Three simple Things von Diracdet ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Three simple Things „Muaaahhh! Wie nervtötend doch die liebe Sonne morgens sein kann.“, stellte Ai gähnend fest, als das Himmelsgestirn durch das Fenster ihr mitten ins Gesicht schien und sie zum Aufstehen zwang. Ein Blick auf den Kalender neben der Uhr verriet ihr auch, dass das besser so war. Dienstag, sechster April, sechs Uhr vierundfünfzig... „Ein ganz normaler... Grundschultag... im Leben einer achtzehnjährigen Forscherin. Ein erfüllter Lebenstraum in Echtzeit, juhu.“ Nochmals gähnend und sich streckend stand sie auf, ging ins Bad und begann die so geübte Routine... die sie sich vor acht Jahren ungefähr abgewöhnt hatte... und seit einiger wieder an. „Was guckst du heute so betrübt, Ai?“ Der Professor wirkte verwundert, als sie noch ruhiger als üblich und mit leicht missmutigem Ausdruck auf ihr Müsli starrte, es mehr erzwungenermaßen zu sich nahm, als wollend. „Steht irgendetwas an?“ Auch er kannte ja nicht alle Aktivitäten in der Grundschule so genau, oder auch, was die Detective Boys und speziell ein Junge aus ihrer Gruppe so planten. Ai war nun mal kein kleines Kind, das einem freudig alle Geheimnisse verriet, die sie beschäftigten. Sie war... gar kein Kind. „Ob was ansteht? Ähm... nein, nicht dass ich wüsste... alles ist... ganz normal. Nun ja, so normal, wie ich es von meiner Situation wohl behaupten kann.“ Sie hustete gekünstelt, vergrub ihr Gesicht erneut in ihrem Frühstück. „Aber warum dann der Blick... wenn alles... 'normal' ist...?“ Sie schien ihn zu ignorieren, nahm einen Happs, dann einen Zweiten, ohne aufzusehen. Dann, als er es eigentlich schon aufgegeben hatte... „Es ist genau das...“ Fast flüsternd leise, aber auch kühl, berechnend, klang ihr Stimmchen durch die Milch auf dem Löffel kurz vor ihrem Mund. „Was?“ „Dass nichts... ungewöhnliches passiert.“ „Hä?“ Nun war er völlig verwirrt. Ai war doch nun wirklich nicht diejenige, die nach Abenteuern und Unterhaltung suchte. Wie konnte ihr da langweilig sein? Ein leicht melancholisches Lächeln auf ihren Lippen zeigte sich ihm, als sie ihn endlich ansah. „Keine Sorge, Professor, ich strebe nicht nach... Abwechslung. Nicht wirklich... Es ist nur... ermüdend... wie ich feststellen musste. Sie können sich kaum vorstellen, wie ermüdend Grundschulunterricht für eine erwachsene Person sein kann. Das ist direkt anstrengend, aufmerksam zu wirken, während man das Einmaleins lernt, wenn man vorher Differentialgleichungen gelöst hat!“ Nach einigem Grübeln schmunzelte er freundlich. „Anstrengender als damals, als du selbst es gelernt hast, was Ai? Schon gut, aber ich verstehe, was du meinst, und ja... das geht vielen so...“ Sie hob skeptisch eine Augenbraue. „Ach, wie viele Erwachsene, die in einem Kinderkörper in der Grundschule sitzen, kennen Sie denn? Und wieso haben Sie mir nur einen von ihnen vorgestellt?“ Er wollte sich erklären, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. Ihr brannte da noch etwas auf den Nägeln, wenn sie schon über ihre Probleme sprach. „Es ist nicht nur die Schule, Professor... jeden Tag... auch die Unternehmungen mit den Kleinen – verstehen Sie mich nicht falsch, sie machen mir Spaß und alles, aber... von einigen Fällen abgesehen, Campen, Videospiele, Freizeitparks... und jede Menge Fußball – mit dem ich irgendwann Kudo nochmal abschieße, weil er es ihnen beigebracht hat...“ Ein leicht säuerlicher Ausdruck bildete sich auf ihrem Gesicht, verschwand dann aber wieder. „Und dann... ist da ja noch meine... 'Forschungsarbeit', Abends. Wenn man es überhaupt so nennen kann. Tse... im Moment stocke ich da so extrem... und jeden Tag sitze ich wieder davor, gehe meine Gedanken durch, schreibe neue Varianten auf, probiere sie aus, und streiche sie dann wieder säuberlich aus meinen Notizen heraus. Eigentlich... meinte ich früher, das wäre harmlos... und doch... ist es einfach nur... ermüdend eben.“ Agasa lauschte gespannt ihren Worten, die seine Vermutung nur bestätigten, so sehr sie ihn auch überraschte. „Dich hat in deinem Alter schon die Alltagsmüdigkeit eingeholt, Ai?“ „Die was?“ „Kennst du das nicht? Das ist die Crux mit den Fähigkeiten des menschlichen Körpers und Geistes. Der Körper kann sich an viele, ganz unterschiedliche Anstrengungen gewöhnen, das passiert ja zum Beispiel beim Training, wenn die Muskeln wachsen, um die anfangs zu schwierigen Aufgaben später besser bewältigen zu können. Das Problem ist nur, dass der Körper sich immer nur bis zu diesem Punkt der physischen und psychischen Belastung, die man ihm auferlegt, entwickelt, nicht weiter. Es gibt ja keinen technischen Grund eine Steigerung zu erwarten.“ Ihr Blick wurde unbestimmt groß. 'Das kenne ich doch irgendwo her...' „Daher wird, um beim Beispiel zu bleiben, bei Berufssportlern nie die Situation des Wettkampfes trainiert, sondern immer eine Stufe mehr. Denn ansonsten wäre die Form bei dieser Maximalbelastung viel zu stark von der Tagesform abhängig. Im Wettkampf wäre das Hazard.“ „Und genau das passiert letztlich im Alltag, das meinen Sie. Man macht wie das berühmte Zahnrad in der Gesellschaft immer das gleiche, den ganzen Tag, das heißt, der Körper gewöhnt sich an genau die Anstrengung, die er jeden Tag wieder erlebt. Und das heißt, er glaubt, jeden Tag seine maximale Auslastung zu erleben, unabhängig davon, wie anstrengend es 'real' ist.“ „Mhm. Eigentlich ist es Gift, aber kaum von Optionen geprägt. Hinzu kommt, dass man in heutigen Berufen stets 'Spezialist' für etwas ist und genau das macht – eben immer das gleiche. Die Monotonie ist dabei ein ernsthafter Ermüdungsfaktor. Das ist ein sehr bekanntes und weit verbreitetes Phänomen in allen Industrienationen.“ „Ich weiß.“ Sie lächelte erneut, aber diesmal eher ironisch als melancholisch. „Ich wundere mich nur... dass du das, selbst als Achtzehnjährige, schon so empfindest.“ 'Ich wurde wohl... früh dazu erzogen, Professor.' „Und, haben Sie sich gut eingelebt, Miss Miyano?“ Sie sah auf, als sie unerwartet von Mister Taylor, dem etwas älteren Englisch-Lehrer, angesprochen wurde. „So eine Privatschule muss doch in Ihrem zarten Alter noch eine völlig befremdliche Erfahrung sein, oder?“ „Ach... wissen Sie... ich war zwar vorher auf einer staatlichen Schule, aber... doch, ich denke, ich habe mich gut eingewöhnt. Es ist... eigentlich sogar sehr viel angenehmer hier... freundlicher.“ Sie verzog etwas den Blick, starrte zur Seite, aber Taylor verstand. „Probleme wegen Ihrer Nationalität?“ „... Nein... nicht hier. Hier ist es... angenehmer.“ „Das freut mich. Und Ihren Noten und Zusatzaktivitäten nach zu urteilen, scheinen Sie hier auch sehr gut mit dem Stoff klarzukommen. Ich hatte mal einen Blick auf Ihren Plan geworfen. Sie interessieren sich für Naturwissenschaften?“ „Chemie... im Wesentlichen. Meine Eltern - sie sind verstorben, bevor ich sie kennen lernen konnte - waren auf diesem Gebiet früher tätig, und ich möchte mich mit dem selben Thema auseinandersetzen... auch, um sie besser verstehen zu können.“ Er schluckte kurz, nickte dann aber höflich. „Eine beeindruckende Einstellung, für Ihr Alter. Meinen Respekt.“ „Nun ja... aber zuerst muss ich mich durch die Schule quälen.“ Angestrengt streckte sie die Arme in die Luft. „Die Noten mögen das nicht so hergeben... das Pensum ist schon anstrengend für mich. Aber wenn ich erstmal mich auf die Chemie konzentrieren kann...“ Sie lächelte fröhlich, was ihrem Lehrer nur ein freundliches Schmunzeln entrang. „Sie sollten nicht glauben, dass es weniger anstrengend ist, wenn Sie nur sich nur noch mit ihrem Lieblingsfach befassen. Auf diesen Trugschluss sind schon viele Leute reingefallen.“ Verwundert blieb sie stehen, betrachtete Taylor musternd. Es war bezeichnend, wie ihr schon öfters in den Staaten auffiel, wie viel Wert die Leute darauf legten, ihr äußeres gewollten Stereotypen anzupassen. Dieser Mann konnte in jeder Hollywoodserie sofort als Lehrer auftreten. Er war Mitte 50, mit leicht graumelierten Haaren und einer etwas größeren Brille, die seiner kantigen, aber noch glatt wirkenden Gestalt den Ausdruck von Wissen und Erfahrung verlieh. Der etwas ausgebleichte Anzug mit den maßgeblichen Ellbogenflicken und der warme freundliche Blick, mit dem er nach Möglichkeit stets seine Schüler bedachte – es war wie eine Musterbeschreibung des Typus 'English-Teacher'. Und eben jene gelehrte und belehrende Art trat nun deutlich hervor „Sie meinen, weil der Stoffumfang dann schwerer wird?“ „Unabhängig davon. Dass der Stoff schwieriger, oder zumindest deutlich mehr wird, ist fast noch etwas positives. Aber Sie werden von dem Freudenerlebnis, an Ihrem Interessensziel angekommen zu sein, womöglich gestürzt in den Albtraum des Alltags. Dann werden Sie erleben, wie anstrengend es sein kann, eine bekannte, einfache Tätigkeit sysiphusgleich immer und immer wieder zu erledigen, ohne dass ein Ende in Sicht ist.“ „Übertreiben Sie jetzt nicht etwas, Mister Taylor? Das klang doch sehr...“ „Pathetisch? Was erwarten Sie, ich unterrichte Literatur!“ Er lachte frei heraus, und steckte sie damit bewusst an, um etwaige Spannungen aus dem Gespräch zu nehmen. „Ich meine nur, Sie sollten nicht unterschätzen, welche Annehmlichkeit es haben kann, hier in der Schule noch die Auswahl den ganzen Tag zu haben. Hier gibt es die Sprachen, die künstlerischen Fächer, PE, die Naturwissenschaften, Geschichte... und natürlich Ihre Zusatzaktivitäten. Im Studium der Chemie haben Sie noch die Auswahl zwischen... Anorganik und Organik, Elektrochemie, und physikalische Chemie, wenn mich nicht alles täuscht. Und eben eine Tage füllende Nachbearbeitung, nicht zu vergessen. Alles Dinge, die Sie hier vermutlich genießen würden, statt ewiger Unterbrechungen durch andere Fächer, aber nach drei Jahren garantiere ich, würde Ihnen eine Englischstunde manchmal auch als angenehme Abwechslung erscheinen. Und dann später... werden Sie sich noch genauer festlegen und in einer Teildisziplin der Chemie Ihr Leben verbringen.“ Sie sah ihn verunsichert von der Seite an, sein Blick wirkte leicht betrübt. „Entschuldigen Sie, Miss Miyano, ich will Ihnen keine Angst machen oder so, ich wünsche Ihnen wirklich ein Leben, ohne dieses... Alltags-Problem, nur leider ist es eines... das viele trifft. Sehen Sie mich an, ich bin dreißig Jahre nun Englisch-Lehrer. Die Bücher, die von den Lehrplänen vorgeschrieben sind, kann ich fast auswendig. Zumindest ihre Interpretation und muss mich immer und immer wieder bremsen, wenn ich gewillt bin, diese als fest anzuerkennen und dadurch die gegebene Interpretationsfreiheit meiner Schüler zu untergraben. Sie lesen die Bücher zum ersten Mal, in aller Regel, sie haben andere Assoziationen als ich, weil sie einer anderen Generation entstammen, und eben eine spontane Meinung dazu. Es ist... Teil des Lebens in dieser Welt... in der Ordnung der in Europa und letztlich auch nach deren Vorbild in Amerika und Ostasien aufgebauten Zivilisationen... Das kennen Sie doch, aus Film und Fernsehen, dieses bis zum Geht nicht mehr ausgeschlachtete Motiv, zwei Leute, die sich missverstanden fühlen trotz ihrer andauernden Leistungen. Sie behaupten, die Arbeit des Anderen viel besser und einfacher zu können, als umgekehrt, und beschließen die Rollen zu tauschen. Anfangs geht alles gut, bis die ersten Probleme auftauchen, durch die sie erkennen, dass auch die Tätigkeiten anderer Personen ihre Tücken haben können, und eine ebensolche Anerkennung verdienten. So grob gesagt. Dahinter steckt der Aspekt, dass man hierzulande nun mal immer dazu ausgebildet wird, in einem bestimmten Berufsfeld meisterlich zu sein. Man kann nicht einfach tauschen, weil dann die ganze Struktur an den Unvollkommenheiten der in der falschen Arbeit tätigen Leute degenerieren würde. Auch wenn es für einen Tag eigentlich ganz angenehm wirkt. Aber das ist eben nichts als der Effekt der Abwechslung. Für einen Tag ist auch die Kasse im Supermarkt eine leidlich angenehme, monotone Aufgabe, aber nach zehn Jahren, nach denen man immer noch freundlich zu allen Kunden, die einen gar nicht kennen, sein muss, ist es... einfach anstrengender als ein Tag auf dem Bau. Und umgekehrt.“ „Wirklich... keine so schönen Aussichten.“ „Ich sollte wohl kein Berufsberater werden, was?“, entschuldigte er sich indirekt, als er ihren leicht resignierenden Blick wahrnahm. „Aber... Mister Taylor, sagen Sie...“ „Hm?“ Sie hatte sich etwas aufgerafft, nach einer Weile der Stille, sah ihn neugierig an. „Was machen Sie gegen diese... Einstellung?“ „Was... ich?“ „Na, Sie kennen das Problem scheinbar sehr gut aus Ihrer eigenen Erfahrung, können es auch soziologisch einordnen, begründen, anwenden sogar... Sie sind seit dreißig Jahren Lehrer, also wird auch Ihnen doch mal irgendwann... der Elan gefehlt haben, wie es in Ihren Worten klingt, oder?“ Er sah sie verdutzt an, lächelte dann mild, „Sie werden wirklich Wissenschaftlerin, was? Gutes Argument, ehrlich.“, und blickte wieder nach vorne. Dann blieb er im Gang stehen, dachte einen Augenblick nach und seufzte schließlich laut aus. „Ja... ich könnte es wohl nicht so plastisch darstellen, wenn es mir fremd wäre. Und ich kenne auch niemanden, der lange eine bestimmte Arbeit hatte und dann nicht das gleiche Gefühl mal hatte. Ja... doch... man kann – und muss – damit ja fertig werden, sonst hätten wir noch mehr Therapeuten in diesem Land.“ Sie starrte ihn neugierig an, ihre Bücher unter den Arm geklemmt, die nach Bildung strebende junge Schülerin. Auch sie vertrat irgendwie ganz klar ihren Stereotyp, wie er feststellte. Er schloss die Augen, machte eine bezeichnende, erhabene Pose und hob daraufhin seine Hand, spreizte die drei größeren Finger von dieser ab. „Es gibt... meiner Meinung nach, drei einfache Regeln, mit denen man sich vor dieser persönlichen Krise schützen und auch aus ihr herausziehen kann.“ „Drei... Regeln? Sind Sie sicher, Sie meinen nicht Ratschläge.“ „Äh... wie auch immer.“, versuchte er sich zu retten, bevor er erneut ansetzte. „Der erste Punkt ist eigentlich der direkt aus der Beschreibung folgende. Nämlich... ...du musst mehr aufpassen, Haibara! Haibara?“ Sie schüttelte sich kurz, als wache sie aus einem tiefen Traum auf, und ein Stück weit war es ihr auch so. Aus dem Lehrer mittleren Alters wurde vor ihren Augen ein kleiner Junge mit übergroßer Brille, der sie ernst anstarrte. „Was ist denn los, du bist ja überhaupt nicht richtig bei der Sache!“, stellte er entnervt fest, als sie ihm lediglich fragend entgegenblickte und auch auf Hinweis seinerseits lediglich eine große Ampel und viele Autos mit sie missmutig anguckenden Menschen wahrnahm. „Du bist eben auf der Straße stehen geblieben, hast auf unsere Rufe nicht reagiert, und scheinbar nicht mal das Hupen der Autos registriert, die seit ner halben Ewigkeit grün hatten. Was ist los mit dir?“ Sie sah ihn noch kurz an, ordnete ihre Gedanken und schüttelte dann nur noch mal den Kopf. „Nichts Kudo... entschuldige.“ „Wie nichts? Das soll wohl ein Witz sein. Hast du gestern wieder ewig im Labor gesessen und bist jetzt total übermüdet, oder was? Sag schon, was ist...“ Er zuckte zusammen, als sie sich urplötzlich umwandte und ihn böse anfunkelte. „Mach. Es. Nie. Wieder! Klar?“ „W-Was?“ „Ich war nur gerade in Gedanken versunken, und ja, das tut mir für die Autofahrer Leid, weshalb ich mich auch entschuldigt habe. Aber... reiß mich nie wieder... so aus meinen Gedanken, Conan!“ Damit drehte sie auf der Stelle um und ging, ließ den kleinen Jungen hilflos stehen. 'Ai?' Die Schule war erwartbar eintönig – was sollte sie von der Grundschule auch anderes erwarten – aber dennoch hatte sie diese schwache Hoffnung, es würde irgendwie alles nicht so schlimm sein, wie sie am Morgen noch befürchtete. Missmutig parkte sie ihren Kopf auf der Tischplatte vor sich. Durch das Schreibheft war es wenigstens nicht so hart. Die japanischen Schriftzeichen, von den Hiragana und dem lateinischen Alphabet, den Romanji angefangen, und dann nochmal alle 1945 wesentlichen Kanji, erlernen mochte eine Aufgabe für das ganze Schulleben sein – aber sie deswegen ein zweites Mal von vorne abarbeiten, das war einfach nur deprimierend. 'Sysiphus, ich verstehe dich!' Plötzlich wurde ihr Kopf von einem Schatten gekühlt. „Ai, der Stoff scheint ja heute geradezu überwältigend auf dich zu wirken. Oder ist es dir zu einfach, dass dir langweilig ist?“ Sie sah auf, in das leicht pikierte Gesicht von Fräulein Kobayashi. Überrascht konnte sie ja nun nicht tun, dafür fehlte ihr nun wirklich der Elan. „Ehrlich gesagt... ja.“ Der Schlag hatte gesessen. „Nun... hast du dann vielleicht eine bessere Idee für den Unterricht, lass ihn uns hören!“ Nun war sie schon angesäuert, und Ai konnte sich das innere Grinsen darüber nicht verkneifen. Vermutlich formulierte die Lehrerin im Kopf bereits den Tadel für sie. Von der schüchternen Mitschülerin zur Unruhestifterin. Aber nun gut, sie hatte es eh drauf angelegt, also... „Dürfte ich? Ich hätte nämlich wirklich Eine.“ Alle starrten sie erschrocken an, auch Fräulein Kobayashi rang etwas mit der Fassung. „W-was? Du hast... eine Idee für... den Unterricht?“ „Naja, ich meine, wir lernen doch hier bereits... zumindest in Anfängen alle drei Arten der japanischen Schriftzeichen. Könnte man da nicht auch... etwas übergreifend mit arbeiten. Ein Beispiel... wir nehmen einen Text... der... zumindest größtenteils, sowohl in Romanji, Hiragana und Katakana, von uns wiedergegeben werden kann. Und dann mischen wir die Schriftarten. Das würde nicht nur gleichzeitig alle Arten üben, sondern auch sehr die Konzentration fördern. Und... es wäre mal ein wenig was Anderes, finde ich.“ 'Was ist mit dir los, Ai?' Die Frage Conans schien immer bedeutsamer zu werden. Sie war überhaupt nicht... normal heute. Fräulein Kobayashi stand eine Weile so stumm da, wie auch der Rest der Klasse, bis sie langsam, schweigend, sich auf den Weg zum Pult nach vorne zurück machte, das Lesebuch aufschlug und ein wenig blätterte. „Schlagt doch bitte Seite 22 auf, Kinder. Dort ist eine kurze Geschichte über Shino, die wäre doch wirklich mal ein gutes Beispiel. Vielleicht ist dann auch Ai wieder etwas mehr bei der Sache.“ Diese lächelte kurz verschmitzt, und setzte sich dann aufrecht gerade hin. „Das Problem ist die Monotonie, Miss Miyano. Das wesentliche Problem. Man macht nun mal immer dasselbe, Tag ein Tag aus. Viel lässt sich daran wohl auch nicht drehen, aber wenn sich so eine Gelegenheit ergibt, muss man sie einfach am Schopf packen.“ „Falls... wohl eher.“ Shiho sah leicht verunsichert zur Seite. „Ich sage ja, erwarten Sie in der Hinsicht keine Wunder. Sie werden später dafür bezahlt, etwas bestimmtes zu machen und nichts anderes. Wer nicht danach sucht, für den werden sich keine Optionen ergeben, und wenn jemand am Fließband steht, kann er auch nicht die Teile darauf anders zusammensetzen oder nach neuen Kriterien kontrollieren. Suchen Sie... in sich selbst. Suchen Sie nach den Freiheiten, die noch da sind. Und Glauben Sie mir, sie sind da. Und so ein gescheites junges Mädchen wie Sie wird da sicher auch fündig.“ Den ganzen restlichen Schultag war Ai wie ausgewechselt. Sehr aktiv beteiligte sie sich am Unterricht, was schon grundsätzlich bei ihr eine Ausnahme war. Aber wer sie vor dem Auftritt im Japanisch-Unterricht erlebt hatte, der traute seinen Augen nicht. Besonders Conan beobachtete sie mit leichtem Argwohn. Eines ihrer Worte ließ ihn nicht mehr los. 'Etwas Anderes.' Sie suchte Abwechslung und das... wenn man bedachte wie harmlos ihre 'Idee' wirkte... meinte er, geradezu verzweifelt. Dem entgegen schien sie nun sogar sehr glücklich und zufrieden, ganz anders als am Morgen. „Willst du heute mal aussuchen, was wir spielen, Ai?“ Mit diesem Satz wollte er ihr nachkommen, als es nun darum ging ihre Nachmittagsaktivitäten abzustecken. Wenn schon Abwechslung, warum dann nicht richtig? Hier galt kein Lehrplan, keine höhere Macht, der sie Folge leisten mussten. Und da Ai sowieso das noch nie bestimmt hatte, stimmten auch die anderen Detective Boys überzeugt zu. Ein bisschen unwohl war ihm trotzdem zu Mute bei dem Gedanken, welches absurde Spiel sie sich in ihrem wirren Kopf ausdenken würde... und was Ayumi, Mitsuhiko und Genta dann von seinem Vorschlag halten würden. Sie überlegte kurz, lächelte dann aber kindlich naiv. „Ach wenn wir schon einen Fußball mit haben, sollten wir damit keine unnötigen Experimente machen.“ „JAAAH!“, riefen drei helle Stimmen freudig und liefen auch gleich los, während Conan zum zweiten Mal an diesem Tag sprachlos dastand. „H-Hast du... deinen Spleen mit der Abwechslung für heute überwunden, oder was sollte das?“ „Vielleicht, Conan. Aber die Auswahl hat lediglich etwas mit Realismus zu tun. Mit einem Fußball ist nun mal schlecht Basketball zu spielen... oder gar ein ganz anderes Nichtball-Spiel.“ „Aha... ich hoffe nur, du weißt, was du tust. Insbesondere, wenn dir klar wird, was für eine Chance du verpasst hast.“ „Wissen? Ganz sicher kann man wohl nie sein... aber ich zweifle nicht mehr.“ Eine Nuance Trübsal zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Wie du meinst...“ „Ach ja, bevor ich es vergesse, Conan, du spielst heute Torwart.“ „WAS?!“ Entgeistert blieb er stehen, sah in die ironisch funkelnden Augen der jungen Forscherin. „Du glaubst doch nicht, dass ich diese Chance wirklich so verstreichen lasse, oder, Kudo? Auch dir tut mal etwas Abwechslung gut.“ Damit schritt sie an ihm vorbei, dem zum fast passiven Zuschauen degradierten Angriffsspieler. „Zweifeln Sie nicht an sich!“ Das war die Antwort auf Shihos Frage nach dem zweiten Rat von Taylor. „Zweifeln?“ „Es hängt alles zusammen. Diese Monotonie erzeugt das Bild des berühmten Zahnrads in der Gesellschaft, das immer geölt funktionieren muss. Dieses Bild ist wie Gift! Es lässt einen zweifeln. An sich selbst, am Sinn der eigenen Tätigkeit. Menschen brauchen aber einen Sinn. Ein Zahnrad... ist ersetzbar, es kann gut arbeiten, aber seine Tätigkeit ist so genau abgesteckt, dass es sicher noch viele gibt, die es mindestens genauso gut könnten. Zweifeln Sie nicht den Sinn Ihrer eigenen Tätigkeit an, egal wie oft jemand kommen mag und meint, darin Fehler zu finden.“ Shiho schluckte hart. Zweifel bestimmten schon damals einen Großteil ihres Lebens. Sie hatte eine grobe Vorstellung von den Ergebnissen ihrer Eltern, die Richtung war klar beschrieben und die Gerüchte um Erfolge, kurz vor ihrem tragischen Tod beflügelten sie bis jetzt immer, aber... da waren noch die Leute hinter den beiden. 'Die, die meine Eltern bezahlten... die, die zugegeben auch diese Privatschule für mich bezahlen. Die Organisation. Gin.' Ihre Ziele waren düster und überschattet von Halbwahrheiten, Mythen und kursierenden Gerüchten ohne Prüfbarkeit. Sie zweifelte, ob sie wissen wollte, welche Büchse der Pandora sie gewillt war zu öffnen, und ob sie deren Inhalt wirklich kennen lernen wollte. Mehr noch, ob absehbar war, was ihre 'Sponsoren' aus jedweder Errungenschaft fertigen wollten. Es war die einzige Tätigkeit, die Shiho wirklich interessierte, die Arbeit ihrer Eltern wieder aufzunehmen, um ihnen damit nahe zu sein. Dass kein Forscher der Organisation ihr zuvor kam, grenzte bereits an ein Wunder und hatte für sie den Charakter eines Zeichens. Diese Aufgabe war ihr bestimmt. Aber sie zweifelte, vielen Forschern gleich, an den Konsequenzen. Und damit... auch an sich. „Man zweifelt nicht nur wegen der Monotonie, oder?“ Der Lehrer seufzte hörbar, blickte ihr gleich nun zu Boden. „Nein... glauben Sie mir, würde ein Athlet nur von einer Goldmedaille zur nächsten laufen, würde ihm so schnell auch nicht langweilig werden, obwohl es eintönig wäre, wohl wahr. Es ist die Unerreichbarkeit eines Ziels, das nicht da zu sein scheint, welches einen allmählich zermürbt.“ „Ein Zahnrad hat kein Ziel, meinen Sie das?“ „Mhm... ich habe mittlerweile... sechs verschiedene Klassen übernommen und zum Abschluss geführt, und jedes Mal wenn eine fertig war, wartete bereits eine neue, mit den gleichen Problemen, vielleicht anders verteilt, aber dennoch ähnlich. Man hat das Gefühl, nicht vorwärts zu kommen, zu haken. Ich kann den Schülern nichts beibringen, meine Nachricht verbreitet sich nicht... Letztlich sind das alles Illusionen und einzig und allein Gefühlsschwankungen, aber sie können einfach zerstörerisch sein.“ Auf dem Nachhauseweg war Ai allein und konnte endlich wieder etwas in Ruhe nachdenken. Es stimmte, Taylors Einschätzung war sehr gut zutreffend für sie. In der Zeit als ihr die ersten Erfolge mit dem APTX glückten, war sie so freudig erregt jeden Tag an ihre Arbeit gegangen, dass sie es zeitweise verfluchte, dass ihr Körper Schlaf benötigte. Die Zeit davor aber, geprägt von Rückschlägen, war sie dankbar nach einem normalen Tag viel Schlaf zu bekommen. 'Und wie ist es heute?' Sie kam mit dem Gegenmittel einfach nicht vorwärts in letzter Zeit. Dem Glücksgefühl bei der Entwicklung des Giftes war die saubere Notierung der chemischen Struktur in ihrem Kopf damals zum Opfer gefallen und das bereute sie nun gewaltig. Sie stockte, hing fest, da half auch kein langer Schlaf im Moment, den sie dennoch erstaunlich viel auskostete. Zweifelte sie heute? 'Heute früh... möglich. Jetzt... Niemals!' Sie begab sich nach dem Abendbrot schnell runter ins Labor, setzte sich vor den Computer und besah sich einmal mehr den Wust an Formeln und Aufzeichnungen, die sie bis jetzt für nennenswert hielt. Ein winziger Bruchteil der Überlegungen, die sie angestellt hatte. Nicht, dass sie deswegen überschaubar waren. Dann schob sie den Drehstuhl samt sich ein Stück nach hinten, suchte den Gesamteindruck, wagte ein kleines optimistisches Lächeln. „Vergiss nie... wofür du das tust!“ „Und wie vermeide ich nun diese Zweifel? Ist ja nicht so, dass Sie sich dazu bis jetzt äußerten, wie das gehen soll, dass man 'nicht zweifelt'.“ Ein leicht sarkastischer Unterton schlich sich in ihre Worte. „Eigentlich relativ einfach... und doch ziemlich schwer für die meisten. Das ist der dritte Punkt. Sie zweifeln am Sinn Ihrer Arbeit, also... suchen Sie den Sinn!“ „Den Sinn... suchen?!“ „Und finden... versteht sich. Ein Zahnrad geht immer nur reihum, ja. Damit hat es kein Ziel, keinen Sinn, dem es folgt... es macht immer nur weiter. Das ist das zermürbende, wenn dieses Bild erstmal im Kopf ist. Sinnlose Arbeit, das ist die Konsequenz der Monotonie und die Ursache der Zweifel. Es steckt gewissermaßen im Kern der Sache. Wenn Sie ein Ziel haben, ertragen Sie jedwede eintönige Aufgabe... und Sie zweifeln nicht. Das Zahnrad ist letztlich immer noch notwendig in der großen Maschine, für eine ganz bestimmte Sache.“ In seiner väterlichen Art sah er sie leicht melancholisch an. „Ich bin ein Teil jener Zunft, die an der Zukunft dieses Landes... nein, dieser Welt arbeitet, bilde junge, wissbegierige Menschen zu... hoffentlich aufgeschlossenen, gescheiten Männern und Frauen aus. Und wenn ich alt bin, müssen diese sich um ebensolche jungen Leute kümmern. Ich kann nicht einfach aufhören, weil immer wieder nur neue Schüler kommen. Jeder von ihnen ist ein Teil des Ziels... ihm etwas vermitteln ist die Aufgabe, die ich als meinen Sinn gefunden habe.“ Er zögerte kurz, lächelte dann ironisch. „Sie brauchen wohl vorläufig kein neues Ziel... aber irgendwann vielleicht. Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen, Miss Miyano. Wenn die Zeit soweit ist.“ „Halt... was meinen Sie mit neuem Ziel?“, aber Mister Taylor ließ sie diesbezüglich stehen und ging langsam davon, andeutend dass sie wohl selbst drauf kommen sollte. 'Es war ja auch nicht so schwer.' Rückblickend sogar banal, sie selbst hatte es ihm damals gesagt. Sie wollte die Arbeit ihrer Eltern verstehen, ihnen dadurch nahe sein. Ein lobenswertes, klares Unterfangen, das alle Anstrengungen rechtfertigte – ein Sinn ihrer Arbeit als Forscherin. Ihr Blick glitt vor sich auf ihre Hand. 'Aber auch nie dazu bestimmt, ein dauerhaftes Lebensziel zu werden.' Er ahnte es wohl, was ihr heutzutage auch klar war. Die Arbeit ihrer Eltern war, bei aller Genialität begrenzt durch ihre Lebensspanne, die vor 18 Jahren bereits endete. Ihre Forschungsergebnisse waren endlich und irgendwann hätte sie sie eingeholt, und dann überholt. Dann würde sie diese Arbeit fortsetzen ja, aber ohne ein klares Ziel vor Augen... und wenn man die Wege der Organisation bedachte, auch ohne einen akzeptablen Sinn dahinter. 'Einmal noch... zweifelte ich am Sinn... danach.' Ihr Blick wurde trübe, eine Träne rollte die Wange hinunter, als sie erneut an den Tod ihrer Schwester erinnert wurde. Als sie die Sinnlosigkeit ihrer Handlungen so richtig wahrnahm. Damals beendete sie ihre Arbeit, weil sie nicht mehr konnte, weil der Sinn fehlte und die Dienste der Organisation ein hohles, dumpfes... falsches Gefühl hervorriefen. „Und heute?“, hörte sie sich selbst fragen. Ihre Finger glitten langsam abwärts am Tisch, Schublade für Schublade, bis sie bei der vierten von oben angekommen war. Sie öffnete sie und fand Erwartungsgemäß jede Menge Notizhefte, fein säuberlich gestapelt. Erneut zählte sie mit der Hand die A5-Hefte durch, von oben nach unten 'Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben... acht.' Sie fischte es heraus, schlug das dünnpapierne, mit Kuli vollgeschriebene Heftchen auf. Alles unsystematische Ideen-Skizzen, aber chronologisch katalogisiert durch Datumsangaben auf jeder Seite. Sie wusste wonach sie suchte, sie war schon öfters dort. Seite neunundsechzig. Zwei Fotos fielen ihr von selbst aus dem Papierbogen auf den Schoß. Vorsichtig nahm sie das obere in die linke, das untere in die rechte Hand, drehte sie zu sich. Geheime Fotos, selbst die Personen, die darauf abgebildet waren, wussten nichts von ihren Aufnahmen mit versteckter Kamera. Zufällige Aufnahmen, im richtigen Moment, waren ihr da geglückt. In der rechten hielt sie ein Bild von Conan, wie er nachdenklich vor sich her ging. Nur im ersten Augenblick konnte man vermuten, er sinnierte gerade wieder über einen Fall, aber sie täuschte er damit schon lange nicht mehr. Seine Augen hatten etwas wehleidiges, und seine Stirn war in tiefere Falten zerknittert, als für einen Kriminalfall üblich. Ihn beschäftigten... 'größere' Probleme, als banale Mordfälle. Und diese Probleme hatten Namen. Und der eine, zentrale Name lautete... 'Ran Mori, nicht wahr?' Diese war auf dem anderen Foto. Und was Ai auf sich nehmen musste, dass sie es einmal sah und ablichten konnte. Das Gesicht, welches Ran vor der Welt versteckte, obwohl es das ehrlichste war. , Nur demjenigen offenbarte, der es am wenigsten sehen wollte. Das Gesicht, welches sie am genauesten charakterisierte. 'Sorge. Sorge um andere Menschen... und ganz oben auf der Liste steht... ein verschwundener Detektiv, der einfach nicht wieder auferstehen will. Und dann auch... ich. Du hast dich nie wirklich daran gestört, wie ich dich früher geschnitten habe. Genau wie Conan sich darüber hinweg gesetzt hat, dass ich eine Mörderin bin. Und ihr hättet beide mehr als einen Grund gehabt, es nicht zu tun...' Eine Weile starrte sie die beiden Fotos an. Zwei sich um den jeweils anderen sorgende Menschen, so nah beieinander und doch durch Welten momentan getrennt. Welten, die sie erschaffen hatte. Ein sanftes Lächeln durchzog ihr Gesicht. 'Vergiss nie... deinem Handeln einen Sinn zu geben, ein Ziel, das es wert ist, dafür auch etwas zu tun. Eigentlich offensichtlich, und doch vergisst man es so oft, nicht wahr, Mister Taylor?' Sie legte die Bilder zurück in ihr Versteck, schloss die Schublade und rückte näher an den Bildschirm. „Also, wo waren wir gestern stehen geblieben... ah ja... hier...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)