Regen von _Yang ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Mauer. Solide, raue Steinmauer. Kaum hatte er den Gedanken gefasst, auf ihren schmutzigen Ockerton zuzugehen, kam sie ihm entgegen und drückte sich unsanft in seine Handflächen. Er prallte mit der Schulter gegen sie. Umarmte die kalten Klinker. Die Stille dröhnte in seinen Ohren. Unbarmherzig übte der Boden seine Anziehungskraft auf ihn aus. Er griff nach einer Kante, fühlte Erde und stieß eine Topfpflanze um. Klirren neben seinen Füßen. Langsam ließ er sich zu Boden und versuchte die Erdanziehungskraft mit dem umklammerten Fenstersims auszugleichen. Dann lag er unbequem. Schmerzen vom Sturz. Kälte umfing ihn wie eine netzartige Falle. Kraftlosigkeit. Der kalte Boden unter ihm lämte seinen Körper, aber noch einmal aufzustehen... Als er am ganzen Leib zitterte, wachte er wieder auf. Die Welt befand sich in einer grässlichen Schieflage. Das musste er ändern. Ja, ändern. Wie ändern? Als er sich aufsetzte, dreht sie sich übelkeitserregend und er würgte. Oh, die Orangen vom Mittag. Bedrohlich ragten über ihm die Dächer in den Himmel. Blinde Einfamilienfenster sahen auf ihn herab. Rabenvater, schrien sie ihn an. Er riss die Topfpflanze heraus und kübelte in die Überreste. Machte sich schöner auf dem Fenstersims. Er war kein Vater. Die Vorwürfe. Am Anfang noch lauthals, Zeter und Mordio brüllend. Dann immer leiser, bis sie schließlich verstummten. Ab jetzt nur noch Blicke. Stumme Blicke. Resignierende Musterung. Blicke wie aus blinden Fenstern. Nicht schon wieder. Hintergründige Verachtung? Aber was war er schon, wenn nicht verachtungswürdig. Ein leises, kratziges Heulen entwich seiner Kehle. Die Klage eines schäbigen, humpelnden Wolfes. Er fror erbärmlich. Die Kälte hatte sich durch seine Kleidung bis tief in seine Knochen gefressen. Sein Atem verpuffte zu Wölkchen. Hier konnte er nicht bleiben. Er musste weiter. Wohin? Über ihm der schwere Himmel. Abgrundblau drückte ihn nieder. Er humpelte die Gasse entlang. Immer eine Hand am Stein. Ein Schleier vor seinen Augen, dünn wie Regen. Die Topfpflanze! Grün auf Schmutziggrau. Alle Ranken hilflos von sich gestreckt ertrank sie in der Pfütze. Liam konnte sie nicht liegen und verenden lassen. „Ein Bier“, artikulierte er schwerfällig und nahm umständlich auf dem Barhocker Platz. Schwungvoll wie dramatisch knallte er die Pflanze auf den Tresen. „Bezahlung!“, erklärte er dem scheelen Blick der Barkeeperin. Die Realität krümmte sich vor seinen Augen. Verspiegelte Flaschenregale beugten sich einschüchternd über ihn. Er war ein Fliehender in den Reihen der Verblendeten. Er war ein Praktizierer das alltäglichen Eskapismus. Er war auf dem Klo. Vornübergekrümmt, von Krämpfen geschüttelt. Als könnte er alles Schlechte herauswürgen. Aber das Verdorbene trieb seine Klauen in seine Eingeweide und ließ nicht los. Loslassen. Freilassen. Weiterwürgen. Nur für diese Nacht. Sie warfen ihn hinaus. Schwerfällig hatten sie seine hochgewachsene Gestalt gestützt. Liam sah teilnahmslos zu. Nicht mehr als ein Beobachter seiner selbst. Er stand neben sich. Zurück in das gefühlslose Nasskalt. Die Wasseroberfläche schlug Wellen, schlug gegen seine Kleidung. Weiter. Wohin? Elend umarmte ihn. Da stand er wieder am Scheideweg. Kannte die zwei Möglichkeiten. Kannte die Konsequenzen. Kannte ihren Blick. Fürchtete ihren Blick. Wollte seinen Namen nicht hören. Wollte gar nichts hören. Traf dieselbe Entscheidung wie letztes Mal. Vorletztes Mal. Zu viele Male. Routinierter Fehlentscheid. Heiser lachte er den Irrweg aus. Es klang widerwärtig. Streitlustige Passanten. Nicht mehr als Halbstarke, die sich beweisen mussten. Hetzten über seinen unsicheren Gang. Liefen watschelnd neben ihm her. Stellten sich ihm in den Weg, sodass er schwankend innehielt. Wie Hunde, die bellen. Hunde, die bellen, beißen nicht. Sie bissen auch nicht. Sie bellten nur. Der Himmel riss auf. Kränkliches Mondlicht warf bleiche Schatten, tauchte die Gassen in diesigen Dunst. Lykanthropie. Das Raubtier im Manne. Spöttisch erwiderte der Trabant seinen Blick. Liam senkte den Kopf. Ein lahmender Wolf, dem die Zähne gezogen worden waren. Gezähmt und zusammengeflickt. Er schnappte nicht einmal nach der Hand, die ihn schlug. Handzahm. Der Geschmack von Zuckerbrot war ihm fremd. Nicht nach Hause – was erwartete ihn dort? Das war nicht seine Welt. Nicht für diese Nacht, die im grauen Wasser ertrank. Und er ertränkte sich in der Wärme, in der Ecke. Wo ihn missbilligende Gestalten übersahen. Purifikation durch den Regen. Der Gestank folgte ihm nicht mehr wie sein zweiter Schatten. Die Flucht ging weiter, er war der Resignation entflohen. Wieder der vernarbte Veteran, der seine Kämpfe gegen Schnapsflaschen ausfocht. Ein alter Freund. Den er benutzte, der ihn benutzte. Eine Symbiose, die ihresgleichen suchte. Und dennoch würde er derjenige sein, der nachts an der Tür kratzte, bis sich seine Fingernägel ins Holz gegraben hatten, weil er den Schlüssel verloren hatte. Wieder. Und wieder. War der Mensch nicht bloß eine nackte Anhäufung von Fehlentscheiden? Er wünschte sich weg von diesem Ort. Hinein in die warme Umarmung seines Freundes, seines Feindes, die ihn vergessen ließ. bis ihn die Wirklichkeit umso grausamer heimsuchte. Schnelle Blicke. Abgehackte Bewegungen. Er kam mit der rasanten Geschwindigkeit seiner Umgebung nicht mehr zurecht. Bestellte er, brauchte er nur den Blick zu senken, und sah sein Glas wieder gefüllt vor sich. Es füllte sich schneller, als er es leerte. Wenn er es halb voll nannte, musste er nicht einmal optimistisch sein. Pessimistisches Halb-Befülltsein. Die goldbraunen Tiefen verschlungen ihn. War er auf dem Grund angelangt, schreckte er zurück. Bestellte nach. Auf dem Grund anzugelangen, bedeutete, am Ende des Traumes anzugelangen. Diese Schlacht verlor er. Das wusste er, bevor seine Stirn die kühle Theke berührte. Warmer Schlummer umhüllte ihn. Selbstaufgabe hatte ihn verführt wie eine abendländische Schönheit. Goldbraune, glatte Haut, dunkle Wimpern, eine reizvolle, schlanke Figur – aus Seidenschleiern trat sie ihm in ihrer wundervollen Blöße entgegen, um ihn in ihr Gemach zu führen. Selbstbewusst ergriff sie seine schwielige Hand, zog ihn in ihre samtene Höhle - Energisch riss ihn ein Rütteln zurück in die mit Watte ausgelegte Realität. Das Schwanken seines Körpers brachte Aufruhr in das Meer seiner Gedanken. Tosende Brandung schlug gegen die Innenwände. Sein Kopf dröhnte. Die Stimme dröhnte. Donnergrollen und das ewige Schaukeln. Und ewig ein Gefangener seiner eigenen Gedanken. Erneut war er abgewiesen worden. Er war kein Vater. Selbst verschuldete Unmenschlichkeit. Der Himmel war wieder aufgerissen, doch diesmal wies er ihm nicht den Weg. Unbarmherzig prasselte kaltes Nass auf ihn nieder. Die Türen boten keine Zuflucht. Der Feind hatte sich hinter ihnen verschanzt. Verhöhnte seine Jämmerlichkeit. Siechend kroch er durch die toten Gassen. Alles sieht so festlich aus. Der Verlierer kam angekrochen. Glorreich hatte er das Schlachtfeld wie ein geprügelter Hund verlassen. Schande und Schwäche sprachen seine Abzeichen. Farbenfrohes Morgengrauen verfolgte ihn mit Lichtstrahlen. Die Wirklichkeit trat ihn mit Stiefeln. Stand drohend neben ihm, als er die Faust ballte. Das Pochen hallte in seinem Schädel wider. Ersoff in der eigenen Gedankenflut. Wieder hier. Stumme Blicke. Müde Blicke. Frustration. Resignation. Durchdrangen ihn wie Regen. Er fror bis auf die Knochen. Wieder hier. Nicht schon wieder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)