The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 29: Finstere Nacht -------------------------- Finn und Sarin lehnten nebeneinander an der Hauswand, kauten auf frischen Äpfeln herum und beobachteten das Training der drei anderen Wächter, wobei Sarin lobende Worte und Finn lediglich scharfe Kritik übrig hatte. Besonders Lyra, die Felilou und Nebulak noch gar nicht trainiert hatte, bekam von Finn ihr Fett weg und hatte unter seinen Kommentaren zu leiden. „So wird das nie etwas“, ermahnte er sie zum wiederholten Mal und löste sich von der schattigen Wand, um zu ihr in die Sonne zu treten. „Wir wollten den heutigen Tag nutzen, um zu überprüfen, auf welchem Niveau sich eure Pokémon befinden, damit wir uns heute Abend gut vorbereitet auf den Weg in die Berge machen können. Das hier sollte keine Trainingseinheit sein, in der wir deine Pokémon wenigstens auf Level 20 bringen.“ „Sei nicht so hart zu ihr“, verteidigte Grace sie sofort und ihr Arkani knurrte leise, als es an die Seite seiner Trainerin trat. „Lyra ist auch ohne das Training schon erschöpft.“ Besorgt blickte sie die Jüngere an, die am Vortag alle mit ihrem Zusammenbruch geschockt hatte. Jetzt, da klar war, was Lyra so zu schaffen machte, wussten sie alle, dass sie noch heute Abend aufbrechen mussten. Niemand konnte sagen, wie viel Zeit Lyra noch blieb, bis ihr Körper sich auflöste und in dem Riss zwischen Zeit und Raum verschwand, dessen Opfer sie ganz offensichtlich geworden war. Grace lächelte ihr aufmunternd zu und tätschelte ihre Schulter. „Am besten legst du dich etwas hin und Leo und ich kümmern uns um deine Pokémon.“ Lyra verzog das Gesicht. „Ich weiß nicht …“ „Die Idee ist gut“, stimmte Leo sofort zu. „Wir trainieren die beiden und du schläfst eine Runde, damit es dir heute Abend besser geht.“ „Na schön.“ Sie drückte den beiden die Pokébälle von Felilou und Nebulak in die Hand, dann straffte sie ihre Schultern. Der Schmerz, der sie gestern überwältigt hatte, klang noch immer dumpf in ihrem Arm nach und wenn sie in den Spiegel blickte, konnte sie sehen, dass ihr Gesicht blass, fahl und schon leicht durchsichtig war. Es war kein schönes Gefühl einfach so zu verschwinden. Nachdem Lyra gegangen war, trat Finn kopfschüttelnd näher. „Sie sieht nicht gut aus, wir müssen auf jeden Fall heute Abend aufbrechen und es in der Nacht bis zum Bergkamm schaffen. Dort rasten wir über Tag im Schutz der Felsen und erledigen dann in der nächsten Nacht die restliche Strecke bis zum Kristallpalast.“ „Ich mache mir Sorgen um sie.“ Grace schaute zunächst Finn, dann Sarin mit traurigen Augen an. „In der ganzen Zeit habe ich sie noch nie so still erlebt.“ Beruhigend legte Sarin ihr eine Hand auf den Arm. „Sie wird es schaffen. Lyra ist eine Kämpferin, sie wird sich nicht aufgeben. „Hoffentlich hast du recht.“ Einen Moment lang zögerte Grace, dann legte sie ihren Kopf auf Sarins Schulter und ließ sich von ihm beruhigend den Rücken streicheln. Leo und Finn tauschten einen Blick aus, sagten jedoch nichts, sondern wandten sich Lyras Pokémon zu. „Also“, begann Finn und musterte die beiden jungen Pokémon mit einem strengen Blick. „Wir brauchen schnelle Erfolge, deshalb halte ich es für angemessen, dass Felilou mit einem viel stärkeren Unlichtpokémon trainiert und Nebulak von Sarins Golgantes unterrichtet wird.“ „Wir haben aber kein Unlichtpokémon“, fügte Leo hinzu, erntete jedoch nur ein diabolisches Grinsen seitens Finn. „Doch, haben wir. Ich präsentiere meinen Starter: Rosi.“ Finn drückte den Knopf an seinem Aprikokoball. Der rote Strahl schoss nach vorne, bäumte sich auf, formte ein fast zwei Meter großes Pokémon und erlosch. Übrig blieb ein Trikephalo, das gurrend auf Finn zulief und seinen blauen Kopf an seinem Oberarm rieb, woraufhin er Rosis Hals tätschelte. „Ich glaub’s nicht!“ Leo starrte Rosi und Finn und offenem Mund an, dann lachte er. „Du hast die ganze Zeit so ein Geheimnis aus deinen Pokémon gemacht und jetzt zeigst du uns einfach so ein vollentwickeltes Drachenpokémon? Was ist dein zweites Pokémon, das du bei der Palastwache erhalten hast? Vielleicht ein Stahlos?“ „Nein, es war ein Stollunior und ich musste es abgeben, als ich aus dem Palastdienst ausgetreten bin.“ Finn warf Leo einen bösen Blick zu und ging dann zusammen mit Rosi, deren Halskragen und Bruststreifen in einem schönen Altrosa strahlten, zu Felilou, das ehrfürchtig einen Schritt zurück wich. „Sarin, hör mit dem Rumgeschmuse auf und kümmere dich um Nebulak, wir haben nicht viel Zeit.“ Sarin und Grace lösten sich voneinander, sahen verunsichert auf den Boden, dann entfernte Grace sich mit hochroten Wangen und murmelte, dass sie zu Lyra gehen wollte, um nach dem Rechten zu sehen. Kurz darauf standen sich Rosi und Felilou sowie Golgantes und Nebulak gegenüber und das Training begann. Die Sonne ging gerade über den Berghängen unter und färbte den Himmel in ein wolkenloses Orangerot, als sich die fünf Wächter von Yegor und Leia verabschiedeten. Leo und Grace schulterten ihre Reiserucksäcke, in denen zusätzlicher Proviant steckte, während Lyra auf Grace‘ Arkani ritt und ihr Rucksack am kräftigen Hals des Pokémon festgeschnallt war. Sarin und Finn hatten jeweils nur ein kleineres Bündel mit Decken und etwas Essen dabei. „Wir müssen heute Nacht auf jeden Fall einige Kilometer schaffen“, wiederholte Finn ihren Zeitplan und deutete auf einen der entfernten Berghänge. „Dort wird es gefährlich, weil es viel Geröll gibt und sich schnell kleine Steinlawinen lösen können.“ Rosi, sein Trikephalo, tapste neben ihm her, als er sich in Bewegung setzte und der Gruppe voran ging. Arkani gähnte herzhaft und trottete gemächlich neben seiner Trainerin, Sarin und Leo her. Lyra hielt sich locker am langen Fell des Feuerpokémon fest und staunte, wie kräftig Arkani war. Obwohl seine Bewegungen geschmeidig und sein Fell seidig war, spürte sie die starken Muskeln, die nur ansatzweise verrieten, wie schnell es werden konnte. „Wenn Arkani eine Pause braucht, kann ich auch laufen. So schlecht geht es mir nicht.“ „Du solltest dich ansehen“, erwiderte Grace und sogleich legte sich ein besorgter Ausdruck auf ihr Gesicht. „Ich bin froh, wenn du dich festhalten kannst und nicht zusammenklappst.“ „Ganz so schlecht geht es mir wirklich nicht, Grace.“ Lyra versuchte sich an einem lockeren Grinsen, doch die Kopfschmerzen, die nun ihre ständigen Begleiter waren, ließen das Grinsen sogleich wieder einstürzen. Stattdessen drehte sie den Kopf weg und schaute dem immer kleiner werdenden Fischerdorf hinterher, bis ihr Weg sie in ein Waldstück führte und die Bäume die Sicht versperrten. Nebulak schwirrte vergnügt zwischen den Bäumen hin und her, Felilou lief ihm hinterher und die beiden verfielen in ein Fangspiel. Dass sie trotz des harten Trainings noch so viel Energie hatten, versetzt Lyra in Staunen und in ihr keimte der Verdacht, dass ihre beiden Pokémon sie damit auf ihre Art aufheitern wollten. „Danke nochmal, dass ihr euch um Nebulak und Felilou gekümmert habt. Das Training war total effektiv, ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell neue Attacken lernen.“ „Es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, kommentierte Finn sofort von vorne mit seiner gewohnt harschen Stimme, doch wenige Sekunden später fügte er etwas weicher hinzu: „Aber ich denke, wir können mit dem Ergebnis zufrieden sein. Felilou steht kurz vor seiner Entwicklung und hat Verfolgung gelernt, die Attacke könnte uns nützlich sein. Nebulak beherrscht jetzt Konfustrahl und Tiefschlag. Die Unlichtattacken sind natürlich nur neutral gegen die Stahlpokémon der königlichen Garde, aber deine Pokémon dürften jetzt zumindest eine hilfreiche Ablenkung im Kampf darstellen.“ Lyra verdrehte die Augen und fragte sich, ob Finn nicht einfach mal nett sein konnte, aber sie schluckte den Kommentar herunter. Schweigend ließ sie sich von Arkani wie auf Wolken tragen und nach einiger Zeit eine Decke von Sarin reichen, die sie sich um die Schultern und den Oberkörper wickelte. Sie war eingeschlafen und als sie aufwachte, taten ihr alle Muskeln von der krummen Haltung weh. Lyra verzog das Gesicht und begann sich die Schultern zu reiben, als sie sah, dass der See und das Dorf mittlerweile unterhalb von ihnen lagen. Wie lange hatte sie geschlafen, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass der Aufstieg ins Gebirge längst begonnen hatte? „Schlafmütze“, kommentierte Leo grinsend, als er ihren verwirrten Blick bemerkte, dann stupste er sie an. „Finn meint, dass wir bis jetzt gut vorangekommen sind. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht, bald haben wir den Bergkamm erreicht, von dem aus wir in der nächsten Nacht den Abstieg zum Kristallpalast starten. Willst du was essen oder trinken?“ „Ja, danke.“ Lyra nahm einen Schokoriegel, den sie noch in ihrer Welt gekauft hatten, und eine Orange entgegen. Seit sie herausgefunden hatten, dass ihr Körper sich langsam auflöste, fühlte sie sich von Stunde zu Stunde schwacher, aber wenigstens hatte sie keine erneute Schmerzattacke heimgesucht. Als sie Nebulak und Felilou entdeckte, die noch immer außerhalb ihrer Pokébälle waren, zog sie die beiden in die Sicherheit der Bälle zurück und befestigte sie wieder an ihrem Trainergürtel. Den restlichen Weg über schwieg sie und auch die anderen unterhielten sich nur kurz, denn die Anspannung, die sie alle fest im Griff hatte, wurde immer stärker. Sie mussten ihr Lager so aufschlagen, dass sie tagsüber nicht von einer Patrouille der Palastwache entdeckt werden konnten, was natürlich beinhaltete, dass sie keine Feuerstelle haben durften. Wenn sie etwas Warmes essen oder trinken wollten, mussten sie das heute Nacht im Schutz der Dunkelheit erledigen. Abgesehen davon waren die Temperaturen noch immer recht frisch und sie hatten nur die Decken, die Leia und Yegor entbehren konnten. Als der Weg immer schmaler und steiler wurde, liefen sie alle hintereinander und konzentrierten sich auf ihre Schritte, um auf den losen Steinen nicht auszurutschen. Einmal trat Leo daneben, purzelte mehrere Meter am Hang hinab und musste von Rosi unterstützt werden, um wieder zur Gruppe zu gelangen. Natürlich verkniff Finn sich keinen Kommentar und als sie endlich die Stelle erreichten, an der sie ihr Lager errichten würden, hatte jeder mindestens zweimal von Finn sein Fett weg bekommen. Sarin und Grace entzündeten im Schutz einer Felsspalte, die gut zehn Meter weit waagerecht in den Felsen ging und sich dann immer weiter verengte, bis man nur noch Finsternis sah, ein kleines Feuer, über dem sie gemeinsam Gemüsespieße grillten. Leo und Finn kletterten noch gut zwei Dutzend Meter höher zur Kuppe, von der aus sie einen Blick auf die umliegenden Berge und das weiter entfernt liegende Meer werfen konnten. Dort, direkt an der Küste, an der das Gebirge in steile Klippen überging, lag der Kristallpalast, der nun jedoch im Schutz der Dunkelheit verborgen lag. Lyra setzte sich zu Sarin und Grace ans Feuer und wärmte ihre Handflächen, während der Duft von gegrilltem Gemüse immer intensiver wurde und bald ihren kompletten Unterschlupf erfüllte. „Ich hoffe, unser Plan funktioniert.“ „Das wird er, da bin ich mir sicher.“ Sarin lächelte zuversichtlich und reichte einen Spieß an Lyra weiter, ehe er zwei weitere auf die Steine ins Feuer legte. „Finn und ich sind das Ganze mehrmals durchgegangen. Wenn wir bei Tageslicht nicht von den Panzaeron-Fliegern entdeckt werden, kann mein Bruder nicht wissen, dass wir unterwegs sind. Morgen werden wir uns nach Sonnenuntergang an den Abstieg machen und wenn wir am Kristallpalast ankommen, ist es etwa Mitternacht. Die meisten werden tief und fest schlafen und Finn kennt die Routen der Nachtwachen auswendig. Wir schleichen uns rein, befreien Cassandra und bringen dich in den Spiegelsaal, um zu reparieren, was auch immer falsch gelaufen ist.“ „Wenn du das so erzählst, klingt es, als könnte nichts schief gehen.“ Trotzdem hatte Lyra nicht das Gefühl, dass sie ohne Probleme in den Palast eindringen und dort herumspazieren konnten. Sie mussten Cassie ohnehin erst einmal finden und selbst Sarin hatte zugegeben, dass er nicht wusste, in welchem Teil des Kristallpalasts sie gefangen gehalten wurde. Seufzend knabberte Lyra an dem Gemüse und zog die schwarzen, verbrannten Stellen der Paprika ab, die sie ins Feuer warf. Kurz darauf trafen auch Leo und Finn wieder ein und begannen ebenfalls zu essen. Sie alle saßen bis in die frühen Morgenstunden um das Feuer und nutzten die Wärmequelle so lange aus, wie es ihnen möglich war. Dann löschte Grace‘ Schillok die Flammen und nachdem der Rauch sich verzogen hatte, kuschelten sie sich alle dicht aneinander in die Wolldecken. Arkani hatte sich hinter Lyra und Grace gelegt und sein dichtes Fell funktionierte wie eine warme, kuschelige Decke in ihrem Rücken. Als es draußen immer heller wurde und die ersten Sonnenstrahlen die Berghänge einnahmen, war Lyra bereits tief und fest eingeschlafen, doch sie träumte von Kämpfen, die sie nicht gewinnen konnten, und schreckte mehrfach schweißgebadet aus ihren Alpträumen hoch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)