The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 1: Regen ---------------- Der Regen prasselte gleichmäßig gegen die Fensterscheiben und bildete zusammen mit dem Rauschen der Blätter in den Bäumen eine gleichmäßige Geräuschkulisse, die erst durchbrochen wurde, als ein erstickter Schrei durch das Zimmer hallte. Cassandra schreckte aus dem Schlaf auf und der gehetzte Blick ihrer taubenblauen Augen schnellte unsicher in der Dunkelheit des Zimmers umher, bis sich ihr Herzschlag ein wenig beruhigte. „Es war ein Traum, nur ein dummer Traum… Beruhige dich, Angsthase!“ Sie gab sich selbst einen leichten Schlag auf den Hinterkopf, atmete tief durch und kuschelte sich wieder in ihr großes Kopfkissen. Doch der Schlaf wollte nicht mehr kommen, sie war hellwach und durchlebte vor ihrem inneren Auge den Traum, der sie regelmäßig tief in der Nacht quälte. Sie rannte und das Geräusch des knirschenden Schnees unter ihren Füßen war so ohrenbetäubend laut in ihrem Kopf, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Mit aller Kraft zwang sie ihren kindlichen Körper immer weiter zu laufen. Licht tat sich vor ihr auf, verschluckte sie und schleuderte sie in tiefste Finsternis. Sie schrie. Es war immer dasselbe und anfangs hatte Cassandra es auf ein Buch schieben wollen, das sie in ihrer Kindheit ab und an gelesen hatte, aber nach und nach musste sie sich eingestehen, dass dieser Traum sie nicht losließ; er verfolgte sie unbarmherzig Monat für Monat, Jahr für Jahr, immer in den Neumondnächten. Das Mädchen schlug schließlich ihre Bettdecke zur Seite, streifte ihren hellblauen Morgenmantel über, schlüpfte in die flauschigen Hausschuhe und verließ ihr kleines Zimmer, in das nicht mehr als ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Regal und ein Schreibtisch passte. Es war die Standardeinrichtung der Zimmer im Sankt Josephines, dem Waisenhaus der Stadt, wobei Cassandra noch das Glück eines Einzelzimmers hatte, die meisten Kinder und Jugendlichen waren in Doppelzimmern untergebracht. Zu einem dieser Doppelzimmer führte sie nun auch ihr Weg über den dunklen Flur mit den polierten Holzdielen. Vor einem Zimmer am Ende des Gangs blieb sie stehen, klopfte leise an und drückte dann die Klinke hinunter, um in den Raum zu spähen. Die rotblonde Lyra, deren Haare einen fast schon rosa Schimmer aufwiesen, lag in ihrem Bett und schlief seelenruhig, das Bett an der gegenüberliegenden Wand war leer. Cassandra kannte keine Einzelheiten, aber Lyras Zimmernachbarin war vor einigen Wochen an einer schweren Krankheit erkrankt und befand sich seit dem im Krankenhaus. „Lyra?“ Zögerlich trat sie ein, schloss vorsichtig die Tür hinter sich und ließ sich dann auf der Bettkante des leeren Betts nieder. „Lyra?“ „Hm…?“ Nur langsam kam Leben in das andere Mädchen, das blinzelnd die Augen öffnete und sich aufsetzte, sobald sie ihre Freundin in ihrem Zimmer erblickte. „Cassie? Was ist los?“ „Ich kann nicht schlafen. Entschuldige bitte, dass ich dich aufgeweckt habe.“ „Schon gut“, erwiderte Lyra gähnend und schlang sich die Bettdecke um die Schultern. „Du hattest wieder diesen Traum, nicht wahr?“ Als Cassandra nickte, seufzte die andere mitfühlend. „Oh Cassie, das tut mir leid.“ „Störe ich?“ „Nein, das weißt du doch.“ Mittlerweile war Lyra wach und schaltete das Licht auf ihrem Nachttisch an, damit sie mehr sehen konnte. Im ersten Moment blendete sie das Licht, aber schon kurz darauf hatten sich ihre Augen daran gewöhnt. „Eine ziemlich regnerische Nacht.“ „Man kann keinen einzigen Stern am Himmel sehen“, sagte Cassie, rückte auf der Matratze bis zur Wand und zog die Knie an. „Weißt du, worüber ich mir Gedanken mache, Lyra? Ich denke, dass mein Traum eine Bedeutung haben muss, sonst würde er nicht in jeder Neumondnacht wiederkehren und mir den Schlaf rauben. Wenn ich in diesen Nächten aufwache, habe ich immer das Gefühl, dass ich nicht hier sein sollte, dass ich nicht hier her gehöre.“ „Du meinst Heimweh?“ „So in der Art, ja.“ Traurig senkte sie den Blick und spielte mit ihren langen, silberweißen Haaren. Es war eine so ungewöhnliche Haarfarbe, dass Cassie dafür oft Spott von den anderen Kindern erhielt, aber Lyra sagte ihr stets, dass sie sich nicht als Außenseiterin, sondern als etwas Besonderes sehen sollte. „Ich weiß nur nicht, wo ich hingehöre.“ „Das weiß wohl keiner von uns, bis wir den Ort gefunden haben“, meinte Lyra, wobei sie den Kopf leicht schief legte. Sie selbst war schon seit dem Kleinkindalter im Waisenhaus. Ihre Eltern waren damals bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen und ihre einzige Verwandte, die Tante ihres Vaters, weigerte sich bis heute für sie zu sorgen. Für Lyra war das Waisenhaus immer ihr Zuhause gewesen, die anderen Kinder ihre Freunde und Familie. Cassandra hingegen war mit acht Jahren zu ihnen gekommen und Lyra erinnerte sich daran, dass Cassie ein vollkommen verschüchtertes Mädchen gewesen war, das eines Nachts von einem Unbekannten vor den Toren des Sankt Josephines abgeliefert worden war. Cassie erinnerte sich weder an ihre Familie noch an ihre Herkunft. Ein Scharren direkt vor der Tür ließ beide Mädchen zusammenzucken, aber Lyras Gesicht erhellte sich ziemlich schnell, als sie aufstand und die Tür öffnete, woraufhin ein Felilou schnurrend ins Zimmer kam und elegant auf Lyras Bett sprang. Das lila Katzenpokémon streckte sich auf der Bettdecke aus und ließ sich von dem Mädchen mit Streicheleinheiten verwöhnen. „Felilou hat dich ja richtig gern.“ Cassie kicherte leise und beobachtete, wie Lyra dem Pokémon einen Kuss ins Fell drückte. „Du hast wirklich ein Händchen für Pokémon.“ „Nur bei Felilou“, entgegnete Lyra sofort. „Mit den Hundustern vom Wachmann kommt doch niemand klar, also mach dich nicht selbst runter. Felilou mag dich total und es lässt sonst nur die alte Josephine und deren Tochter Ines an sich heran.“ „Weil sie ihre Besitzer sind, Cassie.“ „Und du bist es nicht, ergo hast du ein Händchen für Felilou“, argumentierte die Weißhaarige, der man aufgrund ihrer Haarfarbe den Nachnamen White in die Papiere eingetragen hatte. „Ich wünschte, ich könnte mir einfach ein Pokémon fangen und von hier verschwinden – an irgendeinen Ort, wo es besser ist als hier.“ „Du weißt, dass das nicht geht“, schaltete Lyra sich sofort ein und nahm Felilou auf ihren Schoß. Den Kindern im Waisenhaus war es verboten eigene Pokémon zu besitzen, weil es dadurch schnell zu Kämpfen, Rivalitäten und Tumulten kam. „Wir müssen nur warten, bis wir volljährig sind, dann können wir uns einen Ausbildungsplatz suchen und gehen.“ „Ich beneide die Trainer dort draußen, die schon mit zehn ihre Lizenz bekommen und Abenteuer erleben.“ Cassie schmollte. Zwar war sie ein kleiner Angsthase, aber trotzdem sehnte sie sich danach der Eintönigkeit im Waisenhaus zu entfliehen. Lyra beobachtete ihre Freundin, schob das Katzenpokémon sanft zur Seite und stand auf. „Lass uns draußen spazieren gehen.“ „Jetzt?“ Erschrocken riss Cassie die Augen auf. „Es ist mitten in der Nacht und es regnet!“ „Wir lassen uns nicht erwischen und nehmen den Regenschirm mit. Na los, komm, du kannst dir eine Jacke und Schuhe von mir leihen.“ „Das ist gefährlich, Lyra…“ „Ach, papperlapapp“, winkte diese lediglich ab und holte schon die Sachen aus ihrem Schrank. „Das bringt dich auf andere Gedanken.“ Nur etwa fünf Minuten später schlichen die beiden Mädchen mit einer Taschenlampe und einem dunkelgrauen Regenschirm bewaffnet durch die Flure, bis sie über eine Steintreppe in die Küche gelangten, von der der Dienstboteneingang abzweigte. Natürlich war die Tür abgeschlossen, aber jeder, der schon eine Weile hier war, wusste, dass der Schlüssel in dem größten Kochtopf aufbewahrt wurde. Kaum gingen sie einen Schritt nach draußen, schlug ihnen feiner Regen ins Gesicht. Lyra spannte schnell den Regenschirm auf, hakte sich grinsend bei Cassie unter und lief dann mit ihr über den Innenhof des Waisenhauses in den Garten, wo sie ungestört die Taschenlampe anmachen konnten. Vom Gebäude aus sah man nur einen kleinen Teil des Gartens ein, sodass der Lichtschein nicht bemerkt werden würde, selbst wenn noch andere um diese Uhrzeit auf den Beinen waren. „Frische Luft ist das beste Rezept gegen Sorgen aller Art“, flötete Lyra gut gelaunt und wich den knöcheltiefen Pfützen im Rasen aus. „Jetzt schau nicht so, Cassie. Uns wird schon nichts passieren.“ Just in diesem Moment zuckte ein Blitz über den wolkenverhangenen Nachthimmel und ließ Cassie leise aufschreien. „Muss das wirklich sein? Wir holen uns noch eine Erkältung und dann müssen wir Josephine erklären, wieso wir nachts durch den Regen wandern.“ Lyra rollte mit den Augen und zog ihre Freundin weiter über den Rasen, bis sie auf einen mit Steinplatten ausgelegten Weg stießen, der den Hof mit einem Pavillon mitten im Garten verband. „Stellen wir uns dort ein Weilchen unter.“ „Ja, bitte.“ Man konnte der Weißhaarigen deutlich ansehen, dass sie von der ganzen Nachtwanderungsaktion wenig begeistert war, aber sie wollte Lyra auch nicht den Spaß verderben. Sobald sie wieder ein Dach über dem Kopf hatten, ließ sie sich auf einer der Bänke des Pavillons nieder. „Der Himmel ist wirklich unruhig.“ „Stimmt.“ Auch Lyra ließ sich auf einer Bank nieder und stellte die Taschenlampe aus, als weitere Blitze über den Himmel zuckten und die Umgebung sekundenlang erhellten. Plötzlich schlug ganz in ihrer Nähe ein Blitz ein und blendete die beiden Mädchen, die erschrocken aufsprangen und in ihrer kurzen Panik hektisch gegeneinander gelaufen waren. „Aua!“ Lyra rieb sich die Schulter, gegen die Cassie geprallt war. Cassie wiederum richtete mit großen Augen ihren Blick auf die Baumgruppe in ihrer Nähe, in die der Blitz eingeschlagen war. „Hast du das gesehen?“ „Wie sollte ich das übersehen haben“, knurrte Lyra und blinzelte gegen die weißen Flecken vor ihren Augen an. „Nein, ich meine den Mann bei den Bäumen…“ Ängstlich klammerte Cassie sich an ihre Freundin. „Ich bin mir ganz sicher, dass ich direkt nach dem Blitz einen Mann dort stehen sah.“ Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern und ihr schlug das Herz bis zum Hals. „Oh bitte, bitte, lass uns zurück gehen. Ich habe Angst, Lyra.“ Die Rothaarige kniff die Augen leicht zusammen und schaute angestrengt zu den Bäumen, konnte allerdings nichts erkennen. „Da ist niemand.“ „Gehen wir, bitte.“ Lyra schaltete die Taschenlampe an, nahm den Regenschirm und spazierte direkt auf die Baumgruppe zu, was ihr nur noch mehr Gejammer seitens Cassandra einbrachte, die weder alleine im Pavillon zurückbleiben noch zu den Bäumen wollte. „Wir gehen ja gleich“, beruhigte Lyra das andere Mädchen und ließ den Lichtstrahl über die Baumstämme und die Umgebung wandern. „Siehst du, hier ist niemand. Das war Einbildung. Wer sollte außerdem nachts durch den Garten des Sankt Josephines schleichen, es gibt hier nichts zu holen.“ Der Lichtkegel wanderte weiter, bis er eine Stelle erreichte, an der alte Tannennadeln auf dem Boden Spuren von Glut an sich hatten, die in winzigen Rauchfäden vom Regen gelöscht wurden. „Das ist interessant.“ „Nein, ist es nicht“, zischte Cassandra und sprang unruhig von einem Bein auf das andere. „Lass uns einfach gehen. Lyra, ernsthaft, ich habe Angst und will sofort zurück!“ „Nur noch ein Moment.“ „Lyra!“ „Sieh mal, was ist das?“ Lyra bewegte sich auf die Glutreste zu, trat sie mit der Schuhsohle aus und deutete mit der Taschenlampe auf eine Delle im Boden, in der zwischen rauchenden Tannennadeln und alten Blättern etwas Helles hervorschimmerte. „Halt mal die Taschenlampe.“ Beherzt drückte sie Cassandra das schwarze Gerät in die Hand, schob die pflanzlichen Reste mit dem Fuß zur Seite und sog dann scharf die Luft ein, als sie sah, was sie da gerade eben freigelegt hatte. „Ein Pokémon-Ei.“ Nun überwog auch bei Cassie die Neugier. Sie näherte sich vorsichtig der Stelle und schaute auf das Ei, das einsam und alleine an dem Fleckchen Erde lag, in dem der Blitz eingeschlagen haben musste. Neben den Bäumen, was schon seltsam genug war. „Was macht das Ei hier?“ Soweit sie wusste, nisteten auf dem Gelände nur einige Vogelpokémon hoch oben in den Bäumen und die Brutsaison stand erst noch bevor. „Das Muster auf dem Ei sieht hübsch aus. Blaue Flecken auf der hellen Eischale.“ „Denkst du, wir können es hier liegen lassen?“ „Wir können es nicht mitnehmen.“ Cassandra pausierte und musterte ihre Freundin. „Lyra, das gibt höllischen Ärger.“ „Wir können es wohl kaum hier draußen lassen, es kümmert sich doch bestimmt niemand darum.“ Das überzeugte Cassie, auch wenn sie sich ausmalte, was sie dafür alles für Strafen bekommen konnten. „Also schön.“ Vorsichtig hob sie das Ei hoch und drückte es gegen ihren Körper. „Ganz schön schwer.“ Langsam ließen sie die Baumgruppe und den Pavillon hinter sich, sprachen auf dem ganzen Rückweg zum Gebäude kein Wort und hingen beide ihren Gedanken nach. An der Küchentür trockneten die Mädchen zuerst das Ei und dann die Taschenlampe und den Schirm mit einem Küchenhandtuch ab, das sie dann in den Behälter der Schmutzwäsche im Nachbarraum legten. Sie einigten sich darauf, dass Cassandra das Ei in ihrem Zimmer verstecken würde, weil Lyra jederzeit eine neue Mitbewohnerin zugeteilt bekommen könnte. Ein letztes Mal warf Cassie einen Blick hinaus in den Hof zum Garten und für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus, weil sie sich sicher war, dort draußen in der Dunkelheit wieder diese schemenhafte Gestalt ausmachen zu können. Kaum blinzelte sie, war die Gestalt verschwunden. „Einbildung“, murmelte sie, drückte die Tür zu und schloss ab. Doch das Gefühl, das sie an ihr Erscheinen hier im Waisenhaus erinnerte, blieb. Auch damals war es eine regnerische Gewitternacht gewesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)