Der Pfau von Phillia (Deutschland, das sind wir selber) ================================================================================ Kapitel 23: 23 - Hohenzollern ----------------------------- Die Straßen waren schmutzig und an der Pferdekutsche zogen Eindrücke der Armut im Lande entlang, das Land war gerade noch dabei, sich vom Dreißigjährigen Krieg zu erholen, aber der klein wirkende Junge im Inneren schlief mit geschlossenen Lidern und mit dem Kopf auf dem Schoß eines etwa fünfzehnjährigen Jungen, der mit zusammengebissenen Zähnen und trübem Blick nach draußen blickte. Sie waren schon tagelang unterwegs, aber bald würden sie ihr Ziel erreichen, und es war nur natürlich, dass der kleine Hohenzollern erschöpft und müde war. Nicht nur gab es viele Kämpfe in und um sein Gebiet (an denen, das musste Württemberg zugeben, er selbst nicht ganz unschuldig war); er lebte auch völlig über seine Verhältnisse und verprasste sein Geld, wo es nur ging. Württemberg selbst hustete, und als er in seine Hand blickte, war da Gott sei Dank kein Blut mehr, wie es die letzten Jahre über immer gewesen war... dieser schreckliche Krieg war endlich vorübergegangen, und nun konnte man ein neues Leben anfangen. Die Kutsche hielt im Glanz der blutroten Abendsonne an, und er weckte das Kind, das verschlafen umherschaute und seinen Blick erst fokussierte, als es den Stein mit dem eingeritzten Namen „Berlin“ erblickte, vor dem sie stehengeblieben waren. Sofort war der kleine Eitel hellwach und schaute seinen Begleiter mit schimmernden dunkelblauen Augen an. „Wir sind da!!“ teilte er ihm mit, und mit einem müden Lächeln nickte Württemberg und stieg, dicht gefolgt von Hohenzollern, aus. Sie wurden vom Kutscher in eine Richtung geschickt, und ehe Württemberg sich überhaupt in Bewegung setzen konnte, war Eitel schon am anderen Ende des Wegs und warf ihm einen ungeduldigen Blick zu, der nur zu sagen schien, dass er sich gefälligst beeilen sollte. Ein kurzes Seufzen des Schwaben, und als er an der Stelle angekommen war, an der Eitel auf ihn wartete, sah er, wie Brandenburg mit einem schnell voranpreschenden Berlin näher kam. Erneut ein Seufzen, dann lächelte er. Albrecht sah genauso am Ende aus wie er selbst, und obwohl er über so viel mehr Land und eine Familie verfügte, wirkte er um einiges unzufriedener mit der Gesamtsituation als Württemberg, der nicht einmal eine Lebenspartnerin sein Eigen nennen konnte, geschweige denn ein Kind, obwohl er sich beides verzweifelt wünschte. Die beiden reichten sich die Hände und begrüßten sich höflich; Albrecht sah Eitel höchst nervös an und die Residenzstadt hatte einen enorm neugierigen Blick auf Hohenzollern gelegt; Eitel wiederum sah Paul von unten an und zeigte nicht ein Körnchen Respekt für den Größeren. „So.“ Württemberg räusperte sich, und wieder musste er ungewollt husten. „Dann. Es ist eure Familie. Ich warte auf Hohenzollern. In einer Wirtschaft.“ Er streckte Albrecht die ausgestreckte Had hin, der ihn nur irritiert ansah. Sofort krähte Eitel ein amüsiertes „Er will Geld, Mami!!“ los, und Pauls Blick wurde noch irritierter. Brandenburg schüttelte verwirrt den Kopf, aber die Hand blieb ausgestreckt vor seiner Nase hängen, als wäre es das Normalste der Welt, und vermutlich war er ein schlechter Gastgeber, wenn er Lukas kein Geld geben würde... also kramte er in seinen Taschen herum und legte ihm eine kleine Münze in die Hand, mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck. Der Jugendliche lächelte, behielt das Geldstück fest in der Hand und gab Eitel einen kurzen Klaps auf den Hinterkopf, während dem er ihm ein „Troll sie nicht zu sehr...“ zuflüsterte und dann verschwand und, wie er es versprochen hatte, die kleine Familie alleine ließ. Sobald Württemberg außer Hörweite war, wandte Albrecht sich zu Eitel und behielt den säuerlichen Gesichtsausdruck bei, während er in seinem besten autoritären Tonfall mit einem „Deine Mami-“ begann, aber von einem gespannten Paul unterbrochen wurde, der seine Aufregung nicht länger verbergen konnte. Auch der Jugendliche war schwer von den vergangenen Jahren geprägt, aber auch er war auf dem Weg zur Besserung, und seine Stimme war mitten im Stimmbruch, als er redete. „Du bist echt Hohenzollern?“ Eitels Augen wurden grün und schmal, und er antwortete nicht, sondern besah sich Berlin genau. Dann schüttelte er den Kopf, als wäre er enttäuscht. Albrecht hatte das dringende Bedürfnis, ihn zu strangulieren. Berlin war verwirrt, aber das ließ er sich nicht anmerken. Albi hatte nicht viel über den Besuch sagen wollen; das einzige, was er wusste, war, dass er irgendwie mit ihm verwandt war. Albrecht hatte dazu nicht viel gemurmelt, nur, dass Preußen beteiligt war. Berlin hatte beschlossen, ein großer Bruder zu sein. Er war noch nie ein großer Bruder gewesen, und das schien ihm ziemlich toll zu sein. Er wollte ein guter großer Bruder sein. Als großer Bruder würde er dem Kleinen so viel beibringen können, er würde ihm beibringen, den Fehler nicht zu begehen, den er damals in seiner Kindheit gemacht hatte, damals, als er noch so jung und unerfahren war. Es war objektiv gesehen ein Fehler, in der Vergangenheit zu reden, aber Paul wollte unbedingt erwachsen sein. Nur stellte Eitel ihn vor ein Problem: er war kein normaler kleiner Bruder, der zum großen Vorbild aufblickte und alles tat, was man ihm sagte. Stattdessen zupfte er an Berlins Klamotten herum und war im nächsten Moment hinter ihm. „Hässlich und arm!!“ war sein Kommentar zu Paul. Erschrocken drehte er sich um und blickte in stechend grüne Augen, die genauso aussahen wie die von Brandenburg. „Hässlich und arm?!“ wiederholte er Eitels Worte, und der Junge nickte überzeugt. „Genau, das bist du!! Du kommst um Meeeeilen-“ Dabei breitete er seine Arme so weit aus, wie er konnte. „-nicht an die Städte zuhause dran!! Ist ja klar, wenn du bei solchen Deppen hier aufgewachsen bist!!“ Brandenburg packte das Kind unerwartet fest am Kragen, dass Berlin ihn perplex ansah. So grob hatte er weder ihn noch Cölln jemals behandelt, und in der Stimme des Brandenburgers lag, so tief verborgen, dass Paul es fast nicht hören konnte, kalter Hass. „Du hast dich nicht im Geringsten verändert, Landplage.“ zischte er und Berlin lief es kalt den Rücken hinunter... wenn Brandenburg IHN jemals so angesprochen hätte... Eitels Ausdruck veränderte sich, er schien plötzlich emotional heftig involviert zu sein und schüttelte heftig den Kopf. „Geh weg, geh weg, geh weg!!“ schrie er und versuchte zappelnd, sich zu befreien. Einen Moment lang ließ Brandenburg ihn los, und sofort war er einige Meter entfernt und sah den jungen Erwachsenen mit geröteten Augen an. „Ich hasse dich so sehr, Mami!!“ „Ich bin nicht deine Mami, ich bin ein Mann!“ Paul sah Albrecht besorgt an und stellte sich zwischen ihn und das Kind. „Mensch, was willste denn von dem Kind, der kleine Troll macht doch nur Scherze... ist doch nur ein Kind...“ versuchte er, zu beruhigen, und tatsächlich, es schien zu funktionieren. Albrecht fasste sich an die Stirn und drehte sich weg, während er irgendetwas zu sich selbst sagte. Pauls sorgenvoller Ausdruck verschwand langsam, und er näherte sich Eitel, dessen Augen kurz verschwammen und einen bläulichen Stich annahmen. Der Kleine fing an, auf eine Art und Weise zu grinsen, die der von Preußen unglaublich ähnlich sah. Er schien sich wieder beruhigt zu haben. „Spielen wir Fangen, Berlin??“ fragte er fast unschuldig und Paul nickte sofort. Mit kleinen Kindern Fangen spielen, das beschäftigte sie immer, und Albrecht würde etwas Zeit für sich gebrauchen können. Er warf über den Rücken zu seinem Erziehungsberechtigten den Kommentar hin, dass er jetzt ein bisschen Zeit allein mit Eitel verbringen wollte, jedoch konnte er nicht sehen, ob Albrecht bestätigend nickte, denn Hohenzollern hatte ihn schon an den Handgelenken gepackt und mit sich fortgezogen, in Richtung des Stadtkerns, während Brandenburg allein auf dem Hügel etwas abseits stehen blieb. - Es war erst späte Nacht, als Paul mit dem Kleinen an der Hand zurückkehrte in das Haus, in dem er, Albrecht und manchmal auch Preußen lebten. Er war vollkommen verdreckt, erschöpft und fertig, während Eitel neben ihm aussah wie aus dem Ei gepellt. Kein Wunder: während Berlin durch schmutzige, zerstörte Gassen hatte schlüpfen müssen auf der Suche nach Eitel, war dieser immer wieder an verschiedenen Stellen aufgetaucht und hatte seinen selbsternannten großen Bruder zu sich hergewunken, ehe er kichernd verschwand, kurz bevor Berlin ihn zu fassen gekriegt hatte. Kurz, es war höchst erschöpfend und fast schon terrorisierend gewesen. Für den Bruchteil einer Sekunde machte Paul sich Sorgen, ob er und Cölln Albi nicht durch ähnliches geschickt hatten, aber das verdrängte er sofort wieder. Von draußen konnte man sehen, wie innerhalb des Hauses Lichter brannten und ein paar der Bediensteten als Silhouetten hastig umherhuschten. Berlin schlug die Tür auf. Eine einzige Nacht würde Eitel übernachten, dann würde er nach Hause zurückkehren müssen, denn man brauchte ihn dort. „Albi?“ rief Paul, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Der Flur war dunkel. Eitel kicherte los wie ein Wahnsinniger und handelte sich dadurch einen weiteren irritierten Blick von Berlin ein. Dieses Kind, so befand er fachmännisch, war sehr seltsam. Aus der Ferne war eine gedämpfte Stimme zu hören. Vermutlich aus dem Salon. Oh Nein, nicht der Salon... der Salon war ewig unbenutzt, verstaubt und mit Tierkot übersät, warum sollte Albrecht ausgerechnet in diesem Raum Selbstgespräche führen, oder mit einem Bediensteten des Haushaltes reden? Jedenfalls sollte Paul Bescheid geben, dass der kleine Gast wieder da war, sonst würde vielleicht dieser unsympathische Schwabe morgen ausrasten, wenn Albrecht ihm sagen würde, dass er Eitel verloren hatte. Und Albrecht würde sich nicht einmal gegen so einen fünfzehnjährigen, abgemagerten Schleimbeutel wehren können, da war Paul sich sicher. Er lief die kurzen Gänge entlang, und Eitel tauchte in regelmäßigen Abständen an seiner Seite, hinter ihm oder auch vor ihm auf und zog entweder seltsame Grimassen, oder er lief auf den Händen, aber Paul versuchte, sich nicht beirren zu lassen auf seinem Weg, obwohl er einmal stehen blieb und Applaus klatschte, als Eitel ein akobratisches Kunststück vorgeführt hatte. Dann erinnerte er sich jedoch, und nach wenigen Minuten waren sie vor der sonst spinnwebüberzogenen Tür zum Salon angelangt – die Spinnweben lagen auf dem Boden. Es war still. Paul öffnete vorsichtig den Türknauf. Gilbert blickte auf. Albrecht hatte ihm den Rücken zugewandt und stand am Fenster, daher hatte er auch nicht bemerkt, wie die beiden jungen Länder eingetreten waren. Nur Gilbert sah seine beiden Verwandten – Berlin, sein Juwel, seine herrliche Residenzstadt, und der kleine Eitel, sein Sohn, das vermutete Gilbert zumindest, irgendwie war er jedenfalls mit ihm verwandt – und nachdem er vom Kaminsims hinuntergesprungen war, mit eindrucksvoll flatterndem, zerrissenem Umhang, ging er einige eilige Schritte auf die beiden Jungen zu. Eitel seinerseits erschien direkt vor Preußen, der davon völlig unbeeindruckt schien und ihn sofort in die Luft riss, wo Eitel nur laut „Papaaaa!!“ schrie und Albrecht sich schockiert umsah. Dann verkroch er sich wieder am Fenster, als wolle er verschwinden, als wolle er von dieser schrecklichen Familienszene so schnell wie möglich fliehen. Paul betrachtete ihn kurz, dann wandte sich seine Aufmerksamkeit unweigerlich Preußen und Eitel zu. Sie spielten Vogel: Gilbert wirbelte Hohenzollern im Kreis durch die Luft und schmiss ihn ein paar Mal in die Luft, und noch während Eitel flog, war er plötzlich wieder in Preußens Armen, und er zog an den Federn von Gilberts Hut, die ihm der Ältere nur zu gern überließ. Berlin blinzelte ein paar Mal. Dann wandte er sich ab und ging an Albrechts Seite, und starrte mit ihm gemeinsam in den Nachthimmel hinaus, während hinter ihnen glockenhelles Lachen durch die Luft schall, und er hielt sich die Ohren zu. - In den Raum mit den kahlen Wänden drang nur wenig Licht, und dasjenige, das tatsächlich hineindrang, war staubig und unterkühlt. An dem dünnen Tisch saßen vier Menschen und ein einziges Glas, gefüllt mit einem stark alkoholischen Getränk, von dem Preußen gerade einen Schluck nahm. Er ließ seinen Blick über alle anderen Anwesenden gleiten. Preußen war so mächtig wie selten zuvor. Die Revolution von 1848 war gescheitert, alle, die sich aufgelehnt hatten, waren in den Boden geschmettert worden. Der inzwischen etwa zwölfjährige Hohenzollern lehnte an der Tischkante, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah keinen der anwesenden Erwachsenen an – sein Blick lag auf dem Schwarm Vögel, der vor dem hohen Fenster laut kreischend entlangzog. Baden hatte noch immer ein blaues Auge, für das Preußen höchstpersönlich sich verantwortlich zeichnen durfte, und in regelmäßigen Abständen rieb er sich den linken Arm, der seltsam schlaff an seiner Seite hing. Aber er wusste, wann er verloren hatte, und deswegen war er jetzt in diesem Raum, an der Seite von Württemberg, dessen Blick glasig auf Eitel lag. Preußen gackerte fröhlich. „Der Kleine hat viel zu lang als Gleichwertiger bei euch Saftsäcken gelebt.“ Keine Reaktion außer ein leises Seufzen, aber es war nicht zu sagen, von wem. Gilbert lehnte sich über den Tisch zu den ihm gegenüber sitzenden Regionen. „Ab heute erkenne ich ihn ganz offiziell als meinen Sohn an.“ Zufrieden lehnte er sich wieder zurück. Erneut reagierte absolut niemand; stattdessen betrachtete jeder scheinbar höchst interessiert einen unbestimmten Punkt in der Ferne, Eitel oder einen Schwarm Vögel. Gilbert konnte es gar nicht leiden, zu warten. Nach einer ziemlich kurzen, aber für seine Verhältnisse eher langen Zeit stand er auf und packte Eitel ruppig am Arm, der seinen Vater mit großen Augen ansah, die sich in Sekundenschnelle verschmälerten und einen rötlichen Glanz annahmen, bis er vollkommen aussah wie ein kleiner Preuße. „Aber ich lebe weiter hier.“ Baden sah auf von dem unbestimmten Punkt in der Ferne und beobachtete Eitel aufmerksam und mit verschwommenen Augen, ehe er Württemberg grob am Ärmel zog, dass dieser blinzeln musste und den glasigen Blick aus seinem Gesicht verwischen konnte. Preußen zuckte mit den Schultern. „Weißt du, wie egal mir das ist? Je weiter weg du bist, desto besser. Je mehr von mir auf der Welt verteilt ist, desto besser!“ Wieder ein gackerndes Lachen. Diesmal gab es aber nicht keine Reaktion; stattdessen sprang Baden auf, und weder seine Selbstbeherrschung noch die beschwichtigende Berührung des Schwabens konnten ihn nicht mehr am Riemen reißen. „Blöder Saupreuß, kannst du nicht 'mal deine blöde Labb halten! Der Zwerg ist nicht du, der Zwerg ist nicht preußisch!! Du- du solltest dankbar sein, dass-“ Gilbert lachte lauter. „Dass was? Dass du mich nicht zu Tode geblutet hast letztes Jahr?“ Noch lauter. „Du verfluchter, größenwahnsinniger-“ Eitel sah etwas hilflos hin und her, und seine Augen flackerten unkontrollierbar zwischen blau und rot, bis sie sich in einem tiefen Schwarz färbten und er augenblicklich zwischen die beiden Parteien trat. Der kleine Junge schien so viel älter zu sein, als er es war. „Ruhe. Ihr seid zu laut.“ Seine Stimme war eisig und nicht wie sonst schalkig-verspielt. Gilbert hob eine Augenbraue und Baden stolperte irritiert zurück. Württemberg betrachtete den Kleinen misstrauisch, versuchte, ihn am Oberarm zu berühren, aber das blieb erfolglos durch ein seidiges Wegschlüpfen des Jungen. Die pechschwarzen Augen fixierten einen weiteren Moment alle Erwachsenen. Dann schimmerten sie hellviolett und Eitel schien seine Kindlichkeit wiedererlangt zu haben. „Ich hol mein Steckenpferdle!“ Preußen rollte amüsiert mit den Augen – er hatte schon wieder vergessen, was passiert war, oder es machte ihm einfach nichts aus – und ergriff die Hand des Kindes, ohne an die anderen beiden noch einen weiteren Blick zu verschwenden. „Wir spielen Krieg, Eitel. Du bist der Soldat und ich dein Kommandant.“ Eitel warf schwungvoll die Arme in die Höhe. Als die beiden aus dem Zimmer getreten waren, erhielten Eitels Augen erneut einen dunklen Glanz. „Lass sie in Ruhe.“ zischte er, und Gilbert entschied, dass er das nicht gehört hatte, während die beiden Krieg spielten und es mit einer gebrochenen Rippe auf Eitels Seite, einem angeknaksten Knöchel auf Gilberts Seite und lautem Lachen endete. - Die beiden Brüder standen eng umschlungen auf dem kühlen Flur des Konferenzgebäudes und ein kleiner, abgemagerter Junge beobachtete Preußen aus kindlichen, dennoch eingefallenen Augen. Er spürte genausosehr wie Ludwig, dass Gilbert gehen musste – Preußen existierte auf dem Papier nicht mehr, er war aufgelöst worden. Nichtsdestotrotz stand Gilbert noch immer, er lebte noch, atmete noch und schenkte der Welt sein unnachahmliches, sicherlich wundervolles Wesen. Eitel drehte sich um, ohne sich zu verabschieden. Mit geschlossenen Augen und überraschend ruhigem Gang lief er aus dem Gebäude hinaus nach draußen. Er spürte nicht, ob die seine Haut treffende Luft warm oder kalt war, das einzige, was er spürte, war die eigene Leere. Wie lang würde es ihn wohl noch geben, wenn selbst sein großer, mächtiger Vater in die Knie gezwungen worden war? „He, Spätzle.“ Eitel sah auf. Augenblicklich wurden seine Augen dunkelblau und rund. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Württemberg, selbst ein Abbild von Zerstörung und Leid, hatte die dürre Hand, unter der sich die Knochen abzeichneten, auf Eitels Schulter gelegt. „Willst du bei mir bleiben?“ fragte er mit sanfter Stimme. Eitel nickte, denn seine Kehle war wie zugeschnürt und er konnte nichts mehr sagen. Traurig schlang er die Arme um Lukas' Hals und vergrub das Gesicht an der Brust des Schwaben. Schon jetzt spürte Hohenzollern, dass er niemals wieder allein leben würde. Er hatte immer gehofft, eines Tages so groß und mächtig zu sein, dass sich niemand mehr berufen fühlen würde, sich um ihn zu kümmern. Früher war er alleine ja auch gut zurechtgekommen! Früher, als Südwestdeutschland noch ein Flickenteppich aus Kindern dargestellt hatte, als sie in Rudeln miteinander gespielt und gegeneinander gekämpft hatten... aber damals, nach Napoleons Sieg, da waren die anderen gestorben; nur Baden und Württemberg waren übrig geblieben, und die Zwei waren schon so alt gewesen, dass sie keine guten Spielkameraden gewesen waren. Aber eventuell war es nicht so wichtig, unabhängig zu sein. Eitel erinnerte sich an warme Hände, die ihn hielten, als er die Grippe hatte; an scheinende Augen, die ihm sagten, dass alles in Ordnung sei; an einen runden Mund, der ihn mit einem liebevollen Kuss auf die Wange von Verantwortung befreite, und je älter Eitel wurde, je jünger er sich fühlte, desto mehr wuchs sein Wunsch nach einem starken, sicheren Zuhause. Hohenzollern nickte, und er fühlte das zufriedene Lächeln auf Lukas' Gesicht, als dieser seine Hand nahm und mit Eitel gemeinsam aufstand. „Dann gehen wir nach Hause...“ Viele Meter entfernt wartete ein höchst zerstört und zermürbt wirkender Baden an der Seite einer Eisenbahn. Sein Mund war zu einem schmalen Strich verzogen, aber er lächelte matte, als er sah, dass Eitel den Umständen entsprechend gesund und munter wirkte. Als die anderen beiden bei ihm ankamen, ergriff Eitel Maximilians Hand und sie stiegen zu dritt in den wartenden, angerosteten Zug. Er drehte sich nicht um, und er sah nicht, wie Gilbert, von seinem Bruder begleitet, das kahle, düstere Berlin mit leerem Blick ansah. - Das zarte, aufkeimende Familienglück vertrocknete schnell wieder zu einem kleinen Saatkorn. Nach wenigen Jahren, während denen die Länder sich vom Krieg erholten, brach die Situation und nur Hohenzollern war noch überzeugt davon, die wenigen glücklichen Momente auch in Zukunft zu sehen. Obwohl es anfangs tatsächlich so aussah, als könnte es zu einer Annäherung zwischen Baden und Württemberg kommen, zerplatzte diese Hoffnung jäh mit den Plänen eines fusionierten Südweststaates; die Erfüllung Eitels Wunsch nach einer ganzen Familie, mit einer Mutter, die ihn und seinen Vater nicht hasste, mit ganz normal verheirateten Eltern und mit Liebe, zerplatzte. Die Realität sah anders aus, das einzige, was ihm gewährt bleiben sollte, war die Liebe. Vor wenigen Tagen war der Vertrag geschlossen worden. Zu dritt saßen sie abends am Tisch. Maximilian stocherte demotiviert in einem tiefen Teller Spätzle mit Grütze herum und murmelte unverständliche, aber unmissverständlich spitzzüngige Kommentare über das Essen und Schwaben. Lukas schien davon gänzlich unbeeindruckt, während er aß. Dennoch warfen sich die beiden fast konspirative Blicke zu. Eitel versuchte tapfer, zu essen, aber er begann, wie schon am Tag zuvor, zu husten. Er wusste nicht, was mit ihm geschah. Nichts schmerzte, all seine Wunden verheilten, er fühlte sich kräftig und gesund. Zwei besorgte Blicke lagen auf ihm, aber Eitel hielt sich die Hand vor den Mund und steckte die Gabel voller Energie in die Pampe vor seiner Brust. Und dennoch war da diese Krankheit, die ihn scheinbar in ihrer Hand hielt, denn er hustete und keuchte und seine Kehle fühlte sich kratzig an. Aber Hohenzollern hatte schon viel, viel Schlimmeres durchgestanden, diese kleine Erkältung war nichts Nennenswertes. Einen Tag später lag er in seinem kleinen Bettchen mit der dünnen, mehrfach geflickten Bettdecke und starrte aus glasigen Augen die Decke an. Er verstand nicht. Seine fragilen, spindeldürren Finger klammerten sich an der warmen Hand Maximilians fest, der gemeinsam mit Lukas an dem Bett saß. Er verstand nicht. Alles sollte gut sein. Kein Krieg mehr. Er war ein ganz normaler Junge, er hatte Eltern, die ihn liebten und die ihn nicht verstießen. Zum ersten Mal hatte er eine Familie. Verschwommene blaue Augen versuchten, in ihre Spiegelbilder zu blicken, aber schwächlich blieb Eitels Blick an der Decke hängen. „Waru-“ setzte er mit heiserer Stimme an. „Shh. Ruhig.“ murmelte Württemberg beruhigend. Er hatte die Ellbogen auf den Knien aufgestützt und den Kopf niedergeschlagen auf seine Hände gelegt, und er blickte Eitel unentwegt an. Sie hatten gehofft, waren dem schmalen Streifen der Hoffnung am Horizont gefolgt, aber der Weg war ihnen unter den Füßen abgebröckelt: vielleicht, vielleicht hätte sich Hohenzollern in dem neuen Südweststaat erhalten können als eigenständige Einheit. Wahrscheinlich würde er verschwinden. Beide hatten sie gewusst, dass es so kommen würde, dass Eitel sterben musste, wenn der Südweststaat geboren wurde. Beide hatten sie es nicht realisieren wollen. Warum sollten sie das auch tun? Für Baden war diese Fusion an sich schon schrecklich und das absolut allerschlimmste Szenario, was irgendjemand sich jemals hatte ausmalen können, da musste er nicht auch noch ständig daran denken, dass der Zwerg dabei sterben musste. Für Württemberg war diese Fusion gut, sie war richtig und die einzige Option, da wollte er nicht daran denken, dass Spätzle dabei sterben musste. Hohenzollern selbst hatte mit all seiner Kraft für Baden-Württemberg gekämpft. Obwohl er bei seinem Vater gelebt hatte, war er ständig Baden in den Ohren gelegen, dass der Südweststaat der einzige Weg wäre, ihm eine Zukunft geben. So wie es aussah, war genau das Gegenteil eingetroffen. Seine Zukunft verschwand, als sein Wunsch nach seiner Familie erfüllt wurde. „Nein, warum...? Warum fühle ich mich so...“ Eitel schloss die Augen, und er spürte, wie Baden seine Hand fester drückte. „... müde...“ „Das ist-“ Die Stimme von Maximilian war, kaum merkbar, von Tränen gezeichnet. „-das ist das Glück. So viel Glück, Zwerg, deswegen bist du ganz erschöpft. Bist du nicht glücklich? Wir sind zusammen, wir sind alle zusammen.“ Ein Zittern huschte über die Stimme wie ein dunkler Schatten, aber Eitel bemerkte es nicht, wollte es nicht bemerken. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem matten Lächeln. „Ja, ich bin- ich bin-“ Er hustete schwach. Württemberg lehnte die Stirn an Badens Schulter an und verbarg das Gesicht noch tiefer in seinen Händen. „-glücklich...“ Das war er. Nichts tat Eitel weh. Er hatte endlich, was er schon immer gewollt hatte, seit die Mutter, an deren Gesicht er sich nicht erinnern konnte, ihn im tiefsten, dunkelsten Wald auf den Boden gesetzt hatte und weggerannt war und ein schreiendes Baby zurückgelassen hatte. Als Eitel aufhörte, zu atmen, und ins Nichts zurückkehrte, waren Badens Tränen versiegt und die von Württemberg fingen an, zu fließen. Hohenzollern verschwand aus den Köpfen der Menschen. Hohenzollern verschwand vom Antlitz der Erde. Hohenzollern verschwand nicht aus den Erinnerungen derjenigen, die sich um ihn gekümmert hatten, die jener Nervensäge ihr Herz geöffnet hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)