The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 33: Zekrom ------------------ Blitze zuckten durch den finsteren Nachthimmel hoch oben über den Köpfen der Wächter, Minister, Krieger und der beiden verbliebenen Mitglieder der Königsfamilie der Zerrwelt. Das Donnergrollen ließ nicht lange auf sich warten und man hatte beinahe das Gefühl, dass der Boden ganz leicht vibrierte wie unter dem Schrei eines, nun ja … Legendären Pokémon. Cassandra und Lyra tauschten einen besorgten Blick aus, der nur zu deutlich zeigte, wie beide Mädchen an dasselbe dachten. Prinz Melik hatte ihnen mit Zekrom gedroht und nun zuckten immer wieder Blitze über den Himmel, der sich innerhalb weniger Minuten mit dunklen Gewitterwolken zu füllen begann, deren gespenstisches Glühen immer dann zu sehen war, wenn sich die Elektrizität entlud. „Ich kann nicht verstehen, wieso ein Legendäres sich ausgerechnet diesem Ekel von Prinz unterwirft“, stieß Lyra aus beinahe zusammengekniffenen Lippen hervor und warf einen Blick zurück auf Sarin, der noch immer ohnmächtig auf dem Boden lag, aber wenigstens nicht mehr aus der Stichverletzung blutete. „Meinst du, wir können ihn einfach hier liegen lassen?“, fragte Cassie und ihr Blick wanderte unruhig zwischen Sarin, ihrem Bruder, den sie nie richtig kennen gelernt hatte, und dem Kampfgeschehen auf der freien Ebene hin und her. „Nicht, dass er wieder verletzt wird.“ „Hier hinten ist außer uns keiner mehr und die Wachen haben alle Hände voll zu tun, um unseren Angriff abzuwehren. Siehst du, wie sie sich um Melik zusammenrotten?“ Lyra knirschte mit den Zähnen und warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, den er selbst auf die Entfernung zu spüren schien, denn in genau diesem Augenblick wandte er den Kopf in ihre Richtung und ihr lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. „Wahrscheinlich denkt er sowieso, dass Sarin stirbt. Wir können hier nicht rumstehen.“ Cassie nickte, dann rannten sie gemeinsam auf das Geschehen zu, Golbit, Nebulak und Felilou dicht auf den Fersen. „Lyra!“ Grace‘ Gesicht war gerötet und die unzähligen Tränen, die sie um Sarin vergossen hatte, hatten ihre Augen ebenfalls feuerrot werden lassen, was in der dunklen Nacht, die nur durch die Blitze und die Attacken ihrer Pokémon erhellt wurde, gruselig aussah. „Dir geht es wieder gut? Wie …“ „Später.“ Lyra drückte Grace‘ Unterarm. „Sarin hat überlebt. Er wird durchkommen.“ Zumindest hoffte sie das. Sie war keine Ärztin und weit davon entfernt sich medizinisch ausgebildet zu nennen, aber Kyurems Heilkraut hatte die Blutung gestoppt und die Wunde verschlossen. Mehr als hoffen konnte sie nicht, doch das sagte sie Grace nicht – erst recht nicht jetzt, wo sie sich mitten im Kampf befanden. Grace nickte und ihr Blick flackerte für einen kurzen Moment, als wüsste sie nicht, ob sie Lyras Worten Glauben schenken konnte, doch im Endeffekt machte es keinen Unterschied. Sie mussten kämpfen, wenn sie sich, Cassie und diese ganze Welt vor Melik retten wollten. Lyra ließ ihren Blick über das Getümmel schweifen und versuchte sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Die gute Nachricht war, dass außer den Ministern Katleen und Eyvan keine weiteren Minister am direkten Kampf beteiligt waren und sie im Gegensatz zu den normalen Palastwachen als einzige vollentwickelte Pokémon besaßen. Die schlechte Nachricht war, dass von den beiden kampferprobten Stolloss noch beide im Rennen waren, auch wenn sich eines nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte und sich einen erbitterten Zweikampf mit Grace‘ Arkani und Schillok lieferte. Leos Walraisa hatte bereits zu Beginn des Kampfes einen Volltreffer erlitten und war besiegt zu Boden gegangen, was bedeutete, dass sein Luxtra mit wildem Brüllen gleich gegen mehrere Gegner zu kämpfen hatte. Das zweite Stolloss hielt Rosi in Schach, was insofern gut war, als dass es sich nicht auf die anderen Wächter stürzen konnte, doch gleichzeitig hieß das auch, dass Finns Pokémon ihnen nur Zeit verschaffen konnte, um näher an Melik heranzukommen. Finn hingegen bekämpfte mitten im Zentrum zwei Palastwachen mit bloßen Fäusten. Sarins Pokémon, Lucario und Golgantes, waren stark, aber gegen die Masse an Gegnern hatten auch sie ihre Schwierigkeiten. Trotzdem wichen beide Pokémon keinen Zentimeter zurück und stellten sich furchtlos jedem in den Weg, wobei insbesondere Lucario aussah, als würden seine Augen vor Wut Funken sprühen. Weder Cassie noch Lyra zweifelten daran, dass beide Pokémon aus Loyalität ihrem Trainer gegenüber bis in den Tod gehen würden. Ungerührt von all dem befand sich Melik am anderen Ende des Geschehens, neben ihm ein halbes Dutzend Wachen und die beiden Minister, die den Pokémon Befehle zuriefen. Als sich Meliks und Lyras Blicke kreuzten, glaubte sie ein Grinsen auf seinem Gesicht zu erkennen. „Er findet das alles unglaublich spaßig“, resümierte sie und ballte die Hände zu Fäusten. „Wir müssen ihn irgendwie außer Gefecht setzen.“ „Wie sollen wir das schaffen?“ Cassies Stimme war ungewohnt fest. Vor einigen Wochen wäre sie noch panisch vor dieser Auseinandersetzung geflohen, doch nun stand sie Schulter an Schulter neben Lyra und ihr Blick war fest geradeaus gerichtet, direkt auf ihren Bruder. „Wenn wir versuchen einfach außen rum zu gehen, werden uns die Pokémon angreifen und an den Wachen kommen wir sowieso nicht alleine vorbei.“ „Dann gehen wir eben einmal quer durch.“ Lyra nickte Cassie zu. „Ich passe auf dich auf, außerdem haben wir noch unsere Pokémon. Sie sind keine starken Kämpfer, aber sie werden uns beschützen.“ Felilou sträubte zustimmend sein Fell, während Nebulak einmal schnell im Kreis schwebte und Golbit seine Fäuste aneinander schlug, sodass ein krachendes Geräusch zu hören war. „Einverstanden. Wir kämpfen uns bis zu Melik vor und wenn wir ihn nicht zur Vernunft bringen können, werden wir ihn angreifen.“ „Zur Not mit roher Gewalt.“ Cassie verzog den Mund zu einem freudlosen Lächeln. „Zur Not mit roher Gewalt“, wiederholte sie. Wie auf ein Kommando hin stürmten die beiden los und duckten sich unter einem von Arkanis Flammenwürfen hindurch. Nebulak und Felilou wehrten gemeinsam einen Angriff von der linken Seite ab, während Golbit seine neu entdeckte TM-Attacke nutzte, um ein Stollrak aus dem Weg zu fegen. Finn und Leo, die beide ebenfalls mitten im Schlachtfeld standen und bereits ebenso ramponiert aussahen wie ihre Pokémon, erkannten gleichzeitig, was Lyra und Cassie vorhatten. Auf halber Strecke sprang ihnen Luxtra zur Hilfe, musste sich jedoch Sekunden später wieder verabschieden, um ein Panzaeron zu Boden zu reißen, das vom Himmel zu ihnen hinunter gestürmt kam. „Verdammt, wir stecken fest!“ „Nein, wir müssen einfach weiter!“ Lyra versuchte die ganzen Kampfgeräusche einfach zu überschreien, was ihr jedoch nur mäßig gelangt. Im selben Augenblick erwischte sie der Ausläufer einer Erdbeben-Attacke und sie stürzte der Länge nach zu Boden – so wie etwa die Hälfte aller am Kampf beteiligten Pokémon, was auf einen Schlag bedeutete, dass sich der Kampf dem Ende näherte. Irgendwie schafften sie es sich Melik bis auf wenige Meter zu nähern. Noch immer stand der Prinz ungerührt an seinem Platz, doch seine Wachen waren nicht mehr bei ihm. Sie hatten sich, nachdem so viele Pokémon besiegt waren, ebenfalls nach dem Erdbeben in den Kampf gestürzt. Lyra schaute Melik direkt ins Gesicht. Er lächelte zufrieden, während Ministerin Katleen ihr Schwert zog und Minister Eyvan eine Streitaxt in den Händen hielt. Ein Treffer wäre tödlich, daran bestand kein Zweifel. Obwohl Lyra Melik hasste für das, was er ihr und allen anderen angetan hatte, war es Cassandra, die das Wort ergriff. „Du musst sofort damit aufhören, Melik!“ „Wie kannst du es wagen, den Prinzen einfach anzusprechen!“, polterte Eyvan, doch Melik gebot ihm mit erhobener Hand zu schweigen. „Cassandra, Schwesterherz, gefällt dir die Vorstellung?“ Sie presste die dünnen Lippen aufeinander. „Du hast das Fischerdorf am See einfach angreifen lassen, nur weil du mich gefangen nehmen wolltest. Es war pures Glück, dass es statt der ganzen Verletzten keine Toten gab. Außerdem hast du meine Freunde angegriffen!“ „Deine Freunde, wirklich? Soweit ich mich entsinne, bist du doch nur mit Lyra bekannt.“ Er grinste. „Weißt du, ich finde das alles wirklich amüsant. Sehr amüsant.“ „Amüsant ist es ganz sicher nicht“, mischte sich nun auch Lyra ein. „Du unterdrückst dein Volk, löschst ganze Dörfer von der Landkarte und wolltest Cassandra ermorden lassen, als sie noch ein Kind war! Und wofür? Du bist doch schon Herrscher der Zerrwelt, wie viel Macht willst du noch?“ „Das verstehst du nicht, kleine, dumme Wächterin.“ Das Lächeln in seinem Gesicht gefror und sein Blick wanderte über ihre Köpfe hinweg zu den anderen. Die Geräusche des Kampfes waren leiser und weniger geworden und kurz darauf tauchten Leo und Grace neben Lyra und Cassandra auf, dann auch Finn. „Gib auf Melik, wir haben alle deine Palastwachen besiegt. Es sind nur noch du und deine beiden Minister übrig.“ Finn sprach klar, doch sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch. „Wir haben gewonnen.“ „Gewonnen?“ Melik schnalzte mit der Zunge. „Wohl kaum. Ich wollte nur wissen, wie weit ihr es bringt.“ Aus einem Aprikokoball an seinem Gürtel schoss ein roter Lichtblitz hervor, dann formte sich daraus ein Golgantes, das das von Sarin um einen Kopf überragte und noch dazu einen schwarzen, schimmernden Körper besaß. Lyra hatte überhaupt nicht bemerkt, wie Melik nach dem Ball gegriffen hatte. Alle Anwesenden hielten für einen Moment den Atem an. Grace und Leo warfen sich beinahe panische Blicke zu, denn den Sieg über das zweite Stolloss hatte sowohl Schillok als auch Luxtra die letzten Kraftreserven gekostet und Arkani konnte nur noch mühsam auf drei Pfoten stehen. Rosi knurrte bedrohlich, verstummte jedoch, als das Golgantes des Prinzen mit einem lauteren, tieferen Grollen antwortete und unmissverständlich klarmachte, wer der Stärkere war. „Wie ich sehe, seid ihr schlau genug, um zu bemerken, dass ihr gegen mein Pokémon keine Chance habt.“ Lyra unterdrückte nur mühsam den Drang aufzuschreien und Melik an die Kehle zu springen. Er hatte sich den ganzen Kampf über nicht eingemischt, weil er sie auflaufen lassen wollte. „Wir sind noch lange nicht fertig, Melik!“ „Das sehe ich anders.“ Er warf ihr einen tadelnden Blick zu, mit dem man für gewöhnlich kleine, unachtsame Kinder bedachte. Außerdem gab es noch immer Katleen und Eyvan und ihre Waffen, die kein Spielzeug waren. Sie waren echt und würden genauso gut durch ihre Körper schneiden wie durch Sarins, nur dass es kein Heilkraut mehr gab, das ihre Leben ebenfalls retten würde. „Wieso wusstest du überhaupt, dass die Wächter kommen würden, um mich zu befreien?“, fragte Cassie nun. Auch sie musste sich eingestehen, dass sie nicht gegen Golgantes und die Waffen angehen konnten. „Und woher wusstest du, dass ich hier sein würde? Außer der anderen Lyra und mir hat niemand von diesem Plan gewusst.“ Wenn Cassie erwartet hatte, dass Melik bei der Erwähnung der anderen Lyra überrascht sein würde, hatte sie sich geirrt. Der Prinz gab lediglich ein müdes Gähnen von sich. „Bist du wirklich so naiv zu glauben, dass ich nicht weiß, was in meinem Kristallpalast vor sich geht? Natürlich habe ich mitbekommen, dass du im Spiegelsaal den Zeitenspiegel benutzt hast und deine Wächterin aus der Zukunft zu dir gekommen ist. Ich dachte mir, dass es eine nette Abwechslung sein würde, aber sie hielt sich nur im Hintergrund und dachte, dass man sie nicht entdeckt hatte.“ Er schüttelte über so viel Naivität den Kopf. „Als ich merkte, dass sie mir nicht direkt von Nutzen sein würde, ließ ich sie trotzdem herumspionieren, weil ich wissen wollte, was ihr tun werdet – und siehe da, du tauchst hier auf.“ „Das erklärt noch lange nicht, wieso du uns in eine Falle locken konntest.“ Finn spießte ihn mit seinem Blick nahezu auf, doch natürlich hatte dies keine Wirkung. „Du hast von Anfang an gewusst, dass wir heute Nacht angreifen würden und warst vorbereitet.“ „Natürlich war ich das.“ „Wie?“, fragte nun auch Leo. „Eigentlich seid ihr es überhaupt nicht wert, dass ich euch das erzähle, aber … Wieso eigentlich nicht?“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ihr werdet sowieso nicht mehr lange leben. Wisst ihr, in euren Augen muss ich aussehen wie ein Monster, aber das bin ich nicht. Die Zerrwelt ist mein Zuhause, mein Königreich, aber diese Welt ist nur stabil, wenn sie von einem Herrscher reagiert wird, der die Drachenpokémon besänftigt und die Kraft der Legendären stabil hält. In dem Moment, in dem Cassandra geboren wurde, geriet unsere Welt ins Ungleichgewicht. Sie oder ich, es kann nur einen Herrscher geben. Was bedeutet ihr Leben im Vergleich zu einer ganzen Welt?“ Schweigen legte sich über die Gruppe. Bisher hatten sie angenommen, dass Melik ein machthungriger, fehlgeleiteter Tyrann war, doch wenn er mehr wusste als sie, wenn diese Welt wirklich aus den Fugen geriet, nur weil Kyurem zwei Königskinder gezeichnet hatte, dann ließ es ihn in einem ganz anderen Licht erscheinen. Dennoch weigerte Lyra sich auch nur annähernd so etwas wie Verständnis aufzubringen. Er hatte sie alle töten wollen – und wollte es immer noch. Er war kein guter Mensch. Punkt. „Zu meinem Glück gibt es seit Anbeginn dieser Welt eine Prophezeiung, die auf die heutige Nacht verweist: Fünf Wächter, gesegnet mit der Kraft der Sterne, werden kommen und die zweigeteilte Macht wird wieder geeint. Leier leuchtet hell, Löwe ist der unscheinbare Beschützer, Kranich steigt wie Phönix aus der Asche, Delphin rettet die Todgeweihten, Herkules kniet nieder. Wie passend, nicht wahr? Es geht noch weiter: Der Glücksstern des Königs überlebt die Flut, der Seherin Unheil bringt die Vernichtung.“ Melik begann wieder zu grinsen. „Wusstest ihr schon, dass ich nach Sadalmelik, einem Stern im Sternbild Wassermann, benannt bin und dieser Name ‚Glücksstern des Königs‘ bedeutet? Und wusstet ihr auch, dass Cassandras voller Name Cassandra Cassiopeia lautet, also ebenfalls genau dieser Prophezeiung entspricht? Oh, euren bestürzten Gesichtern nach wusstet ihr das noch nicht. Wie nett von mir, dieses Wissen mit euch zu teilen, nicht wahr?“ Lyra musste schlucken. Wenn das alles wahr war – und daran zweifelte sie nicht, denn wieso hätte Melik ihnen sonst diese Falle stellen können –, dann klang diese Prophezeiung wirklich sehr danach, dass Melik der Sieger dieses Kampfes sein würde und Cassie die Vernichtung über sie brachte. Waren all ihre Bemühungen tatsächlich vergebens? Lyra bemerkte nicht einmal, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. „Nun aber genug mit der Plauderei.“ Meliks Gesichtsausdruck wurde ernst. „Ich kann nicht zulassen, dass euer Handeln die Zerrwelt vernichten wird, denn das würde den Tod tausender Menschen und Pokémon bedeuten. Es tut mir leid, aber mir bleibt keine andere Wahl.“ Über ihnen teilten sich die Gewitterwolken und aus ihrer tiefen Schwärze senkte sich Zekrom wie ein todbringender Gott herab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)