Das Band von Rowanna ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Licht flackerte verspielt durch die Zweige der alten Eiche, warf goldene Muster auf die zerfurchte Rinde und auf das Mädchen, das, die Augen halb geschlossen, den Kopf gegen das raue Holz lehnte. Ein sanfter Wind brachte ihr braunes Haar zum wehen, fuhr sacht über das saftige Gras, das sich wie ein dichter Teppich auf der Hügelkuppe ausbreitete. Man hatte einen guten Blick von hier oben. Schon lange saß Chihiro hier, hatte den Blick durch die Landschaft schweifen lassen. Zu ihrer rechten lag ihr neues Zuhause, ein blaues Haus, direkt am Rand des Waldes. Ihre Eltern saßen auf der Terrasse. Leise drangen ihre Stimmen zu ihr hinauf. In der anderen Richtung konnte sie, nicht weit entfernt, die Schule erkennen. Sie war nicht schlimmer als andere Schulen, wie Chihiro zugeben musste. Vielleicht sogar ein ganz klein wenig besser. Es lebten einige nette Kinder in der Umgebung. Sie hatte sich schon einige Male mit ihnen getroffen. So friedlich… Sie hob den Kopf, blickte hinaus in den grünen Baldachin, der sich wie ein Zelt über ihrem Kopf spannte. So ruhig… Sie versuchte ein Lächeln. Neben ihr, auf dem Rasen lagen Farben ausgebreitet. Eine bunt befleckte Leinwand ruhte auf ihrem Schoß. Mit Mühe konnte sie darin ihre Freunde wiedererkennen. Yubaba und Lin, Zeniba und Ohngesicht. Und er…. Bei ihm hatte sie sich besonders viel Mühe gegeben, vergeblich versucht, den ernsten Blick seiner Augen einzufangen, sein sanftes Lächeln wiederzugeben. Sie alle lachten ihr aus dem Bild entgegen, winkten ihr zu, als wollten sie sie auffordern, sich zu ihnen zu gesellen. „Nichts als dumme Abbilder!“ Wütend sprang sie auf, warf die Leinwand fort. Doch so schnell die Wut gekommen war, so schnell verflog sie auch wieder. Sanft berührte sie das rosa Haarband. Seit jenem Tag, als sie hatte gehen müssen, hatte sie es jeden Tag getragen. Hätte sie es nicht gehabt, schon oft hätte sie an ihrem Verstand zu zweifeln begonnen, geglaubt, all ihre Erlebnisse seien nicht mehr gewesen als ein wirrer Traum. In dem Bewusstsein, dass ihr niemand glauben würde, hatten sie niemanden etwas von ihrer Reise in das Zauberland erzählt. Sie wusste nicht, wie oft sie in den Nächten zum Fenster hinausgesehen hatte, das Herz so angefüllt mit Bildern, die sie doch mit niemand teilen konnte. Leere, dachte sie. Ja, das ist es was sich fühle. Es ist leer. Ich fühle mich verlassen ohne sie….ohne ihn. Sie rief sich zur Ordnung. Erst zwei Wochen war es her, dass sie das Zauberland verlassen, ein normales Leben in dieser neuen Stadt begonnen hatte. Es war kein schlechtes Leben. Aber es war ein Leben ohne ihn. Ging das? Konnte sie ohne ihn leben? Manchmal glaubte sie, dass sie einfach austrocknen würde, verdorren wie ein Grashalm, dem das Wasser fehlte. Oder wie eine Seerose, dachte sie. Eine Seerose, die nicht ohne das Wasser, den Fluss leben kann, auf dem sie schwimmt, auf dem sie ihr Leben aufbaut, der sie zum blühen bringt. „Nigihayami Kohakunushi.“ Leise flüsterte sie seinen Namen in den Wind. Es klang wie das Plätschern von Wasser. Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Du hast es versprochen“, flüsterte sie leise. „Du hast versprochen, dass wir uns wiedersehen.“ Die Tränen flossen ihre Wangen entlang, tropften an ihrem Kinn herab. „Du hast es versprochen, Haku.“ Ihre kleine Hand schloss sich zur Faust, versuchte zu verbergen, dass sie zitterte. Selbst wenn er vorhatte, sein Versprechen zu halten, woher sollte er wissen, wo er sie finden konnte? Er wusste nicht, wo sie wohnte, konnte es nicht wissen, denn sie hatte es ihm nie gesagt. „Chihiro, das Essen ist fertig!“ Wie aus weiter Ferne drang die Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr. Sie antwortete nicht. Ein plötzlicher Gedanke ließ ihr Herz schneller schlagen. Nein, er wusste nicht, wo sie lebte. Doch sie kannte sein Zuhause, war bereits dort gewesen. Ein heftiger Wind ging durch die Zweige der Eiche. Chihiro rannte. Sie rannte die Hügelkuppe hinab, schnellte vorbei an den behaglichen kleinen Häuschen. Menschen blieben stehen, blickten ihr verblüfft nach, als sie sie in Sekundenschnelle hinter sich ließ. Die Bushaltestellte kam in Sicht. Gerade hielt ein Fahrzeug, sie schaffte es, einzuspringen, bevor sich die Türen schlossen. Zur Ruhe verdammt, wartete sie. Viel zu langsam bewegte sich der Bus voran, schien dahinzukriechen, während ihr Herz weit voraus flog, bereits über einem wohlbekanntem Ort schwebte. Ein Ort, wo Wasser tosend über Felsen sprang, wo sich zerzauste Bäume hin zu den Fluten neigten. Sie konnte nicht still sitzen, stand immer wieder auf, eilte von Fenster zu Fenster. Sie wollte ihn endlich sehen, den Fluss, die vertrauten Berge, wollte ihn sehen. Ein weiteres Mal seine Stimme hören, mit ihm gemeinsam über den Himmel fliegen. Endlich, nach einer Ewigkeit, hielt der Bus. Erneut rannte Chihiro, ihre Füße konnten nicht schnell genug laufen. Immer heftiger musste sie nach Luft schnappen, immer pochender wurden die Schmerzen in ihrer Seite. Und dann war sie da. Die blauen Fluten jagten über den steinigen Grund, fielen vor ihren Augen meterweit in die Tiefe. „Haku!“, rief sie hinein in das Tosen. Noch immer schmerzte ihre Lunge von der langen Strecke, die sie gerannt war. „Haku! Ich bin es1 Ich bin da!“ Einige Vögel sangen in den nahen Bäumen. Gurgelnd schwappte das Wasser gegen das Ufer. Das war alles. Keine Antwort. Stille. „Haku!!!“ Sie schrie lauter, schrie, bis ihre Stimme nicht mehr war als ein heiseres Krächzen. Nichts. War es doch ein Traum gewesen? Hatte es ihn nie gegeben, diesen Jungen mit den sanften Augen? War sie nie im Zauberland gewesen, nie Rin, Yubaba und all den anderen begegnet? Das musste es! Es musste sie gegeben haben! Denn sonst….denn sonst wusste sie nicht was sie…eine überwältigende Müdigkeit überkam sie, ließ sie zusammensinken an der Stelle, wo sie stand. Wie hypnotisiert betrachtete sie das Wasser, das sich vor ihr in die Tiefe ergoss. Sie löste ihr Haar, nahm das Haarband, barg es in den Händen. Es muss sie geben! Ich war dort! Ja, ich war dort! „Ich war dort!“ Sie schrie die Worte dem Wind und dem Wasser entgegen, hörte entfernt, wie sie von den Bergen widerhallten. Ein Sonnenstrahl fing sich auf dem Haarband, ließ es in einem seltsamen Licht schimmern. Chihiro spürte Tränen auf den Wangen, hob die Hand, um sie abzuwischen. Das war der Moment, wo der Stoff aus ihrer Hand glitt, langsam dem Abgrund, dem Wasser entgegensegelte. „Nein!“ Chihiro streckte die Hand danach aus, schaffte es nicht, das Band noch zu erreichen. Durch die Bewegung verlor sie den Halt. Noch einen kurzen Moment taumelte sie über der schwindelnden Tiefe als wenn sich die Elemente streiten würden, ob nun Erde, Wind oder Wasser das Recht über ihren Körper hätten. Dann fiel sie. Rasend schnell kam das Wasser auf sie zu. Der Aufprall war wie ein kalter Schlag in den Magen. Sie fühlte sich fort gezerrt, kalt drückten die Fluten sie gegen Felsen, zerrten sie mit sich wie ein Spielzeug. Immer weiter entfernte sich die Oberfläche, immer weiter riss der Sog sie in die Tiefe. „Haku!“ Sie wollte seinen Namen rufen, doch nichts als Luftblasen entwichen ihrem Mund, wurden von der Strömung fortgerissen, wie man auch ihn von ihr fortgerissen hatte. Vielleicht war es gut, wenn sie hierblieb. Wenn es in dieser Welt kein Leben mit ihm gab, warum sollte sie dann weiter atmen, sich weiter quälen. Langsam entspannte sie sich. Ließ das Wasser bereitwillig in sie einströmen. Die Luftblasen tanzten nun um sie, schienen ihr leise zuzuwinken. Langsam verblassten ihre Konturen, lösten sich auf in Schwärze. Dann war da eine Hand. Eine Hand die warm, sanft nach ihrem Gesicht tastete, erschreckt zurückschreckte bei der Kälte, die sie spürte. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie wurde emporgehoben, merkte verschwommen, wie der goldene Fleck über ihr näher rückte, sie schließlich durch die Oberfläche brach. Warme Hände hielten sie fest, ließen sie wenige Meter über der Wasseroberfläche schweben. „Chihiro“, die Stimme klang erschreckt, besorgt. Sie hob den Kopf, blickte in die sanften grüngrauen Augen, die sie so schrecklich vermisst hatte. Ein Hustenanfall quälte sie, zwang sie, sich abzuwenden. Er hielt sie fest, bis sie all das Wasser, all die Kälte ausgehustet hatte, die sie geschluckt hatte. Drückte sie an sich, als wäre sie etwas Kostbares, das er verloren hatte, von dem er gedacht hatte, es nie wieder zu sehen. „Chihiro. Du hast mich gefunden.“ Sie versuchte ein Lächeln. „Wir hatten uns doch versprochen, dass wir uns wiedersehen, oder?“ Er lachte. Das Geräusch klang leicht und fröhlich. „Ja, das haben wir.“ Sein Gesicht näherte sich ihr, ganz nah fühlte sie nun seinen Atem über ihr Gesicht streichen. Seine Augen waren grüne Teiche in denen sie auf ewig versunken wollte. „Und nun, raunte er ihr ins Ohr“ werde ich dich nie wieder gehen lassen.“ Als ihre Lippen sich trafen, spürte Chihiro, dass sie endlich zuhause war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)