Unsterblich von Flordelis (My Immortal ~ Eternal Chronicles) ================================================================================ Kapitel 30: Im Inneren ---------------------- Leana atmete erleichtert auf, als sie feststellte, dass Hyperion den Eindringling nicht verletzt hatte, weil dieser tatsächlich stehengeblieben war. Im Moment standen sie beide schweigend nebeneinander, die Klinge schwebte immer noch gefährlich nahe vor Ayumus Kehle, aber zumindest für den Augenblick spürte sie keine größere Gefahr. In einem ersten Impuls wollte sie fragen, was Ayumu an diesem Ort zu suchen hatte, aber schon gleich darauf wurde ihr bewusst, wie unsinnig diese Frage war, weswegen sie eine andere stellte: „Warum bist du so unvorsichtig?“ Immerhin hätte Hyperion ihm einfach die Kehle aufschlitzen können oder möglicherweise wäre ein anderer Wächter vor Ort gewesen, der weniger zimperlich war und nicht auf Leana hörte. Ayumu blickte sie empört an. „Ich wollte dich retten! Ist das etwa der Dank dafür?“ „Natürlich nicht“, erwiderte sie schnell. „Aber es ist nun einmal äußerst gefährlich hier, das solltest du doch wissen. Ich wurde nicht entführt, damit man mich einfach wieder befreien kann.“ Er schob die Unterlippe vor als wolle er schmollen, ließ es dann aber doch bleiben und entspannte sich wieder – ehe ihm erneut bewusst wurde, dass er gerade immer noch von Hyperion bedroht wurde. Der Ninja senkte seine Waffe nicht, egal wie eindringlich Leana ihn darum bat, weswegen sie es schließlich seufzend aufgab. „Er ist stur.“ Genau wie Zetsu es gewesen war, vor ihrem Treffen vielleicht sogar noch mehr, wenn sie den Erzählungen der anderen Mädchen und denen von Nozomu Glauben schenken wollte. Wenn sie so darüber nachdachte, war es gut möglich, dass die Splitter nicht einfach willkürlich Eigenschaften von Zetsu besaßen. Der Junge, der bei ihr gewesen war, als sie geträumt hatte, musste sein kindliches Ich gewesen sein; Hyperion musste der Zetsu sein, der allein und ohne Freunde durch die Welten gereist war, auf der Suche nach Rache; Eos war womöglich der Zetsu, der mit der Brigade unterwegs gewesen war – und Ayumu war schließlich ihr Zetsu. Setzte man all diese Teile, die einzeln so verrückt, liebenswürdig, seltsam und furchteinflößend waren, zusammen, bekam man das vollständige Bild, das sie so sehr vermisste und irgendwann wiederzusehen hoffte. „Mir egal, ob er stur ist“, erwiderte Ayumu und unterbrach damit ihre Gedanken. „Wenn es sein muss, werde ich ihn töten, um dich wieder mitzunehmen!“ Leana wollte ihn darauf hinweisen, dass er das ohnehin nicht schaffen würde, ließ es aber bleiben, damit er sich nicht noch aufregte und die Situation damit verschlimmerte. „Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird. Selbst wenn du Hyperion tötest, gibt es da draußen noch Wesen, gegen die du nicht bestehen kannst mit deinem Schwert.“ Und sie auch nicht, da ihr Orichalcum-Name noch immer inaktiv war. „Bist du allein hier?“, fragte Leana. Ayumu warf einen kurzen Blick zu Hyperion, entschied dann, dass es sicher war, zu sprechen und schüttelte den Kopf. „Nein, Tokimi ist auch irgendwo hier. Warum fragst du?“ Immerhin war sie also umsichtig genug gewesen, ihn nicht allein in ein Gebäude voller Lakaien gehen zu lassen. Vielleicht kämpfte sie auch gerade gegen diese? Leana wusste es nicht, aber immerhin fühlte sie sich nun ein wenig sicherer. „Hattest du geplant, hier einfach aus der Tür rauszumarschieren?“, fragte sie weiter. „Im Prinzip, ja“, bestätigte er. „Zumindest meinte diese Tokimi, dass es die beste Methode wäre. Und auf einmal fühlte sie sich selbst zuversichtlich. Sie würden es schaffen, wenn sie gemeinsam gehen würden, solange Tokimi die Lakaien in Schach hielt. „Gut, dann los.“ Ayumus Miene hellte sich schlagartig auf. Er lief auf die Tür zu, ohne Hyperions Klinge weiter zu beachten und er rührte seine Waffe ohnehin nicht, so dass sie wie eine leere Drohung in der Luft schwebte. Da er sich nicht rührte, bedeutete Leana ihm mit der Hand, ihr zu folgen. „Dich nehmen wir natürlich mit, also komm.“ „Warum willst du ihn mitnehmen?“, fragte Ayumu mit abweisender Stimme. „Er hat dich erst entführt und wird dich wieder zurückbringen, sobald wir draußen sind!“ „Das glaube ich nicht.“ Es war nicht nur die Tatsache, dass er ein Teil von Zetsu war, nachdem sie die letzten Stunden mit ihm verbracht hatte, war sie – auch ohne jedes Wort von ihm – davon überzeugt, dass er mehr als nur der Diener von Eos war und sie wollte ihm die Möglichkeit geben, das auch wirklich auszuleben. Tatsächlich gehorchte er ihrem Befehl und schloss sich ihnen mit wieder eingesteckter Klinge, an, als sie durch die Tür auf den Gang hinaustraten. Wie Leana erwartet hatte, gab es keinerlei Lakaien, die auf sie lauerten. Etwas anderes, möglicherweise Tokimi und ihre hochrangigen Shinken, zogen sie an, fort von ihnen, was ihnen nur recht sein konnte. Ayumu übernahm rasch die Führung, um sie nach draußen zu lotsen, was auch gut funktionierte – bis Hyperion an einer Kreuzung plötzlich innehielt und dann unvermittelt in eine andere Richtung davonhuschte. Ayumu ignorierte das scheinbar, bis Leana ihn am Arm packte. „Warte! Ich glaube, wir sollten Hyperion folgen.“ „Warum? Jetzt, da wir ihn los sind, können wir einfach abhauen.“ Doch sie schüttelte entschieden den Kopf. „Das können wir nicht machen, wir müssen ihm hinterher, ich spüre, dass es wichtig ist.“ Ayumu blickte in die Richtung, in die Hyperion verschwunden war, er runzelte nachdenklich die Stirn, immer noch sichtlich abgeneigt. „Ich denke eher, wir sollten verschwinden, das scheint gefährlich zu werden.“ Da er nicht nachzugeben schien, sie aber auch nicht riskieren wollte, dass sie Hyperions Spur verlor, fuhr sie herum und rannte den Gang entlang, ohne auf Ayumus Protestrufe zu reagieren. Sie wollte herausfinden, was Hyperion abgelenkt hatte und gleichzeitig gab es da diese Ahnung in ihrem Inneren, die ihr verriet, dass es wichtig war, sich anzusehen, was es dort gab. Sie war derart schnell unterwegs, dass Ayumu sie erst einholen konnte, als sie bei Hyperion wieder innehielt. Er stand vor einem doppelflügigen Tor, hinter dem etwas lebte. Leana konnte es spüren, wenn auch nur undeutlich. Ihr Orichalcum-Name pulsierte im Gleichklang mit diesem Etwas, sie glaubte, es zu kennen, noch bevor sie es gesehen hatte. Aber worum handelte es sich nur? „Bist du jetzt glücklich?“, fragte Ayumu. „Es ist eine Tür. Gehen wir!“ Ohne ihn zu beachten, schritt sie darauf zu und öffnete beide Flügel gleichzeitig, um einzutreten und nachzusehen, was sich im Inneren befand. Nur zögerlich trat Tokimi näher an die Wand heran. Sie hatte erwartet, dass das Innere des Reaktors aus einem riesigen Kristall mit einem Shinken darin bestehen würde, so wie es in Phantasmagoria der Fall gewesen war und vielleicht noch in einigen anderen Welten, in denen Mana gezielt als Energiequelle genutzt wurde. Aber dieser Reaktor war kein riesiger, ausladender Raum, es war vielmehr eine Kammer aus der verschiedene Leitungen abgingen, um das Gebäude mit Energie zu versorgen. Die nächste Wand, auf die Tokimi zuschritt, war nur drei Meter entfernt, weswegen sie das, was es dort zu sehen gab, äußerst deutlich vor sich beobachten konnte. Mit den Extremitäten und Eisenketten an der Wand befestigt, hing dort der ausgestreckte Körper eines puppengroßen Mädchens mit fliederfarbenem Haar, ihre Augen waren geschlossen, sie schien nicht bei Bewusstsein zu sein. Eine Aura, ähnlich der eines Shinjuu, ging von ihr aus – und bei genauerem Hinsehen erkannte Tokimi sie tatsächlich als Zetsus Shinjuu wieder. Damals hatte sie nicht viel von ihr sehen können, weswegen sie für einen Moment glaubte, sich zu irren, aber es kam nicht oft vor, dass sie das tat, daher verwarf sie diesen Gedanken sofort wieder. Die Leitungen schienen aus ihrem Rücken hervorzukommen, grüne Energiepuls-Einheiten strömten durch die durchsichtigen Rohre und verteilten sich im ganzen Gebäude. Sie wollte Nanashi von den Fesseln befreien, doch schon nach wenigen Schritten hörte sie plötzlich, wie jemand hinter ihr in den Raum trat. Die Aura, die von dieser anderen Person ausging, war ihr nicht vollkommen unbekannt, sie ähnelte jener, die sie bei Ayumu, Hyperion und auch Zetsu selbst gespürt hatte. Also konnte es nur eine sein. Sie drehte sich um, damit sie Eos gegenüberstehen konnte. Die Präfektin, deren ungemachte Haare und Kleidung verrieten, dass sie gerade erst aufgestanden war, starrte sie wütend an, ihr goldenes Auge funkelte furchteinflößend, aber Tokimi blieb vollkommen ruhig. Sie wusste, dass es nichts zu befürchten gab, denn sie hatte bereits mehrere Visionen einer möglichen Zukunft gesehen und in keiner davon war sie ihrem Gegenüber unterlegen gewesen. „Wer bist du?!“, fauchte Eos, dabei bewegte sie unruhig das Schwert in ihrer Hand auf und ab. „Ich bin Tokimi Kurahashi“, antwortete sie arglos mit souveräner Stimme. „Ich weiß, dass du die Präfektin Eos bist und ich bin nicht hier, um dich zu verärgern.“ Sie schnaubte wütend. „Gut, dass du das weißt, aber genauso solltest du wissen, dass ich bereits verärgert bin, ungeachtet deiner Intention.“ In einer blitzartigen Vision sah Tokimi, wie Eos sie mit erhobenem Schwert angreifen würde. Sie trat einen Schritt zur Seite und tatsächlich ging der Angriff ins Leere. Wütend hob die Präfektin wieder den Blick. „Was...?!“ „Ich bin nicht hier, um zu kämpfen“, erklärte Tokimi. Sie könnte Eos problemlos töten, ihre Visionen zeigten ihr das in verschiedenen Ausführungen, aber so wie Leana auf diesen Vorschlag reagiert hatte – und das, was sie als deren Reaktion auf Eos' Tod sah – überredete sie dazu, es lieber sein zu lassen, solange es nicht sein musste. „Was sollen all diese Vorrichtungen?“, fragte die Eternal und machte dabei eine ausholende Handbewegung, um den gesamten Raum einzuschließen. „Was tust du hier?“ „Wonach sieht es denn aus? Ich gewinne Energie für diese Burg. Irgendwie muss sie ja versorgt werden.“ „Aber woher kennst du diese Technik?“ Niemand anderes in dieser Welt setzte sie ein, also konnte sie diese nicht von irgendjemandem erfahren haben. Das bestätigte ihr auch Eos' Reaktion, denn sie zuckte mit den Schultern – und im nächsten Moment wirkte sie plötzlich sehr lebhaft, als wäre sie daran interessiert, ihr Wissen zu teilen: „Ich kenne sie eben, sie kam mir in einem Traum. Früher hab ich dafür Lakaien benutzt, die mir quasi zugeflogen sind, aber das war reichlich instabil. Und dann kam dieses Wesen daher – und es ist perfekt!“ Ihr Auge glitzerte begeistert und stolz auf sich selbst, während sie Nanashi betrachtete. „Und dann gibt es noch einen Ersatz, in großer Form, weil es zwei von ihnen gibt! Ist das nicht ungemein praktisch?!“ Ihre Stimme ging einige Oktaven höher, während sie sich in Begeisterung hineinredete. Aber obwohl sie nun lächelte, fiel die bedrohliche Aura nicht von ihr ab, was Tokimi weiterhin aufmerksam bleiben ließ. Ihre Visionen blieben aus, doch nicht einmal das ließ sie entspannen. „Gemeinsam mit Leana werde ich bald diese Welt beherrschen! Das ist es, was ich mir vorgenommen habe! Ich brauche meine Erinnerungen nicht mehr, wenn ich erst einmal eine Welt beherrsche und noch dazu Leana als endlose Manaquelle bei mir habe!“ Sie verfiel in ein wahnsinniges Lachen, das Tokimi mit dem Rücken bis zur Tür zurückweichen ließ. Doch ehe sie herumfahren und fliehen konnte, wirbelte Eos herum und fixierte sie wuterfüllt. „Du wirst hier nicht mehr wegkommen, dafür werde ich sorgen! Niemand verhindert, dass ich meinen Plan erfülle, nicht einmal jemand wie du!“ Sie hob das Schwert wieder, doch ehe sie angreifen konnte, hörte Tokimi, wie sich die Tür hinter ihr öffnete und im nächsten Moment erklang Leanas Stimme: „Was ist hier los?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)