The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 22: Spiegelwelten ------------------------- An jenem Morgen schneite es so stark, dass Cassandra von ihrem Fenster aus nicht einmal das Meer sehen konnte. Schon eine ganze Woche war sie in diesem Zimmer gefangen und von Tag zu Tag fühlte sie sich niedergeschlagener. Margaret hatte ihr gleich am nächsten Morgen nach ihrer Ankunft mitgeteilt, dass Prinz Melik eine Ausgangssperre für sie verhängt hatte. Cassie durfte diesen Raum nicht verlassen, wenn man von dem angrenzenden Badezimmer einmal absah, und obwohl Margaret ihr täglich einige Stunden Gesellschaft leistete und ihr immer neue Bücher zum Lesen brachte – was sie jedes Mal an Lyras Leselust erinnerte und sie noch trauriger machte –, hätte sie sich am liebsten aus dem Fenster gestürzt. Die Tür zu ihrem Zimmer wurde schwungvoll aufgestoßen und sie rechnete damit, dass man ihr das Frühstück brachte, doch stattdessen trat ein älterer Mann mit wippenden Schritten und Gefolge ein. „Chérie, raus aus den Federn, wir haben viel vor! Hopp, hopp!“ Ehe Cassie sich versah, standen bereits zwei jüngere Damen bei ihr und hantierten mit Zollstock und Maßband an ihr herum. „Hey, was soll das?“ Snobilikat, das wie immer am Fußende ihres Bettes lag, hob ein Augenlid und musterte die Szenerie, ehe es sich zum Schlafen auf die andere Seite drehte. „Wer sind Sie?“ Trotzig schob sie ein Maßband von sich weg, woraufhin der Mann schnaubte und seinen grauen Schnurrbart mit den geschwungenen Enden zwirbelte. „Du weißt nicht, wer ich bin? Chérie, du bist viel zu lange in diesem Zimmer eingesperrt, ein Glück, dass sich das jetzt ändern wird.“ Grinsend verbeugte er sich vor ihr, drehte sich einmal um die eigene Achse und klopfte in die Hände, woraufhin die beiden Damen das Zimmer verließen und wenige Augenblicke später mit aufgerollten Stoffbahnen zurückkehrten. „Ich“, er machte eine theatralische Pause, „bin Monsieur Günther, der Hofschneider des Palasts. Von mir stammen all die wundervollen Kleidungsstücke der königlichen Familie und der Minister. Prinz Melik höchstpersönlich hat angeordnet, dass ich dich mit geeigneter Garderobe ausstatte, damit du dir bei dieser Kälte draußen im Garten die Beine vertreten kannst.“ „Prinz Melik hat was?“ Ungläubig starrte Cassandra Günther an, doch dieser war bereits zu beschäftigt zum Antworten und hielt ihr diverse Stoffproben vor den Körper. Erst ließ der Prinz sie eine ganze Woche lang einsperren und nun sorgte er dafür, dass sie Winterkleidung geschneidert bekam? „Deine Haare sind zu hell für kräftige, warme Farben, aber diese Saison sind ohnehin die Metalle in Mode. Weißes Fell und silberner Stoff! Chérie, du wirst bezaubernd aussehen!“ Mit diesen Worten klatschte er erneut in die Hände. Seine Assistentinnen rafften alles zusammen und schon waren die drei wieder verschwunden. Kopfschüttelnd ließ Cassie sich auf der Bettkante nieder und schaute auf, als – zum Glück – Margaret mit einem Tablett hinein kam anstatt Günther. „Günther war hier“, sagte Cassandra trocken und machte der Dienstmagd Platz, damit sie das Tablett auf dem Nachttischchen abstellen konnte. „Er hat gesagt, dass Prinz Melik mir eine Wintergarderobe schneidern lässt.“ „Ja, einen Wintermantel“, erwiderte Margaret, während sie die Abdeckhaube vom Tablett nahm und wieder einmal lauter Köstlichkeiten zum Vorschein kamen. „Wir haben einen Kälteeinbruch, aber das ist nicht ungewöhnlich zu dieser Zeit. Von den Bergen kommen noch bis in den Mai hinein immer wieder kalte Fallwinde. Vor einigen Jahren hat es sogar Anfang Juni Frost gegeben.“ „Wieso bekomme ich einen Wintermantel? Ich dachte, der Prinz hasst mich.“ „Prinz Melik ist kein so schlechter Mensch, wie du vielleicht denkst, Cassandra.“ Margaret seufzte wie eine alte Frau, die in ihrem Leben schon so viel gesehen hatte. „Er hat es nicht einfach – und nun iss, damit du etwas in den Magen bekommst. Du brauchst deine ganze Energie, wenn du heute den Tag mit Günther verbringst.“ Mit einem flüchtigen Augenzwinkern verließ Margaret wieder das Zimmer und ließ Cassandra mit dem Frühstück alleine zurück. Diese setzte sich wieder auf die Bettkante und zog das Tablett zu sich aufs Bett. Eine große Tasse Kakao dampfte vor sich hin, daneben stand ein Glas mit frisch gepresstem Orangensaft, der sehr süßlich schmeckte, wahrscheinlich waren noch ein paar Beeren mit dabei. Auf einem Teller stapelten sich mehrere dicke, kreisrunde Pfannkuchen mit Blaubeeren und Sirup, auf einem anderen Teller lag Omelette mit Käse- und Schinkenfüllung. Schließlich gab es noch einen durchsichtigen Glasbecher, in dem abwechselnd Schichten mit Müsli, Obststückchen und Joghurt waren, sodass es ein hübsches Streifenmuster ergab. Cassie aß alles restlos auf, trank den Kakao und den Saft und machte sich anschließend im Badezimmer fertig, da sie nicht wusste, wie bald Günther zurück sein wurde. Zum Glück musste sie sich keine Sorgen mehr um das Futter für Golbit machen, denn Snobilikat hatte sich angewöhnt nach seiner Fütterung immer ein paar Reste mit in Lyras Zimmer zu schleppen. Gestern hatte es sogar eine ganze Packung mit Knurspen für Golbit aus der Küche stibitzt. Meistens fütterte Cassandra ihr Pokémon nach dem Frühstück und dem Abendessen, aber heute wollte sie das Risiko nicht eingehen, dass Günther ins Zimmer gestürmt kam und Golbit sah, immerhin wollte sie nicht, dass jemand wusste, dass sie ein Pokémon hatte. Cassie spürte, dass ihr diese Tatsache nur noch mehr Probleme einbringen würde. Im weiteren Verlauf des Vormittags wurde sie von Günthers Assistentinnen abgeholt und in ein anderes Stockwerk gebracht, wo sich sein Arbeitsraum befand. Ein ganzer Saal war vollgestellt mit Tischen, Modepuppen und Stoffbahnen, an den Wänden hingen Skizzen, Schmuck, Federn und überall standen Kleiderstangen mit wundervollen Gewändern. „Chérie, wo hast du so lange gesteckt?“ Günther warf ihr einen tadelnden Blick zu und winkte sie zu sich in die Raummitte, wo ein riesiger, kreisrunder Tisch stand, auf dem verschiedene Fellsorten und ein silberner, dicker Stoff lagen. „Das hier wird dein Mantel, ein hinreißendes Stück, hinreißend!“ Cassie rang sich ein Lächeln ab und suchte die Wände nach Türen und Fluchtmöglichkeiten ab, doch es schien nicht so, dass Günther sie so schnell aus den Augen lassen würde. So blieb ihr nichts übrig, außer sich von dem Modeschöpfer stundenlang wie eine lebende Modepuppe behandeln zu lassen. Erst gegen drei Uhr am Nachmittag entließ man Cassie und Margaret holte sie ab, um sie zurück zu ihrem Zimmer zu bringen. „Du siehst blass aus, aber das Essen wartet schon auf dich.“ Während sie zu Cassandras Zimmer liefen, erzählte die alte Dame ihr, was es heute zum Essen gab: Karpadorkaviar in einer Miltankmilchsuppe und dazu Gewürzbrötchen und Lauchtarte. „Vielen Dank für das Essen“, sagte Cassie brav, als sie ihr Zimmer betrat und das Tablett erblickte. „Ach, du musst dich nicht jeden Tag bei mir bedanken“, erwiderte Margaret und verabschiedete sich schnell, da sie noch viel zu tun hatte. Seufzend begann die Jungtrainerin zu essen, auch wenn sie den Kaviar minutenlang skeptisch in der Schüssel herum stupste, bis sie den ersten Bissen probierte und angewidert das Gesicht verzog. Den Rest der Suppe ließ sie stehen und aß dafür alle Brötchen und das riesige Stück Tarte auf. Günther hatte sie wirklich bis an ihre Grenzen erschöpft, obwohl sie kaum mehr tun musste als ruhig zu stehen und alles über sich ergehen zu lassen, wobei der Mantel am Ende in seiner Rohfassung wirklich wundervoll ausgesehen hatte. Da sie nicht davon ausging, dass sie so schnell wieder Besuch bekam, entließ sie Golbit aus seinem Pokéball und gab ihm die Suppe, die das Bodenpokémon mit Begeisterung schlürfte. „Na wenigstens schmeckt dieses schleimige Zeug einem von uns.“ Ein schmales Lächeln erschien auf ihren Lippen, dann beschäftigte sie sich noch eine Weile mit ihrem türkisfarbenen Freund und zog ihr Pokémon schließlich wieder zurück, da sie ja nicht wollte, dass man Golbit entdeckte. Der restliche Nachmittag erstreckte sich wie so oft in unendliche Langeweile. Cassandra lag auf ihrem Bett und starrte in die Luft, bis sie den Entschluss fasste, dass es so nicht weitergehen konnte. Gut, sie mochte Prinz Meliks Gefangene sein, aber wenn man sie nicht die ganze Zeit bewachte, hieß das nicht auch, dass der Prinz selbst schuld war, wenn sie ausbüxte? Sie wollte sich nur eine halbe Stunde die Beine vertreten, mehr nicht. Wild entschlossen öffnete Cassie die Tür, spähte heraus und als die Luft rein war, schlüpfte sie leise wie ein Schatten in den Gang und verschwand hinter der nächsten Biegung. Während sie tief durchatmete und sofort so etwas wie Erleichterung spürte, ging sie den Gang entlang tiefer in das Schloss hinein. Sie wusste von Margaret, dass der Gästetrakt momentan kaum genutzt wurde, daher war das Risiko, dass sie jemandem über den Weg lief, sehr gering. Trotzdem hielt sie Augen und Ohren offen und wartete an jeder Biegung, bis sie sicher war, dass auf dem nächsten Flur niemand war. Schon bald hatte sie sich in dem Labyrinth der Gänge und Treppen verlaufen, doch viel interessanter war, dass dieser Teil des Schlosses ganz anders aussah. Die Wände waren massiver und weniger filigran verziert, auch hingen nicht mehr in regelmäßigen Abständen Bilder und Teppiche an den Wänden. Hier schienen sich wohl keine Gäste mehr aufzuhalten. Ob sie überhaupt noch in ihrem Flügel war? Und welches Stockwerk war das hier? An einer großen Bogentür hielt sie inne, lauschte und drückte die Klinke – es war nicht verschlossen, also trat sie ein. Dunkle, schwere Vorhänge verdeckten die Fenster. Spiegel hingen ringsherum an den Wänden, sodass Cassie sich in dem Dämmerlicht vielfach selbst entgegenblickte. In der Mitte des Raums stand ein großer Gegenstand, mit Sicherheit an die zwei Meter groß, der ebenfalls mit einem dunklen Tuch verhüllt war. Was das wohl war? Sie zögerte, doch aus irgendeinem Grund fühlte sie sich zu diesem Ding hingezogen, als gäbe es etwas, das sie rufen würde. Mit den Händen umfasste sie den schweren Brokatstoff, zog ihn mit einem Ruck herunter und hustete, da viel Staub aufgewirbelt wurde. Es schien, als wäre hier schon lange niemand gewesen, ganz wie bei dieser merkwürdigen Höhle, in der sie vor einer gefühlten Ewigkeit aufgewacht war. „Nanu?“ Als Cassie die Augen öffnete, schaute sie direkt in die Augen ihres Spiegelbilds. Der mysteriöse Gegenstand war ein großer Spiegel mit silbernem Rahmen voller Edelsteine und Schnörkeln und obwohl die Vorhänge kaum Licht von draußen nach innen ließen, sah sie sich so klar und deutlich wie im hellsten Tageslicht. Was auch immer das für ein Spiegel war, er schien von innen zu leuchten und für einen Moment lang wirkte es so, als würde er ein- und ausatmen und den Staub in der Luft in Bewegung versetzen. Vorsichtig berührte sie die glatte, kühle Oberfläche. Bilder strömten auf sie ein. Stimmengewirr. Laute Schritte. Kerzenlicht. Glitzernde Luft. Mondlicht. Schimmer. Erinnerungen? Cassie schüttelte den Kopf und zog die Hand zurück. Nein, sie hatte so etwas noch nie gesehen, dieser Spiegel war ihr unbekannt und doch blieb tief in ihrem Herzen ein Gefühl zurück, das sie nicht einzuordnen vermochte. Sie drehte sich zur Seite. „Oh Lyra, wenn du nur hier wärst…“, flüsterte sie, schloss die Augen und spürte einen Luftzug, der von dem Spiegel ausging. Ängstlich öffnete sie die Augen, schaute auf die glatte Oberfläche und erstarrte. Plötzlich wirkte das Glas flüssig, kleine Wellen gingen von der Mitte aus zum Rand und unterbrachen das Licht, sodass tausende winzige Reflexionen entstanden, die sich zu einem Bild zusammensetzten. Cassie konnte eine junge Frau sehen, erst undeutlich und verschwommen, dann immer klarer. „Nein, das ist doch… Lyra?“ Ungläubig starrte sie auf das Bild, das der Spiegel ihr zeigte. Wenn das Lyra war, sah sie vollkommen anders aus: Kurze Haare, erwachsene Gesichtszüge und ein fester, starker Blick. An der Seite der Frau lief ein Kleoparda mit geschmeidigen Bewegungen, doch auch der Blick des Pokémon war starr, beinahe kalt und berechnend nach vorne gerichtet. „Lyra“, wiederholte Cassandra, dieses Mal lauter. Konnte das… konnte das wirklich ihre Lyra sein? So erwachsen, Jahre älter als jetzt? Und wieso hatte sich Felilou entwickelt? Dieser Spiegel konnte doch unmöglich die Gegenwart zeigen. „Lyra!“ Mit beiden Händen krallte sie sich am Rand des Spiegels fest. Das war Lyra, sie musste es sein. War das eine Zukunftsvision, wie auch immer das möglich war? War ihre beste Freundin ihr durch diesen Spiegel so nah? Cassie wollte nach ihr greifen, doch ihre Finger trafen auf die unbarmherzige Glasschicht. „Lyra!“ Nun trommelte sie gegen den Spiegel, Tränen stiegen ihr heiß und salzig in die Augen und liefen ihre Wangen herunter. „Ich bin hier, Lyra! Sieh mich an, ich bin hier! Lyra!“ Auf einmal blieb die Frau stehen, zögerte und schaute sich um. Hatte sie sie gehört? „Lyra!“ Wieder rief Cassie nach ihr und Panik ergriff sie, als die Oberfläche zu verschwimmen begann. „Nein!“ Cassie schlug weiter auf den Spiegel ein und holte ein letztes Mal aus. In dem Augenblick, als ihre Faust das Glas zerschlug, schaute Lyra ihr direkt in die Augen. Sie sah den überraschten Blick, beinahe vor Schock geweitete Augen und hörte Lyras vertraute Stimme, die aus dem Inneren des Spiegels zu kommen schien: „Cassie?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)