All Your Other Ways von -Moonshine- ================================================================================ Kapitel 2: - John - ------------------- John streckte seine Beine aus und reckte sich. Erst jetzt merkte er, wie müde er war. Seit Stunden schon suchte er in der internen Datenbank und zusätzlich im Internet nach einem geeigneten Präzedenzfall für sein aktuelles Problem. Um genauer zu sein war es nicht sein Problem, aber er war derjenige, der es für seine Kundin lösen sollte. Es war sein Job als Rechtsanwalt, Probleme zu lösen. Spezialisiert auf Familien- und Erbrecht waren seine Fälle oftmals eine harte Nuss, selbst für ihn, und nicht immer war es einfach, für seine Mandanten so lebenseinschneidende Entscheidungen zu treffen. Seine Assistentin war schon längst nach Hause gegangen, draußen war es bereits dunkel, und als John auf die Uhr schaute, erschrak er. Sie zeigte schon nach acht Uhr abends an. Er erhob sich von seinem Stuhl und glaubte zu hören, wie all seine Knochen und Gelenke knackten. Wie lange hatte er hier gesessen? Stunden? Es kam ihm vor wie Tage. Höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Als er durch die Gänge des Gebäudes ging, bemerkte er, dass in den Büros kein einziges Licht mehr brannte. Nur eine Putzfrau, die er - er musste es zu seiner Schande zugeben -, schon mit Namen kannte, lächelte ihm mitleidig zu, als er ihr winkte. "Verdammt noch mal, John", murmelte er zu sich selbst. "Du musst endlich aufhören, so viel zu arbeiten... das ist nicht normal. Und", fügte er noch kopfschüttelnd hinzu, als ihm bewusst wurde, dass er mit sich selbst redete, "jetzt führst du auch noch Selbstgespräche." Er fuhr mit dem Aufzug nach unten und stellte erleichtert fest, dass das Licht im Foyer noch brannte, aber die Empfangsdame - Kylie -, packte schon ihre Tasche zusammen. Er kam in just dem Augenblick aus dem Lift, in dem sie sich ihren Lippenstift nachzog. Erschrocken ließ sie ihn aus der Hand fallen, als sich die Aufzugtüren öffneten, und wurde dann leicht rot. "Oh, Mr. Davies. Sie haben mich erschreckt." Sie kicherte verlegen. "Was machen Sie noch hier? Ich wusste nicht, dass noch jemand da ist." John schenkte ihr ein freundliches Lächeln, aber ihre Worte nagten an ihm. War er wirklich so ein Workaholic? Sie musste ja glauben, dass er keinerlei Privatleben hatte. "Tut mir leid. Ich hab ein wenig die Zeit vergessen, scheint mir. Gehen Sie heute noch aus?" Geh nach Hause und halt doch nicht unnötig mit Small Talk auf, sagte er sich, aber er konnte nicht anders. Sie nickte erfreut und verschwand hinter ihrer Empfangstheke, um den Lippenstift vom Boden aufzuheben, tauchte gleich darauf aber schon wieder auf. "Ja. Mein Freund und ich feiern Einjähriges." "Oh. Na dann, alles Gute für Sie." Er nickte ihr zu und kehrte Kylie den Rücken. "Bis Montag, Mr. Davies!", rief sie ihm gutgelaunt hinterher. Am Kaffeeautomaten blieb John dann doch stehen und überlegte, ob er sich einen Kaffee leisten sollte, entschied sich dann dafür, denn er hatte einen langen Tag gehabt und es verdient, befand er. Er würde sich ein Taxi nach Hause rufen, ebenfalls als Belohnung - außerdem war er damit schneller -, und die U-Bahn heute einfach links liegen lassen. Ihm war bewusst, dass er seinen Kaffee immer mit viel zu viel Zucker trank, aber so schmeckte er ihm am besten. Seine Mutter sagte immer, er würde noch mal irgendwann einen Zuckerschock erleiden, aber bis es soweit war, würde sein Kaffee weiterhin zu 50 Prozent aus der weißen, süßen Masse bestehen. Sein Mobiltelefon klingelte, als er auf das Außengelände trat, und während er in seiner Tasche herumkramte und es suchte, da es irgendwo in den Tiefen derselben verschwunden war, schwappte die braune Flüssigkeit über den Becherrand auf seinen Anzug. "Mist", schimpfte er und wischte sich mit seinem Ärmel über das kaffeebefleckte Jackett, was das Ganze auch nicht besser machte. Sein Handy klingelte munter weiter, doch erst, nachdem er seine Tasche und den Kaffee auf dem Boden abgestellt und sie gründlich durchsucht hatte, konnte er es ans Tageslicht befördern. Die Passanten warfen dem auf dem Asphalt hockenden Mann neugierige Blicke zu, doch John beachtete sie gar nicht. Konzentriert drückte er auf die Annahme-Taste. "Hallo?" "Hallo John. Dad hier." Mist. Wieso schaute er nie auf's Display? Das musste er sich dringend angewöhnen, dann blieben ihm Überraschungen wie diese hier in Zukunft erspart. "Hallo Dad..." Er bemühte sich, seine Stimme nicht allzu gequält klingen zu lassen. Fakt war einfach, dass er und sein Vater keinen allzu guten Draht zueinander hatten. Früher war das einmal anders gewesen, aber nachdem Mr. Davies senior seine Frau mitsamt Kindern verlassen und sich eine neue Frau und Familie gesucht hatte, war die Leitung zwischen ihnen irgendwie gestört. John wusste, dass das auch an ihm lag, aber er konnte die Distanz, die sein Vater und er geschaffen hatten, einfach nicht überbrücken. Noch immer nahm er ihm sein Weggehen übel und über die Jahre hinweg hatten sie sich einfach auseinandergelebt. "John, ich will dich nicht stören. Ich wollte nur fragen, ob du zu unserer Hochzeitstagsfeier kommst? Caroline würde sich sehr freuen und deine Geschwister wollen dich auch mal wieder sehen." Meine HALBgeschwister, sagte John sich in Gedanken, sprach es aber nicht laut aus. Und dann fragte er sich: Und was willst DU, Dad? Caroline war die neue Frau seines Vater - oder nicht mehr neu, sondern vielmehr schon fünfzehn Jahre lang. Sie hatten zwei Kinder: Oliver und Kea, fünfzehn und neun Jahre alt. John fühlte keinerlei Verbindung zu seinen Halbgeschwistern, und er hatte ja auch schon einen Bruder, und der reichte ihm. Mit Phil war sein Geschwisterbedarf für immer gedeckt. "Wann ist die doch gleich?", hakte er kleinlaut nach. Er wusste, was sein Vater jetzt dachte. Dass ihm nicht einmal so etwas wichtig genug war. Und ja. Sein Vater hatte damit vollkommen recht. Eine Weile war es still am anderen Ende der Leitung. Als Mr. Davies senior wieder sprach, klang er so, als müsste er die Zähne zusammenpressen, um nicht laut zu werden. "Morgen." Ups. Nicht gut. John grinste verlegen vor sich hin. "Oh, Dad. Sorry, aber ich werd's nicht schaffen. Ich habe..." Er durchforstete sein Gehirn im Schnelldurchlauf nach einem guten Grund. "... so einen Fall. Geht um eine Frau, die Unterhalt für ihren Mann zahlen muss, obwohl er sie geschlagen hat und-" "Ja, ja", winkte sein Vater ungeduldig ab. Er hasste solche Geschichten. Er hatte gewollt, dass John Arzt wurde. Anwalt war für ihn ein "Rechtsverdreher", der von den Armen nahm und den Reichen gab. Der Anti-Robin-Hood der neuen Generation also. John beglückwünschte sich zu seinem Erfolg. "Du siehst... ich muss das ganze Wochenende arbeiten. Und dabei wäre ich wirklich so gerne gekommen..." Okay. Übertreib es nicht, warnte er sich und entschied, dass es jetzt besser war, die Klappe zu halten. "Na ja, wenigstens kommt Phil", brummte sein Vater missmutig und John fühlte, wie ihn das ein wenig kränkte. Er wusste nicht, woran es lag. Dass sein Bruder einen besseren Draht zu ihrem Dad hatte als er oder dass sein Bruder ihrem Dad, dem Verräter - wie John ihn seit seinem zwölften Lebensjahr insgeheim nannte -, gar nicht übel nahm, dass er ihre Familie so jämmerlich im Stich gelassen hatte. Ihre Mutter hatte seitdem nie wieder geheiratet, und dass es einen anderen Mann in ihrem Leben gegeben hätte, davon wusste John auch nichts. "Ja. Gut für euch...", murmelte er leise und besann sich dann eines Besseres. "Ich muss jetzt nach Hause, Dad. Viel Spaß morgen." "Du bist noch auf der Arbeit? Mein Gott", regte sein Vater sich auf, "hab ich einen Workaholic großgezogen oder was?" John runzelte verärgert die Stirn. DU hast mich gar nicht großgezogen, Dad. Das hätte er zumindest gerne gesagt. Aber er tat es nicht. In diesem Moment ertönte das Anklopfzeichen, das einen anderen Anruf auf seinem Handy ankündigte. "Oh, Dad. Da ruft grad jemand an, sorry. Wir reden wann anders weiter. Bis dann!" Erleichtert nahm er das andere Gespräch an. Wer immer es war, es konnte nicht schlimmer sein als mit seinem Dad zu telefonieren. "Wieso dauert das so lange, bis du abnimmst?", beschwerte sich sofort eine Männerstimme. Luke. Ein guter Freund, den John in der Universität kennen gelernt hatte. "Ich hab schon angefangen, Wurzeln zu schlagen." "Mein Dad war grad dran", erklärte er. "Was gibt es denn so Wichtiges?" "Lucky and the Lukes haben heute ihren ersten Auftritt - du musst dir das reinziehen." John lachte schnaubend. "Das ist ein schrecklicher Name." "Ach, vergiss den Namen! Es geht um die Musik. Irgendwie muss man sich ja nennen. Also, kommst du jetzt?" Eigentlich wollte John verneinen, aber dann hörte er sich selbst etwas Anderes sagen. "Wo ist das?" Luke lachte. Er war sich seiner Sache schon sicher. "Im Flyfisher's. Mayfair, Brooke Street. Komm einfach dahin. Der Gig ist um neun." John kratzte sich am Hinterkopf und gähnte. Ihm fiel wieder ein, wie müde er war. "Ich weiß nicht. Eigentlich will ich nach Hause und schlafen." "Sei kein Softie. Es ist gerade mal nach acht, bist du 'ne alte Lady oder was?" Er rollte die Augen. Luke glaubte immer, es wären seine anstachelnden Provokationen, die die Leute dazu bewegten, alles zu tun, was er wollte, aber im Grund hatte John jetzt einfach nicht mehr die Nerven, noch großartigen zu diskutieren. Es war einfacher zuzustimmen und sich frühzeitig zu verdrücken. Er konnte sich vielleicht einen oder zwei Songs anhören und sich dann immer noch ein Taxi nach Hause rufen. "Okay. Ich bin da." "Klasse. Sag du gehörst zur Crew und komm direkt nach hinten durch, ich geb dir ein Bier aus." John lachte. "Okay. Bis gleich." Als er aufgelegt hatte, fiel ihm wieder ein, dass seine Anzugjacke und sein Ärmel Kaffeeflecken aufwiesen. Er wünschte sich, sofort nach Hause zu fahren, zu duschen und zu schlafen. Aber jetzt war es zu spät. Erschöpft zog er das Jackett aus und lockerte die Krawatte. Sein weißes Hemd war sauber und er musste nun gut aufpassen, dass er es nicht ebenfalls mit Kaffee bekleckerte. Die mittlerweile erkaltete Flüssigkeit stürzte er mit nur wenigen Schlücken hinunter, sodass sie ihm nicht mehr zur Gefahr werden konnte, und machte sich dann, nur in einem kurzärmeligen Hemd, durch den rauen Februarwind schicksalsergeben auf den Weg zum "Flyfisher's". Hosted by Animexx e.V. 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