Eternal Search von Rainblue (Die Suche nach dem Hier) ================================================================================ Kapitel 2: Das Wesen ohne Gegenwart ----------------------------------- Wir kommen unvollständig auf die Welt. Und das wissen wir vom ersten Moment an. Wir sind orientierungslos zu Anfang, aber nicht wie Neugeborene. Wir sehen, hören, fühlen, wir wissen und denken und verstehen. Verstehen alles und nichts. Wir kennen unseren Namen und wissen, dass auch er nicht vollständig ist. Es fehlt etwas, das wir vorher auch nicht hatten und doch fehlt es uns. Und wir suchen. Wir suchen das, was uns fehlt. Der Teil, der nie Teil von uns war und es doch ist. Sie alle denken das. Alle meiner Art. Und zu Beginn dachte auch ich so. Aber dann kam mir dieser seltsame Gedanke. Wir alle glauben, dass das, was wir suchen ein Teil von „uns“ ist. Ein Teil der fehlt, ja, und ohne den wir nicht ganz sind, nicht komplett, ein kleiner Teil. Aber ich glaube, es ist genau andersherum. „Wir“ sind der kleine Teil und wir fehlen dem, den wir suchen. Aber warum sucht unser eigenes Großes Ganzes dann nicht auch nach uns? Die Welt, in der ich mich befinde, ist – wie soll ich sagen – grün. Aber es ist ein anderes Grün als das von Ways Augen, die eher leuchtend, beinahe schillernd, sind. Und sie hat einen interessanten Geruch, sehr intensiv. Mir liegt eine Beschreibung dafür auf der Zunge, aber ich komme nicht dazu, sie zu fassen, weil etwas im Gebüsch hinter mir raschelt. Sofort wirbele ich herum und gehe in Angriffshaltung. Zwischen dem dichten Pflanzengestrüpp funkelt mir ein giftiggrünes Augenpaar entgegen. Fast glaube ich, Way wäre mir gefolgt, nur um mir dieses Mal wirklich den Schreck meines Lebens einzujagen, aber da springt das Etwas schon aus seiner Deckung und direkt auf mich zu. Ich kann nicht schnell genug ausweichen oder den Angriff parieren. Zwei mit Krallen bestückte Pranken treffen mich gegen die Brust, das Gewicht des Wesens wirft mich um und für ein paar Sekunden bekomme ich keine Luft. „Runter!“, keuche ich und versuche das Biest zu packen, das wie im Wahn nach mir schnappt. Hätte ich gewusst, dass man mich derart begrüßen würde, hätte ich mich besser vorbereitet. Der widerlich heiße Atem des Ungetüms schlägt mir entgegen und ich komme einfach nicht frei. Längst haben mir seine Krallen schmerzhafte Striemen in den Brustkorb gerissen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich keine Kraft mehr habe, mich gegen das Vieh zur Wehr zu setzen. Na gut, alles oder nichts. Ich zwänge die Augen auf und bereite mich gerade darauf vor, das zu entfesseln, was ich sonst lieber hinter sieben verschlossenen Türen halte, als das Biest von irgendwas heftig am Kopf getroffen wird. Jaulend lässt es von mir ab, knurrt und faucht aufgebracht und verschwindet dann mit einem Satz im Unterholz. Ich bin noch nicht so weit, dass ich aufstehen kann. Mein Brustkorb brennt entsetzlich und der Schock sitzt mir tief in den Gliedern. Schwer atmend presse ich eine Hand auf die blutenden Wunden und schließe die Augen. Ein merkwürdiges Grunzen genau über mir bringt mich schließlich dazu, die Lider wieder zu heben. Ein graublaues Augenpaar sieht neugierig auf mich hinab. Das Gesicht, zu dem es gehört, ist kantig, maskulin und irgendwie… wild. Dunkelbraune, verfilzte Rastalocken säumen es und soweit wie ich erkennen kann, ist der Mann oben ohne. „H-Hallo…?“, bringe ich halbwegs klar heraus. Der Mann legt den Kopf schräg und beäugt mich dabei nur noch aufmerksamer. „Hal-lo“, wiederholt er und klingt seltsam gestelzt. Dann grunzt er und ich erkenne das Geräusch, das ich vorhin gehört habe. Vorsichtig stütze ich eine Hand auf dem Boden ab und drücke mich hoch. Ein leichter Schwindel nimmt mir kurz die Sicht, aber ansonsten scheint, bis auf die Wunden am Brustkorb, alles funktionstüchtig zu sein. Der Mann hat sich inzwischen neben mir platziert und mustert mich noch immer so völlig ungeniert. Ich bin mir sicher, bisher ist mir noch niemand begegnet, der so wenig Privatsphäre besitzt. Und seine Haltung ist komisch. Er „hockt“ eher, als dass er steht, die Hände hat er auf dem Boden und als ich genauer hinsehe, fällt mir auf, dass er sich auf die Fingerknöchel stützt. „Ähm…“ „Tarzan.“ Er grunzt wieder und legt sich beide Fäuste auf die Brust. „Tarzan?“, echoe ich verständnislos. Ist das so eine Art Begrüßungsanrede? Oder will er mir was anderes damit sagen? Sollte ich das Wort denn kennen? „Tarzan“, sagt er noch einmal und wieder liegen dabei seine Hände auf der Brust. Und da verstehe ich. „Ach so! Tarzan ist dein Name!“ Von wegen Begrüßungsanrede… pfft. „Ähm, ich bin Demon.“ Er legt den Kopf schräg, scheint auf irgendwas zu warten und mir wird klar, dass er mich gar nicht verstanden hat, oder zumindest nicht alles, was ich gesagt habe. „Ach, äh…“ Ohne weiter darüber nachzudenken lege ich mir beide Hände auf die Brust. „De-mon.“ Da erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht, was ihn sofort freundlicher aussehen lässt, weniger wild. Unbewusst muss ich auch lächeln. Way sagt immer, das tue ich viel zu selten. Ich frage mich, was er sagen würde, wenn er davon wüsste, dass ich einem Fremden das Lächeln zeige, das ich ihm so oft vorenthalte. Bei dem Gedanken bahnt sich ein kleines Auflachen den Weg aus meiner Kehle. Tarzan zieht verwundert die Lippen kraus. „Verzeih“, sage ich lachend. „Ich musste nur gerade an einen Freund denken.“ Erst als ich bereits das letzte Wort ausgesprochen habe, fällt mir wieder ein, dass er nicht ganz so vertraut mit meiner Sprache ist. Gerade will ich zu einer Erklärung ansetzen, als Tarzan eine ganze Kette von verschiedenen Grunzlauten ausstößt. Mein perplexer Blick ermutigt ihn offenbar dazu, die Laute noch einmal zu wiederholen. „Freun-de“, sagt er dann leise, „hier.“ „Hier...?“, flüstere ich, ohne die Lippen zu bewegen. Da erklingt ein lauter, panischer Schrei in der Stille und kurz darauf kracht es heftig. Wir drehen beide den Kopf in die Richtung aus der die Geräusche gekommen sind. Es kann nicht allzu weit entfernt passiert sein, was auch immer passiert ist. Mit einem erstaunlich gekonnten Sprung ist Tarzan auf dem nächsten Baum und klettert ebenso professionell daran hinauf, bis zur Spitze. Ich erhebe mich, wobei ich darauf achte, keine falschen Bewegungen zu machen, dann trete ich näher an den Baum heran, den er soeben erklommen hat. Und springe erschrocken zurück, als er plötzlich wieder auf dem Boden landet. In letzter Zeit bin ich aber auch schreckhaft… „Baum-haus“, meint Tarzan knapp und stößt ein paar fahrig klingende Grunzer aus. „Was…?“, beginne ich verwirrt, aber schon wieder werde ich abrupt unterbrochen, als nur wenige Meter von uns entfernt etwas durchs Unterholz hetzt. „Sabor!“, ruft Tarzan und ich erkenne das goldgelbe Fell mit den schwarzen Punkten wieder. Es ist dieses Biest, das mich vorhin angegriffen hat. Offenbar liegt das, was auch immer da hinten gerade gelandet ist, auch im Interesse des Raubtiers. Unfassbar schnell verschwindet es zwischen den Bäumen. Eins ist klar: es wird zuerst beim Baumhaus sein. Tarzans Blick huscht zwischen mir und der Richtung, in die das Tier gelaufen ist, hin und her. „Geh“, sage ich schließlich und schiebe ihn ein Stück vorwärts. „Ich kann gerade nicht besonders schnell laufen. Geh!“ Anscheinend versteht er mich. Sein Gesicht wird ernst, dann nickt er, wobei seine Augen genau auf meine gerichtet sind und sprintet kurz darauf fast genauso schnell wie das Raubtier durchs Geäst, bis ich ihn nicht mehr sehen kann. Allmählich beruhigen sich die Tiere wieder, die bei dem ganzen Tohuwabohu ziemlich in Aufregung geraten sind und schließlich ist es wieder halbwegs still. Achtsam lege ich eine Hand auf den zerfetzten Stoff auf meiner Brust, genau auf mein Herz. „Tarzan hat recht“, sage ich laut in die Stille hinein. „Freunde gibt es nur im Hier.“ Vielleicht meinte er seine Worte nicht genau so, aber das spielt keine Rolle. So wie ich es interpretiert habe, ergeben sie mehr als Sinn. Einen unschönen Sinn, aber Sinn. Für mich und all die anderen, die genauso sind wie ich, gibt es kein „hier“. Es gibt ein „war“ und es gibt ein „wird“, aber ein „jetzt“ ist uns nicht vergönnt. Wir leben nicht in der Gegenwart. So ist das nun mal. „Tarzan ist hier und er wird Freunde finden. Er hat eine Gegenwart… Darum beneide ich ihn.“ Das sage ich so leise vor mich hin, als ich dem Mann hinterher schaue, der mich bereits in diesem Augenblick vergessen hat. „D? Hey, D! Hallooo??? Jemand zuhause? Demon!” Erst als Way meine Schulter packt und damit einen der noch unverheilten Kratzer streift, bemerke ich, dass er mit mir spricht. Ich kann einen kleinen Schmerzenslaut nicht verhindern, aber er ist leise genug, dass Way nichts bemerkt. „Gut zu wissen, dass du noch unter den Lebenden weilst“, brummelt er sarkastischen Tons. „Entschuldige, was hast du gesagt?“ Ich kann nicht verhindern, dass auch mein Tonfall leicht bissige Züge annimmt. Way verdreht die Augen und fährt sich mit der Hand durchs Haar. Es ist ähnlich wie meins; mit andersfarbigen Strähnen und irgendwie matt, metallisch… Aber seine Augen sind heller und viel wärmer als meine. Ich habe nur einmal mein Spiegelbild gesehen und einmal hat auch gereicht. „Fein, D. Dann interessiert es dich wohl nicht, dass ich herausgefunden habe, wie man die Schale nennt, die du bei dir trägst.“ Sofort werde ich hellhöriger. „Was?“ „Ach, sieh an. Plötzlich bin ich wichtig“, sagt Way von oben herab und verschränkt die Arme vor der Brust. Anstatt mich wie sonst bei ihm zu entschuldigen, boxe ich ihm, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, spielerisch in die Magengegend. „Hey, mach mal halblang! Ich sag’s dir ja gleich!“ Da sieht er mein Lächeln und zaubert sein übliches Grinsen hervor. „Dir kann man einfach nicht lange böse sein.“ Er stößt die Luft aus und bringt mit der Hand noch einmal sein Haar durcheinander. „Also die Schale, die du hast, ich hab gehört, dass man sie ‚Muschel’ nennt.“ „Muschel“, flüstere ich. Der Klang des Wortes hat eine ganz ähnliche Wirkung wie der von „Meer“. Aber wie kann ich das so empfinden? Ich kannte diese Begriffe vorher nicht, noch deren Bedeutung. „Von wem hast du das erfahren?“, frage ich, während ich die kleine – nun weiß ich es ja – Muschel aus der Tasche hole und betrachte. Way antwortet nicht. Verwundert blicke ich zu ihm auf. In seinen Augen steht etwas geschrieben, das ich von mir selbst, von uns allen, nur zu gut kenne. „Ich kannte ihn nicht“, erwidert er schließlich. „Und, tja, er kennt mich auch nicht. Nicht mehr.“ Mit einem tiefen Seufzer sehe ich wieder auf die Muschel hinab. Sie ist klein, aber wunderschön… Es fällt mir schwer zu glauben, dass sie unvollständig ist. Das ist kein schönes Wort, darum passt es nicht zu ihr. „Ich habe heute auch jemanden getroffen“, sage ich nach einiger Zeit des Schweigens. „Ein komischer Mann, mehr Tier als Mensch.“ Die erste Begegnung mit dem gepunkteten Raubtier lasse ich wohl lieber außen vor. Way macht sich immer zu viele Sorgen. „Ah ja?“, fragt er und hebt den Blick von meiner Handfläche. „In was für einer Welt warst du?“ Als ich bei seiner Frage daran denke, muss ich wieder leicht lächeln, was wiederum Way zum lächeln bringt. „In einem… Wald, glaube ich. Grün, wohin das Auge reicht. Aber die Luft war anders als in den Wäldern, in denen ich bisher war. Sie war eher…“ „Feucht?“, fällt Way mir kichernd ins Wort. Verblüfft sehe ich ihn an. „Ja, genau nach dem Wort habe ich gesucht! Woher…?“ „Das war ein Dschungel, D. So was ganz Ähnliches hab ich heute nämlich auch gesehen.“ „Wirklich? In was für einer Welt warst du?“ Er greift in eine seiner Gürteltaschen und holt etwas daraus hervor, das er mir kurz darauf entgegenhält. „Ich war dort, wo deine Muschel wahrscheinlich herkommt.“ Auf seiner Handfläche liegen fünf verschiedene Gegenstände. Erst bei genauerem Hinsehen wird mir klar, dass es alles Muscheln sind. Ihre Formen sind verschieden, die Farben und Größen, aber dennoch sind sie irgendwie alle gleich. Ich erkenne nur leider keine, die wie meine aussieht. Way kratzt sich verlegen am Hinterkopf. „Tut mir leid, ich glaube, die die du hast ist recht selten. Eine zweite davon konnte ich nicht finden.“ Langsam senke ich die Augen wieder auf die Muschel in meiner Hand. „Dann wird sie wohl weiterhin ohne ihr Gegenstück bleiben.“ Der Ort, an dem wir alle leben, hat keinen Namen. Beziehungsweise hat niemand ihm einen gegeben. Wozu auch? Im Prinzip existiert er gar nicht. Diese Welt befindet sich nicht im Reich des Lichts und nicht im Reich der Dunkelheit und ist doch Teil von beidem. Vielleicht könnte man ihr den Namen „Nichts“ geben, aber auch diese Bezeichnung ist nicht wirklich korrekt. Nein, diese Welt befindet sich nicht nur jenseits von Licht und Dunkelheit, sie befindet sich auch jenseits der Zeit. Hier vergeht keine Zeit, weil es keine Zeit gibt. Alle, die wir hier sind, wurden auch hier geboren. Dieser Ort ist unsere „Gegenwart“. Wir können in andere Welten reisen, wann immer wir wollen; Welten, die im Reich des Lichts liegen oder im Reich der Dunkelheit und in denen die Zeit vergeht. Aber wir können nicht bestimmen, in welche Welten wir reisen und damit ist die Wahrscheinlichkeit in ein und dieselbe Welt zweimal zu reisen verschwindend gering. Irgendwann müssen wir zurückkehren, in unsere Welt, in unseren kleinen Riss mitten in der Zeit. Tun wir das nicht, geschieht es von selbst. Wir können nicht entkommen. Das Einzige, was wir tun können, unser einziger Sinn, ist es nach dem zu suchen, was uns fehlt… nein, dem „wir“ fehlen. Wenn wir ihn gefunden haben, dann haben wir unser Zuhause gefunden. So jedenfalls heißt es. Und so ist es wohl auch. Ich habe niemanden, der bei seiner Suche fündig wurde, je wieder gesehen. Aber was sind wir? Wesen ohne Gegenwart. Egal, welche Welt wir bereisen, wir treffen niemals in der Gegenwart dort ein. Denn die Gegenwart ist der Moment, in dem wir unser Zuhause finden. Ich verstehe das alles genauso wenig wie die anderen. Ich weiß nicht, was diese Worte bedeuten sollen. Aber ich weiß, dass sie stimmen. Wenn ich eine Welt betrete, dann entweder in ihrer Vergangenheit oder in ihrer Zukunft. Würde der seltene Fall auftreten, dass ich eine Welt ein zweites Mal betrete, dann würde ich sie zu einem anderen Zeitpunkt betreten, als beim letzten Mal. Ich bin ein Wesen der Vergangenheit und der Zukunft. Durchsichtig wie Nebel, nicht fassbar. Ich bin nicht hier. Darum vergessen uns all jene, die wir treffen. Wir können ihnen noch so oft begegnen, sobald sie sich wieder von uns trennen, vergessen sie, uns jemals gesehen zu haben. Das ist unser Schicksal. Wir sind nicht hier. Aber wir waren hier und wir werden hier sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)