The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 11: Dunkle Schatten --------------------------- Lyra schreckte auf, als etwas gegen die Fensterscheibe flog und einen dumpfen Knall machte, der noch minutenlang in ihrem Kopf nachhallte. Es dauerte, dann kamen ihr die Tränen, als sich der Schreck ein wenig legte und sie nach draußen schaute, wo ein Sturm in der finsteren Nacht tobte und nicht auch nur einen Funken Sternenlicht bis zur Erde durchdringen ließ. „Cassie…“ Tränen rannen ihr die Wangen hinab, doch sie zwang sich zur Ruhe und vergrub das Gesicht im Kopfkissen, während der Regen gegen die Scheibe prasselte und der starke Wind den Rollladen klappern ließ. Felilou, das bis jetzt auf dem Sessel gegenüber geschlafen hatte, trollte sich zu seiner Trainerin und krabbelte mit einem tröstenden Schnurren unter die Bettdecke, wo Lyra ihr Pokémon in den Arm nahm und fest an sich drückte. Kurz darauf rappelte der Pokéball von Nebulak auf ihrem Nachttisch; das Geistpokémon befreite sich mit einem „Bu!“und schwebte vor Lyras Bett, um das Mädchen mit Grimassen aufzuheitern. „Ich danke euch“, brachte sie leise hervor und wischte sich die Tränen von der Wange. Noch immer konnte sie nicht begreifen, was vor wenigen Stunden in der Turmruine vor sich gegangen war. Die Ereignisse lagen in ihrer Erinnerung hinter einer dicken Nebelwand. Das Erste, was sie wieder sicher wusste, war, dass Grace und Leo sie ins Pokémoncenter gebracht hatten. Die beiden hatten noch zu später Stunde eine Trainingseinheit nahe der Turmruine hingelegt und den kurzen, hellen Lichtschein bemerkt, den Cassies Verschwinden verursacht hatte. Kurz darauf mussten auch schon einige Weisen eingetroffen sein, die – zu Cassies Erstaunen – nicht wütend waren, sondern mit vollkommen ernsten und emotionslosen Mienen dafür sorgten, dass Lyra von den beiden anderen Jungtrainern vom Ort des Geschehens fortgeleitet wurde. „Cassie, wo bist du nur?“ Ihr Blick wanderte wieder hinaus in den Regen, der so schlimm war wie in jener Neumondnacht vor eineinhalb Wochen, als Cassie und sie das Pokémonei mit Golbit gefunden hatten. Dies war der Beginn ihres düsteren Schicksals – sie hätten niemals nach Teak City kommen dürfen. „Denkst du, sie schläft?“ Grace‘ melodische Stimme erklang direkt vor Lyras Zimmertür, dabei hatte man sie gar nicht kommen hören. „Ich denke schon, sie war so panisch und nervlich am Ende…“ „Ob sie wohl die Wahrheit gesagt hat?“ Leo seufzte und man hatte sofort das Bild vor Augen, wie er sich nachdenklich über den Hinterkopf strich. „Grace, ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht…“ „Die Weisen haben uns fortgeschickt“, beharrte Grace und sie klang sehr von ihrer Ansicht überzeugt. „Als wüssten sie mehr, viel mehr. Jedenfalls hoffe ich, dass es Cassandra gut geht, wo auch immer sie jetzt ist.“ „Officer Rocky ist auch sofort gegangen, als Aero und Aira aufgetaucht sind. Sie schienen beide sehr besorgt zu sein.“ „Das sind wir doch auch.“ Einen Moment herrschte Schweigen, dann fuhr Grace leiser fort. „Lass uns morgen mit Lyra reden; ich glaube, sie braucht jetzt eine starke Schulter zum Anlehnen.“ Danach war es still. Lyra schaute noch eine ganze Weile aus dem Fenster in die finstere Nacht hinaus, wo dunkle Schatten zu tanzen schienen. Dunkle Schatten… Wie in der Neumondnacht, als Cassie sich sicher war, einen Mann in ihrer Nähe gesehen zu haben. Lyra starrte noch tiefer in die Finsternis, wo sie eine Bewegung auszumachen glaubte, die nicht zu dem Sturm passte. Ein Blitz zuckte über den Himmel, blendete sie für einen Moment, trotzdem war sie sich sicher, dass ein rotes Augenpaar unweit ihres Fensters aufzuleuchten schien. Wieder Dunkelheit und Stille. Erst eine Stunde später hatte sich ihr Herzschlag soweit beruhigt, dass sie vor Verwirrung, Trauer und Erschöpfung einschlief. Arceus, bitte mach, dass es Cassie gut geht, wo auch immer sie ist… Am folgenden Tag traf Josephine ein, sprach jedoch nur kurz mit Lyra und verschwand für einige Stunden mit Officer Rocky, Aero, Aira und einigen anderen der Weisen in einem Konferenzzimmer. Nach einer halben Stunde verließ Rocky das Gespräch und Lyra erfuhr später, dass alle Nachforschungen seitens der Polizei eingestellt wurden – man legte den Fall zu den Akten oder ließ ihn gänzlich verschwinden, wer wusste das schon. Grace und Leo, die beide großes Mitleid mit Lyra hatten, versuchten das Mädchen den Vormittag über aufzumuntern, doch Lyra war nicht nach großen Gesprächen zumute, weshalb sie sich die meiste Zeit über mit Felilou und Nebulak in die Lobby des Pokémoncenters zurückzog und heiße Schokolade mit Sahne trank. Als die Konferenz von all jenen, die etwas zu sagen hatten, beendet war, trat Josephine seufzend an Lyra heran und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Es tut mir so leid, Liebes. Dass du so etwas erleben musst.“ Lyra hob den Blick und schaute der Waisenhausleiterin direkt in die Augen, während sie die Tasse abstellte. „Was genau ist in den Ruinen passiert? Wo ist Cassie?“ Sie entdeckte Aira in ihrem knöchellangen Kimono und Psiana, die sie beide aus der Ferne zu mustern schienen, sich jedoch wegdrehten, als Lyra ihren Blick erwiderte. Nur langsam löste sie sich von dem alten Kimono-Girl und schaute wieder zu Josephine. „Was geht hier vor?“ „Lyra, Liebes, du musst sehr verwirrt sein – und traurig, das sind wir alle.“ Die alte Dame nahm neben ihr auf einem Sessel Platz. „Es scheint wohl so zu sein, dass ihr beiden zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen seid. Der Bronzeturm ist ebenso wie der Glockenturm sehr alt und birgt so manche Geheimnisse, die mit dem Einsturz infolge des Brands verloren gegangen sind. Die Weisen nehmen an, dass sich zufällig eine Art… Mechanismus eingeschaltet hat, der Cassandra an einen anderen Ort teleportiert hat.“ Für einen Moment schwieg Lyra und ließ sich die Erklärung durch den Kopf gehen. „Ist so etwas denn möglich?“ „Die Legendären Ho-Oh und Lugia waren früher sehr oft an den beiden Türmen anzutreffen, außerdem wurden Entei, Raikou und Suicune im Bronzeturm geschaffen – die Macht der Legendären ist unergründlich, ich wüsste nicht, warum es unmöglich sein sollte.“ „Also ist Cassie jetzt einfach an einem anderen Ort? Alleine und verwirrt?“ „Wir finden sie.“ „Wohin haben die Ruinen des Bronzeturms sie gebracht?“ Josephine verfiel in Schweigen, betrachtete ihren Schützling mit einem unergründlichen Blick und schüttelte schließlich den Kopf. „Das weiß ich nicht. Aber ich habe noch eine andere Frage an dich, Lyra. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du Cassandra nicht im Stich lassen möchtest.“ Die Jüngere nickte stumm. „Der Weise Aero hat angedeutet, dass es einige Möglichkeiten gibt – Orte, mit denen der Bronzeturm und der Glockenturm früher eine enge Verbindung hatten.“ „Welche Orte?“, unterbrach Lyra sie sofort und Hoffnung machte sich in ihr breit. „Ich werde dort nach Cassie suchen, egal, wie weit ich dafür gehen muss. Sie ist meine beste Freundin und ich habe ihr im Moment ihres Verschwindens nicht helfen können. Bitte, Josephine, lassen Sie mich nach Cassie suchen!“ „Das dachte ich mir schon.“ Nachdenklich rieb sie sich die Schläfen und wirkte in diesem Moment einfach nur sehr alt und sehr müde. „Also schön… Wenn du… Wenn du bis zum Anfang des nächsten Schuljahrs zurück bist, die fehlenden Unterrichtsthemen nacharbeitet hast und sich das nicht auf deine Noten im kommenden Schuljahr auswirkt, dann erlaube ich dir zu gehen.“ „Ich werde alles nacharbeiten, das verspreche ich!“ Allmählich wurde Lyra Feuer und Flamme für diese Idee, denn alleine die Vorstellung, dass sie mehr tun konnte als nur herumzusitzen, stachelte sie zu neuem Tatendrang an. „Ich werde Cassie finden.“ „Du solltest mit Aero reden, er ist im Glockenturm und wird vermutlich auf dich warten. Lyra, Liebes… Ich wünsche dir Glück – alles nur erdenkliche Glück auf dieser Welt, du wirst es brauchen.“ Die Jüngere nickte und eilte sofort zu ihrem Zimmer, um ihre Sachen zu packen, was schnell erledigt war. Doch als sie sich von Josephine verabschieden wollte, war diese bereits gegangen und hatte bei Schwester Joy ein kleines Päckchen für Lyra hinterlegt. Neugierig öffnete sie die Verpackung und fand darin einen ComDex mit saphirblauem Gehäuse. Anbei lag ein kleiner, gefalteter Zettel mit Josephines ordentlicher Handschrift: Du wirst ihn sicher gebrauchen können. Eine kleine Weile dankte Lyra der alten Dame in Gedanken, dann packte sie den ComDex in ihre Jackentasche und begab sich auf die Suche nach Grace und Leo, bei denen sie sich noch bedanken wollte. Sie fand die beiden in der Kantine beim Mittagessen und gab ihnen einen kurzen Zwischenbericht, dann machte sie sich auch schon auf den Weg zu Aero, wobei sie eine nachdenkliche Grace und einen mitfühlenden Leo zurück ließ. Mit schnellen Schritten – sie rannte beinahe – erreichte sie in kürzester Zeit den Glockenturm und wurde bereits an den Stufen zum Eingangsbereich von einem alten Mann abgefangen, der unheimlich viel Autorität und Weisheit ausstrahlte. Das musste Aero sein, eine andere Möglichkeit gab es nicht. „Lyra Hawkins“, sprach der Weise und begrüßte sie mit einem leichten Kopfnicken. „Du willst dich also auf die Suche nach deiner Freundin begeben?“ „Ja, das will ich. Ich werde nicht Ruhe geben, bis ich Cassie gefunden habe.“ „Dann sei es so. Folge mir bitte, ich möchte kurz mit dir reden.“ Er führte Lyra nicht sonderlich tief in den Glockenturm hinein, lediglich ein Stockwerk nach oben in ein Zimmer, das mehr einem typischen Büro als einem altehrwürdigen Gebäude glich. Aero nahm am Schreibtisch Platz und deutete auf den Stuhl gegenüber, der unbequemer war, als er aussah. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Lyra, dass sie nicht alleine waren – Aira samt Psiana saß auf einem Sofa in der Ecke, sagte jedoch nichts. Während Aero die Hände faltete, begann er zu sprechen. „Früher waren verschiedene Stätten, die den Legendären dienten, miteinander verbunden. Wir gehen alle davon aus, dass deine Freundin Cassandra White zu einer anderen Stätte teleportiert wurde. Allerdings kann ich dir nicht sagen, welche das sein wird, zumal wir nicht einmal alle Ziele dieses Mechanismus kennen. Ein alter Freund von Aira und mir kennt sich damit besser aus, aber er lebt sehr zurückgezogen und ist nur schwer erreichbar. Du wirst persönlich zu ihm gehen müssen, um ihn um Rat zu fragen. Sein Name ist Nero.“ Die Jungtrainerin sah fest entschlossen aus. „Gut. Wo finde ich diesen Nero?“ Aero tauschte einen Blick mit seiner Schwester aus. „Als wir das letzte Mal von ihm hörten, lebte er im Weißen Wald in Einall, das ist allerdings schon einige Jahre her. Wie gesagt, Nero lebt sehr zurückgezogen. Dennoch solltest du dort deine Suche beginnen.“ Einall also, das war wirklich ein ganzes Stück weg, doch Lyra wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. „Ich werde noch heute aufbrechen, Weiser Aero. Vielen Dank für diese Hilfe.“ „Sei vorsichtig.“ Aira erhob zum ersten Mal das Wort, stand auf und trat an die Seite von Aero. „Und pass auf dich auf, junge Lyra.“ „Das werde ich.“ Sie erwartete noch etwas von den beiden zu hören, doch die Alten schwiegen beharrlich, sodass Lyra sich dankend von ihnen verabschiedete und nach draußen ging, wo sie erst einmal tief durchatmete. Wenn das alles stimmte und Cassie einem alten Teleportationsmechanismus zum Opfer gefallen war, würde sie ihre Freundin wiederfinden. Sie konnte ja nicht im Nichts gelandet sein, nicht wahr? Fest entschlossen ging Lyra zurück zum Pokémoncenter, wo sie Grace und Leo in die Arme lief. Zu ihrer Verwunderung waren die beiden ebenso abreisebereit wie sie selbst. „Ihr reist ab?“ „Wir werden mit dir gehen“, sagte Grace mit ebensolcher Entschlossenheit, wie sie Lyra an den Tag legte, die nun allerdings ein eher perplexes Gesicht machte, immerhin kannten die drei sich nicht wirklich. „Keine Widerrede. Leo und ich haben schon länger überlegt, ob wir nicht zusammen weiterreisen sollen, da wir uns ohnehin ständig über den Weg laufen. Wir sind beide auf der Suche nach einer Herausforderung und nach einer Aufgabe, deshalb werden wir dir helfen.“ „Abgesehen davon ist es doch ganz spannend, wenn man uralten Geheimnissen auf der Spur ist, nicht wahr?“, fügte der Schwarzhaarige mit einem kecken Grinsen hinzu und stupste Lyra freundschaftlich in die Seite. „Wir würden deshalb gerne mit dir kommen, Lyra. Der Weg nach Einall ist lang, da nimmt man den doch lieber zu mehreren auf sich.“ „Also schön“, stimmte sie nach kurzem Zögern zu. Es konnte nicht schaden, wenn sie zwei erfahrenere Trainer an ihrer Seite hatte und die sie bei der Suche nach Cassie unterstützen wollten. „Dann brechen wir gleich auf?“ Sowohl Grace als auch Leo nickten. Lyra holte schnell ihren Rucksack, bedankte sich bei Schwester Joy für den guten Service und keine fünf Minuten später trat die zusammengewürfelte Truppe ihre gemeinsame Reise an, eine Reise ins Ungewisse, fort von Lyras Heimat und ihrer Vergangenheit, die sie hinter sich lassen musste, wenn sie nach vorne sehen wollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)