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Tücken des Schicksals

Die Chronik der Unsterblichen
von

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Vergangenheit und Gegenwart

Die Chronik der Unsterblichen - „Tücken des Schicksals“
 

Abschnitt 1

Kapitel 1 - Vergangenheit und Gegenwart
 

Ende 16tes Jahrhundert – Irland, tief im Südwesten der Insel.

Steile, zerklüftete Gebirge teilten hier das Land in viele schmale Täler und weitläufige Ebenen.

In einer dieser Talsenken lag Ballyvoge. Ein kleines, nicht einmal mehr als 50-Seelen-Dorf, deren Menschen friedlich und bäuerlich ihr Leben verbrachten.

Die meisten von ihnen verdienten sich ihren Unterhalt mit Viehwirtschaft, Handwerk und deren Handel nach außen mit den anderen ebenso verstreuten Dörfern. Ein paar der Jüngeren erarbeiteten sich Lohn und Sold am Hofe des Fürsten Mael Mac Brian. Dieser besaß nicht weit entfernt in Lissagriffin, einer der wenigen Kleinstädte in der Umgebung, ein Anwesen und ihm gehörte der Großteil dieses Landes.
 

Ayden Mac Gowan, der Sohn des Dorfschmiedes, betrat das große Lager seines Vaters.

Die Scharniere der Holztür quietschten geräuschvoll beim Öffnen, als wollte das Bauwerk mal wieder daran erinnern, dass es, alt geworden, schon zu viele Jahre hier stand. Ayden ließ die Tür hinter sich wieder ins Schloss zurück fallen und schaute sich dann suchend im Innenraum um. Die kastenförmig unterteilten Ecken des Schuppens waren fast alle vollgestopft mit Heuballen und Geräten. Die andere Seite füllte Schmiedematerial, das sein Vater zum Arbeiten benötigte. Doch das alles interessierte ihn gerade nicht wirklich, er hielt nach etwas ganz anderem Ausschau.

Er blickte nach oben, denn über ihm erstreckte sich das weite Spitzdach des Gebäudes, breite Holzstreben verliefen horizontal über die gesamte erste Etage. Sein Blick suchte die Balken ab, doch er konnte noch immer niemanden entdecken.

„Kiara, bist du hier? Es gibt Arbeit für dich, los, genug gefaulenzt!“ rief er, während er herumlief. Hinter einem Stützbalken bemerkte er dann doch eine Bewegung.

„Was heißt hier faulenzen?“ Kiara lehnte sich dahinter hervor. „Es ist gerade mal Mittag und ich habe schon mehr gemacht als du heute“ entgegnete sie verschmitzt und verschwand wieder kichernd hinter dem Balken.

„Ich habe heute auch ausnahmsweise mal frei. Na warte, komm du mir mal da runter!“ Er suchte erneut den Dachstuhl des Hauses ab, doch sie war schon wieder verschwunden.

„Ich bin doch schon unten.“ ertönte es plötzlich hinter ihm und überrascht drehte er sich nach der Stimme um.

„Du solltest dir wirklich andere Plätze für deine Pausen aussuchen, irgendwann brichst du dir noch mal das Genick bei deinen Klettereien.“ Um sie zu necken, wuschelte er ihr dabei durch die langen Haare.

„Hey, lass das“ protestierte sie daraufhin mit gespielter Verärgerung und warf ihm einen bösen Blick zu. Er hörte auf und schaute ihr nur belustigt dabei zu, wie sie versuchte, ihre störrischen Locken wieder zu bändigen.

„Vater schickt mich, du sollst für die Kräuterfrau irgendetwas erledigen. Geh bitte bei ihr vorbei“ meinte ihr Bruder nun, doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck.

„Gibt es da noch etwas, das du mir sagen willst?“ fragte Kiara vorsichtig, denn seine bedrückte Stimmung war ihr nicht entgangen und ein arbeitsfreier Tag war bei ihm sehr ungewöhnlich.

„Es sieht so aus, als müssten wir unser Schwerttraining für eine Weile ausfallen lassen“ antwortete er ausweichend, aber ihr entging dabei nicht die Besorgnis, die nun in seiner Stimme mitschwang.

„Was ist den los?“ fragte sie erneut, doch Ayden zögerte ein wenig.

„Man hört von immer mehr Überfällen von Plünderern, die ganz in der Nähe ihr Unwesen treiben. Fürst Mac Brian schickt nun Männer, um sie ausfindig zu machen.“ Ohne, dass er sich dessen bewusst war, senkte sich seine Hand nervös auf den Schwertgriff. Ihr hingegen entging die Geste keineswegs, anscheinend waren es keine gewöhnlichen Plünderer, sonnst würde der Fürst nicht extra Soldaten nach ihnen ausschicken. Kiara schaute ihn nur betrübt an und bemühte sich, es ihm nicht noch schwerer zu machen.

„Wann werdet ihr aufbrechen?“

„Wahrscheinlich schon morgen. Ich weiß nicht, wann wir wiederkommen“ entgegnete er, an ihrem Blick konnte er sehen das sie sich mehr Gedanken machte, als sie sich anmerken ließ. Auch wenn es unpassend wirken musste, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ihre Augen erinnerten ihn immer wieder an seine Mutter. Es war genau das gleiche matte Grün. Kiara hatte sie nie kennengelernt, sie war noch zu klein gewesen, um sich daran zu erinnern, aber sie hatte so viel Ähnlichkeit mit ihr. Auch sie hatte diese Art, sorglos zu wirken, weil sie andere nicht mit ihren Gefühlen belasten wollte, doch an ihrem Blick konnte man sehen, was sie wirklich fühlte.

„Versprich mir, dich um alles zu kümmern“ bat er und bekam ein Nicken zur Antwort. Dann wandte sich Kiara ab, um zu gehen, wartete aber an der Tür ob er folgte.

Ayden schaute ihr nach. „Und Kiara, pass auf dich auf und mach keinen Blödsinn. Du weißt, ich erfahre alles!“ meinte er nun wieder ihm scherzhaften Tonfall und schloss erst dann zu ihr auf.

Daraufhin lachte sie nur. „Ich doch nicht.“
 

~*~
 

„Tja, keinen Blödsinn machen… Zu was er das hier wohl zählen würde?“ fragte Kiara sich traurig und versuchte, die Erinnerungen an damals zu verdrängen.

Nachdem sie die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, ging sie durch das kleine, spärlich eingerichtete Zimmer zum Tisch hinüber. Von diesem holte sie ihre Ausrüstungstasche mit hinüber zum Bett, doch bevor sie sich dort nieder ließ, nahm sie ihren Schwertgurt ab, legte ihn aber griffbereit neben sich - nur vorsichtshalber.

Das Bett knarrte leise und fühlte sich schon im Sitzen nicht besonders bequem an. Erst nach einem tiefen Atemzug schaute sie sich im Raum um. Ihr gegenüber stand ein kleiner Tisch, der neben dem Bett, auf dem sie saß, als einziges noch den kargen Raum füllte. Die Steinwände waren leer, bis auf eine flackernde Öllampe, die von der Decke hing. Der Blick aus dem einzigen Fenster verriet ihr, dass es nun schon später Abend war. „Was soll's…“ sagte sie sich, immerhin mehr Luxus, als draußen zu schlafen.

Sie versuchte, die nun wieder in ihr hochsteigenden Emotionen und Bilder niederzukämpfen. Mit der linken Hand fuhr sie unbewusst über die Narbe an ihrer Wange. 15 Jahre war es nun her, sie hatte gedacht, mit der Zeit würde es leichter werden, die Situation zu akzeptieren. Aber an manchen Tagen waren die Erinnerungen so klar, als wäre alles erst gestern gewesen.
 

~*~

Quer über den großen Marktplatz, schlenderte Kiara aus dem Dorf hinaus, zu einem Gebäude das ein wenig Abseits des alltäglichen Lebens lag. Es gehörte der Heilerin und zugleich auch ältesten Frau im Dorf. Ihr Haus, das geschätzt wohl schon die dreifache Zeit ihres Lebens auf dem Buckel hatte, war im Gegensatz zu den anderen sehr schlicht, dafür mit einem kleinen angrenzenden Garten.

Die Alte Dame zog die Abgeschiedenheit dem Trouble vor und viele suchten ihre Gesellschaft nur, wenn sie ihre Künste benötigten. Sie kannte sich hervorragend mit den verschiedensten Kräutern und Pflanzen aus, dadurch wirkte ihr Wissen manchmal unerschöpflich. In den letzten Jahre war sie Kiara eine enge Vertraute geworden und diese schaute hier vorbei, so oft es ihr möglich war.

Kiara klopfte an der Vordertür. Als ihr keiner antwortete, betrat sie einfach das Haus. Der Innenraum des Gebäudes war nur sporadisch ausgeleuchtet, die Fensterläden waren wie immer nicht ganz geöffnet worden. Ein stark würziger Geruch hing im ganzen Haus, die getrockneten Kräuter, die überall im Haus an Leinen von der Decke hingen, verbreiteten ihn bis in die letzte Ecke. Ob in den Regalen, auf Schränkchen oder dem Fußboden, im Wohnraum standen überall Pflanzentöpfe, Bücher und andere Utensilien herum. Kiara sah jedoch gleich, dass schon wieder neue Pflanzen auf dem großen Tisch lagen, der sich in der Mitte des Raumes befand. Um diese genauer zu betrachten, ging zu ihm hinüber.

Die fast armlangen Kräuter hatten dicke, fleischige Stängel, an deren Enden sich fächerförmige Blätter und Blütenknospen befanden, deren ungewöhnliche Rotfärbung ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie nahm eine der Pflanzen in die Hand und roch vorsichtig an ihr.

„Das würde ich nicht machen, außer du willst die nächsten Tage das Bett hüten“ riet ihre eine freundliche Stimme aus dem hinteren Teil des Hauses.

Kiara legte sofort die Pflanze wieder zurück. „Vater meinte ich soll vorbei kommen. Für was brauchst du mich?“

Die alte Frau kam näher und umarmte sie zur Begrüßung. „Ich möchte dich bitten, mir innerhalb der nächsten paar Tage aus dem Dorf Callras etwas zu holen. Ein Händler dort hat noch mehr von diesen Pflanzen, aber ich möchte nicht warten, bis er das nächste mal bei uns vorbeikommt.“

Ohne zu überlegen, nickte Kiara bejahend und nahm von ihr die Tasche für die Ware entgegen. „Was sind das denn für Kräuter?“ Sie zeigte auf den Tisch hinüber und schaute sich das Gewächs noch einmal genauer an, aber diesmal mit mehr Abstand. Die alte Frau trat neben sie.

„Ich dachte mir schon dass du noch einmal nachfragst. Das hier sind bei seltene Debilitas-Pflanzen die ich von einem Reisenden abgekauft habe. Er hatte sie von dem Händler in Callras.“ Ihr entging nicht das Schmunzeln auf dem Gesicht der Alten.

„Was genau bewirken sie?“ fragte Kiara neugierig.

„Du musst genau hinschauen, dann siehst du, dass die Stiele Dornen tragen. Wenn du dich daran verletzt oder sie mit den Blüten zusammen zu Pulver verarbeitest, wirken sie lähmend und verursachen starke Benommenheit. Doch viel interessanter sind die Blätter. Sie haben die gleiche Wirkung, aber wenn man aus ihnen eine Paste herstellt, ist die lähmende Wirkung um ein Vielfaches verstärkt...“ Sie tippte Kiara auf die Brust „... Und bringt so dein Herz zum Stillstand.“ Kiara schluckte, doch die alte Frau lächelte sie nun wieder fröhlich an. „Hast du das Buch bei dir?“ fragte sie und Kiara nickte, während sie ein handtellergroßes Buch mit braunem Ledereinband aus ihrer Tasche zog. „Gut, die Pflanze müsste bereits erwähnt sein. Du kannst dir gerne eine kleine Probe nehmen.“ Kiara trug noch ein paar ergänzende Informationen in das kleine Buch ein und nahm sich noch während des Schreibens vor, nie wieder eine ihr unbekannte Pflanze anzufassen, bevor sie nach ihrer Wirkung gefragt hatte.

~*~
 

Noch immer auf dem Bett sitzend nahm Kiara ein dunkles, abgenutztes Buch aus ihrer Tasche und drehte es behutsam in den Händen, dann schlug sie es vorsichtig auf. Die Seiten waren mit den Jahren vergilbt, aber noch immer ein reichhaltiger Schatz an Wissen, ein Sammelsurium von Zeichnungen und Text, aber nur teilweise mit aufgeklebten Proben.

Mittlerweile konnte sie es auswendig, aber trotzdem musste sie immer wieder darin lesen. Langsam blätterte sie es durch, bis sie fand, was sie suchte.

„Debilitas-Gewächs …“ flüsterte sie zu sich selbst und strich sanft mit der Hand über das Papier.

Ja, damit hatte alles angefangen. Was wäre gewesen, wenn sie damals nicht am gleichen Tag noch nach Callras geritten wäre? Was hätte es geändert?

Nachdem sie die Seite zum bestimmt hundertsten Male durchgelesen hatte, klappte sie das Buch wieder zu und legte es behutsam in die Tasche zurück. Sie ließ sich rücklings auf das Bett fallen. So oft hatte sie sich schon diese Frage gestellt, so oft in Gedanken alles Revue passieren lassen.

Aufbruch

Kapitel 2 - Aufbruch
 

Nachdem sie sich von der Kräuterfrau verabschiedete hatte, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Vater. Die Schmiede war eines der größten Gebäude, das es im Dorf gab, denn die hinteren Räume des Hauses dienten gleichzeitig auch als Wohnraum.

Kiara betrat das zur Vorderseite halb offene Hauptgebäude und sah sich um. Seit einigen Wochen schmiedete ihr Vater an einem Schwert für einen Edelmann aus dem Inland, es interessierte sie sehr, wie weit er damit nun schon war. Doch die neue Waffe war nirgendwo zu sehen. Die Werkstatt war chaotisch aufgeräumt wie immer und das Feuer des Ofens loderte nur noch flach vor sich hin, so dass es nicht mehr genügte, um die sonst so erdrückende Hitze entstehen zu lassen.

Erst nach einer Weile fand sie ihren Vater schließlich auf der anderen Seite des Gebäudes, vertieft in ein Gespräch mit seinem Lehrling und Kiara trat dazu.

„Hat Ayden dich also gefunden. Warst du schon bei der alten Frau?“ fragte ihr Vater und schaute sie geduldig an.

„Ja, ich soll ihr etwas aus Callras besorgen. Morgen früh werde ich mich gleich auf den Weg machen“ meinte sie nur und bemerkte erst jetzt, dass er etwas Eingewickeltes in der Hand hielt.

„Oh, hast du es etwa schon fertig? Darf ich es bitte sehen?“ fragte Kiara aufgeregt. Ihr Vater reichte ihr lächelnd das Bündel hin.

„Es muss heute auch noch nach Callras damit auch der Griff fertig wird“ sagte er und nickte zu seinem Lehrling. „Er wird es hinbringen.“ Kiara schaute auf.

„Naja, ich könnte es auch abgeben, dann kann ich gleich beide Sachen erledigen“ schlug sie vor, dabei befreite sie mit zwei Handgriffen die wertvolle Waffe aus ihrer unscheinbaren Umwickelung.

Mit stockendem Atem betrachtete sie das Handwerksstück. Es war einfach einzigartig. Das Licht spiegelte sich auf der polierten Klinge und die in sich selbst zerfließenden Muster des Damaszenerstahls verliehen ihr einen Ausdruck, der mit Worten fast nicht zu beschreiben war. Der Einhänder lag viel leichter in der Hand, als er aussah und beim Hin- und Herschwingen konnte sie das Singen der Klinge hören, wenn sie durch die Luft schnitt.

Ihr Vater sah, wie verliebt sie seine Arbeit betrachtete. „Ich bin mir schon sicher, dass du es sicher hin bringst, aber ob du es dann auch wirklich wieder hergibst, ist die andere Frage.“ Kiara schaute empört auf und ihr Vater hob beschwichtigend die Hände, „Na gut, einverstanden, dann bringe du das Schwert nach Callras.“
 

Der Weg war nicht all zu weit, bis zum Abend würde sie schon wieder zurück sein und deshalb war alles, was sie brauchte, schnell zusammen gepackt.

Am Rande des Dorfes befand sich die große Koppel, dort angekommen stellte sie sich auf die Querstreben des hölzernen Zauns und pfiff einmal laut über die Weide. Daraufhin löste sich aus einer Gruppe von Pferden eine hellbraune Stute, die mit freudigem Wiehern auf sie zu galoppiert kam und Kiara begrüßte Alana ebenso fröhlich. Sie war eines ihrer beiden Arbeitspferde, jedoch war gerade sie in alle den Jahren zu einer treuen Gefährtin geworden, weil Kiara sie immer wieder auch für Ausflüge außerhalb ihrer Pflichten mitnahm.

Nachdem sie Alana mit dem mitgebrachten Zaumzeug gesattelt hatte brach sie sofort auf.
 

Ihre kleine Reise führte sie eine knappe Stunde zunächst über die Ebene Richtung Osten, erst einmal aus dem Tal hinaus in dem sich ihr Dorf befand. Schon mehrmals war sie diesen Weg geritten. Die Menschen in Callras kannte sie gut, da ihr Vater öfters Arbeiten auch für andere Dörfer in der Umgebung annahm. Am besten, dachte sie, wäre es, erst das Schwert zum Lederer zu bringen danach dann dem Warenhändler einen Besuch abzustatten. Im gemäßigten Tempo ritt sie, bis sich das Gelände wieder steil erhob und sie schließlich am Ende des Tales zu ihrem nächsten Wegabschnitt gelangte. Nun war sie fast da und sie wählte den Weg durch den Wald, denn dieser war zwar etwas länger, aber nicht so gefährlich, im Gegensatz zu dem um vieles kürzeren, aber auch sehr steinigen Gebirgspfad.

Alana jedoch war anderer Meinung. Mit jedem Schritt wurde sie immer unruhiger und langsamer, bis sie schließlich nur noch auf der Stelle trat.

„Was ist denn los, Alana?“ fragte Kiara verwundert, dabei streichelte sie ihr zur Beruhigung über den Hals. Aber selbst das konnte sie nicht besänftigen, sie sträubte sich dagegen, auch nur einen Fuß weiter voraus zu setzen. Da weder Zureden noch Streicheln etwas half, war Umkehren das Einzige, was noch übrig blieb. Doch wieder an der Kreuzung angekommen, entschied Kiara, den anderen Weg noch zu versuchen.

Alana blieb weiterhin sehr unruhig, folgte diesen Weg jedoch, ohne wieder stehen zu bleiben.

Als die beiden den obersten Punkt des Passes erreicht hatten, hielt Kiara das Pferd an, um eine kurze Pause einzulegen und Alana die Möglichkeit zu geben, sich noch ein wenig zu beruhigen. Sie stieg ab und lief ganz vor zu einer kleinen Plattform, die über den Abgrund hinaus ragte.

Von hier oben hatte man einen phantastischen Blick über das schmale Tal. Unter ihr erstreckte es sich sattgrün und dicht bewaldet. Sie konnte von hier aus jedoch weder Ballyvoge noch Callras sehen, dafür waren die Berge zu verwinkelt und hoch.

Es war noch genügend Zeit, hier kurz eine kleine Rast zu machen. Hinter ihr hatte sich Alana ein Fleckchen Grünes gesucht und graste genüsslich die seltenen Pflanzen der Bergfauna ab. Kiara genoss ihrerseits den Wind, der ihr durch das lange Haar wehte, dazu hatte sich ganz vorne bei der Klippe an einen Felsen gelehnt. Mit geschlossenen Augen nahm sie die angenehme Ruhe von hier oben in sich auf.

Bis zu dem Moment als ein Schwarm Vögel aufgeschreckt aus dem Wald unter ihr aufstieg und damit die Ruhe vertrieb.

Kiara öffnete die Augen. Plötzlich war sie hellwach.

Da war etwas.

Ein Geräusch, das nicht in diese Umgebung passte. Monoton, aber immer lauter werdend. Sie suchte genauer das Tal unter sich ab, doch der Wald war zu dicht, um irgendetwas zu sehen.

Das Geräusch wurde lauter.

Es kam ihr so bekannt vor, aber sie kam nicht darauf, woher sie es kannte. Ein zweites Geräusch mischte sich darunter. Gelächter, Rufe und unverständliches, aber fremd klingendes Stimmengewirr.

Jetzt fiel ihr es ein, es war das unverkennbare Klirren und Rascheln, das Metall verursachte, wenn es über Leder und Rüstung strich. Die Worte ihres Bruders kamen ihr ins Gedächtnis und ihr Magen krampfte sich zusammen. Was sollte sie nun tun? Alana wieherte hinter ihr verängstigt auf. Mit schnellen Schritten war sie wieder bei ihr, um sie zu beruhigen. Angespannt überlegte sie, ihre Gedanken rasten. Von hier aus war es nur noch das kleine Stück den Berg hinunter. Wenn sie jetzt zurück ritt, könnte sie den Männern genau in die Arme laufen. Vielleicht waren sie ja von einer anderen Richtung aus auf diesen Talweg abgebogen. Hoffentlich, dann könnte sie in Callras Hilfe holen. So entschied sie sich, auf diesem Weg weiter zu reiten.

In Eile, aber trotzdem vorsichtig, setzte sie ihren Weg fort, der Pfad endete wieder unten im Wald und kreuzte sich mit dem Weg, den auch die Bewaffneten eingeschlagen hatten. Überall war der Erdboden aufgewühlt von den Hufabdrücken ihrer Pferde. An der Tiefe der Spuren konnte sie sehen, wie schwer die Tiere beladen waren, scheinbar hatten sie mehr als nur ihre Waffen dabei.

An der nächsten Abzweigung folgte sie dann dem Weg der direkt ins Dorf hinein führte. Callras war entlang eines Flusses angesiedelt worden, der hoch aus dem Gebirge ins Tal lief. Fast schon zu groß, um als Dorf bezeichnet zu werden, hatte es schon mehr den Charakter einer Kleinstadt. Viele etwas wohlhabendere Bürger hatten sich hier niedergelassen.

Kiara folgte dem Flusslauf schon die ganze Zeit, doch erst auf dem letzten Stück wurde sie auf etwas aufmerksam, das in ihren Blickwinkel gelangte. Sie schaute nur einmal beiläufig neben sich auf den Fluss und stoppte daraufhin sofort Alana ab, welche sogleich protestierend die Vorderhufe anhob.

Sie musste sich vergewissern, dass sie sich getäuscht haben musste.

Ein eisiger Schauer durchfuhr sie, denn genauer hinzuschauen bestätigte nur ihren ersten Blick. Auf dem Fluss, der mittlerweile eine rötliche Färbung angenommen hatte, kamen immer wieder Teile aus Holz angeschwommen. Selbst die Luft war nun erfüllt von einem deutlich verkohlten Geruch.

Im strengen Galopp drängte sie Alana weiter. Erst als der Weg sich weitete und sie freien Blick auf das Dorf hatte, verlangsamte sie das Tempo.

Der Anblick, der sich ihr schon von weiten bot, war abschreckend, aber sie trabte trotzdem langsam weiter durch die letzten Reste der Haupttore. Bis zum ersten großen Platz, der einmal der Markt gewesen war, ritt sie hinein, dann blieb sie stehen. Kiara musste sich in das Leder der Zügel krallen, um das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken.

Der Teil des Dorfes, den sie von hier aus einsehen konnte, war total verwüstet worden. Viele Häuser brannten lichterloh, waren schon eingestürzt oder teilweise nicht einmal mehr als verkohlte, vor sich hin schwelende Holzgerippe.

Alle möglichen Gegenstände lagen quer verstreut herum, das grausamste jedoch war der Anblick der Toten. Ob in den Häusern oder auf dem großen Platz, überall lagen Menschen - blutverschmiert, geschändet, mit zerfetzten Kleidern und angstverzerrten Gesichtern, jedenfalls bei denen, wo noch eins zu erkennen war. Jung oder Alt, das hatte anscheinend keinerlei Bedeutung gehabt für die Meute, die sich hier ausgelassen hatten.

Ein brennendes Dach stürzte nicht weit von ihr entfernt in die Tiefe und begrub seine unglücklichen Insassen unter sich. Alana machte verunsichert ein paar Schritte rückwärts und Kiara musste sich die Hand vor den Mund halten, um sich nicht zu übergeben - Doch nur wenig später rebellierte ihr Magen endgültig.
 

Es lag eine unheimliche Stille über dem Dorf, nur das Wüten des Feuers war zu hören. Dieses Blutbad hier hatte keiner überlebt.

Nun schlich sich Angst in Kiaras Bewusstsein. Die Männer von vorhin, wie weit waren sie wohl schon gekommen? War auch ihr Dorf ein Ziel?

Kiara wendete Alana, zog die Zügel an und stürmte los. Den ganzen Weg spukten ihr alle möglichen Gedanken im Kopf herum. Ihr Dorf war jedoch nicht das Einzige auf diesem Weg, vielleicht gab es noch Hoffnung, vielleicht hatten die Männer ja eine andere Richtung eingeschlagen.

Der Weg durch den Wald würde Zeit kosten, aber Zeit war etwas, das sie nicht hatte. Also nahm sie wieder den selben Weg, den sie gekommen war. Jedoch konnte sie unmöglich deren Vorsprung aufholen und so drängte sie, mit dieser Sorge im Nacken, Alana diesmal ohne Rücksicht immer schneller vorwärts.

"Fast geschafft", dachte sie mit einem Hauch von Erleichterung, als der Bergpfad sich bereits wieder nach unten neigte. Bergab zügelte sie nun das Tempo doch etwas, denn es fiel Alana schwer, auf dem steinigen Untergrund sicheren Halt zu fassen. Felsbrocken versperrten ihr immer wieder den Weg und sie musste teilweise gefährlich nahe an den Abhang heran, um ihnen auszuweichen.

Alana setzte wieder einen weiteren, unsicheren Schritt auf. Doch diesmal gab der Untergrund knirschend nach, Stein zersplitterte unter dem Gewicht und das Pferd geriet ins Straucheln. Panisch riss Kiara noch die Zügel herum, doch Alana verlor endgültig den Halt und rutschte mit den Vorderläufen den Berg hinunter. Krampfhaft versuchte Kiara, sich im Sattel zu halten, wurde aber ruckartig aus diesem herausgerissen, als Alana mit den Hinterbeinen doch festen Boden erfasste und sich kraftvoll wieder nach oben abdrückte. Ungebremst rutschte Kiara den Hang hinunter, überschlug sich ein paar Mal und irgendetwas Hartes traf seitlich ihren Kopf. Ein stechender Schmerz, begleitet von Lichtfunken vor ihren Augen, raubte ihr die Orientierung. Dann wurde alles schwarz um sie herum…

Entferntes Rauschen…

Vogelgezwitscher…

Ein Schnaufen in der Ferne.

Sie öffnete die Augen. Mit dem Gesicht nach unten fand sie sich im feuchten Moosboden einer Senke wieder. Sofort versuchte sie, aufzustehen, doch der erste Versuch, sich aufzurappeln schlug fehl. Beim zweiten erst gelang es ihr, sich auf die Arme zu stützen, dann ließ sie sich rücklings fallen. Ein brennender Schmerz durchzog ihre Schläfen, immer noch leicht benommen schaute sie sich nun um. Aufgewühlter Dreck im Berghang markierte ihre Spur hier hinunter und oben auf dem Weg lief Alana unruhig auf und ab.

Ihre Kopfschmerzen wurden stärker, als sie sich taumelnd erhob, vorsichtig ertastete sie ihren Hinterkopf, doch fand sie nur Erde, die ihre braunen Haare noch ein wenig dunkler färbte. Kiara atmete auf, kein Blut. Doch dafür ein neuer Schwall pochender Kopfschmerzen, als sie sich vollends aufrichtete. Ihr wurde langsam bewusst, was für ein wahnsinniges Glück sie gehabt hatte. Der Hang war mit dichten Pflanzen bewachsen, trotz allem hätte es auf dem Weg nach unten mehr als genug Möglichkeiten gegeben, sich den Kopf anzuschlagen, ohne Aussicht, jemals wieder aufzustehen. Es war jedoch noch mehr, außer ein dumpfer Schmerz, begleitet von leichtem Taubheitsgefühl im linken Arm, schien sie sich nicht ernsthaft verletzt zu haben.

In Gedanken tadelte sie sich für ihr Verhalten, sie hätte vorsichtiger sein müssen!

Ein Frösteln lief ihren Nacken hinunter. Wie viel Zeit war wohl schon verstrichen? Den Stand der Sonne konnte sie von hier unten nicht bestimmen, dafür wuchsen die Bäume zu dicht. Irgendwie musste sie einen Weg zurück nach oben finden und in ihr Dorf gelangen. So schnell wie möglich.

Begegnungen

Kapitel 3 - Begegnungen
 

Kiara stoppte Alana in sicherer Entfernung und überwand die restliche Strecke im Sprint. Von dieser Seite aus konnte sie nicht das gesamte Dorf einsehen, aber schon von hier war zu erkennen, dass etwas nicht stimmte. Mit jedem Schritt wurde ihre Angst ein bisschen stärker, ihr Verstand weigerte sich jedoch, sie zuzulassen.

Doch noch immer begegnete ihr niemand auf der Straße. Keiner war im Eingangsbereich des Dorfes zu sehen. Die umliegenden Felder, auf denen sonst gearbeitet wurde, waren ebenfalls verlassen.

Mit einmal hörte sie Schreie. Ohne lange darüber nachzudenken, rannte sie los. Am ersten Gebäude angekommen, schlich sie an der Hauswand entlang und spähte vorsichtig um die Ecke. Aber auch hier war niemand zu sehen. Von Haus zu Haus schleichend, näherte sie sich dem Marktplatz in der Mitte des Dorfes. Sie bog um eine Ecke, als plötzlich eine Tür genau vor ihrem Gesicht aufschlug. Fast verraten durch einen erschrockenen Aufschrei, reagierte sie doch noch instinktiv und versteckte sich hinter einem Stapel Holzkisten. Eine junge Frau stolperte hinaus und stürzte zu Boden, mit gezogenem Schwert trat ein Mann hinter ihr aus dem Gebäude.

„Du dachtest wohl, du kannst dich vor uns verstecken“ lachte er kalt und schaute mitleidslos auf sie herab. Tränenerstickt flehte sie ihn an, sie zu verschonen, doch er hob nur seine Waffe und zog sie ihr unbarmherzig quer durch den Oberkörper. Sie wimmerte vor Schmerz noch einmal auf, bevor sie zusammenbrach, aber der Mann schenkte der sterbenden Frau schon keinerlei Beachtung mehr. Sein Interesse galt schon dem nächsten Haus.

Kiara stockte der Atem, wie gelähmt starrte sie aus ihrem Versteck auf die Tote, unter der sich langsam eine dunkle Blutlache ausbreitete, ohne das der Erdboden bereit war, diese aufzunehmen. Sie versuchte, das grausige Bild und die Empfindungen von Panik und Übelkeit von sich abzuschütteln. Lautlos verharrte sie, bis der Fremde außer Sichtweite war, stand dann auf und ging zur Tür, aus der beide heraus gekommen waren. Bevor sie eintrat, fiel ihr Blick noch einmal auf die Frau, es war ein bekanntes Gesicht aus dem Dorf. Kiara wandte sich schwermütig ab und betrat dann das Haus.

Der Innenraum war komplett verwüstet worden, alle Schranktüren standen offen, ob Regale oder Truhen, alles war ausgeräumt und deren Inhalt überall verteilt. Sie arbeitete sich leise durch den Raum zu einem Fenster, das zum Dorfplatz zeigte. Von hier aus konnte sie sehen, dass nun mehrere fremde Männer auftauchten, welche Sachen aus Häusern herausbrachten.

Kiara horchte auf, denn leise waren die Schreie von eben wieder zu hören. Sie verließ das Gebäude und ging ein kleines Stück außen herum auf die Geräusche zu. Je näher sie kam, desto intensiver wurde der Geruch nach brennendem Holz. Ein ungutes Gefühl wie eine düstere Vorahnung drängte sich immer mehr auf , sie versuchte es wieder beiseite zu schieben, doch als das Gemeindehaus in Sicht kam, musste sie sich damit konfrontieren. Jetzt wusste sie, warum niemand zu sehen gewesen war.
 

Der Anblick war kaum zu ertragen und zitternd wandte sie sich von ihm ab. Mit verkrampften Armen lehnte sie sich an die Wand neben ihr und rutschte an dieser in sich zusammen.

Das größte Gebäude des Dorfes brannte lichterloh, aber es war noch zu erkennen dass die vorderste Tür mit Kisten und anderen Dingen versperrt worden war, zusätzlich waren die Fenster mit Holzbrettern vernagelt worden. Vereinzelt lagen tote Einwohner auf dem Weg dorthin, ein paar Glückliche, die nicht qualvoll in den Flammen sterben mussten. Nun waren auch keine Schreie mehr zu hören. Nur das Wüten des Feuers, es verschluckte den gesamten Dachstuhl des Hauses, selbst die beiden Nebengebäude brannten schon. Mit einem lauten Krachen stütze das Dach ein und eine riesige schwarze Rauchwolke stieg drohend in die Luft hinauf. Kiara vergrub ihr tränenüberströmtes Gesicht zwischen ihren verschränkten Armen.

Hier war nichts mehr zu retten.

Plötzlich ließ sie ein einziger lauter Schrei hinter sich aufschrecken. Sie drehte sich in die Richtung um und alle Vorsicht vergessend begann sie, dorthin loszustürzen.
 

~*~
 

„Alles in Ordnung“ hörte er von seinem Partner, der ihm gerade vom Wachturmraum entgegen kam, er klopfte ihm lachend auf die Schulter. „Viel Spaß da oben.“

„Kennst mich doch, den werd ich haben“ entgegnete Keith wie immer und kletterte mit federnden Schritten die Leiter zum Turm hinauf.

Seit ein paar Jahren arbeitete er nun schon hier auf dem Anwesen des Fürsten Mac Brian. Der Fürst besaß eine Burg, auf der nun mittlerweile eine stattliche Anzahl Männer dienten, er sorgte mit ihnen für Arbeitskraft bis hin zu Sicherheit in seinem Land.

Das Anwesend selbst lag in Lissagriffin, westlich von Ballyvoge, ein wenig weiter oben im Gebirge und zweiseitig umschlossen von diesem. Die Kleinstadt Lissagriffin lag am Fuße der Burg und erstreckte sich über die hügeligen Hänge bis fast hinab zur Ebene.

Meistens war es auf dem Anwesen und in der Stadt recht ruhig. Keith mochte seine Arbeit und wenn man mit dem Kommanden Sean O'Ceallaigh nicht aneinander geriet, hatte man beste Aussichten auf ein gut aushaltbares Leben hier.

Keith machte es sich auf dem breiten Fensterstock in einer Nische bequem, mit bestem Blick auf den Fluss hinunter. Wie jeden Nachmittag waren die Frauen gerade damit beschäftigt, die Wäsche zu waschen. Seine Neugier hätte nur zu gerne gewusst, über was sie da unten redeten und kicherten. Mit verschmitztem Lächeln dachte er an sein Mädchen vom letzten Abend und malte sich schon sein nächstes Zusammentreffen mit ihr aus.

Beiläufig schaute er zum östlichen Turmfenster hinüber, doch genau dieser flüchtige Blick riss ihn aus seinen Träumereien. Auf den ersten Blick war es nicht auffällig, bis er den Horizont genauer absuchte. Am Himmel waren dunkelgraue Rauchwolken zu sehen, die dort nicht sein sollten. Anscheinend brannte da etwas. Ohne länger darüber nachzudenken, schlug er Alarm.
 

~*~
 

Kiara rannte durch eine schmale Gasse auf einen Innenhof zu. Auch hier brannten schon einige Gebäude, anscheinend hatten die Eindringlinge nun schon mehrere Brände gelegt.

Atemlos blieb sie stehen, vor ihr befanden sich mehrere Personen auf dem Platz, wovon jedoch nur noch 2 lebten. Ein großer Mann mit dunklen, kurzen Haaren und ausländisch wirkenden Zügen, den sie nicht kannte, und ein zweiter am Boden kniend. Kiaras Aufmerksamkeit wandte sich sofort dem Letzteren zu und sie musste einen Aufschrei unterdrücken, als sie ihn erkannte, denn es war ihr Bruder, der da verletzt zu Boden gegangen war.

Der Fremde hob sein Schwert und machte sich zum letzten Angriff bereit, denn Ayden wirkte zu geschwächt, um sich überhaupt noch bewegen zu können. Unbewegt kniete er da, seine einzige Möglichkeit, sich zu wehren, lag unerreichbar ein ganzen Stück vor ihm. Nur einen Augenblick, bevor der fremde Krieger seinen Angriff begann, stürmte auch Kiara vor. Sie griff nach Aydens Waffe, wirbelte herum und stellte sich schützend vor ihn.

Den Angriff des Mannes konnte sie zwar abwehren, doch unter seiner Kraft ging auch sie in die Knie. Um für den nächsten Schlag bereit zu sein, stand sie jedoch sofort wieder auf. Doch der Fremde ging ein paar Schritte zurück, langsam senkte er dabei sein Mordwerkzeug.

„Interessant, wen haben wir denn da?“ fragte er amüsiert.

Ayden blickte auf, er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. „Kiara…?“ Fassungslos schaute er sie an. „B-bist du von Sinnen…? Verschwinde von hier…gegen den… hast du keine Chance…“ keuchte er, dann kippte er vor Erschöpfung einfach zur Seite um.

„Ayden! Nein!“ schrie Kiara und wandte sich ihm zu. Erst jetzt fiel ihr auf, wie schwer seine Wunde war.

„Lauf, Schwester… Der Typ… ist nicht… normal…“ flüsterte er ihr zu, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor.

Hinter ihr lachte der Krieger nur vergnügt auf. „Verstehe, ein kleines Familientreffen also. Gut, dann werde ich mal nachhelfen, dass du deinem Bruder folgst, Kleine.“

Kiara lehnte weinend über ihrem sterbenden Bruder, noch immer sein Schwert in der Hand. Sie schaute es nachdenklich an. Vieles sprach dafür, es einfach loszulassen, aufzugeben und all dem hier zu entfliehen. Sie atmete tief durch.

„Nein“ sagte sich erst in Gedanken, dann sprach sie es laut aus, aber mehr zu sich selbst um ihre Entscheidung zu festigen und umfasste den Griff dabei so fest, dass es fast schon schmerzte. Im Aufstehen drehte sie sich wieder zu dem Mörder ihres Bruders um. „Ich habe keine Angst vor dir.“ Sie wischte sich dabei die Tränen aus den Augen. Um wieder klar sehen zu können, blinzelte sie mehrmals, dann hob sie ihre Waffe auf Angriffshöhe.

Ein mordlustiges Grinsen huschte über sein Gesicht.

„Wie du willst.“ Der Fremde kam auf Kiara zu gestürmt und schlug mit schnellen, derben Hieben auf sie ein. Sie wehrte fast alle Angriffe ab, trug aber einige Schnittwunden an Armen und Beinen davon. Erschöpft von der unglaublichen Kraft ihres Gegenübers taumelte sie zurück. Mit Mühe hob sie wieder ihre immer schwerer werdende Waffe, ihre Arme schmerzen schon jetzt von seinen kraftvollen Schlägen. Ihr wurde nun allmählich klar, was ihr Bruder gemeinte hatte. Dieser Mann hier war geübt im Umgang mit dem Schwert. Wenn es weiter so ginge, würde sie unweigerlich zu Grunde gehen.

Plötzlich ertönten Schritte und ein weiterer fremder Mann betrat den Hof.

„Wir sind hier fertig“ meldete er dem Krieger.

„Gut, sag allen Bescheid. Ich habe hier noch etwas zu erledigen“ entgegnete dieser und beendete damit das Gespräch. Der Mann musterte Kiara erst mit einem abwertenden Blick, bevor er wieder verschwand. Der Krieger schenkte nun seine ganze Aufmerksamkeit erneut Kiara. Diese machte sich zum Angriff bereit, nun rannte sie auf ihn los und holte zum Schlag aus. Mit der Gewissheit, dass er den Schlag blocken würde, duckte sie sich unter seinem Arm weg und drehte sich auf seine Flanke. Mit aller Kraft rammte sie ihm die Klinge in den Leib, wollte sie gerade durchziehen, als er nach kurzer Verwunderung plötzlich blitzschnell reagierte.

Der Schlag seines Ellbogens traf sie so hart im Gesicht, dass sie benommen nach hinten taumelte. Das nutze er aus, um ihr sofort nachzusetzen, er drehte seine Hand um und rammte ihr kraftvoll den Schwertgriff in die Rippen, so dass sie endgültig das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte.

Der Krieger stellte sich vor sie. Er fasste sich mit einer Hand an die Seite und betrachtete das Blut an seiner Hand.

„Respekt Kleine, das hat lange keiner mehr geschafft.“

Nach Atem ringend schaute Kiara ihn an. Mit Erschrecken sah sie, dass die Wunde, die sie ihm gerade mühsam zugefügt hatte, schon wieder aufgehört hatte zu bluten und langsam verheilte.

„Aber… Wie ist das möglich?“ fragte sie irritiert.

„Um das zu erfahren, lebst du nicht mehr lange genug“ stellte er lachend fest. Trotz Schmerzen versuchte Kiara, sich wieder aufzurappeln, doch er setzte ihr einen Fuß auf die Brust, um sie damit nach hinten zu drücken. Zu schwach für Gegenwehr fiel sie zurück auf den Rücken. Der Mann stützte nun seinen Fuß auf ihren Brustkorb ab. Kiara schnappte nach Luft, als sie sein erdrückendes Gewicht spürte. „Du hattest deine Chance, schnell zu sterben, die hast du verpasst“ sagte er mit einem sadistischen Grinsen. Da nun die Erschöpfung langsam die Oberhand ergriff, fiel es ihr immer schwerer, die Augen offen zu halten, trotzdem sah sie ihn weiter entschlossen an.

Erst hatte sie es nicht bemerkt. Doch irgendetwas an ihm war seltsam, jetzt erst auf den zweiten Blick fiel ihr auf, was es war.

Seine Augen. Sie waren dunkel, wirkten dadurch kalt und unnahbar, aber sie hatten auch einen Hauch von etwas anderem. Sie besaßen einen Schimmer rötlicher Färbung, der nicht sein sollte und hinter welchem sich eine Wirklichkeit verbarg, die ihr mehr als nur einen eisigen Schauer über den Rücken liefen ließen.

Unauffällig versuchte sie nun wieder, nach ihrer Waffe zu tasten. Doch er bemerkte die Bewegung sofort, nahm den Fuß von ihr herunter und trat damit auf ihre Hand.

Kiara unterdrückte einen Aufschrei, als er zum puren Vergnügen noch ein wenig fester mit der harten Sohle seiner Stiefel zudrückte. Als er nach einer Weile zu diesem Spielchen keine Lust mehr hatte, löste er seinen Fuß von ihr und schleuderte mit einem Tritt das Schwert in unerreichbare Entfernung.

„Mh, du willst also wirklich immer noch kämpfen und flehst nicht um dein jämmerliches Leben“ stellte er verwundert fest. Kurz überlegte er, dann hob er seine Waffe und schwenkte sie über Kiaras Kopf.

Dann holte er aus.

Kiara schloss die Augen, sie hoffte, dass es wenigstens schnell geschah und die Schmerzen endlich nachließen…

Doch die nächsten Sekunden fand sie keine Erlösung, nur ein neuer Schmerz gesellte sich zu den schon vorhandenen. Ein Brennen zog sich über ihre linke Wange.

Sie öffnete die Augen. Er hatte die Waffe neben ihrem Gesicht in den Erdboden gerammt und der scharfe Stahl schnitt ihr in die Haut. Schmunzelnd lehnte er sich auf den Griff. „Mädchen, mir scheint, du hast mehr Mut als all die anderen hier zusammen. Aber bei mir wird dir das nun nicht mehr viel nützen.“ Mit einem Ruck befreite er die Klinge wieder aus dem Erdboden.

Er lehnte sich erneut zu ihr hinunter und berührte ihre Wange, sichtlich genoss er, wie das warme Blut über seine Hand lief. Sie versuchte, seiner Berührung auszuweichen, doch daraufhin hielt er ihr seine Klinge unters Kinn, um sie zu zwingen, ihm zuzusehen. Sein Schmunzeln wurde zu einem bösartigen Grinsen, bevor er die blutverschmierten Finger genüsslich ableckte.

Kiara konnte ihn nur noch entsetzt anstarren, jeglicher klare oder gar vernünftige Gedanke über das, was er da tat, entzog sich ihr.

„Oh, sehe ich nun tatsächlich einmal Angst in deinen Augen?“ fragte er nun wieder vergnügt lächelnd.

Hastige Schritte erklangen neben ihnen. Sichtlich gereizt von der Störung drehte er sich zur Seite herum, als wieder einer seiner Leute den Hinterhof betrat.

„Eine größere Gruppe bewaffneter Männer ist auf dem Weg hier her. Wir sollten jetzt wirklich los, Balog!“

Kiara verharrte immer noch sprachlos, während Balog sich über ihr wieder zu voller Größe aufbaute.

„Wie schade, dass wir keine Zeit mehr haben“ sagte er enttäuscht, nun schaute er sich kurz um und bedachte sie ein letztes Mal mit einem undeutbaren Blick. Dann packte er Kiara am Kragen ihres Oberteils und warf sie in ein nahegelegenes, brennendes Haus.
 

Balogs Leute verließen das Dorf in nördlicher Richtung, noch bevor Mac Brians Männer das Gebirge ganz umrundet und die Ebene erreicht hatten. Überall hatten die Plünderer weitere Brände gelegt, fast durch das ganze Dorf tanzten nun rot-orange lodernde Feuerwälle, um alles zu verschlingen, was sie berührten.

Nachhall

Kapitel 4 - Nachhall
 

Sie spürte die Hitze um sich herum.

Das Knistern und Knacken des Feuers, das sich durch die Balken des Hauses fraß, war das Einzige, was sie noch wirklich wahrnahm. Ihr Blick war so verschwommen, dass sie nur noch das Flimmern und Flackern des Feuers sah. Die Luft, die sie einatmete, brannte in ihren Lungen, jeder Atemzug fühlte sich an, als würden sich tausende Nadeln in ihre Brust bohren. Unfähig, sich zu bewegen, war sie auf dem Bauch liegen geblieben, nach dem Balog sie durch das große Loch in der Rückwand des Haus geschleudert hatte.

„Balog…“ Dieser Name hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Ein Scharren an der Vordertür des Hauses ließ sie aufhorchen. Ein leises Wiehern war durch die prasselnden Flammen zu hören und Kiara rief, so laut sie noch konnte. Mit Schwung flog die Haustür auf, dabei riss sie aus ihren Angeln. Alana kam ein wenig unsicher auf Kiara zu getrabt.

„Alana, komm her…“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Sie streckte die Hand nach dem Kopf des Pferdes aus, dieses senkte den Kopf zu ihr hinunter und mit letzter Kraft griff Kiara nach den herunterhängenden Zügeln. Nun murmelte sie ihr zu, sie solle loslaufen, zu ihrem Glück tat Alana das auch und zog Kiara somit aus ihrem brennenden Grab. Doch schon nach wenigen Metern ließ Kiara kraftlos die Zügel los.

Regungslos blieb sie liegen und als sie diesmal die Augen schloss, verlor sie endgültig das Bewusstsein.
 

~*~
 

Sie schreckte aus dem Schlaf hoch.

Wie spät es war, konnte sie nicht sagen, aber sicherlich schon später, als es sein sollte. Sie stand auf und suchte all ihre Sachen zusammen, um dann nach draußen zu gehen. Heute hatte sie vor, endlich weiter nach Bordeaux zu reiten. Über die Hälfte der Strecke hatte sie nun schon hinter sich, wenn nichts dazwischen kam, konnte sie bis zum Nachmittag die Hafenstadt noch erreichen. Aber zuallererst brauchte sie neue Vorräte und etwas Essbares.

Am Eingangsbereich vorbei folgte ihr der skeptische Blick des Schankwirtes, schon gestern hatte sie ihm angesehen, dass er sich fragte, was eine allein reisende Frau wohl für Ziele hatte.

Sie trat aus dem Haus.

Leider war das Wetter noch immer so ungemütlich wie schon die letzten Tage, der Himmel war mit schweren Regenwolken verhangen und immer kühler werdender Wind zerrte an ihren Kleidern. Sobald sie alles erledigt hatte, würde sie so schnell es ging von hier verschwinden, sie fühlte sich nicht wohl in dieser ärmlichen, trostlosen Gegend. Die letzten Jahre in der Großstadt hatten merkliche Spuren hinterlassen, was ihren Lebensstandart betraf.

Als sie alle Erledigungen auf dem Dorfmarkt eingeholt hatte, machte sie sich auf den Rückweg zur Unterkunft. Die alte Baracke, die sie tatsächlich noch Pferdestall nannten, grenzte direkt an das Hauptgebäude. Sie trat ein und schaute sich um. Wenigsten hatte man sich gut um ihr Pferd gekümmert. Gefüttert und getränkt erwartete Raoul sie schon ungeduldig, der schwarze Hengst schien die Umgebung hier ebenso nicht zu mögen. Als sie ihn gesattelt hatte, schwang sie sich auf das Pferd.

Ohne sich noch einmal umzusehen, ließ sie das kleine Bergdorf Duret, das irgendwo nahe der Südwestküste Frankreichs lag, hinter sich.

Sie schmunzelte in sich hinein. Damals war ihr die Entscheidung nicht leicht gefallen, aufzubrechen und alles hinter sich zu lassen. Ob es die richtige Entscheidung gewesen war, wusste sie noch immer nicht. Es war jedoch die einzige, die sie mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. Sie dachte wieder an diese Zeit zurück und ließ Raoul im ruhigen Trab dem Weg weiter folgen.
 

~*~

Wenn man Schmerz fühlte, war man dann tot?

Je mehr sie über diese Frage nachdachte, desto intensiver wurde er.

Zuerst fühlte sie nichts weiter. Doch dann wurde ihr das regelmäßige Pochen ihres Herzens bewusst. Also musste sie noch am Leben sein.

Langsam kehrte nun auch ihr Körpergefühl wieder zurück. Die Unterlage, auf der sie lag war weich und sie spürte, wie unter einer warmen Decke etwas Enges ihren Körper umschlang. Doch der Versuch, sich zu bewegen, brachte ihr nur eine neue Welle Schmerzen ein. Nur mit viel Mühe schaffte sie es, ihre bleiernen Augenlider zu öffnen.

Der Raum um sie herum kam ihr fremd vor, sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Das Bett, in dem sie lag, stand an einer Wand, daneben ein kleiner Tisch mit einer Wasserschüssel darauf. Sie schaute an sich herab und sah, dass ihre rechte Hand verbunden war. Vorsichtig versuchte sie, diese zu bewegen, aber sofort zog ein stechender Schmerz ihren Arm hinauf und ließ sie erstarren. Einen zweiten Versuch unterließ sie, stattdessen nahm sie die linke, unverletzte Hand, um die Decke beiseite zu schlagen.

Ihr Oberkörper war fast komplett eingebunden, auch oberhalb ihres linken Beines befand sich ein Verband. An einigen anderen Stellen waren rechteckige Stoffstücken fixiert, sie fasste sich an die linke Gesichtshälfte, auch dort befand sich ein schmaler Streifen Bandage.

Erst jetzt sickerte langsam die Erinnerung in ihr Gedächtnis zurück. Ihr kamen die Tränen, als ihr die Situation wieder bewusst wurde, doch das gesamte Ausmaß zu begreifen, weigerte sich ihr Verstand. Mühsam versuchte sie, sich im Bett aufzurichten, doch ein pochender Schmerz im Oberkörper erschwerte ihr das Hinsetzten und sie stütze sich an der Wand ab, um Halt zu finden. Gerade, als sie sich im Bett aufgesetzt hatte, ging die Tür auf.

Eine Frau im mittleren Alter kam herein. Als sie sah, dass Kiara wach war, ließ sie vor Überraschung fast die Tassen fallen, die sie in der Hand trug. Mit schnellen Schritten ging sie zu ihr.

„Mein Kind du musst dich wieder hinlegen!“ tadelte sie und drückte Kiara mit sanfter Gewalt wieder zurück auf das Kopfkissen.

„Wo bin ich hier?“ fragte Kiara, schaute die Frau aber dabei nicht an, sondern nur auf ihre rechte, verbundene Hand.

„Du bist hier in Sicherheit“ meinte die Dame ruhig. „Ich heiße Caitlin, du bist auf dem Anwesen des Fürsten Mael Mac Brian“.

Kiara sah sie nun verwirrt an. „Aber wie komme ich hier her? … Da waren dieses Fremden, überall Flammen… Die ganzen Toten…“ Eine neue Welle der Erkenntnis überwältigte sie. So gut es ging, drehte sie sich zur Wand um und vergrub weinend das Gesicht im Kopfkissen. Caitlin verstummte, denn auch ihr standen die Tränen in den Augen.

„Ich geh und hole Sean O'Ceallaigh, den Kommandanten, er wird dir alles erklären…“ Mit diesen Worten ging sie wieder hinaus. Kiara starrte schluchzend die Wand vor sich an, Bilder der Geschehnisse kamen ihr ins Gedächtnis.

Nicht lange dauerte es, da wurde die Tür erneut geöffnet, ein großer stattlicher Mann betrat den Raum. Ein kurzes Nicken reichte, um Caitlin zu bedeuten, dass sie draußen warten sollte.

Schweigend verharrte Kiara in ihrem Bett, die knarrenden Holzdielen verrieten, dass er sich direkt neben sie stellte.

„Kiara“ begann er. „Ich weiß das ist alles nicht leicht für dich, aber uns würde es sehr helfen, wenn du mir erzählen könntest, was genau passiert ist.“ Er hoffte auf eine Antwort, egal was. Hauptsache etwas, um die Vorkommnisse aufzuklären oder auch nur ansatzweise die fast völlige Zerstörung von zwei Dörfern nachvollziehen zu können. Aber sie rührte sich noch immer nicht. „Wenn du jetzt nicht reden möchtest, komme ich später noch einmal wieder“ meinte er mit echtem Mitgefühl in der Stimme und wandte sich ab.

„Nein, wartet…“ sagte sie kaum hörbar. „Wer… Hat noch überlebt?“ fragte sie, ohne sicher zu sein, ob sie die Antwort ertragen konnte. Es herrschte kurz Stille im Raum, als würde O'Ceallaigh ebenfalls überlegen, ob er ihr die Wahrheit sagen sollte.

„Nur die wenigen, die hier auf der Burg waren“ antwortete er dann knapp, bereute aber sofort, es doch gesagt zu haben. Kiara ballte die Faust vor der Brust, denn sie fühlte sich an, als würde sie zerspringen. Ein tiefer, stechender Schmerz riss ein Gefühl der Leere in ihr Herz. Sie hatte also alles verloren.

„Es ist vielleicht wirklich besser, wenn ich später noch einmal vorbeikomme. Ruhe dich aus.“ Er wandte sich mit diesen Worten ab, um Kiara mit ihrer Trauer alleine zu lassen.
 

Sie fand nur wenig Schlaf in dieser Nacht, immer wieder plagten sie Alpträume. Die letzten Stunden bis zum Sonnenaufgang lag sie einfach nur leise vor sich hin weinend im Bett und überlegte, was sie nun tun sollte. Was machte ihr Leben noch für einen Sinn? Sie war nun ganz alleine, weil er ihr alles genommen hatte.

Balog. Sein Name hallte in ihrem Gedächtnis wieder, genau wie der Klang seiner Stimme. Ebenso würde sie den Anblick seiner Augen auf ewig in Erinnerung behalten. Würde sie ihn jemals wiederfinden, wenn sie ihn suchte? Dieser Gedanke formte sich immer wieder auf's Neue, doch zerfiel augenblicklich, wenn sie sich eingestehen musste, dass sie ihn nicht besiegen könnte, jedenfalls nicht mit ihren jetzigen Fähigkeiten.

Sie dachte an seine Art zu kämpfen - Kraft, Technik und Schnelligkeit waren Dinge, die man sich aneignen konnte. Aber dass seine Wunden in Sekunden verheilten, das wollte ihre Vernunft nicht akzeptieren. War er überhaupt ein Mensch? fragte sie sich flüchtig, verscheuchte diesen absurden Gedanken aber sofort wieder. Was auch immer er war, zuallererst musste sie wieder gesund werden, danach konnte sie sich die nächsten Schritte überlegen.

Noch bevor die Sonne ganz aufgegangen war, klopfte es an der Tür und Kommandant Sean O'Ceallaigh betrat das Zimmer. Sie kannte den alten, streng wirkenden Mann nun schon seit einigen Jahren. Sie hatten sich kennengelernt, als ihr großer Bruder eine Stelle als Soldat angenommen hatte und sie seinetwegen viel Zeit auf dem Anwesen verbracht hatte.

„Wie fühlst du dich heute?“ fragte er vorsichtig und wartete auf eine Antwort bevor er weiter sprach.

„Ein wenig besser“ log sie und schaute ihn nun fragend an. „Was wollt ihr wissen?“ Der Kommandant stellte sich an das einzige Fenster im Raum und schaute nach draußen.

„Erzähl mir einfach alles, was du weiß, vielleicht kann uns ja irgendetwas davon weiterhelfen.“ Aufmerksam verfolgte er Kiaras Schilderung der Vorfälle. Sie rang kurz mit dem Gedanken, die Details über Balog, die sie bis jetzt ausgelassen hatte, noch zu erzählen - behielt diese aber lieber doch für sich.

Als Kiara geendet hatte, senkte sie den Kopf und schwieg. Die ganze Zeit hatte sie mit den Tränen gekämpft und unterlag nun schlussendlich doch ihren Gefühlen. Der Kommandant stand nun mittlerweile mit dem Rücken zum Fenster neben ihr und starrte ebenfalls schweigenden zu Boden. Innerlich kochte er vor Wut, das spürte sie genau. Doch äußerlich versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, bis auf das nervöse Spielen mit der Kordel seines Waffengurtes, dessen er sich selbst wohl nicht einmal bewusst war.

Kiara war die erste, die wieder das Wort ergriff.

„Warum lebe ich noch?“ fragte sie mehr an sich selbst als an ihn gerichtet.

„Unser Wachposten sah Rauch, deswegen ritten wir ins Dorf hinunter. Aber als wir ankamen, konnten auch wir nichts mehr tun. Einer meiner Leute fand dich dann, ohne die schnelle Hilfe wäre es sicher anders ausgegangen.“ Plötzlich fuhr Kiara herum.

„Wo ist Alana, mein Pferd?“ Er schaute sie verwundert an.

„Das was neben dir stand, als wir dich fanden? Sie steht unten im Stall“ antwortete er.

„Ich muss zu ihr!“ Kiara machte Anstalten, sich zu erheben, aber er legte ihr besänftigend eine Hand auf die Schulter.

„Es geht ihr soweit gut, sie hat sich jedoch eine kleine Verletzung zugezogen. Sie wird aber gut versorgt, mach dir keine Sorgen.“

Kiara sah ihn mit Tränen in den Augen an. „In einer der Satteltaschen ist das Schwert, das ich nach Callras bringen sollte… Mein Vater…“ Ihre Stimme brach und sie schaute wieder zur Seite weg. Noch war es unmöglich, die Trauer auch nur in irgendeiner Art zu bändigen.

„Ich werde mich darum kümmern“ versprach Sean. „Versprichst du mir im Gegenzug, dass du dich weiter auskurierst.“ Bevor er ging, drehte er sich noch einmal um. „Du kannst hier in der Burg bleiben, so lange du willst. Caitlin wird eine Stelle für dich finden, wenn du wieder arbeiten kannst.“ Als er gehen wollte, sah sie ihn noch einmal an.

„Das Schwert…“ flüsterte sie. „Es ist alles, was ich noch habe, aber es gehört eigentlich einem Edelmann…“

Sean O'Ceallaigh bedachte sie mit einem verständnisvollem Blick.

„Dann ist es meines Wissens nach wohl unglücklicherweise als Diebesbeute verloren gegangen, wenn jemand danach fragen sollte.“
 

~*~
 

Von Woche zu Woche ging es ihr nun langsam wieder besser. Fast alle Verletzungen waren verheilt, jedoch verursachte ihre rechte Hand weiterhin Probleme und auf ihrer Wange waagerecht unter dem Auge blieb eine unschöne Narbe zurück, die sie somit auf ewig an diesen Tag erinnern würde.

Der Kommandant hatte sein Versprechen gehalten, das Schwert ihres Vaters in ihre Obhut gegeben und Caitlin beauftragt, ihr eine Anstellung zu suchen.

Nun arbeitete sie seit geraumer Zeit in der Küche.

Teilweiße war es dort sehr anstrengend, denn während den Mahlzeiten entwickelte es sich zu einem wahren Wettlauf gegen die Zeit und ein riesiger Berg Arbeit wartete danach darauf, beseitigt zu werden. Der einzigen Vorteil, den sie aus dieser Stelle schöpfte, war, dass sie immer wieder zwischen ihren Verpflichtungen Zeit fand, den Soldaten bei ihrem Training zuzuschauen.

Sie nahm sich vor, wenn sie wieder komplett gesund war, den Kommandanten zu fragen, ob sie am Gruppentraining teilnehmen durfte. Bis dahin blieb ihr erst einmal nur, alleine zu üben. Zu diesem Zweck schlich sie sich jeden Abend hinter auf den Übungshof, der zwar noch auf dem Anwesen, aber in einem abgegrenzten, großen Seitenhof lag. Doch schon ein paar Wochen, nachdem es fast zur Gewohnheit geworden war, wurde sie auf dem Weg in die Küche angesprochen.

„Kiara, warte mal“ rief ihr jemand hinterher, sie blieb stehen und drehte sich um. Kommandant O'Ceallaigh kam mit einem ernsten Gesichtsausdruck auf sie zu gelaufen.

„Was ist denn los?“ fragte sie ihn.

„Mir wurde zugetragen, dass du nun schon des öfteren auf dem Trainingsplatz warst. Du weißt schon, dass du dort nicht hin darfst oder?“

Etwas verunsichert schaute sie ihn an. „Aber…“ begann sie ihren Satz. „... Ich wollte sowieso anfragen, ob ich nicht am Training der anderen teilnehmen darf.“

„Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage“, entgegnete er sofort in strengem Ton. „Ich möchte dich nicht mehr auf dem Platz sehen, haben wir uns verstanden?“

Kiara schüttelte verständnislos mit dem Kopf.

„Das Versteh ich nicht, wieso darf ich nicht mit den anderen trainieren? Ich bin gut im Umgang mit dem Schwert!“ Unnachgiebig ging sie einen Schritt auf ihn zu, sie hoffte, ihn umstimmen zu können. „Ich werde mich anstrengen und keinem ein Hindernis sein. Bitte lasst mich mit den anderen üben!“ flehte sie ihn schon fast, an doch er blieb hart.

„Es bleibt bei 'Nein'. Ich weiß, dass du ebenso wie dein Bruder das Talent dazu hast. Kaum einer konnte so gut mit dem Schwert umgehen wie er, doch was hat es ihm denn gebracht?“ Er wusste, wie hart seine Worte klingen mussten, aber er blieb bei seiner Entscheidung. „Ich werde nicht dazu beitragen, dass du in dein Unglück läufst. Das Leben eines Kriegers wird immer vom Tod begleitet. Sei froh, dass du ihm entkommen bist. Begehe jetzt nicht den Fehler, jemanden aus Rache hinterherzulaufen.“ Für ihn war das Gespräch damit beendet und er ging nach einem letzten entschiedenen Blick an ihr vorbei.

Eine Weile stand sie einfach nur wortlos da, ballte die Fäuste und schaute den leeren Gang entlang. Er würde sie nicht davon abhalten können. Wenn nicht mit Hilfe, dann eben ohne, dazu war sie entschlossen.
 

Seit dem Gespräch mit dem Kommandanten wussten nun auch die anderen von dem Verbot und achteten darauf, dass sie sich daran hielt. Selbst in ihrer freien Zeit durfte sie sich nicht mehr in der Nähe des Platzes aufhalten.

Eines Nachts beschloss sie, an der Situation endlich etwas zu ändern. So lautlos sie konnte, schlich sie aus dem Schlafsaal der Angestellten bis hin auf die auf andere Seite der Burg. Dort befand sich im obersten Gebäudeteil der Zugang zum Falkenturm. Eine überdachte, aber zu beiden Seiten offene Brücke führte zum Eingang.

Nun stand sie vor einer schwierigen Aufgabe. Die einzige Zugangstür konnte sie noch nicht benutzen, sie aufzubrechen würde jemanden auffallen und den einzigen Schlüssel besaß der Falkner. Bis sie an diesen herangekommen war, musste sie einen anderen Weg finden.

Sie lehnte sich über den Rand der Brücke. Auf der Außenseite des Anwesens ging es viele Meter den Abhang hinunter, ebenso auf der Hofseite. Überall war es tief genug, um sich das Genick zu brechen. Kiara sprang auf der Innenseite der Brüstung nach oben und zog sie hinauf auf das schmale Dach der Brücke. Ihr Blick wanderte abschätzend nach oben. Dort fand sie schnell ihr Ziel, es war ein offenes Fenster etwa fünf Meter über ihr. Ein letzter Blick nach unten, dann legte sie sich langsam an den kalten Stein des Turmes. Stück für Stück arbeitete sie sich vorsichtig weiter nach oben bis zum Fenstersims, dort zog sie sich nach oben und blieb erschöpft im Fenster hocken.

Das Innere des Turmes war voll von Balken und Brettern, die überall den Vögeln als Schlafplatz dienten. Einige Bewohner waren von dem nächtlichen Störenfried aufgewacht und schauten sie verschlafen aus dunklen Augen an. Ein paar begannen, unruhig herumzuhüpfen, trauten sich aber nicht, an ihr vorbei zu flüchten, sondern flogen weiter nach oben zu einer offen stehenden Tür, die auf einen großen Erker führte. Doch bald würden sie ihn mit ihr teilen müssen, denn sie gedachte, sich genau dort oben einen Platz einzurichten, um ungestört trainieren zu können.

Kiara drehte sich nun langsam um und schaute abschätzend nach unten. Trotzt der Dunkelheit zeichneten sich im Fackelschein die Umrisse des Übungsplatzes ab. Der Blick von hier oben war perfekt. Man konnte fast das gesamte Anwesen überschauen.

Jetzt war nur die Frage, wie sie hier wieder runter kam.

Erst, als sie wieder bei Kräften war und ihre Arme aufgehört hatten, zu zittern, wagte sie sich auf den Rückweg. Sie freute sich und musste lächeln, darauf würde so schnell keiner kommen.

Ab jetzt versprach das Leben hier, wieder etwas einfacher für sie zu werden.

Entscheidung

Kapitel 5 - Entscheidung
 

Es war der fünfte Winter nach den schrecklichen Ereignissen.

Nun war gerade die kalte Jahreszeit im Begriff, sich aus den Tälern ins Gebirge zurückzuziehen, um endlich dem lang ersehnten Frühling den ihm zustehenden Platz freizuräumen. Fürst Mac Brian gab wie jedes Jahr für die Bürger seiner Kleinstadt und für die Dörfer ringsherum ein Fest, um die neue Jahreszeit einzuläuten.

Doch es war die Zeit des Frühjahrsfestes, die noch einen anderen Umschwung mit sich brachte.

Viele Menschen freuten sich das ganze Jahr über darauf, denn überall unterhalb der Burg belebten nun Händlerstände die Straßen. Gaukler und Musiker buhlten um die Aufmerksamkeit der Besucher, die aus allen möglichen Ecken des Landes heran geströmt kamen, um sich an dem bunten Treiben zu beteiligen. Auf den Wiesen am Rande der Kleinstadt weiteten sich die Lager der Spielleute aus.

Wie fast jeden Tag, nach dem die Arbeit getan war, schlenderte auch Kiara wieder einmal durch die belebten Straßen von Lissagriffin.

Es dämmerte schon und da die Nächte noch sehr kühl waren, zog es sie zu einem der großen Lagerfeuer, die im Lager der Gaukler brannten. Kiara setzte sich zu einer kleinen Gruppe von Leuten, die einem Geschichtenerzähler aufmerksam zuhörten. Der alte Mann war mit seiner Geschichte schon sehr weit vorangeschritten, jedoch war diese so simpel, dass sie ihr auch folgen konnte, ohne den Anfang gehört zu haben. Die Erzählung handelte von einem jungen Mann, der seine Geliebte aus den Fängen seinen Feindes retten wollte. Kiara verzog gelangweilt die Mundwinkel, eine Liebesgeschichte entsprach nicht ganz ihrem Interesse, so erhob sie sich wieder vom Feuerplatz, um zu gehen.

Nach einer kleinen Kunstpause, um seine letzten Worte wirken zu lassen, begann der Alte, den finalen Kampf zwischen dem Helden und dem Bösewicht zu schildern.

„Als er seinem Kontrahenten direkt gegenüberstand, zeigte dieser sein wahres Gesicht“ begann er mit verstellter tiefer Stimme zu erzählen. „Wie eine schauerliches Abbild des reinen Bösen funkelten seine Augen in blutigem Rot und sein Schneidezähne verlängerten sich zu messerscharfen Reißfängen“ fuhr er nun im verschwörerischen Flüsterton fort. Bei diesen Worten blieb Kiara wie angewurzelt stehen, langsam drehte sie sich um und versuchte, den Blick des Erzählers durch die Flammen hindurch zu fixieren. Der Alte erzählte weiter, doch eigentlich hörte sie gar nicht richtig zu. Ihr Verstand versuchte gerade, etwas zu verarbeiten, das gar nicht möglich sein konnte „… Und trotz seiner Schnelligkeit unterlag der böse Graf nach einem erbitterten Gefecht der List der Jugend.“ Euphorisch erzählte er nun weiter. „Getroffen ging der Vampir zu Boden…“ Er machte eine Geste mit der Hand, so als würde er ein Schwert schwingen. „… Und so tötete unser heldenhafter Jüngling das Monster und errettete damit seine Angebetete.“ Er verbeugte sich vor den Anwesenden und beendete mit diesen Worten seine Geschichte.

Langsam hüllte nun die Nacht das Lager ein, nur einige Wenige blieben noch, um sich neue Unterhaltung zu suchen. Die meisten jedoch zog es in ihre Unterkünfte zurück.

Kiara hatte sich wieder gesetzt, stillschweigend schaute sie eine Weile ins Feuer. Der alte Mann legte neues Holz nach. Hungrig verschlungen die Flammen die neue Nahrung und knisternd stoben Funken in den schwarzen Nachthimmel. Kiara beobachtete ihren Flug, leuchtend schön bahnten sie sich ihren Weg durch die Schwärze der Nacht, bis sie am Höhepunkt ihrer Existenz verglühten, um von dort als Asche unsichtbar wieder zu Boden zu fallen. Menschenleben sind genau so, dachte sie sich. Sie schreiten in unvorhersehbare Richtungen voran, beeinflusst von Willkür bis zu einem bestimmten Ziel, doch irgendwann am Wendepunkt angekommen, ist der Verfall unaufhaltsam und man verschwindet langsam, unbeobachtet wie die zerfallende Asche.

Einige Zeit verstrich bis sie die Frage aussprach, die sich ihr immer mehr aufdrängte.

„Glaubt Ihr, dass es Vampire wirklich gibt?“ fragte sie in die Stille hinein. Sofort begann der alte Mann zu lachen, doch er verstummte, als er ihren ernsten Gesichtsausdruck sah.

„Ich glaube, dass jede Geschichte einen Funken Wahrheit besitzt.“ Er musterte sie nun aufmerksam. „Warum fragt Ihr das?“

„Ach, nicht so wichtig“ lächelte sie oberflächlich und stand dann vom warmen Feuer auf. „Ich wünsche Euch noch einen angenehmen Abend.“ Damit entfernte sie sich und schlug einen Weg abseits des Festes ein, um ein wenig allein mit ihren Gedanken zu sein.

Die letzten Jahre hatte sie nun gut behütet in der Burg des Fürsten verbracht, langsam hatte sie angefangen, die Erlebnisse zu verarbeiten. Den Verlust zu akzeptieren. Das, was sie sich damals geschworen hatte, war keinesfalls vergessen, nur konnte sie bis jetzt nicht den Mut aufbringen, den ersten Schritt zu gehen.

Ein wenig abseits des Hauptweges ging sie langsam wieder hinauf zur Burg. Es war spät, aber sie wollte jetzt noch nicht wirklich zurück. Nur wenige Leute begegneten ihr um diese Uhrzeit. Ab und zu lief eine der kleinen Patrouillen vorbei. Keith war ebenfalls darunter, kam ihr entgegen und grüßte schon von Weitem, aber sie war gerade nicht in der Stimmung, mit jemanden zu reden und bog in eine Seitenstraße ab, noch bevor er sie erreicht hatte.

In Gedanken versunken lief sie die Gasse entlang, viel zu spät erst bemerkte sie eine Gruppe von Männern, die ihr entgegenkam.

„Heyy…. Na wen habben wir denn dhaa…..“ lallte einer und stellte sich ihr in den Weg. Kiara schaute ihn an, es war Darragh O'Brian, der Enkel des Fürsten, ein ziemlich arroganter Typ, den sie vom Hof des Fürsten leider nur zu gut kannte. Ebenso seine beiden Begleiter die ebenso schwankend wie dümmlich grinsend neben ihm standen. Kerlen wie ihnen ging sie prinzipiell aus dem Weg.

„Ich habe keine Zeit“ entgegnete sie knapp und wollte an ihm vorbei gehen, doch am Arm hielt er sie zurück.

„Nischhh so schnelll… Meinen Jungss und mir isch langweilig duu... Könndesd uns doch ein wenig den Abbend… Erheiternnnn“ sagte er grinsend, wobei sein Blick sie von oben bis unten musterte.

„Lass mich sofort los“ entgegnete sie bestimmend, aber noch immer ruhig. Doch da er nicht loslassen wollte, drehte sie ihren Arm aus seinem Griff und machte dann ein paar Schritte zur Seite, um Abstand zu gewinnen.

„Hab disch nich so…“ Wieder ging er auf sie zu.

„Kein Bedarf und dabei bleibt es“ sagte sie nun mit noch mehr Nachdruck in der Stimmte, wagte aber nicht, darüber nachzudenken, in was für eine Richtung sich diese Situation entwickeln könnte.

„Mirr egal...“ lachte er nun gierig und ging provokativ immer weiter auf sie zu, um sie in eine Ecke zu drängen. Sie verpasste Darragh eine Ohrfeige, in der Hoffnung, dass ihn das ein wenig zur Besinnung bringen würde.

„Du bist total betrunken! Hör auf damit!“

Darragh blieb stehen. „Du wagsdd es… Misch su schlaaagn...?!“ Dann rastete er vollkommen aus, zog sein Schwert und holte aus.

Kiara fasste sich an die Seite.

Verdammt.

Ihr Schwert lag noch im Zimmer.

Schnell drehte sich zur Seite weg, öffnete noch in der Bewegung die Schnürung ihres Ärmels und zog den fast unterarmlangen Dolch hervor, den sie immer bei sich hatte. Er stolperte an ihr vorbei, fuhr jedoch sofort wieder herum und schlug wieder auf sie ein. Kiara parierte nur knapp an ihrer Schulter vorbei den Schlag.

„Was soll das, verdammt!“ schrie sie ihn an, aber er war zu betrunken, als dass ihre Worte zu ihm durchdrangen. Die beiden anderen grölten hinter ihr, um ihren Kameraden anzufeuern.

Wieder holte er aus, auch diesmal wich sie seiner Waffe aus und ein kräftiger Tritt in die Kniekehle ließ sein rechtes Bein einknicken, so dass er zu Boden ging. Sie hielt ihm die Klinge an den Hals. Scheppernd fiel sein Schwert zu Boden und er hob ergeben die Hände. Die anderen beiden verstummten augenblicklich und überlegten, was sie nun tun sollten. Dann ging alles ganz schnell, der jüngere von beiden verlor die Nerven, zog sein Schwert und auch der Andere neben ihm stürmte los. Kiara gab Darragh einen Tritt, um ihn von sich wegzustoßen.

Sie parierte den Schlag von rechts und wich einem Hieb auf der anderen Seite aus. Sofort schaute sie sich wieder nach dem jüngeren Mann um, damit er ihr nicht in den Rücken fiel. Dadurch jedoch bemerkte sie eine Sekunde zu spät den Gegner zu ihrer Linken und musste einen Faustschlag in den Magen einstecken. Da Kiara kurz außer Gefecht war, nutzte dieser die Chance, um sie zu packen und herumzuzerren. Sie versuchte, sich von ihm loszureißen, aber desto fester griff er zu. Auch der Andere trat nun neben sie und hielt sie fest. Obwohl beide nicht weniger betrunken waren als Darragh, konnte sie gegen ihre Kraft nichts aufbringen.

O'Brian stand da und fasste sich an den Hals, erst jetzt bemerkte Kiara, dass sie ihm einen dünnen blutigen Schnitt quer über die Kehle zugefügt hatte. Plötzlich wirkte er wieder ziemlich nüchtern.

„Das… Bereuusd du…“ sagte er zornig. Er hob sein Schwert auf und kam mit langsamen Schritten auf sie zu. Breitbeinig baute er sich vor ihr auf, die Spitze seines Schwertes hielt er ihr erst unter's Kinn, dann zerriss er damit den Stoff ihres Oberteiles. Kiara wehrte sich vergebens, Verzweiflung loderte in ihr auf, denn es blieb aussichtslos, sich befreien zu können.

„Sofort aufhören!“ donnerte es plötzlich hinter ihnen und erschrocken drehten sich alle nach der Stimme um. Es war eine Wache aus der Patrouille, die von der Hauptstraße abgebogen war. Mit der Hand schon auf dem Schwertgriff schaute er die drei Männer fassungslos an, „Was zum Teufel soll das denn werden? Habt ihr total den Verstand verloren!? Verschwindet aber sofort, lasst euch hier nicht mehr blicken!“ Böse funkelte er sie an, fast außer sich vor Wut über das, was er hier vorgefunden hatte.

Die Männer zogen sich zurück, aber Darragh warf Kiara noch einen verächtlichen Blick zu, bevor er sich abwand.

„Ist alles in Ordnung?“ fragte Keith und trat näher heran. „Kiara?“ entfuhr es ihm noch immer aufgebracht, als er durch die Dunkelheit hindurch ihr Gesicht erkannte. Sie sah, wie er kopfschüttelnd in die Richtung schaute, in die Darragh verschwunden war. „Ich fasse es einfach nicht. Dafür werden sie hart betraft, ich werde O'Ceallaigh selbst berichten, was hier vorgefallen ist!“

Kiara schob den Ärmel ihres Oberteils zurecht. „Wenn ich besser aufgepasst hätte, wäre das nicht passiert…“

„Das hat damit überhaupt nichts zu tun, das, was sie vorhatten, ist ein schweres Verbrechen“, sagte er, fast ein wenig erbost über ihre Worte. Dann nahm er seinen Umhang ab und legte ihn um ihre Schultern. „Komm, ich bringe dich zurück.“

Beide gingen schweigend nebeneinander wieder zur Burg.
 

Keith hatte noch am gleichen Abend dem Kommandanten von dem Vorfall berichtet.

Darraghs Begleiter wurden für das, was sie getan hatten oder besser gesagt tun wollten, zur Rechenschaft gezogen, doch bei dem Enkel des Fürsten konnte selbst O'Ceallaigh nichts unternehmen und er kam ungestraft davon.
 

~*~
 

An den Tagen, an denen in der Küche wenig Arbeit anfiel, nutze Kiara nun ihre freie Zeit, um im Pferdestall zu helfen. An diesem Nachmittag war sie damit beschäftigt, die Pferdesättel und Halfter zu reinigen, während der Stallbursche die Tiere versorgte. Gerade, als sie einen der Sättel auf den Holzzaun hievte, lief Darragh mit einigen Männern auf der anderen Seite des Hofes vorbei. Er bemerkte sie und schaute hämisch grinsend in ihre Richtung. Dann sagte er etwas zu den anderen, das von ihrem Platz aus nicht zu verstehen war, aber da alle in lautes Gelächter ausbrachen, konnte sie sich gut denken, um was es dabei ging.

Um ihrer Arbeit weiter nachzugehen, ignorierte sie es so gut wie möglich, denn Darragh ließ seid dem Vorfall keine Gelegenheit aus, um seinen verletzten Stolz mit Spott auf ihre Kosten zu überdecken. Heute war er mal wieder in Stimmung, die Situation weiter auszunutzen. Er hob die Stimme.

„Hey Kiara, willst du dich nicht auch mal um mich kümmern? Ich kenne da auch etwas, das beritten werden will…“ Er brach wieder in schallendes Gelächter aus, noch bevor er den Satz ganz ausgesprochen hatte. Mit ihm lachten auch die anderen Männer um ihn herum. Sie gaben ihm Zuspruch und Anerkennung, genau das, was sein gekränktes Ego brauchte. Nicht nur, dass sie sich von seiner Position als Enkel des Fürsten nicht einschüchtern ließ, sondern dass eine Frau ihn durch eine Verletzung erniedrigt hatte, konnte er nicht auf sich beruhen lassen.

Der Stallknecht kam hinausgelaufen, mit einem abwertenden Blick bedachte er die Männer auf der anderen Hofseite.

„Ach, lass die doch reden, irgendwann wird er keinen Spaß mehr dran haben und sich jemanden anderes suchen.“ Kiara legte kopfschüttelnd das Zaumzeug ab, das sie noch in der Hand hielt und schaute ihn an.

„Nein. Diesmal nicht.“ Sie drehte sich zu Darragh um und lehnte sich mit beiden Armen lässig über den Zaun. „Du willst, dass ich mich um dich kümmere? Wieso sollte ich das tun, bei einem stupiden Arschloch wie dir wäre das reine Zeitverschwendung.“ Darraghs Lachen verstummte augenblicklich.

„Was hast du gerade gesagt, wie hast du mich genannt?“ Einer seiner Begleiter sah, dass er schon seinen Schwertgriff umfasste und das aufkommende Unheil ahnend, legte er ihm besänftigend eine Hand auf die Schulter. Doch O'Brian schlug sie beiseite und lief gereizt auf Kiara zu.

„Du hast schon richtig gehört“ meinte Kiara herausfordernd, sie umrundete die hölzerne Abtrennung zwischen ihnen und ging mit langsamen Schritten hinaus auf den freien Platz „Du hältst dich für stark, für begehrenswert? Nur, weil du der Enkel des Fürsten bist, kannst du nicht tun und lassen, was du willst. Solche Kerle wie du sind nicht mehr wert als der Dreck unter meinem Füßen.“ Sie wollte ihn mit ihren Worten reizen, jetzt in diesem Moment war ihr alles egal. Wenn sie nicht einmal mit einem Gegner wie ihm fertig wurde, konnte sie sich Balog gleich aus dem Kopf schlagen, also definierte sie das hier gleich mal als kleine Generalprobe.

Der Ausgang dieses Kampfes würde alles entscheiden.

Darragh tat ihr den Gefallen, darauf anzuspringen, wutentbrannt rannte er nun auf sie zu. Kiara wich leichtfüßig seinem ungestümen und schlecht gezielten Schlag aus. „Du willst doch wohl nicht schon wieder eine wehrlose Frau angreifen?“ meinte sie und drehte Darragh den Rücken zu. Diese Geste versetzte ihn nur noch mehr in Rage, doch er blieb stehen und wartete. Vor all den Zuschauern ihr in den Rücken zu fallen konnte selbst er sich nicht leisten. Kiara ging derweil zu einem der Männer hin. „Gib mir dein Schwert, na los!“ Der Angesprochene hielt ihr ein wenig unsicher seine Waffe hin und bewaffnet drehte sie sich wieder zu ihrem Gegner um.

„Na warte, das wirst du bereuen.“ Er stürmte wieder auf sie zu, doch Kiara blockte seinen Schlag ab und beide schauten sich kurz über die gekreuzten Schwerter ins Gesicht. Kiara grinste ihn schelmisch an, dann machte sie einen Ausfallschritt zur Seite. Beide umkreisten sich, wartend, wer der nächsten Angriff wagen würde. Die Offensive ergriff erneut Darragh, seine Wut steigerte sich zwar mit jedem Schlag, doch Kiara parierte seine Schläge und versuchte, gut gezielte Konter einzusetzen, um Treffer zu landen. Es war nicht ihre Absicht, ihm ernsthaft zu schaden. Sie wollte ihm nur ein wenig vor Augen führen, dass sie keine Lust mehr auf seine Spielchen hatte.

Seine stürmische Art brachte ihm die erste Schnittwunde ein. Über seinen Oberarm zog sich ein breiter, blutiger Striemen. Fluchend riss er den zerfetzten Ärmel ab, dann stürzte er wieder vor. Klirrend traf Stahl aufeinander.

Kiara wich dem nächsten Schlag aus, doch er erwischte sie trotzdem an der Seite und fügte ihr ebenfalls eine zwar heftig blutende, zum Glück jedoch nicht tiefe Verletzung zu.

Er grinste befriedigt, mittlerweile hatte er sich etwas gefasst und koordinierte seine Angriffe geschickter. Es folgte eine Reihe schneller Schwerthiebe und Paraden, die jedoch auf beiden Seiten Spuren hinterließen. Bis jetzt war keiner seiner Treffer schwer gewesen. Schmerzhaft waren sie gewiss alle, aber in seiner jetzigen Stimmung würde sie nicht einmal darauf hoffen können, dass er sich zurück halten würde, wenn er die Chance hatte, ihr ernsthaft zu schaden. Darragh stellte einen erst zu nehmender Gegner dar, doch seine größte Schwäche war seine leichte Reizbarkeit und die wusste sie auszunutzen.

Mit kleinen Sticheleien versuchte sie, ihn immer wieder aus der Reserve zu locken. Denn um es genau zunehmen, war dies erst ihr zweiter richtiger Kampf und sie hielt sich lieber abwartend zurück und konterte, als dass sie blind loswütete.

Wie lange dieser Kampf jetzt schon andauerte, wagte sie nicht zu schätzen. Sie fühlte sich wie berauscht, irgendwie zeitlos. Konzentriert auf das eine Ziel hatte sie fast alles um sich herum vergessen und es gab nur noch diesen einen relevanten Gedanken.

Siegen. Und vielleicht noch ein klein wenig Genugtuung, das war das Einzige, was sie wollte.

Alle Anwesenden standen schweigend da und beobachteten die beiden Kontrahenten, niemandem fiel der blonde Krieger auf, der sich aus de Gruppe von Darraghs Männern löste und unbemerkt den Hof verließ.

Darragh setzte zu einem weiteren Angriff an. Er stand nur wenige Schritte entfernt und täuschte einen gradlinigen Schlag an, den er jedoch in einen abänderte, der auf ihre Schulter zielte. Kiara parierte erneut und drehte sich auf die Seite seiner Schwerthand, dann wechselte sie ihre Waffe von den Rechten in die Linke. In der Zeit nach dem Kampf mit Balog, in der sie ihre gebrochene Hand nicht hatte benutzen können, hatte sie sich ein gutes Gefühl dafür angeeignet, auch mit der anderen Seite das Schwert zu führen. Das sollte ihr jetzt zu Gute kommen, denn noch bevor er den Wechsel registrierte, schlug sie ihm mit der flachen Seite der Klinge seine Waffe aus der Hand.

Darragh erstarrte in der Bewegung, halb aufrecht hatte er nun Kiaras Klinge unter dem Kinn.

„Gib auf, du bist besiegt“ meinte sie ruhig, konnte aber den triumphierenden Unterton in ihrer Stimme nicht verbergen.

„Du kleines Miststück…“ knurrte er und richtete sich auf.

Kiara nahm ihr Schwert herunter.

„Alle hier Anwesenden sind Zeugen, dass ich dich besiegt habe. Es reicht.“ Sie lief an ihm vorbei, um dem Besitzer sein Schwert wieder zu geben. Darragh stand nur regungslos da.

„Damit lasse ich dich nicht durchkommen…“ murmelte er in sich hinein.

„Was ist hier los?“ rief plötzlich eine wütende Stimme über den Hof. Alle Anwesenden drehten sich nach der wohl bekannten Stimme um.

Kommandant O'Ceallaigh kam in Begleitung von zwei Wachen im schnellen Schritt angelaufen, sein Blick schweifte tadelnd über alle. „Wer ist dafür verantwortlich?“

Kiara hielt noch immer das Schwert in der Hand und der unbewaffnete Darragh witterte seine Rache.

„Kiara hier war der Meinung, Streit anfangen zu müssen, sie hat mich mit dem Schwert heimtückisch angegriffen“ sagte er, den Unschuldigen mimend.

„Was soll das? Ich habe diesen Streit hier nicht angefangen“ entgegnete sie erbost über seine Lüge.

„Stellt sie unter Arrest“ befahl der Kommandant im kalten Ton und gab seinen Begleitern einen Wink in Kiaras Richtung.

„Aber ich bin nicht die Schuldige!“ Entrüstet starrte sie O'Ceallaigh an. „Die Anderen können bezeugen, was vorgefallen ist.“ Sie schaute in die Runde, doch keiner der Anwesenden traute sich, etwas zu sagen. „Was seid ihr nur für Feiglinge, wenn es darauf ankommt, gebt ihr klein bei…“ sagte sie anklagend. Nun erst fiel ihr der Krieger auf. der zu O'Brian gehörte und schadenfroh grinsend neben dem Kommandanten stand.

Wütend rammte Kiara das Schwert in den Boden, als die zwei Wachen auf sie zu kamen, um sie abzuführen. O'Ceallaigh wandte sich einfach wortlos wieder um und die beiden Soldaten führten sie hinter ihm her.

„Wartet mal kurz“ rief Darragh hinterher, als der Kommandant außer Hörweite war. Im Vorbeigehen klopfte er dem hellhaarigen Mann dankend auf die Schulter, dann trat er ganz dicht an Kiara heran. „Ich werde dir das Leben hier zu Hölle machen, das schwöre ich dir“ flüsterte er ihr ins Ohr. Abwartend schaute er sie an, doch mehr als ein gleichgültiges Lächeln schenkte sie ihm nicht.
 

~*~
 

„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“ Nun schrie er sie schon fast an, so wütend wie jetzt hatte sie ihn noch nie erlebt. Mit unruhigem Schritt lief er im Zimmer herum. „Ist das etwa der Dank für alles? Du weißt, wer Darragh ist! Diese Angelegenheit wird noch Konsequenzen für dich haben!“ Er blieb stehen und schaute Kiara eindringlich an.

Schweigend stand diese am einzigen Fenster in diesem Raum, den Blick in die Ferne gerichtet. Glutrot, wie in Blut getränkt, tauchte der Sonnenuntergang das unter ihr liegende Tal. Sie konnte es von hier oben fast komplett sehen, denn das Zimmer, in dem sie sich befand, lag in einem der obersten Stockwerke der Burg.

„Hörst du mir überhaupt zu? Hast du denn überhaupt nichts zu sagen? Ich hätte mehr Einsicht von dir erwartet“ meinte er nur kopfschüttelnd. Er lief zu Tür und blieb noch einmal stehen. „Du bleibst unter Arrest, solange, bist du bereit bist, vor Darragh und dem Fürst Stellung zu nehmen. Das wäre ein Anfang, ob das reicht, um beide zu besänftigen, weiß ich jedoch nicht.“ Er ging hinaus und nach dem lautem Knall der Tür war nur noch das Klicken des Türschlosses zu hören.
 

~*~
 

Lange nach Dämmerung, als sich schon längst die Stille der Nachtruhe über das Anwesen gelegt hatte, macht er sich ebenso leise und unauffällig auf den Weg. Noch früh genug sollte jeder erfahren, was er getan hatte oder besser nun erst einmal tun würde.

Am Ende der obersten Treppe angekommen, bog er in den halbdunklen Gang ein, in den er wollte. Nur ein einziger Wachposten stand schläfrig im Fackelschein vor dem Zimmer.

„Darragh? Was willst du so spät hier?“ Der Mann vor der Tür starrte ihn verschlafen und unsicher an.

„Hier, eine kleine Aufbesserung deines Monatssoldes“ O'Brian drückte ihm einen klimpernden Beutel in die Hand. Die Wache wog das schwere Säckchen abschätzend in der Hand, sein Pflichtbewusstsein schrie ihn, an es nicht anzunehmen. Doch die Verlockung war einfach zu groß und er trat beiseite, als Darragh zur Tür wollte. „Schließ hinter mir wieder ab“ befahl dieser kühl. Die Wache öffnete ihm die Tür und riegelte sie nach ihm sofort wieder ab.

Der Raum war stockfinster, nur ganz wenig Licht fiel von draußen durch das einzige Fenster hinein. Nur schemenhaft konnte er erkennen, wo das Bett stand, viel mehr Möbel befanden sich jedoch sowieso nicht im Raum. Er lachte in sich hinein, wie er ab jetzt vorgehen würde, hatte er sich schon in Gedanken durchgespielt. Nun würde er beenden, was er vor einigen Tagen in der Gasse angefangen hatte. Mit leisen Schritten ging er zum Bett hinüber, er wollte sich auf keinen Fall den Überraschungseffekt verderben. Schade, dass es hier so dunkel war. Es ärgerte ihn etwas, zu gerne würde er ihr entsetztes Gesicht sehen.

Auf Kopfhöhe stellte er sich jetzt neben ihr Bett, dann riss er die Bettdecke herunter.
 

~*~
 

Währenddessen huschte ein Schatten durch die Gemäuer der Burg.

Er bahnte sich den Weg zu den Schlafsälen hinunter und leise knarrend wurde die schwere, alte Holztür geöffnet. Die Gestalt blieb stillschweigend stehen, um zu lauschen, ob jemanden die nächtliche Störung bemerkt hatte, doch alles schien ruhig.

Im Raum befanden sich sechs Betten, nur eines davon war leer. Genau unter diesem Bett zog sie so leise wie möglich eine große Holzkiste hervor. In Eile verschwanden nun alle darin befindlichen Habseligkeiten und Ersparnisse in einer Tasche, ebenso die Sachen aus dem kleinen Regal, das sich gleich neben dem Schlafplatz befand. Ihr fiel das Buch der alten Frau in die Hände, das sie von ihr kurz vor der Zerstörung des Dorfes zum achtzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Auch, wenn es nicht danach aussah, war es neben dem Schwert ihr wertvollster Besitz.

„Kiara?“ flüsterte plötzlich eine ängstliche Stimme hinter ihr. Die Angesprochene drehte sich um, es war die junge Bedienstete, die ihr gegenüber schlief.

„Alles in Ordnung, schlaf weiter“ murmelte Kiara leise zurück und zog sich nebenbei um, nur ihre zerschlissen Sachen ließ sie hier. Als letztes legte sie ihren Schwertgurt an und schwang den schweren dunklen Umhang um die Schultern.

„Stehst du nicht unter Arrest? Wieso bist du hier?“ Irritiert richtete sie sich das Mädchen im Bett auf. Kiara ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Mund.

„Pssst… Schlaf weiter, bitte, ich will dir nicht weh tun müssen“ bat sie, erst als die Angesprochene nickte, nahm sie ihre Hand wieder weg.

„Du gehst fort?“ hörte sie noch die vorsichtig gestellte Frage als sie sich schon zum Gehen abwandte.

„Ja, das hätte ich schon lange tun sollen. Sag den anderen Danke für alles.“ Mit diesen Worten verließ sie den Raum wieder.

Auf dem Weg zu den Pferdeställen bog sie noch in das Vorratslager ab, dann führte sie ihr Weg auf direktem Weg hinunter auf den Hinterhof. Bei den Pferden angekommen ging sie ganz nach hinten, zur Box von Alana. Trotz der späten Stunde wurde sie freudig begrüßt und Kiara lehnte sich dankbar für so viel Gegenliebe an den Kopf ihres Pferdes. Sie streichelte Alana über die Hals.

„Es tut mir leid, meine Schöne…“ sagte sie traurig. „Aber dahin, wo ich hin will, kann ich dich nicht mitnehmen… dieser Weg wird für dich zu anstrenged...“ So, als hätte Alana die Bedeutung der Worte verstanden, machte sie ein paar unruhige Schritte in der Box, sie schnaufte und gab Kiara einen Stoß mit der Schnauze. „Ich weiß, nach deinem Kopf würde es gehen, aber durch die Verletzung von damals, möchte ich dir so eine lange, anstrengende Reise nicht zumuten.“ Sie streichelte dabei weiter durch Alanas Mähne. „Du wirst es hier besser haben…“ flüsterte sie ihr ins Ohr und verabschiedete sich damit von ihrer treuen Begleiterin.

Nachdem sie die Pferdebox verlassen hatte, schaute sie sich im Stall um. Ein junges, zuverlässiges Pferd sollte es sein, doch nicht jedes hier war geeignet. Ihr fiel ein schwarzer Hengst ins Auge, der neugierig den Kopf über seine Tür herausstreckte. „Hey, na, wie wär's mit uns beiden?“ scherzte Kiara, sie ging zu ihm und öffnete seine Stalltür „Varel, wenn ich nicht irre.“
 

~*~
 

Sprachlos starrte er im Halbdunkel auf das leere Bett vor ihm.

„Das kann nicht sein… Wo zum Teufel ist sie?“ Fluchend schaute er sich in dem kleinen Zimmer um, doch es gab hier nichts, keine Möglichkeit, sich irgendwo zu verstecken. Kiara hatte sich einfach in Luft aufgelöst.

Wie wild hämmerte er gegen die Tür, bis die Wache eilig wieder öffnete. Darragh schnappte sich den Mann am Kragen, ohne das dieser reagieren konnte und drückte ihn derb gegen die Wand. „Wo ist sie?“ fuhr er ihn an.

„Was?! Aaaber… Ich weiß es nicht…“ Der Soldat bekam es mit der Angst zu tun, denn der Griff drückte ihm die Luft ab. Hustend rutsche er an der Wand herunter, als er endlich wieder los gelassen wurde.

„Inkompetenter Trottel, sie muss geflohen sein, als du geschlafen hast!“ Wütend lief Darragh im Gang herum, dann blieb er stehen und funkelte böse auf ihn herab. „Sag sofort dem Kommandanten Bescheid, sie kann nicht weit sein! Aber das wir uns richtig verstehen, ich war nie hier verstanden?!“ Dann stampfte er gereizt davon.

Um den Schein des Unbeteiligten zu bewahren, begab er sich wieder unbemerkt auf sein Zimmer. Es dauerte auch nicht lange, bis er geholt wurde, um vom Verschwinden Kiaras unterrichtet zu werden. Der Kommandant befand sich zu dieser Zeit schon in der obersten Etage und verhörte die Wache, die nun mehr als hellwach war.

„Und du bist dir ganz sicher, dass sie nicht durch die Tür entkommen ist?“ Er wandte sich vom offenen Fenster ab und schaute den Wachposten an, der nur verunsichert mit dem Kopf nickte. „Dann sind ihr wohl Flügel gewachsen und sie ist aus dem Fenster geflogen…“ entgegnete er zynisch. Ein Soldat der neben ihm stand schaute ihn fragend an.

„Sir, an der Fensterfront geht es mindesten 300 Fuß steil abwärts, diesen Weg kann sie nicht genommen haben.“

„Und wenn sie doch irgendwie hinunter geklettert ist?“ Er dachte nun tatsächlich über diese Möglichkeit nach. „Ab jetzt darf keiner mehr das Anwesen verlassen! Los!“ blaffte er die Soldaten an und eilte aus dem Zimmer.
 

~*~
 

Darragh O'Brian hatte seine ganz eigene Theorie und verfolgte einen anderen Plan als der Kommandant, der nun das ganze Anwesen durchsuchen ließ. Unterwegs von den Suchtrupps getrennt, ging er nun auf direktem Weg hinter zu den Pferdeställen.

Es gab für sie keinen Ort, an dem sie sich verstecken konnte, aber wenn sie hier weg wollte, dann würde sie höchstwahrscheinlich auch ihr Pferd mitnehmen, da war er sich sicher. Das war die perfekte Chance für ihn. Wenn er sie allein finden sollte, könnte er sich bei ihr endlich revanchieren.

Es dämmerte bereits als er den Weg in den Hinterhof einschlug und die Stallungen erreichte.

Vorsichtig lehnte er sich an die Seite der großen Außentür, um zu lauschen, doch er konnte keine verdächtigen Geräusche hören. Nur das Schnaufen und Scharren der Tiere.

Nun erst zog er sein Schwert und betrat leise das Gebäude. Bis zu Alanas Box arbeitet er sich vor, nur um festzustellen, dass es noch genau dort stand, wo es sein sollte.

Jetzt musste er nur noch abwarten und sie würde ihm in die Arme laufen. Triumphierend drehte er sich um, doch genau in dem Moment verging ihm sein Lachen. Am anderen Ende des Gebäudes stand ein Stall weit geöffnet.

„Sie hat doch nicht etwa…“ Mit einem Satz war er an Varels Box angelangt.

Leer.

Ihm fiel die obere Hälfte der geteilten Stalltür ins Auge, in das Holz waren etwas eingeritzt worden: „Danke für's Borgen. Kiara“

Einige Sekunden lang wanderte sein Blick ungläubig über die Buchstaben, dann brach die Wut aus ihm hervor. Rasend trat er so heftig gegen die untere Stalltür, dass sie aus der Verankerung riss und noch bevor sie auf dem Boden aufschlug, war er schon auf dem Weg zum Haupttor.
 

~*~
 

„Ganz ruhig, mein Junge.“ Kiara streichelte unter ihrem Umhang unauffällig den Hals von Varel. Die Sonne war schon aufgegangen und mit Einsetzen der Dämmerung war endlich das Tor zum Anwesen geöffnet worden. Das war der einzige Weg, den es nach draußen gab.

Der Trubel um sie herum verstärkte sich nun immer mehr. Die alltäglichen Händler besetzen ihre Stände und die ersten Bürger der Stadt betraten das Anwesen. Immer wieder eilten jedoch auch beschäftigte Soldaten an ihr vorbei. Noch hatte sie keiner beachtet, doch das war gewiss nur eine Frage der Zeit. Die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, wie es ging, trabte sie weiter auf das Tor zu.

Nur noch wenige Meter.

Auf Höhe des Durchganges ertönten hinter ihr plötzlich Schritte und aufgeregte Rufe.

„Schließt sofort das Tor!“ hörte sie den Kommandanten rufen und Kiara glaubte fast, seinen Blick in ihrem Nacken zu spüren.

Die beiden Wachen reagierten sofort, seitlich vor ihr trat einer der Männer vor ihr Pferd, um sie am Passieren zu hindern. Varel stoppte abrupt und trat unruhig auf der Stelle.

Der Soldat schaute das Pferd verwundert an, es kam ihm auf einmal so bekannt vor. Dann wanderte sein Blick zum Reiter hinauf, um sich zu vergewissern, doch er sah nicht denjenigen, den er erwartete.

In dem Moment, als Kiara in seinen Augen lesen konnte, dass er sie erkannt hatte, gab sie Varel die Sporen. Protestierend hechteten die beiden Wachen beiseite, als er sich mit Gewalt den Weg freidrängte. Das Pferd stürmte die Straße hinunter, begleitet von Rufen der wütenden Wachen und empörten Passanten, auf die sie gerade keine Rücksicht nehmen konnte.

Kommandant Sean O'Ceallaigh hatte nun ebenfalls das Haupttor erreicht, neben ihm stand der Soldat, der ihn begleitet hatte.

„Sollen wir die Verfolgung aufnehmen?“ Auch die beiden Wachposten schauten ihren Vorgesetzten fragend an, doch er beobachtete nur wortlos, wie die Flüchtige langsam an Vorsprung gewann.

„Sir?“ hakte der Soldat noch einmal nach.

„Nein, das bringt nichts.“ Dann drehte er sich zum Gehen um. Der Enkel des Fürsten kam ihm wutentbrannt entgegen gelaufen. Als er sah, dass O'Ceallaigh nichts unternahm, wollte er Einwand erheben, doch Sean's Blick machte ihm klar, dass diesmal er die Entscheidungsgewalt hatte und kein Wiederwort dulden würde.

Kiara hingegen verlangsamte das Tempo nicht, bis sie aus der Stadt hinaus und im Süden das Ende des Tales erreicht hatte. Sie schlug den direkten Weg über die Berge ein, denn auf der anderen Seite des Gebirges lag schon das Meer und dort gab es einen Hafen, von dem aus sie auf das Festland übersetzten wollte.

Auf der Bergkuppe, kurz bevor das Dorf nicht mehr zu sehen war, hielt sie Varel an und schaute zurück.

Sie ließ ab jetzt alles hinter sich. Die Menschen hier, ihr bisheriges Leben.

Vielleicht konnte sie ja irgendwann einmal hierher zurück. Das Einzige, was sie mitnahm, waren die Erinnerungen. Mit Tränen in den Augen, doch fester Entschlossenheit wandte sie sich ab. Sie hatte sich einer großen Aufgabe zu stellen.

Ab jetzt kam ein Neubeginn oder der Anfang vom Ende.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Elsch
2010-10-11T19:38:55+00:00 11.10.2010 21:38
Jetzt schreib ich auch mal nen Kommi. ^^ Hatte schon vor ner Weile ausgelesen, nun schreib ich mal~ XD
Ich fand es total toll. *_* Sehr ausgewogen geschreiben und ich mag den Hauptchara, was sowas von selten vorkommt. XD Ich würde echt gern weiter lesen ^^
Und ich will au Fanarts machen *__*
Von:  Noema
2010-05-18T21:46:48+00:00 18.05.2010 23:46
Jetzt bin auch endlich mal dazu gekommen dein Kapitel zu lesen.
Ich bin sehr überrascht, was jetzt nicht böse gemeint ist, wie toll du schreiben kannst. Du hast einen angenehm zu lesenden Schreibstil.
Der Auftakt ist sehr spannend und ich freue mich sehr auf die weiteren Kapitel.
Ich musste mehrmals schmunzeln, weil das Pferd wie meine Meerjungfrau heißt ^^;
Eine genaue Beschreibung des Hauptcharakters könntest du mir bei Gelegenheit mal zukommen lassen... vielleicht zeichne ich mal wieder was ;)
Von:  WerwolfLupin
2010-05-08T12:16:28+00:00 08.05.2010 14:16
Ich bin noch nicht durch mit dme ersten Kapitel - ich habe nur selten ein so langes gesehen^^ die Kapitel in den richtigen Büchern mal nicht mitgezählt.

Du schreibst wie eine Bestsellerautorin, das muss ich jetzt einfach sagen. Dein Stil ist wunderschön zu lesen und auch die Geschichte ist sehr spannend. Ich würde Jahre brauchen, um so zu schreiben wie du (mal abgesehen davon, dass ich schon drei Jahre schreibe xD) und deine Geschichte hat defintiv Potential.
Negetive Sachen habe ich auf Anhieb keine gefunden, aber das muss ja nicht immer sein ^^
Ich werde morgen das Kapitel durchlesen, weil ich heute keine Zeit mehr dafür habe.
Schreibe weiter so. Du hast echt den Titel "Hobby-Autorin" verdient.
Von:  kaen-ryu
2010-05-01T13:22:56+00:00 01.05.2010 15:22
tja das erste kommentar von mir natürlich^^
mit geballter spannung habe ich dein kapitel durchgelesen...mist ich hatte nur kein popcorn!!!
aber du weist ja das ich ein fan deiner geschichte bin :)
weiter so ich freue mich schon auf neues *smile*


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