Toga nicht unbedingt schmeicheln dürfte, aber wen interessiert das, wenn ein attraktiver junger Mann einem euphorisch die Arme um den Bauch schlingt?

Zu schade nur, dass der schmächtige Körper sich genau in dem Moment, in dem Plinius sich dazu entschließt, ihn ein wenig eingehender zu befühlen, ruckartig von ihm löst.

„E-entschuldige, das war nur… hier unten ist es so einsam… du hast mich so lange nicht mehr besucht…“, versucht Atemu sich zu rechtfertigen. „Das war kein Annäherungsversuch oder dergleichen!“ Die hebe ich mir für später auf, ergänzt er für sich im Stillen.
 

Plinius, noch immer mit angehobenen Händen dastehend, die ihr Ziel nicht mehr erreicht haben, beobachtet fasziniert das Minenspiel auf dem blassen Gesicht. Sieht er da etwa, wenn auch nur für einen winzigen Moment, Begehren aufblitzen?

Drücken gibt es bei ihm nicht!

Da Atemu sich allzu schnell wieder von ihm gelöst hat, ergreift Plinius prompt die Initiative. Bestimmt zieht er den Kleineren an sich, schlingt einen Arm um dessen schmale Hüfte, damit er ihm nicht mehr so schnell entwischen kann, legt den anderen unter Atemus Kinn und zwingt ihn so, ihm in die Augen zu sehen.

„Hast du schon mal darüber nachgedacht, mit einem Mann zu schlafen?“, raunt er ihm entgegen.
 

Perplex starrt Atemu ihn an. Nicht, dass ihm diese Wendung nicht willkommen ist, aber das kommt doch ein wenig plötzlich. Bisher ist sein Angebeteter eher abweisend und berührungsscheu aufgetreten. Das hier ist das krasse Gegenteil zu dem, was er zuvor an Verhalten gezeigt hat.

Der Braunhaarige, der zu erraten scheint, was in dem angestrengt arbeitenden Köpfchen seiner Beute vorgeht, beantwortet die ungestellte Frage anzüglich grinsend mit einem „Ich kann auch nett sein, wenn ich will.“

Wie zur Untermalung seiner Worte presst er den Kleineren fester an sich und streicht ihm über die Lippen.

„Nicht doch so schüchtern, Atemu. Sonst bist du doch auch nicht so zurückhaltend.“

Allmählich nicht mehr ganz Herr seiner Sinne öffnet jener seine Lippen unter den sanften Fingern einen kleinen Spalt breit. Wie sehr hat er sich hiernach gesehnt? Plinius so nah, seine Wärme spürend, seine Stärke.

Ein raues Lachen schlägt ihm entgegen, als er die Augen schließt, sich völlig den sanften Berührungen hingebend.
 

„Ich sehe, du bist nicht abgeneigt.“

Bedenkt man die sexuelle Offenheit der Römer – davon, dass auch Atemu Römer ist, geht er einfach einmal aus - , ist dies kein Stück verwunderlich. Dennoch hätte Plinius mit mehr Gegenwehr gerechnet. In seinen Augen hängt der Wert einer Eroberung am Aufwand, den sie kostet. Möglicherweise weckt die Lust in ihm auch einfach den Spieltrieb. Er weiß es nicht und ehrlich gesagt befindet sich just in diesem Moment auch nicht genügend Blut in seinem Hirn, um darüber zu befinden.

In Atemu jedenfalls sieht er eine mehr als leichte Beute.

Schade eigentlich, wie Plinius findet.

Er hätte nichts dagegen, sich ein wenig mit dem Jungen zu fetzen, das stachelt seiner Meinung nach die Leidenschaft an. Ganz zu schweigen davon, dass er seine Siege jedes Mal in vollen Zügen auskostet.

Dass der Wuschelschopf sich ihm hier einfach so kampflos hingibt schmälert unweigerlich seinen Erfolg, ist seine Eroberung doch nun keine Trophäe mehr, viel eher ein Sieg durch Aufgabe. Dennoch… In diesem Moment will er einfach nur noch Atemus Körper spüren. Woher diese plötzliche Gefühlsregung kommt, interessiert ihn dabei gar nicht so sehr. Wahrscheinlich hat er sich einfach schon zu lange nicht mehr vergnügt. Daran liegt es sicherlich.
 

Da mit Widerstand nicht mehr zu rechnen ist, befördert er seinen Fang kurzerhand grob auf den Boden und beugt sich über ihn, mit einer Hand bereits unter Atemus kurzem Rock nach den Knoten des Tuches suchend, welches den Schambereich schützen soll.

’Deshalb bist du nicht hier!’, mahnt ihn sein Unterbewusstsein. ’Erinnere dich an Pompeji! Die Antworten, die du wolltest.’

Das hat Zeit, wiegelt er geschäftig ab. Das hier dauert nicht lange, danach bin ich sofort wieder bei der Sache.

Ungeduldig zupft er an den Enden des dünnen Tuches, das ihn als einziges noch an seinem Vorhaben hindert.
 

„Warte.“

Eine Hand auf Plinius’ Brust gelegt versucht der Violettäugige den Größeren ein Stück von sich zu schieben.

„Nur keine Bange“, raunt er Atemu ins Ohr, „Ich habe Erfahrung in solchen Dingen.“

Ganz entgegen der beabsichtigten Wirkung beglückt dieser ihn daraufhin mit einem entsetzten Blick.
 

„Wieviel Erfahrung?“
 

„Ehm… eine Menge Erfahrung.“

Unsicher, ob es sich dabei um die für sein Ziel richtige Antwort handelt, versucht der Brünette, Atemu wieder auf andere Gedanken zu bringen, indem er diesem einen harschen Kuss aufdrückt.

Allerdings erhält er nicht die gewünschte Reaktion. Stattdessen drückt der Kleinere sein Gesicht mit der Hand weg.
 

„Mit wie vielen Männern hast du geschlafen?“, zischt er ihn geradezu an.

Unfähig, zu verstehen, was genau Atemus Problem an seiner Libido ist, entgegnet der Blauäugige brüsk: „Glaubst du tatsächlich, ich würde meine Eroberungen zählen?“

„Es ist also eine Zahl, die du dir schon gar nicht mehr merken kannst, ja?!“

„Was kümmert das dich bitte, he?!“

„Was mich das kümmert, fragst du? Im Gegensatz zu dir habe ich mich tausend Jahre in Enthaltsamkeit geübt, um dich nicht zu hintergehen!“

„Du hast sie doch nicht mehr alle! Wir kenne uns seit gerade mal einer Woche!“

„Wie bitte?!“

„Ich sagte, du hast sie nicht mehr alle!“

Tosendes Rot trifft auf angriffslustiges Blau.

„Das muss ich mir von dir nicht bieten lassen! Schließlich hast du den Fehler gemacht!“

„Fehler? Ich?!“

„Genau du!“
 

Entrüstet schnaufend setzt Plinius sich auf, kurz die Situation überblickend.

„Du bist eifersüchtig.“, stellt er treffsicher und belustigt zugleich fest. Eine für ihn unbekannte Wendung. Unbekannt, aber durchaus nicht uninteressant. Jetzt bekommt er ja doch noch sein Spiel.

Den nächsten Zug machend fährt er Atemu mit dem Zeigefinger übers Schlüsselbein.

„Wenn ich dir nun sage, dass ich jedes Mal genossen habe, was tust du dann?“, schnurrt er anzüglich. „Küsst du mich so oft, bis ich alle anderen vergessen habe?“

„Nicht ganz~“

Zack! So schnell, dass Plinius gar nicht richtig weiß, wie ihm geschieht, kneift Atemu ihm in den Oberschenkel, um im kurzen Moment von dessen Unachtsamkeit unter ihm hindurchschlüpfen und aufstehen zu können.
 

„Raus!“, brüllt er ihm entgegen und zeigt auf die Tür. „Sofort!“

„Sofort?“, gluckst Plinius und tritt wieder näher an Atemu heran, sich den schmerzenden Oberschenkel reibend.
 

„Was geschieht denn, wenn ich mich weigere?~“

Er tritt wieder näher an den kleinen Wildfang heran. Gewand packt er den Hals des Jungen und zieht diesen zu einem feurigen Kuss heran. Das neu erwachte Temperament des Kleinen sagt ihm mehr als nur zu.

Nach Luft schnappend löst er ihre Lippen wenige Millimeter voneinander, den Anderen mit lüsternen Blicken bedenkend. Doch Atemu stößt ihn weg. Seine Eifersucht kann er einfach nicht so schnell überwinden.
 

„Verschwinde!“
 

Unbeeindruckt leckt der Brünette sich über die Lippen.

„Das willst du doch nicht, mein Hübscher~“, raunt er ihm entgegen.

„Und wie ich das will!“

„Beweise es.“

Oh diese verführerische Stimme direkt an seinem Ohr… Atemu ist so kurz davor, schwach zu werden. Hierauf hat er einfach zu lange gewartet. Seine Küsse schmecken noch genauso wie damals. Ob sich auch sonst nichts verändert hat?

Die Chance ergreifend bahnt sich Plinius’ linke Hand ihren Weg zu Atemus Po, während die rechte die schmale Brust bearbeitet. Die zufriedenen Seufzer des Kleineren sind die Zustimmung, die er braucht, um weiter zu gehen.

Geschickt löst er auch noch den zweiten Knoten. Das dünne Tuch segelt von Atemu unbemerkt zu Boden. Weniger unbemerkt ist die warme Hand, die sich auf den hellen Oberschenkel geschlichen hat und verdächtig weit nach oben zu rutschen beginnt.

Um jedwede Unsicherheit zu unterbinden, drückt der Größere Atemu ein weiteres Mal die Lippen auf den bereitwillig geöffneten Mund.
 

Ich wollte doch stark bleiben, ruft sich Atemu in Erinnerung. Wenn Plinius nicht so verdammt geschickt in seinen Verführungskünsten wäre, wäre es ihm vielleicht sogar gelungen, zu widerstehen.

Die zuvor angesprochene Erfahrung merkt man ihm doch an.

Unwillkürlich hält Atemu inne. Diese Berührungen, so schön sie auch sind… diese Gewandtheit, dieses Geschick… all das sind lange eingeübte Taktiken. Lange eingeübt mit…

Unwillkommene Bilder von jungen Männern, die sich lustvoll unter seinem Liebsten winden, ploppen vor Atemus innerem Auge auf. Sein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen.

Er will sie nicht sehen, will nichts davon wissen.

Warum verschwinden sie nicht einfach wieder? Er will doch nur die Zärtlichkeiten seines Geliebten genießen, ungestört, ohne nachdenken zu müssen.

Plinius, der die Anspannung seiner neusten Eroberung fälschlicherweise darauf zurückführt, dass der Junge im Geschlechtsakt mit Männern unerfahren und dahergehend nervös ist, sagt das denkbar Falscheste im ungünstigsten Moment: „Kein Grund, dich zu sorgen. Deine Vorgänger waren alle sehr zufrieden mit mir. Du siehst also: Kein Anlass, nervös zu sein. Genieße es einfach.“

Wieder diese Bilder. Das ist einfach zuviel!

Auf der Stelle entzieht Atemu sich den Berührungen des Größeren, dem diese Launenschwankungen langsam aber sicher doch auf die Nerven fallen.
 

„Hast du mir gerade nicht zugehört? Du sollst dich entspannen!“

„Ich habe dir zugehört. Jedes Wort.“
 

Da, schon wieder. Jetzt ist der kleine Pimpf wütend auf ihn, aus welchen Gründen auch immer. Allmählich hat Plinius keine Geduld mehr. Grob packt er Atemus Handgelenk.

„Hör gefälligst auf dich so zu zieren und füge dich, sonst verliere ich noch meine Beherrschung!“, knurrt er.

„Such dir doch ein anderes Spielzeug!“, wirft Atemu ihm daraufhin an den Kopf.

Dass Plinius mit noch einem Anderem schläft, ist nun wirklich das Letzte, was er will, der Satz ist ihm so herausgerutscht. Zurücknehmen lässt er sich nicht mehr, also besser volle Kraft voraus als einen Schritt zurück.

„Auf einen Playboy wie dich kann ich gut und gerne verzichten. Das ist mir zu billig.“

Gezielt, getroffen.
 

„Du wagst es…! Wer hat sich mir denn an den Hals geworfen?“

„Wer ahnt denn auch, dass du so notgeil bist, das gleich so zu interpretieren!“

„Wie hast du mich gerade genannt?!“
 

Tief luftholend für den nächsten verbalen Schlag hält Atemu gerade im letzten Moment inne, bevor er etwas noch Schlimmeres entgegnet. Was genau tut er hier eigentlich? Mit seinem Ausraster gefährdet er, Seth – Plinius! – je zurückzubekommen.

Wie hat es überhaupt soweit kommen können? Warum streiten sie hier?

Achja, Eifersucht… Mit diesem Gefühl ist Atemu nie zuvor konfrontiert gewesen.

Wann bin ich eigentlich so zickig geworden?

Versöhnlich greift er nach dem Arm seines Schatzes. Jetzt ist erstmal Schadensbegrenzung angesagt.
 

„Entschuldige, so war das nicht gemeint.“

Sanft lächelt er ihn an.
 

Seufzend, aber nicht abgeneigt, meint der zu ihm: „Das will ich hoffen!“

Etwas anzüglicher fügt er hinzu: „Andererseits stehe ich auf kleine Raubkatzen. Also~ Machen wir jetzt da weiter, wo wir eben aufgehört haben?“

Kurz überlegt Atemu. „Nein, besser nicht.“
 

„Bitte?“
 

Der entrüstete Blick des Größeren trifft Atemu hart.

„Verzeih, aber ich muss da noch etwas… verarbeiten.“, erklärt er, während er das am Boden liegende Tuch fokussiert. Es aufhebend, fügt er hinzu: „Das geht einfach zu schnell.“

„Zu schnell wofür?“, hakt der Angesprochene misstrauisch nach, missmutig beobachtend, wie der Kleinere die mühsam aufgepulten Knoten wieder festzurrt.

„Naja, für…“ Soll er das Wort sagen? Jetzt schon? In dieser Situation? Andererseits… Was sonst kann er ins Feld führen?

„Für?“

Einmal tief durchatmend wagt Atemu den Schritt.

„Für eine feste Beziehung.“
 

Einen prüfenden Blick über Plinius Gesicht schweifen lassend, den Atem angehalten, wartet er auf die Reaktion des Brünetten.

Dieser wiederholt verdattert: „Beziehung?“ Atemu nickt. „Mit dir?“ Atemu nickt. „Ich?“ Er zeigt dabei mit dem Finger auf seine Brust. Wieder nickt Atemu.

Einen kurzen Moment scheint die Zeit stillzustehen.

Dann bricht Plinius in schallendes Gelächter aus.

Wie schön, dass ihn dieser Gedanke so amüsiert, murrt Atemu in Gedanken.

„Eine Beziehung, du und ich, du bist mir ja einer! Hahahaha. Wahrscheinlich auch noch eine Traumhochzeit, auf ewig ein treusorgendes Liebespaar hahahahah.“

Plinius’ ungenierte Witzeleien verärgern Atemu.

„Wenn du es genau wissen willst, dann ja! Genau das will ich!“, führt er gereizt ins Feld.

Plinius’ Gelächter verstummt.

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Es ist mir damit todernst.“

Blaue Augen starren ihn an, fassungslos.

„Dir ist schon klar, dass das eine einmalige Sache ist? Ein wenig Spaß, mehr nicht.“

„Wie kannst du da so sicher sein? Empfindest du denn nichts für mich?“, stellt der Kleinere die Frage, die ihm seit Tagen auf der Seele brennt.

Seth hatte versprochen, zu ihm zurückzukehren. Dann muss seine Reinkarnation ihn doch zweifelsfrei ebenso sehr lieben, wie er es getan hat, oder etwa nicht?

Leider enttäuscht der Blauäugige alle Hoffnungen Atemus.

„Etwas für dich empfinden? Mach dich nicht lächerlich.

Was ich von dir will, weißt du. Mehr ist da nicht.“

Dass das nicht unbedingt gänzlich der Wahrheit entspricht, ist Plinius noch lange nicht bereit, zuzugeben. Sicher, er fühlt sich schon zu dem Jungen hingezogen und das in anderer Form als bei seinen bisherigen Liebschaften, aber Liebe? Das liegt ihm einfach nicht. Das ist doch alles nur Gefühlsduselei, nichts als Schwäche.
 

Doch als er in die feucht werdenden Augen Atemus sieht, nagen leise Schuldgefühle an ihm. Er sollte noch etwas Nettes sagen. Dass Atemu jetzt in Tränen ausbricht, wäre ihm mehr als nur unangenehm.

Gerade, als er seine Worte ein wenig abmildern will, bittet ihn Atemu mit leiser Stimme, zu gehen.

Um dem unangenehmen gewordenen Gespräch zu entgehen, erfüllt Plinius ihm diesen Wunsch nur zu gern.

Ohne ein weiteres Wort verlässt er die Zelle. Vor der Tür bleibt er noch kurz stehen.

Das Bild der feucht glänzenden violetten Augen geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Dieses traurige Gesicht. Etwas in ihm rebelliert dagegen, jetzt einfach zu gehen.

Was nur ist denn in ihn gefahren?

Da trifft er auf einen kleinen, schmutzigen Dorfjungen und seine Welt steht sprichwörtlich Kopf.

Soll das etwa Liebe sein?

Allein bei dem Gedanken an dieses Wort schüttelt es ihn.

Dieses beklemmende Gefühl in der Brust?
 

Und wieder verlässt er die Kerker grübelnd.
 


 

Schon seit Stunden sitzt er nun auf dem Fenstersims und starrt ziellos ins Leere.

Das Gespräch, das er heute mit Atemu geführt hat, lässt ihn einfach nicht los.

Dieses Thema – Liebe – erscheint ihm zu absurd, und doch…

Als hätte Atemu etwas geweckt, das lange in ihm schlief und nun erwacht ist, das nach der Nähe des merkwürdigen Jungen verlangt, in ihm Bedürfnisse weckt, die er nie für voll genommen hat bis zu diesem Tag.

Es ist alles so abstrus, so abstrakt, ein Wunsch nach Nähe, doch auch nach Privatsphäre.

Ein Teil von ihm will umgehend in die Kerker rennen, Atemus verrückte Idee von Liebe und Gemeinsamkeit wahr machen, ein anderer Teil kann noch immer nur darüber lachen.

Und dann sind da noch die nagenden Zweifel, die die Worte seines Onkels in ihm geweckt haben.
 

Was hat dieser eigentlich damit gemeint, Pompeji würde morgen Frieden finden?

Froh über die Ablenkung widmet sich der junge Mann dem neu aufgetauchten Problem.

Es hat auf jeden Fall etwas mit Feuer zu tun.

Eine Art pyramidenförmiger Scheiterhaufen, ein Feuer…

Moment!

Scheiterhaufen? Frieden finden? Priesterurteil?

In Windeseile setzt der logische Verstand des angehenden Architekten die Fragmente zusammen, die für ihn zuvor keinen Sinn ergeben haben – vielleicht empfand er sie auch einfach nur als zu unbedeutend – und das Ergebnis behagt ihm überhaupt nicht.

Das Priesterpack hat doch nicht etwa vor, Atemu an die Götter zu opfern, indem sie ihn ins Feuer werfen?!
 

Deprimiert sitzt Atemu in seiner Ecke und lässt die piekigen Halme der Strohmatte zwischen seinen Fingern hindurch rinnen, nur um sie dann wieder aufzuheben und sie erneut zu Boden rieseln zu lassen.

Auf Plinius’ Antwort war er nicht vorbereitet gewesen, weshalb er jetzt unschlüssig vor sich hingrübelt, ob er dessen Herz überhaupt noch für sich gewinnen kann.

Er hat ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er an nichts Anderem als einem einmaligen Liebesabenteuer interessiert ist.

Vielleicht sollte ich mit ihm schlafen? Um wenigstens ein paar Stunden bei ihm zu sein. Wer weiß, vielleicht verliebt er sich ja dadurch doch noch in mich? Oder will wenigstens eine Affäre…

Über die Möglichkeit, seinen Geliebten nicht zu bekommen, hat er nie nachgedacht, so sicher ist er sich ihrer Verbindung gewesen.

Könnte er es ertragen, Plinius an der Seite eines Anderen zu sehen, wenn er ihn nicht haben kann? Könnte er ihn ziehen lassen?

Schnarrgh hatte niemals Augen für andere Männer oder Frauen gehabt.

Seth hatte vor ihm ebenfalls keine festen Liebschaften gehabt.

Warum muss es nur bei Plinius so sein?
 

Das Knarren der Tür unterbricht ihn in seinen Gedankengängen. Neugierig blickt er auf.

„Plinius!“, ruft er überrascht aus.

Nach dem missglückten Annäherungsversuch am Nachmittag hat Atemu nicht damit gerechnet, den Brünetten so bald wiederzusehen.

„Shht, nicht so laut!“, wird er auch sogleich ermahnt.

Der ernste Blick seines Liebsten lässt Atemu unruhig werden.

„Wieso? Was ist denn los?“, fragt er unruhig, aber mit leiser Stimme.

„Das erkläre ich dir später, mach jetzt einfach nur, was ich dir sage, ja? Gut. Dann zieh dich schnell aus.“

„Btte was?“

„Du sollst dich ausziehen.“

„Wenn du glaubst, so doch noch an dein Vergnügen zu-“

„Verdammt, tu es doch einfach!“

Einen Moment sehen sie sich nur an, dann gehorcht Atemu.

„Alles?“, fragt er, als er nur noch mit dem Lendentuch bekleidet in der kaum beleuchteten Zelle steht. Plinius hat vorsorglich eine kleine Laterne mitgebracht, die nun im hinteren Teil des kleinen Raumes steht, um nicht durch unter der Tür hervorquellenden Lichtschein seine Anwesenheit zu verraten.
 

„Alles!"
 

Noch während Atemu sich des letzten Kleidungsstückes gänzlich entledigt hat, beginnt der Adelssohn, im grob die Haut mit einem nassen Tuch abzureiben.
 

„Aua, was soll denn das!“

„Halt still! Wenn du so draußen herumläufst, erkennt doch jeder gleich, dass du aus dem Kerker abgehauen bist.“

„Abgehauen? Du meinst, du holst mich hier heraus?“, dämmert es dem Jungen.

„Ja. Und jetzt sei endlich mal etwas kooperativer.“

So reiben sie also in Gemeinschaftsarbeit den gröbsten Schmutz von der Haut Atemus.

Dann greift Plinius in einen unförmigen Haufen, den er mitgebracht hat, und zieht ein großes weißes Leinentuch hervor, das er um Atemu herumzuwickeln beginnt.

„Was soll das denn werden? Moment, ist das ein Bettlaken?“

Mit den Augen rollend bindet der Brünette dem Kleineren einen roten Gürtel um die Taille, um die togaähnliche Konstruktion zu befestigen.

„Etwas von mir hätte ich dir ja kaum geben können, du Zwerg.“

„He!“
 

Er holt ein weiteres Tuch hervor, welches er Atemu um den Kopf bindet, um dessen auffällige Haarpracht darunter zu verbergen.

Kritisch mustert er sein Werk, ehe er abwinkt, das Handgelenk des Jungen ergreift und ihn hinter sich her aus der Zelle zerrt.

„Wo gehen wir hi-“

Grob drückt Plinius ihm eine Hand auf den Mund. Mit einem strengen Blick gemahnt er ihn zur Ruhe. Dann zieht er ihn weiter durch die dunklen Gänge.

Hin und wieder wird Atemu von Plinius fest gegen die Wand gedrückt. Wenn er dann die Schritte der Wachmänner ganz dicht an sich vorbeischlurfen hört, bleibt ihm jedes Mal fast das Herz stehen vor Schreck. Wie nur schafft sein Liebster es, schon immer im Voraus zu wissen, wann die Männer vorbeikommen?

Beeindruckt von Plinius’ Fähigkeiten lässt er sich so durch die zahlreichen Korridore und Gänge schleifen, bis er plötzlich den Sternenhimmel über sich sehen kann.

Atemlos bewundert er die Pracht über seinem Haupt. Dass er etwas so Banales einmal als so kostbar empfinden würde…

„Hör auf zu trödeln und komm!“, zischt sein Retter aufgebracht, der bereits einmal vorgelaufen und eilig wieder umgekehrt ist, als er bemerkt hat, dass sein Anhängsel ihm nicht folgt.
 

„Wo gehen wir denn hin?“

„Raus aus der Stadt“, unterbreitet ihm der Größere kurzangebunden. Zum Reden ist er momentan nicht wirklich aufgelegt.
 

Still folgt Atemu den weitausholenden Schritten Plinius.

Dabei betrachtet er neugierig die schemenhaften Umrisse der kaum erleuchteten Stadt. Im Sonnenlicht muss sie herrlich anzusehen sein. Auch an der mittlerweile fertig gestellten Holzpyramide kommen die beiden vorbei.

Atemu, der die Form natürlich sofort erkennt, bleibt unvermittelt stehen.

„Eine Pyramide? So weit fort von Ägypten? Plinius?“, ruft er den Jüngling herbei, der nicht gerade begeistert kehrtmacht um ihn wieder einzusammeln.

„Warte doch mal.“, bittet er, als der Größere ihn schon weiterziehen will. „Warum steht denn hier eine Pyramide? Ist hier ein König begraben?“

Plinius’ unwirscher Blick auf das Bauwerk fällt äußerst knapp aus, dann reißt er Atemu roh am Handgelenk, um diesen zum Weitergehen zu bewegen, da die wenigen Passanten, die es des Nachts auf die Straße zieht, bereits neugierige Blicke auf die kostümhafte Aufmachung Atemus werfen.

Im Gehen erklärt er ihm: „Gefällt sie dir? Wie passend. In diesem netten Holzhaufen hat mein Onkel nämlich vor, dich morgen Abend in einem gigantischen Feuer den Göttern zu Opfern.“

Die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen hinter sich kann der Brünette zwar nicht sehen, doch kann er sich denken, wie Atemus Reaktion auf die freundlicherweise von ihm gewährte Information ausgefallen sein wird.

„Und eben deswegen schaffe ich dich jetzt hier weg.“

„Heißt das, du machst dir Sorgen um mich?“, wagt Atemu, nachzuharken.

Eine Antwort erhält er nicht. Dennoch, dieses winzige Eingeständnis weckt in ihm neue Hoffnung.
 

Einige Zeit laufen sie hintereinander durch die Dunkelheit, bis die Häuserreihen immer lichter und die Straßen immer unebener werden.

Dann bleibt Plinius stehen. Er spricht, ohne sich zu Atemu umzudrehen:

„Hier endet Misenum. Folge einfach dieser Straße, dann gelangst du in etwa drei Tagen in ein Dörfchen am Fluss. Von dort aus kannst du dann gehen, wohin auch immer du gehen willst.“

Eine leichte Brise weht ihm entgegen und Atemu schließt kurz die Augen.

„Es gibt keinen Ort, an den ich gehen will. Nicht allein.“

Zaghaft greift er nach der Hand des Brünetten. Nun dreht sich dieser doch zu ihm um.

„Du musst aber alleine gehen.“

„Ist das so? Könntest du nicht mit mir kommen?“

Da ist sie wieder, die Anspielung auf eine gemeinsame Zukunft, die Plinius fürs Erste verdängt zu haben gehofft hatte. Atemu erwartet eine Antwort. Eine Antwort, die Plinius zu geben noch nicht bereit ist.

Da Plinius nicht antwortet, trifft Atemu die Entscheidung.

„Ich werde…“ Suchend sieht er sich. Viel vermag er in der Dunkelheit nicht zu erkennen, doch meint er, Baumkronen zu erspähen. „… in diesem Wald dort drüben ein kleines Lager aufschlagen. Für die, sagen wir mal, nächste Woche. Dort könnte mich jemand besuchen kommen, wenn er wollte.“

Mit diesen Worten erhebt er sich auf die Zehenspitzen, haucht den schmalen blassen Lippen Plinius einen kurzen Kuss auf, dreht sich um und läuft in Richtung des vermuteten Waldes.

Plinius bleibt, die Finger auf die von Atemus Kuss noch leicht angefeuchteten Lippen gelegt, zurück, noch vollkommen unentschlossen, wofür er sich entscheiden soll.
 

Atemu, der sich seiner Entscheidung lange nicht so sicher ist, wie er Plinius glauben gemacht hat, hat sich wie zugesagt ein kleines überdachtes Fleckchen am Rande des Waldes eingerichtet. Sollte man ihn hier suchen, kann er sich schnell im dichten Gebüsch verstecken, Beeren sorgten für seine Ernährung und ein kleines Bächlein besorgte den Rest.

So eingerichtet wartet Atemu. Sieben lange Tage lang.
 

Plinius ist nach Hause zurückgekehrt.

Mit abwesender Miene hat er den Tobsuchtsanfall seines Onkels über sich ergehen lassen, wie Atemu nur entkommen hatte können, hat zugesehen, wie drei der Kerkerwachen deshalb ihren Job verloren, widmet sich mit halber Konzentration Tag um Tag seinen Studien.
 

Am Abend des siebten Tages sitzt wieder an seinem Fenster und starrt hinaus.

Die hölzerne Pyramide verunstaltet noch immer den Stadtplatz. Der alte Plinius hofft darauf, den Entflohenen noch zu finden, um ihn seiner gerechten Strafe zuführen zu können.

Gedankenverloren wandert sein Block über die Holzscheite.

Eine gemeinsame Zukunft mit Atemu, einem mehr als nur merkwürdigen Knaben, den er knapp zwei Wochen lang kennt…

Eine feste Bindung an nur einen Menschen. Festgelegt, aber auch sicher. Gefangen und aufgefangen.
 

In Misenum lebt sein Onkel, sein einziger noch lebender Verwandter.

In Misenum wird er bald ein angesehener Architekt sein.

In Misenum ist er ein bekannter, verwöhnter Adelssohn.

Das alles aufgeben für eine Idee, eine unklare Wunschvorstellung, die ihn sowohl reizt wie auch abschreckt?

Der siebte Tag verstreicht, ohne dass Plinius auch nur das Haus verlassen hat.
 


 

Zehn Tage später wandert ein junger, hochgewachsener Jüngling mit nackenlangem haselnussbraunem Haar einen Pfad im Wald am Rande seiner Heimatstadt entlang.

Hinter sich vernimmt er Schritte, doch wendet er sich weder um noch bleibt er stehen. Er läuft weiter, bis er zu einem kleinen Bach gelangt, an dem er sich niederlässt.

Neben ihn setzt sich ein junger Mann, der ihm ein strahlendes Lächeln schenkt.
 

„Warum bist du noch hier? Die sieben Tage sind längst rum.“

Atemu lächelt verschmitzt. „Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich wusste nur nicht, wann.“

Sie beide wissen, dass es gelogen ist.

„Dass du hier bist, heißt dann wohl, dass du eine Entscheidung getroffen hast?“, fährt er fort, auf den Beutel in den blassen Händen deutend.

Plinius zögert.
 

„Ich… habe mich dazu entschieden, eine Reise zu machen. Nach Rom. Wo wenn nicht dort könnte ich meine Ausbildung besser abschließen.“

Er trinkt einen Schluck des klaren Quellwassers, betrachtet scheinbar eingehend sein Spiegelbild im Wasser, bevor er weiter spricht: „Diese Vorstellungen, die du hast, von Liebe… Die teile ich nicht. Also hör besser auf, dir Hoffnungen zu machen. Aber ich könnte ein wenig Gesellschaft vertragen auf dem langen Weg nach Rom…“

Noch immer lächelnd erkundigt sich Atemu: „Wann brechen wir auf?“

„Sofort.“
 

Der Grundstein einer Freundschaft wird an diesem Tag gelegt, an dem zwei mehr oder weniger junge Männer gemeinsam nach Rom aufbrechen. An Rom schließt sich Neapel an, an Neapel zahllose Städte in Griechenland.

Und während dieser architektonischen Besichtigungsreise wird doch tatsächlich aus Freundschaft Liebe, Woche um Woche ein bisschen mehr.

Und als die Zwei Kreta erreichen, da hat Atemu sein Ziel erreicht, das Herz seines Liebsten erneut für sich zu erobern.

Nach eineinhalb langen Jahren lassen sie sich gemeinsam in einem kleinen griechischen Dorf nieder, das sie bis zum Ende von Plinius’ Leben auch nicht mehr verlassen werden.
 

Natürlich war Plinius überrascht, Atemu an seiner Seite nicht altern zu sehen, während er Jahr um Jahr mehr Falten in seinem Gesicht zu beklagen hatte. Aber auch daran hat er sich gewöhnt.



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Kommentare zu dieser Fanfic (7)

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Von:  jyorie
2013-07-31T21:01:18+00:00 31.07.2013 23:01
(Teil 2)

Hey ^_^

was ein Casanova dieser Plinius. Ich war mir nicht sicher ob auch diesemal es klappen würde das die beiden zusammen kommen. So verletzt und eifersüchtig Atemu war und so eigensinnig Seth war. Aber schön das Atemu es auch wieder geschafft hat. Aber es tut schon weh, von der Steinzeit nach Ägypten und dann bis Pompeii und in der ganzen Zeit hatte er Seth immer nur kurz und dann war er wieder einsam.

Eine Schöne FF, ein tolle Idee.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2013-07-31T10:04:46+00:00 31.07.2013 12:04
Hey ^_^

(ich hoffe du bist nicht sauer … die ~12.000 Wörter hab ich nicht auf einmal gepackt und jetzt erst nur die erste Hälfte deines Kapitels gelesen)

das war irgendwie knapp, wie Yami da aus Pompejj abgehauen ist und das er jetzt auch noch eingefangen wird und ausgerechnet der Neffe seines Jägers ist Schnarrg. Aber ich find es süß, wie sie es diesmal langsamer angehen lassen und der kleine ihm sogar hilft. Ich bin gespannt, ob er sein Herz erobern kann. Und weshalb er die letzten 3 Tage nicht mehr gekommen ist.

*grummelt* wäre nicht Seth dort gewesen – hätte Yami fliehen können.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2013-07-30T20:16:16+00:00 30.07.2013 22:16
Hey ^_^

Ich hab mich die ganze zeit gefragt, wenn atemu doch länger lebt, wie kann er dann der Sohn des Pharao sein? Dann hab ich gedacht es sind alles einzelne OS ... Bis du wieder von schnarrg erzählt hast und endlich erklärt, wie er zum Sohn vom Pharao wurde.

Das war schön und traurig zugleich. Wie Seth zwar irgendwo diese Gefühle in sich hatte und sie ihn dann übermannten. Ob er sich je richtig an schnarrg erinnert hat? Ob es ihn geschmerzt hat, als er sah, wie er alt wurde und atemu bald allein lassen würde.

Das ist ein trauriges leben.

Aber die Geschichte gefällt mir dennoch :)

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2013-07-30T20:15:56+00:00 30.07.2013 22:15
Wow ... Also wieder einmal bin ich hell auf von dem Anfang dieser Geschichte begeistert. Die Idee wo und in welcher zeit sie beginnt ist toll und auch wie sich atemu entwickelt und wie lieb er von Schnark aufgenommen wurde.

Gefällt mir gut und ich bin auf nächste Kapitel gespannt.
Von:  Saedy
2010-06-19T16:40:00+00:00 19.06.2010 18:40
Hallo,

endlich bin ich mal zum Lesen gekommen und ich find's toll, dass eure FF weitergeht. Ich finde das Kapitel total super - und das ist noch untertrieben - und wundere mich, dass noch keiner einen Kommentar dazu hinterlassen hat. Du hast alles richtig gut und ausführlich beschrieben und man merkt, dass du dich mit der Geschichte Ägyptens beschäftigt hast.
Dabei ist das Kapitel so in sich abgeschlossen und ausführlich, dass man es schon fast als eigene Geschichte sehen könnte.
Super Idee, dass der Pharao Atemu entdeckt und ihn zu seinem Nachfolger bestimmt hat.
Wie du Atemu und Seth charakterisiert hast, gefällt mir auch richtig gut.
Bin mal gespannt, wie es weitergeht. Kommt als nächstes die Geschichte zwischen Yami und Seto, oder noch etwas dazwischen?

Viele Grüße
Saedy
Von:  UniverseHeart
2010-02-13T08:22:51+00:00 13.02.2010 09:22
wirklich wunderbar geschriebene FF. vor allem durch ihren Stil und ihre Idee zeichnet sie sich aus; alleine der Prolog glänzt durch die Beschreibungen und der Grundidee - da er erzählt wird von jemandem, der nicht weiß was Liebe ist und verwirrt ist, doch aber weiter machen muss.
Von:  wieprei
2010-02-12T20:44:26+00:00 12.02.2010 21:44
Hallo,
die Idee ist toll. Und der Prolog ist spannend geschrieben.
Ich hoffe es geht bald weiter.

LG Ines


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