The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 26: Gefährliche Wahrheit -------------------------------- Yegor grinste und schaute den Jungtrainern langsam nacheinander direkt in die Augen. Ihn schien diese Zusammenkunft beinahe zu amüsieren, denn gut gelaunt biss er in sein Brötchen und ließ die Stille, die eintrat, auf sich wirken. Es war Grace, die die Stille schließlich zuerst brach, indem sie sich räusperte, unruhig auf der Stuhlkante nach vorne rutschte und die Hände faltete. „Zerrwelt, was soll das sein? Ich habe nur von einer Zerrwelt gehört und das auch nur in alten Legenden.“ Das Grinsen auf Yegors Gesicht wurde noch eine Spur breiter, sofern das überhaupt möglich war, dann nippte er an dem kalten Yapabeertee und stellte die Tasse wieder ab. „Grace, du scheinst mir ein intelligentes Mädchen zu sein. Was hast du über die Zerrwelt gehört?“ Sie zog eine Augenbraue nach oben – eine Angewohnheit, die Lyra schon oft an ihr gesehen hatte. Erneut räusperte Grace sich. „Die Zerrwelt ist den Legenden zufolge eine Parallelwelt und entstand durch …“ Einen Moment lang legte sie die Stirn in Falten und überlegte. „Durch eine Art Verwirbelung von Raum und Zeit, wenn ich mich richtig erinnere. Sie hat etwas mit Dialga, Palkia und Giratina zu tun. Giratina soll die Zerrwelt geschaffen haben und in ihr leben. Angeblich ist die Region Sinnoh der Zerrwelt besonders nahe, weshalb es dort eine Verbindung geben soll. Die Zerrwelt ist ein Abbild unserer Welt, allerdings sind dort Raum und Zeit anders gekrümmt oder etwas in der Richtung.“ „Richtig, das kommt in etwa hin.“ „Wir befinden uns aber nicht in Sinnoh, außerdem wirkt das hier nicht wie das, was Grace gerade beschrieben hat“, schaltete sich nun auch Leo ein, der für seine Kritik von Finn mit einem finsteren Blick gestraft wurde, der Lyra frösteln ließ, obwohl er nicht ihr galt. Yegor beschwichtigte Finn, indem er ihm kurz die Hand auf die Schulter legte, dann fuhr er fort. „Auch das ist richtig. Die Zerrwelt ist eine Parallelwelt und hat sich seit ihrer Entstehung über alle Regionen ausgebreitet. Das Tal, in dem wir hier leben, liegt an einer Stelle der Zerrwelt, die sich im Laufe der Zeit vollständig stabilisiert hat und Spiegelungen aller Regionen enthält. Die Orangenhaine unseres Dorfes stammen ursprünglich von den Orange Inseln, das Gebirge im Süden, in dem ihr in der Höhle angekommen seid, liegt in eurer Welt in Blizzach. Alles hat sich irgendwie verändert und neu zusammengefügt. So ist unsere Welt entstanden. Vor einigen Jahrhunderten kam es zu einem großen Kampf der Drachenpokémon, die seit jeher unsere Welt beschützen. Infolgedessen verschwammen die Grenzen der Welten und Menschen aus allen Regionen gelangten durch Zufall hier her. Sie konnten den Kampf der Legendären beenden und ließen sich hier nieder, als sich die Zerrwelt wieder stabilisierte und die Übergange verschlossen wurden.“ Erneut breitete sich Schweigen über die Gruppe aus, das dieses Mal jedoch schneller durchbrochen wurde als zuvor. Lyra öffnete den Mund, schloss ihn wieder und blickte zu Sarin und Finn, dann zu Grace und Leo. „Wenn das nicht so verrückt klingen würde, würde ich Ihnen nicht glauben, Yegor. Aber ich tue es. Ich weiß nicht, wieso, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass das hier die einzige Erklärung ist, die ich nachvollziehen kann.“ „Geht mir auch so.“ Grace warf ihre blonden Locken über die Schulter nach hinten. „Wir haben in der letzten Zeit ziemlich verwirrende Sachen erlebt und Sie wirken nicht wie ein Lügner, Yegor.“ Sarin schenkte Grace ein dankbares Lächeln. „Ich wusste, dass ihr uns glauben würdet. Yegor hat mich in eure Welt geschickt, um euch zu suchen. Ich bin so froh, dass wir uns gefunden haben.“ Grace erwiderte sein Lächeln und eine schüchterne Röte legte sich auf ihre Wangen, die Yegor wissend schmunzeln ließ. „Aber warum hast du ausgerechnet uns gesucht? Was hat die Zerrwelt mit uns oder“, sie warf Lyra einen Seitenblick zu, „Cassandra zu tun?“ „Eine Menge“, mischte sich nun auch Finn ein, der mit verschränkten Armen auf seinem Platz saß. „Lasst mich erklären“, unterbrach Yegor den Jüngeren. „Die Menschen, die diesen Teil der Zerrwelt bevölkerten, sehnten sich nach einem Anführer, also beteten sie zu den Legendären. Eines Tages erschien Kyurem und erwählte den ersten König, indem er ihn mit seinem eisigen Atem anhauchte und seine Haare so silbern wurden wie Mondlicht, das sich in Kristall brach. Seither regiert die Königsfamilie über uns und sichert das Fortbestehen unserer Welt. In jeder Generation wird ein Herrscherkind mit silbernen Haaren geboren, was das Zeichen für die andauernde Gunst der Drachenpokémon ist.“ Lyras Augen weiteten sich, als sie das hörte. „Aber Cassies Haare sind silbern! Soll das etwa bedeuten, dass sie …?“ Yegor nickte und sein Lächeln verschwand. Stattdessen schaute er traurig in die Ferne, als würde eine Erinnerung vor seinem inneren Auge lebendig werden. „Ja, meine liebe Lyra, das bedeutet es. Prinz Melik ist seit dem Verschwinden seiner Eltern unser Herrscher, doch noch nie gab es in einer Generation zwei Kinder, die von Kyurem gesegnet waren. Mit der Geburt von Prinzessin Cassandra wurde klar, dass die Drachen sich nicht einig über die Thronfolge waren. Es kam zu Aufständen in der Bevölkerung und auch die Pokémon, die sonst friedlich mit uns im Tal leben, wurden unruhig. Als die Prinzessin gerade einmal acht Jahre alt war, verdunkelte sich der Himmel und die Spiegelbilder von Zekrom und Reshiram erschienen. Sie bekämpften sich, ließen das ganze Tal erzittern und verschwanden kurz darauf wieder. In diesem Moment war klar, dass es nicht zwei Herrscher geben konnte.“ „Bei Arceus!“ Lyra holte erschrocken Luft und wurde ganz blass. „Das heißt, dass Cassie und Melik sich ebenfalls bekämpften?“ „Nein.“ Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf. „Cassandra war noch ein Kind und Prinz Melik schon damals durch die strenge Erziehung seines Vaters auf den Thron versessen. Die sieben Minister, die für den Schutz des Landes und der Königsfamilie zuständig sind, wussten nicht, auf wessen Seite sie stehen sollten. Es kam zu einem Putsch. Vier der Minister stürzten die drei anderen, das Volk wurde gegen Cassandra aufgehetzt, weil es keine zwei Herrscher geben durfte. Uns blieb keine andere Möglichkeit als sie aus dem Palast zu retten, doch auch bei uns war sie nicht sicher. Sie musste fort von hier, fort aus der Zerrwelt. Aus diesem Grund haben wir sie in eure Welt gebracht und dafür gesorgt, dass sie dort ein neues Zuhause findet.“ Leo kniff die Augen bestürzt zusammen und auch Grace und Lyra konnten sich nicht vorstellen, was Cassandra schon in einem so jungen Alter durchgemacht haben musste. „Und wer sind wir?“, fragte nun Leo, der als einziger einen klaren Kopf behalten hatte. „Sie haben uns doch gesagt, dass die Tore zwischen den Welten verschlossen sind. Wie konnte Cassie entkommen?“ „Wir sind die Wächter.“ Yegor sah das Unverständnis in den Gesichtern aufblitzen und seufzte. „Ich nehme an, dass Nero euch darüber nicht richtig aufgeklärt hat? Nein? Ja, das dachte ich mir. In jeder Generation gibt es fünf Wächter. Wir stammen aus den beiden Welten und können als einzige nach Belieben die Tore zwischen den Welten durchqueren. Wir haben Cassandra nach Ebenholz City gebracht und mit Hilfe einer alten Magie ihre Erinnerungen gelöscht, um sie zu beschützen. Doch nun sind wir alt und unsere Macht schwindet. Es ist Zeit für neue Wächter und wie es das Schicksal so will, haben wir zueinander gefunden. Lyra, Grace, Leo, Sarin und Finn, ihr seid die fünf neuen Wächter. Ihr seid die einzigen, die Cassandra und die Welten jetzt noch vor einem drohenden Krieg der Drachenpokémon retten können, denn wenn unsere Zerrwelt instabil wird und untergeht, wird das große Schäden in eurer Welt anrichten. Es liegt in euren Händen.“ „Halt, halt, halt!“ Lyra war aufgesprungen. „Das geht mir jetzt zu weit. Wir sind bestimmt keine Wächter-Dings, wir werden keine Welten retten. Wir sind nur hier, um Cassie zu finden und zurück nach Hause zu bringen.“ „Prinzessin Cassandra ist zu Hause. Genau das ist ja das Problem.“ „Nein, Yegor.“ Auch Leo stand auf und stellte sich hinter Grace‘ Stuhl neben Lyra. „Sie hat recht. Wir sind ganz normale Pokémontrainer, keine Auserwählten.“ „Ihr könnt dem Schicksal nicht entkommen“, sagte Finn beiläufig und wirkte unbeeindruckt von dem aufkommenden Widerstand. „Wir haben uns das ebenfalls nicht ausgesucht, aber wir haben von Anfang an gespürt, dass wir anders sind, bis wir Yegor getroffen haben. Ihr müsst es auch spüren, das weiß ich.“ „Das ist verrückt. Wirklich verrückt.“ Leo erwiderte Finns finsteren Blick. „Wieso sollten wir euch glauben?“ „Weil nur wir Wächter die Teleportation überhaupt aktivieren können“, konterte Finn sichtlich genervt. „Cassandra ist nur deshalb wieder in unserer Welt gelandet, weil Lyra und sie in der Ruine des Bronzeturms am Mechanismus herumgespielt haben. Lyra hat mit Hilfe der Steinplatte ihre Kraft kanalisiert, die Teleportation aktiviert und Cassie zurück in die Zerrwelt geschickt.“ Er schnaubte. „Natürlich unabsichtlich“, fügte er hinzu. „Aero und Aira hätten ihr niemals die Platte geben dürfen, sie ist viel zu unerfahren und nicht vertrauenswürdig genug.“ „Hey!“ Lyra machte einen Schritt auf ihn zu. „Wie kommst du auf die Idee, dass ich nicht vertrauenswürdig bin! Ich habe Cassie niemals in Gefahr bringen wollen und immerhin wusste ich gar nichts von der ganzen Sache!“ „Lyra trifft keine Schuld“, bestätigte auch Sarin und rieb sich die Schläfe. Es war offensichtlich, dass die Stimmung allmählich hochkochte. „Vielleicht sollten wir uns alle wieder hinsetzen, beruhigen und eine Tasse Tee trinken.“ „Als ob kalter Tee etwas an der Situation ändern würde!“, giftete Lyra wütend. „Es bringt nichts, sie mit Samthandschuhen anzupacken“, sagte Finn herausfordernd. „Yegor, Sarin, ihr seht doch beide, wie unreif die anderen sind. Wir sollten die Mission einfach alleine durchziehen.“ „Ausgeschlossen“, knurrte Yegor und schlug mit der Faust auf den Tisch. Das Geschirr klirrte und die Stimmen verstummten sofort. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. „Wir Wächter arbeiten immer zusammen im Team, niemals alleine. Meine Zeit als Wächter ist bald abgelaufen, den anderen vier Wächtern meiner Generation ergeht es ebenso. Ihr könnt die Welten nur retten, wenn ihr zusammenarbeitet und gemeinsam nach einer Lösung sucht. Nur zusammen seid ihr stark genug.“ Finn sah aus, als würde er mit sich kämpfen, ob er überhaupt etwas sagen sollte, dann entschied er sich jedoch dafür. „Sarin und ich haben starke Pokémon als Partner, aber diese drei nicht. Nun, Leo hat zumindest ein vollentwickeltes Pokémon, aber Lyra hat nur ein Felilou und Grace ein Schillok als Partner. Was sollen wir damit machen, hm? Sollen wir Prinz Melik zu Tode kratzen und mit Blubber angreifen?“ „Felilou ist nicht schwach“, zischte Lyra, setzte sich jedoch wieder auf ihren Stuhl, ebenso wie Leo. Finn wurde ihr mit jedem Wort nur noch unsympathischer, sie hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. Finns Blick tangierte sie nur kurz, dann wandte er sich wieder den anderen zu. „Das erste Pokémon eines Trainers formt mit ihm das stärkste Band. Wir Wächter haben alle genau ein Pokémon als lebenslangen Seelenpartner, das ebenso wie wir die Teleportation nutzen kann. Nur mit einem starken Partner an unserer Seite können wir gewinnen.“ „Es kommt nicht nur auf die äußere Stärke an.“ Grace straffte ihre Schultern. „Lyras Felilou ist vielleicht kein starker Kämpfer, aber es vertraut ihr und seine innere Stärke ist sein starker Willen. Ebenso ist es bei Schillok und mir. Wenn wir kämpfen müssen, werden wir gemeinsam mit diesen Pokémon kämpfen. Nicht wahr, Lyra?“ Lyra nickte. „Leo?“ Auch Leo nickte. Finn atmete tief aus, dann zuckte er mit den Schultern. „Gut, ist mir auch egal. Macht, was ihr wollt.“ Die Trainer starrten alle auf den gedeckten Tisch. Yegor nahm sich noch ein zweites Brötchen, Sarin trank von dem Tee, Finn murmelte undefinierbares Zeug. Nachdem Yegor einen Bissen genommen hatte, stand er auf und setzte frisches Wasser für eine neue Kanne mit Tee auf. „Ich weiß, dass es nicht leicht für euch ist. Als wir damals in eurem Alter waren, wollten wir auch nicht glauben, was für eine Aufgabe uns vorbestimmt war. Wir hatten das Glück eine friedliche Zeit zu erleben. Vielleicht haben wir mit Cassandras Flucht nicht alles richtig gemacht, aber es war die einzige Möglichkeit, die wir gesehen haben, um einen Krieg zu verhindern. Nun liegt es an euch. Wir Alten werden euch keine große Hilfe mehr sein.“ Lyra legte erschöpft den Kopf in den Nacken. Das waren verdammt viele Wahrheiten auf einen Schlag. Gefährliche Wahrheiten noch dazu. „Wer sind überhaupt die anderen Wächter? Nero, Aira und Aero leben in unserer Welt, Sie hier in der Zerrwelt. Aber wer ist der fünfte Wächter?“ „Ich werde euch ein Foto holen, wartet kurz.“ Mit diesen Worten verließ Yegor den Raum. Finn schaute ihm nach und sobald der Alte außer Hörweite war, beugte er sich zu den drei neuen Wächtern vor. „Damit eine Sache klar ist: Es steht verdammt viel auf dem Spiel. Das hier ist für euch nur eine Welt, in die ihr zufällig geraten seid, aber für Sarin und mich ist das unser Zuhause. Wir müssen viel aufgeben, wenn wir Wächter sein wollen. Ich bin ein Ritter in der königlichen Garde und Sarin ist ein Mitglied der königlichen Familie. Wir könnten bei dieser Sache alles verlieren, was uns etwas bedeutet.“ „Ein Mitglied der königlichen Familie?“ Grace japste und schaute Sarin mit großen Augen an. „Wie meint er das?“ Sarin lächelte gequält. „Tja, ich schätze, jetzt muss ich es euch sagen.“ Er wuschelte sich nervös durch die braunen Haare. „Cassandra ist meine kleine Schwester, Melik mein großer Bruder. Ich bin ein Prinz der Zerrwelt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)